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Leseprobe

 

 

 

 

KLAUS FRÜHAUF

 

 

Das fremde Hirn

 

 

KOSMOLOGIEN – SCIENCE FICTION AUS DER DDR, Band 14

 

 

 

Erzählungen

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

NACHTZUG 

MONT 

WAS DU ERERBT... 

HOFFNUNG 

HERZFEHLER 

DER UNFALL 

KONTAKT 

PETRAS MÜTTER 

DIE ERDE IST EIN FREMDER STERN 

DER MÖRDER 

TRANSFER 

DAS FREMDE HIRN 

DIE CHIMÄRE 

REGENERATION 

 

 

Das Buch

Eine junge Ärztin opfert Glück und Gesundheit für das Leben ihrer Patienten; das Mädchen Petra erfährt die ungeheuerliche Wahrheit über seine Geburt; Inspektor Santanel glaubt die Ursache für die Mordtaten eines gewissen Collin Morton gefunden zu haben...

In vierzehn Geschichten treffen Menschen wichtige Entscheidungen, machen sie aufsehenerregende Entdeckungen, stößt ihnen Merkwürdiges zu, und jedes Mal sind ihre Erlebnisse auf irgendeine Art mit neuen biowissenschaftlichen Erkenntnissen verknüpft. Hirnoperation und Hirntransplantation, Klonierung und Vererbung, die Züchtung von Para-Humanoiden und Tierpflanzen, der Kontakt mit außerirdischen Lebensformen - all das ist Gegenstand intensiver Forschungen, kühner Hypothesen und gewagter Spekulationen, aber auch Thema dieser Erzählungen... 

 

Klaus Frühauf (* 12. Oktober 1933 in Halle (Saale); † 11. November 2005 in Rostock) war ein deutscher Schriftsteller und gilt als einer der wichtigsten Science-Fiction-Autoren der DDR; seine Story-Sammlung Das fremde Hirn erschien  erstmals im Jahre 1982.

Der Apex-Verlag veröffentlicht diesen Roman als durchgesehene Neuausgabe in der Reihe KOSMOLOGIEN - SCIENCE FICTION AUS DER DDR. 

  NACHTZUG

 

 

Um in Zukunft die Abstoßungsrate bei Organtransplantationen auf ein Minimum zu senken, ist in letzter Zeit mehrfach die Einführung des sogenannten Dritten-Mann-Tests vorgeschlagen worden. Dabei wird bei einem unbeteiligten Dritten durch implantierte Gewebestücke des Patienten eine Immunreaktion hervorgerufen, sein Körper also gegen das Eiweißmuster des Patienten sensibilisiert. Je heftiger der Körper dieses Dritten nun das ebenfalls auf ihn verpflanzte Gewebe eines potentiellen Spenders abstößt, umso besser eignen sich dessen Organe für die geplante Transplantation.

 

Sie steht mit geschlossenen Augen und lauscht den Geräuschen des davonfahrenden Zuges nach, bis das Heulen der Turbinen in der Ferne zu einem dumpfen Murmeln geschrumpft ist.

Es ist angenehm, so zu stehen und nichts zu sehen und fast nichts zu hören, es ist, als habe sich nichts geändert, als gehe sie diesen Weg auch diesmal, um Lenn zu treffen.

Sie schüttelt den Kopf und öffnet die Augen, und sie beißt die Zähne zusammen, als sie das charakteristische Kratzen auf den Lidern spürt, ein Gefühl, als habe ihr jemand trockenen Sand in die Augen gerieben.

Nein, trotz allem ist die Welt geblieben, wie sie war, noch immer duckt sich die Station unter die schweren Schatten der Nacht, noch immer verbreiten die drei Punktleuchten trüben Dämmer, noch immer blicken die mattgrauen Scheiben wie längst erloschene Augen herüber auf den Bahnsteig. Niemand außer ihr hat den Zug verlassen. Wer sonst sollte wohl auf den Gedanken kommen, diesen kleinen Ort zu besuchen, der auch für sie nichts zu bieten hat als die winzige Hütte drüben, jenseits des Flusses? Die Leere und die Dunkelheit hüllen sie ein wie ein schützender Mantel, sie empfindet die Einsamkeit wie eine lange entbehrte Wohltat. Sie versucht gar nicht erst herauszufinden, was sie ausgerechnet hierhergetrieben hat, sie weiß ohnehin, dass es nur die Erinnerung an die Tage mit Lenn gewesen ist. Und vielleicht auch die Gewissheit, dass er sie hier nicht suchen wird. Hier ist der letzte Platz, an dem er sie vermuten könnte. Sie geht auf die kleine Pforte neben dem Stationsgebäude zu, langsam und mit gesenktem Blick. Sie würde ihren Weg auch mit geschlossenen Augen finden, sie ist ihn oft genug gegangen. Bisher allerdings stets mit der Vorfreude, Lenn zu treffen. Dieser Weg war immer der Weg, der sie zu Lenn führte. Immer, bis heute. Dann aber bemerkt sie, dass sie noch langsamer und vorsichtiger als sonst geht. Langsamer, weil sie wieder diese ziehenden Schmerzen in den Kniegelenken fühlt, und vorsichtiger, weil sie sich im Schatten der Bäume zu halten sucht, was ihr bei der spärlichen Beleuchtung nicht schwerfällt.

Die Pforte ist verschlossen, sosehr sie auch an der Klinke rüttelt, das Türchen öffnet sich nicht, nur die losen Bleche klappern. Endlich flammt das Licht über der Tür des Stationsgebäudes auf, der alte Eisenbahner, den sie so oft in heiterem Ton begrüßt hat, schlurft herbei, und je näher er kommt, umso deutlicher sieht sie ihm die Verwunderung an. Er schüttelt den grauhaarigen Kopf und murmelt Unverständliches in seinen Bart.

Sie wendet sich ein wenig ab, als er schlüsselklappernd an sie herantritt, aber gerade das erweist sich als falsch, der Alte will sehen, wer da um Mitternacht auf seiner Station den Zug verlassen hat.

»Momentchen!«, sagt er. »Gleich öffne ich Ihnen.« Er schiebt den Kopf vor, um ihr ins Gesicht blicken zu können, und sie vermag nicht zu verhindern, dass er erschrickt. Er fährt zurück, und das matte Licht spiegelt sich in seinen weit offenen Augen.

»Ja... Sie?«, stottert er, und sie sieht, dass seine Lippen zittern. »Mein Gott!« Und dann wendet er sich ab und hantiert hektisch mit den Schlüsseln, bis die Tür, in den Angeln quietschend, aufschwingt.

Sie geht über den Platz vor der Station, die sanft abfallende Straße zum Fluss hinunter, und sie hält sich mitten auf der Fahrbahn, weil ihr das Licht der wenigen Straßenlaternen Unbehagen verursacht. Sie empfindet keinen Verdruss über die Reaktion des Alten. Sie hat sich längst an das Erschrecken in den fremden Gesichtern gewöhnt. Aber auch die Gewöhnung macht es nicht weniger unangenehm.

 

Die Straßen sind fast menschenleer, nur hin und wieder begegnet ihr ein Passant, ein Schatten, von Lichtkreis zu Lichtkreis gleitend, manchmal an den Hauswänden emporwachsend und dann wieder in sich zusammensinkend. Nie vorher hat sie dieses groteske Spiel beachtet, vielleicht, weil sie bisher stets, wenn sie durch die Straßen dieses Städtchens ging, ihr Herz bis in den Hals hinauf schlagen fühlte, weil sich all ihre Gedanken auf Lenn konzentrierten.

Jetzt aber steht sie außerhalb all dessen, jetzt fühlt sie sich wie ein Beobachter am Rand der Welt, noch lebend und doch schon nicht mehr am Leben.

Auf der linken Straßenseite kommt ihr eine Gestalt entgegen, ein Mann, der steil aufgerichtet und mit langen, fast ein wenig zögernden Schritten geht. Unvermittelt bleibt sie stehen, sie fühlt, wie sich ihr die Kopfhaut zusammenzieht, diese schmale Silhouette hat sie schon tausendmal gesehen, den etwas steifen Gang, die eckigen Schultern, das ist Rudolfs Gang, Rudolfs Schatten.

Wie von selbst bewegen sich ihre Füße, sie spürt den Schmerz in den Kniegelenken nicht mehr, sie geht auf den Mann zu. Erst im letzten Augenblick fasst sie sich, der da ist nicht Rudolf, kann nicht Rudolf sein, so abgeschieden diese Stadt auch sein mag, Tote werden selbst hier nicht wieder zu Lebenden, der da ist ein Fremder, jemand, den sie noch nie gesehen hat.

Der Mann bleibt stehen, als sie ihm gegenübertritt, und lüftet mit unschlüssiger Geste den Hut. Als er ihr das Gesicht zuwendet, sieht sie abermals das ihr längst bekannte Erstarren fremder Augen. Nein, sie wird jetzt nicht weglaufen, sie bleibt stehen und mustert ihn, diesen Fremden, der den Kopf zur Seite wendet, um sie nicht ansehen zu müssen.

Also fragt sie ihn nach dem Weg zur Hütte, nach einem Weg, auf dem sie jeden Stein und jede Pfütze kennt, und er wendet sich aufatmend dem Fluss zu und gibt mit weiten Armbewegungen Auskunft.

Ein Flüstern geht durch die alten Bäume des Parks am Fluss, ein Raunen wie von Hunderten gedämpfter Stimmen. Oder ist dieses Rauschen in ihr selber, ist es nicht vielmehr das Pochen ihres Blutes in den Schläfen? Das gleiche Pochen, das sie in jener Nacht spürte, in der sie Rudolf verlor und in der sie den Entschluss fasste, der ihr ferneres Leben bestimmen sollte. Noch nie hat sie mit ähnlicher Deutlichkeit gespürt, dass es allein die Entscheidung jener Nacht war, die die Summe ihrer möglichen Wege auf einen einzigen reduzierte, auf den, der sie jetzt hierherführt, an den Ort, wo sie ein kurzes, zweites Glück genoss, ein geborgtes Glück.

Sie hatte den Tod stets als etwas durchaus Normales empfunden, als etwas, das zum Leben gehört wie die Geburt, und sie hat nie versucht, den Gedanken an das Unvermeidliche zu verdrängen. Vielleicht, weil es ihre Aufgabe war, das Leben zu erhalten, vermochte sie an das unausbleibliche Ende der Existenz ohne Bitterkeit zu denken, vielleicht aber auch, weil der Tod für den, der ständig mit ihm umzugehen gezwungen ist, einen Teil seiner Schrecken verliert.

Aber wenn dieser doch so natürliche Prozess unvermittelt an das eigene Sein rührt, wenn er den Nächsten betrifft, den Gefährten, dann zählen weder Gewöhnung noch rationale Überlegungen.

Damals, als Professor Kalder ihr mitteilte, Rudolfs Herzfehler habe sich als unheilbar erwiesen, da hat sie das Entsetzen sogar physisch gefühlt, es war ein Schmerz, der, vom Nacken ausgehend, ihren Körper überflutete wie eine glühende Welle. Sie hätte sich vor Kalder auf die Knie werfen mögen und schreien und bitten. Ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, ging sie zu Rudolf und setzte sich an sein Bett. Und erst als sie ihm gegenübersaß, begann sie zu überlegen, wie sie ihm beibringen könne, dass er eine Transplantation zu erwarten habe.

Rudolf war blass und gefasst. Er wusste nicht um die Risiken der Operation. An jenem Tag sah sie ihn zum letzten Mal lächeln.

»Such mir ein schönes Herz aus, Frau Doktor«, sagte er leise. Seit er in der Klinik lag, hatte er sich angewöhnt, sie Frau Doktor zu nennen. Es schmerzte zwar, wenn er das sagte, aber sie verwehrte es ihm nicht. Sie glaubte zu spüren, dass ihn der Gedanke, sein Leben liege in ihren Händen, Beruhigung verschaffte. Er schien überzeugt, ihre Liebe vermöge alle Schrecken von ihm abzuwenden.

»Ein junges Herz, Frau Doktor«, fuhr er fort. »Das jüngste, das du finden kannst. Es muss ein Herz sein, das nach dir brennen kann.«

Und sie nickte und bemühte sich, auf seinen scherzhaften Ton einzugehen. »Ich werde sehen, dass ich ein möglichst kleines auswähle, eins, in dem für niemandem außer mir Platz ist.« Sie nahm seine Hände in die ihren, fühlte, wie sie zitterten, und sie wusste, dass es nicht nur Schwäche war. Die Organbank besaß vier Herzen zur Auswahl, aber zwei von ihnen erwiesen sich bereits nach der ersten Überprüfung der Strukturangaben als ungeeignet. Sie saß die ganze Nacht über im Labor und prüfte die Unterlagen der beiden anderen, doch sie konnte sich für keins entscheiden.

Am Morgen kam Kalder. Eine Weile lang blieb er hinter ihr stehen und sah ihr über die Schulter. Schließlich räusperte er sich. »Sie machen das sehr sorgfältig, Doktor«, sagte er, und sie glaubte in seiner Stimme eine Spur nachsichtigen Tadels zu bemerken.

Sie spürte Zorn in sich aufsteigen, vielleicht gerade, weil er recht hatte. Sie stand auf und reichte ihm eine der beiden Karten. »Nehmen Sie dieses, Professor!«, sagte sie, und sie blickte ihn nicht an; er hätte ihr angesehen, dass sie ihn in diesem Moment hasste.

Vier Tage nach der Operation starb Rudolf. Durch die Immunreaktion seines Körpers wurde das fremde Organ abgestoßen. Er starb mit zusammengebissenen Zähnen, voll Zorn gegen eine Wissenschaft, die nicht vermochte, das Grundmodell der Zelle mit ausreichender Sicherheit zu bestimmen.

Zwei Tage später starb auf der Kinderstation der Klinik ein kleines blondes Mädchen, weil die Niere nicht hielt, die man ihm implantiert hatte. Es starb mit einem Lächeln auf dem gelblich verfärbten Gesicht, es wusste nichts von der Bedingungslosigkeit des Todes.

In der Nacht danach lief sie stundenlang durch den dunklen Park neben der Klinik. Und in jenen Stunden fasste sie den alles verändernden Entschluss. Das fiel ihr damals durchaus nicht schwer, denn mit Rudolf glaubte sie alles verloren zu haben, wofür es sich zu leben lohnte. Sie konnte nicht wissen, dass es Lenn gab.

 

Fast ein Jahr verging, ehe man sich in der Klinik Gedanken über die ungewöhnlich starke Senkung der Abstoßungsrate zu machen begann. Und selbstverständlich begnügte sich Professor Kalder nicht mit der Feststellung dieser erfreulichen Tatsache an sich. Er wollte die dafür ausschlaggebenden Gründe in Erfahrung bringen. Und er wusste offensichtlich genau, wo er anzusetzen hatte.

Er lag in seinem Sessel, die Beine, eins über das andere geschlagen, weit von sich gestreckt. Wie stets war er mit einem lindgrünen Kittel bekleidet, der mit einer Unzahl von Taschen besetzt war. »Nehmen Sie Platz!«, sagte er und deutete auf einen Stuhl in der Nähe des Fensters. Kalder trug Haftschalen von blassblauer Farbe, die seinem Gesicht einen Ausdruck kindlichen Staunens, aber auch einen Zug unnahbarer Kälte gaben.

Sie hatte sich kaum gesetzt, als er sich erhob, mit zwei schnellen Schritten an sie herantrat und ihre linke Hand ergriff. Sie war überrumpelt und vermochte nicht die geringste Gegenwehr zu leisten, als er ihr den Ärmel ihres Kittels mit einer einzigen Bewegung bis über den Ellenbogen hinaufstreifte. Die Implantate leuchteten auf der hellen Haut ihres Armes wie rote Narben. Bei dem oberen hatte sich bereits ein eitriger Ring gebildet, der deutlich sichtbar durch die Abdeckfolie schimmerte.

»Ich dachte es mir«, sagte Kalder leise, und sie wunderte sich, dass er sich noch immer beherrschte. Es schien ihr sogar, als betrachte er die beiden Gewebestücke mit Interesse. Er wendete ihren Arm hin und her, wie man einen Fieberstreifen wendet, wenn die Beleuchtung zu schwach ist.

»Sie testen also die Organverträglichkeit am eigenen Körper!«, stellte er fest, noch immer mit unbewegter Stimme. »Sie finden es offensichtlich keineswegs ungewöhnlich, dass Sie Ihre Haut zu Markte tragen.«

Das war, gelinde ausgedrückt, ungerecht. Denn gerade das tat sie nicht. Sie stellte sich nicht um des eigenen Vorteils willen zur Verfügung.

Er musste wohl den Schatten auf ihrem Gesicht gesehen

haben. Er streifte ihren Ärmel herunter, hielt aber ihre Hand weiterhin fest. »Verzeihen Sie mir!«, sagte er. »Es sollte nicht so grob klingen. Aber Tatsache ist doch wohl, dass Sie Ihre eigenen Abwehrkräfte als Messmittel benutzen.«

Sie nickte. »Das stimmt allerdings.«

Er holte tief Luft. »Ich nehme an, Sie wissen, welche Folgen das für Sie haben kann.«

Wieder nickte sie. Sie fürchtete diese Folgen nicht. Damals noch nicht.

Er ließ unvermittelt ihre Hand los, richtete sich auf und musterte sie eingehend. Sein Gesicht war ungewöhnlich ernst, trotz der blauen Haftschalen. »Ich verbiete Ihnen das!«, sagte er heftig. »Und ich hoffe für Sie, dass Sie sich an dieses Verbot halten werden.«

»Aber...«, sie versuchte zu protestieren. Schließlich hatte sie ihren Entschluss nicht ohne langes Abwägen gefasst. Es war ihr Entschluss, ihrer ganz allein. Zumindest anhören hätte er sie können.

Er aber wischte ihren Protest mit einer einzigen Handbewegung weg. »Das ist eine Weisung!«, sagte er laut. »Und Sie haben sich daran zu halten!« Abermals fasste er nach ihrer Hand und setzte zu einer Erklärung an. Sein Gesichtsausdruck entsprach dem eines Vaters, der sich anschickt, seinem ungezogenen Kind eine Moralpauke zu halten.

Mit einem Ruck machte sie sich los und stand auf. »Ich kann noch recht gut hören!«, sagte sie zornig. »Zumindest meine Ohren haben noch nicht gelitten.« Und dann ging sie mit festen Schritten zur Tür, überzeugt, dass sie sich nicht an seine Weisung halten würde.

Kalder aber vertrat ihr den Weg. Sie blickte ihn nicht an, sie betrachtete seine Hand, die auf der Türklinke lag, eine schmale, gepflegte Hand, deren Knöchel jetzt weiß hervortraten. »Wie oft haben Sie das getan?«, fragte er, und seine Stimme hatte alle Schärfe verloren.

Sie zuckte die Schultern, sie wusste es wirklich nicht, sie wusste nur, dass sie wieder und wieder geholfen hatte und dass diese Hilfe das einzige in ihrem jetzigen Leben war, was sie noch glücklich machen konnte.

»Ich habe angeordnet, Sie zu untersuchen«, sagte er. »Begeben Sie sich bitte unverzüglich auf Station A-1.«

Seine Stimme klang sachlich, fast schon unpersönlich, aber als sie aufblickte, sah sie zu ihrer Verwunderung, dass seine Augen mit einem Ausdruck auf ihr ruhten, in dem außer Missfallen auch eine deutliche Spur von Anerkennung war.

Sie spürte, wie sich ihr Herz zusammenkrampfte, mit allem hatte sie gerechnet, sie war fest überzeugt gewesen, Kalder werde ein heftiges Donnerwetter auf sie niederprasseln lassen, dass es aber zu einer Untersuchung ihres Gesundheitszustands kommen würde, hatte sie nicht einmal in Erwägung gezogen. Obwohl sie selbst bereits damals wusste, dass die Tests nicht spurlos an ihr vorübergegangen waren. In jener Zeit litt sie häufig unter Kopfschmerzen, und beim Kämmen ging ihr das Haar büschelweise aus.

 

Nach der Untersuchung las ihr der leitende Arzt von A-1 eine lange Liste all dessen vor, was man als besorgniserregend herausgefunden hatte. Sie hat sich kaum etwas von alldem gemerkt. Es war von Funktionseinschränkungen der Leber und der Nieren die Rede, von gewissen Veränderungen der Blutzusammensetzung und der Gelenkflüssigkeit. Und man gab der Überzeugung Ausdruck, all diese negativen Erscheinungen seien ausschließlich auf die wiederholten Implantationen fremden Gewebes zurückzuführen, es handele sich also um eine künstlich provozierte Überempfindlichkeit.

Sie schiebt eine Haarsträhne zurück, tastet vorsichtig über die rechte Wange und lächelt in der Dunkelheit. Von Haarausfall oder Akne hat kein einziges Wort auf dem Diagnoseblatt gestanden.

 

Wie eine Lache aus Öl liegt der Fluss vor ihr, still und dunkel, nur hin und wieder blinkt das Wasser im matten Licht der Sterne auf, wenn ein Fisch an die Oberfläche taucht.

Sie geht auf die Brücke zu, auf diese altertümliche Konstruktion aus Brettern und Birkenstämmen, die eine so seltsame Anziehungskraft auf Lenn ausübte. Minutenlang konnte er stumm über das Geländer gebeugt stehen und in das ruhig gleitende Wasser blicken, in dem sich im Sommer die Sonne und im Winter die schneebedeckten Kiefern spiegelten.

Drüben, jenseits des Flusses, duckt sich die schwarze Silhouette der Hütte. Nicht mehr als zweihundert Meter werden es noch bis dorthin sein. Sie glaubt die drei Fenster im Obergeschoß sogar von hier aus erkennen zu können, obwohl sie weiß, dass das selbst bei Tageslicht kaum möglich ist. Mehr noch, ihr ist, als bewege sich hinter dem mittleren ein vager Lichtschimmer, als müsse jeden Moment Lenns Schatten in dem kaum sichtbaren Rechteck erscheinen. Sie lächelt über die eigenen, abstrusen Gedanken, die ihr vorgaukeln, was nicht ist, was nicht sein kann. Nie mehr. Es ist die Erinnerung, sonst nichts.

Früher, wenn sie sich jenseits des Steges befand, unterhalb des kleinen Hügels, auf dem die Hütte steht, dann hat sie Lenn sehen können. Sein Schatten füllte das kleine, helle Rechteck des Fensters fast vollständig aus, er stand und blickte hinaus in die Nacht, und wenn er sie kommen sah, dann trat er zurück ins Zimmer, stieg die knarrenden Stufen hinab und empfing sie auf dem untersten Treppenabsatz mit ausgebreiteten Armen.

Sie hatten nie die Absicht gehabt, sich in dieser Hütte vor der Welt zu verbergen, aber dieser abgeschiedene Ort steigerte auf ungewöhnliche Weise das Gefühl zusammenzugehören. Die Hütte reduzierte die Welt auf zwei Menschen, die sich liebten. Nichts existierte außer ihnen.

Wenn ihr damals, als Kalder ihr die Fortführung der Tests untersagte, jemand prophezeit hätte, in ihrem Leben werde es noch einmal einen Mann geben, dem sie das gleiche tiefe Gefühl entgegenbringen werde, wie sie es für Rudolf empfunden hatte, sie hätte ihn ausgelacht. Sie war sicher, dass das nie geschehen könnte.

Bis sie dann eines Tages Lenn brachten. Als sie ihn liegen sah, war das wie ein Schock für sie. Nicht wegen seiner Verletzungen, sie hatte schon weit Schlimmeres gesehen, diesmal war es etwas anderes, eine ebenso unerklärliche wie heftige Anziehung, die von ihm ausging und die sie augenblicklich in ihren Bann schlug.

Sie grübelte tagelang über dieses für sie äußerst bestürzende Gefühl, aber sie fand nicht den geringsten rationalen Grund dafür. Sie wusste nur, dass Lenn nicht sterben durfte. Nicht auch noch Lenn.

Professor Kalder musste alles geahnt haben. Als sie ihm die Karten mit den Daten der beiden Nieren brachte, sah er sie lange an und berührte mit den Fingerspitzen ihre rechte Wange. Und dabei trat ein Ausdruck in sein Gesicht, der es weich wie das eines Kindes wirken ließ.

»Versprechen Sie mir, dass es das letzte Mal war«, bat er. Und sie nickte lachend. »Sie können sich darauf verlassen, Professor!«

Kalder sah sie sehr nachdenklich an, und als er das Zimmer verließ, blickte er sich in der Tür noch einmal um. »Ich wünsche Ihnen viel Glück, Doktor!«, sagte er. »Sie haben es wirklich verdient.«

Vier Wochen später traf sie sich mit Lenn zum ersten Mal in der Hütte. Lenn wurde am Vormittag aus der Klinik entlassen, und sie fuhr ihm mit dem Nachtzug nach, weil ihr Dienst erst am Abend beendet war. Als sie damals durch die nächtlich stillen Straßen dieses kleinen Ortes ging, da ergriff eine solch ungewöhnlich wohltuende Spannung von ihr Besitz, dass sie Lenn bat, die zeitlich versetzte Anreise zu einer Art Ritual zu erheben. Und Lenn lachte und nahm sie in die Arme, wie er es stets zu tun pflegte, wenn er ihre Beweggründe nicht begreifen konnte.

Lenn hat nie erfahren, auf welche Art und Weise seine neue Niere ausgewählt worden ist, und er wird es auch nie erfahren.

 

Selbstverständlich hat sie sich geirrt, die Hütte liegt dunkel und still. Nur aus dem Fenster im Souterrain quält sich trüber Lichtschimmer. Sie liebt dieses Dämmerlicht, es verwischt die Konturen und verbirgt die Gesichter. Sie mag das Erschrecken in den fremden Augen nicht mehr sehen. Obwohl sie sich längst damit abgefunden hat.

Lenn ist eigentlich nie erschrocken. Vielleicht, weil die Veränderungen nicht von heute auf morgen vor sich gingen, auch die äußeren nicht. Vielleicht aber auch, weil Lenn sich zu beherrschen weiß. Manchmal glaubte sie seinen besorgten Blick zu spüren, und sie meinte auch zu bemerken, dass er ihr Gesicht länger musterte, als er das früher tat. Vor allem, wenn er sich unbeobachtet wähnte.

Aber Lenns Toleranz kann für sie kein Grund sein, ihren Entschluss als weniger richtig oder weniger notwendig zu empfinden. Sie hat einfach nicht das Recht, ihn weiterhin an sich zu binden. Sie hat vorgestern, als sie sich zum letzten Mal sahen, sehr wohl bemerkt, dass er sein Gesicht abwandte, als er sie in die Arme schloss.

Danach hat sie ihm dann den Brief geschrieben, hat ihm erklärt, was zu erklären ihr nötig schien, und ist abgereist. Es war das einzige, was ihr zu tun blieb. Sie hatte keine Wahl.

 

Als sie das Souterrain betritt, wenden sich ihr die Gesichter der wenigen Gäste zu. Sie blickt angestrengt geradeaus, und sie geht straff aufgerichtet. Nur ein wenig wendet sie den Kopf zur Seite, um nicht in den großen Spiegel neben der Treppe sehen zu müssen. So nimmt sie die Bewegung auf deren unterstem Absatz zuerst nur aus den Augenwinkeln wahr.

Dann aber erstarrt sie. Auf der Treppe steht Lenn, und er blickt sie an aus seinen warmen Augen, in denen ein kaum erkennbares Lächeln ist. Und dann breitet er die Arme aus.

 

 

 

 

  MONT

 

 

Eine Umfrage unter etwa achtzig amerikanischen Biologen ergab, dass die meisten von ihnen mit der Züchtung parahumanoider Arbeitswesen rechnen, die ungefähr vom Jahr 2050 ab für unumgänglich notwendige, lebensgefährliche Tätigkeiten eingesetzt werden könnten.

Die Belastung klingt langsam ab. Endlich saugt sich die Lunge voll mit den ersten, belebenden Atemzügen. Und mit dem Atem kommt die Erinnerung.

 

Bark springt auf und steht einen Moment lang ganz still, jedoch mit zitternden Knien, den Sessel hinter sich. Dann wendet er sich um und blickt auf Mont, der an der Rückwand liegt und sich nicht mehr rührt. Er liegt ein wenig verkrümmt halb auf der Seite und hat die Augen geschlossen. Es kostet Bark Überwindung, auf Monts Hände zu blicken.

Er tritt zwei Schritte zurück, mehr Platz bietet die Kabine nicht, nach diesen zwei Schritten berührt sein Rücken das Pult. Wie unter einem Zwang senkt er den Blick auf die Pultplatte. Sie weist an ihrer Vorderkante tiefe Dellen auf, und von ihrer ehemals glatten Oberfläche haben sich feine Splitter gelöst. Es sieht aus, als habe sie jemand mit einem kleinen Hammer bearbeitet.

Bark schaltet das Mikro ein. »Mont ist tot!«, sagt er leise, und als die da draußen nicht augenblicklich reagieren, ruft er laut und schon ungeduldig: »So bringt doch endlich eine Trage!«

Aus dem Lautsprecher kommen ein langer Atemzug und ein unmutiges Brummen. Ein Unfall, noch dazu einer mit tödlichem Ausgang, zieht im allgemeinen lange Untersuchungen, tausend Fragen und letztlich die Verschärfung der schon ohnehin strengen Sicherheitsvorschriften nach sich. Unfälle haben die missliche Eigenschaft, Staub aufzuwirbeln, und meist handelt es sich dabei um Staub, der sich in vielen Jahren abgelagert hat. Im Allgemeinen.

Nicht aber, wenn es sich um einen wie Mont handelt.

Bark ist sicher, dass Monts Tod niemandem aus dem Institut ähnlich nahegeht wie ihm, was nicht allein daran liegt, dass er der einzige war, der einen fast ständigen Kontakt zu Mont hatte. Fast wären sie Freunde geworden.

Und wieder blickt er auf Monts Hände. Er weiß, dass es nicht leicht sein wird, eine Untersuchung zu erzwingen.

Die beiden Assistenten kommen herein. Sie stellen die Trage auf den Boden und nähern sich dem Toten mit gesenktem Blick. Sie schauen auf ihn ohne die geringste Anteilnahme, und dann mustern sie Bark, und ihre Mienen zeigen Erstaunen und wohl auch Ablehnung.

Schließlich geben sie ihr Zögern auf und fassen zu. Einer ergreift Monts Beine in Höhe der Knie und hebt sie an, es sieht aus, als habe er die Absicht, die Leiche auf den Kopf zu stellen. Da erst tritt auch der andere hinzu und hilft, Mont auf das Gestell zu legen. Sie tragen ihn hinaus, die Gesichter geringschätzig verzogen.

Obwohl Bark weiß, dass der Tote von alldem nichts mehr spürt, empört ihn die Art der Behandlung. Und sein Zorn wächst, als der Tonträger geflüsterte Worte und unterdrücktes Lachen überträgt. Nein, von sich aus werden sie keine Untersuchung ansetzen. Bark wird nachhelfen müssen. Doch er vermutet, dass sie ihn nicht begreifen werden. Noch nicht.

 

Bark lernte Mont Holus vor ungefähr einem Vierteljahr kennen. Und schon diese erste Begegnung wird ihm noch lange im Gedächtnis bleiben. Er überquerte den menschenleeren Hof des Institutes für gesteuerte Gravitation, aus Richtung der Bahnstation kommend, und ging auf das Hauptportal zu. Vom Südtrakt her näherte sich ihm ein Mann, der ihm augenblicklich auffiel. Er ahnte sofort, wer dieser Mann war.

Ihre Wege führten in spitzem Winkel aufeinander zu. Der Schnittpunkt würde in unmittelbarer Nähe des Hauptportals liegen.

Der andere ging sehr gerade, mit langsamen, raumgreifenden Schritten, und erst als sie sich bis auf wenige Meter genähert hatten, wandte er den Kopf und musterte Bark aufmerksam. Er hatte ein ebenmäßiges, sonngebräuntes Gesicht und dunkel glänzendes Haar, das sauber gescheitelt war. Irgendwie wirkte er neu, und auch sein Anzug mit den messerscharfen Bügelfalten sah aus, als sei er eben erst gekauft worden. Bark war überzeugt, dass man auf dem hellbraunen Stoff auch nicht das kleinste Stäubchen hätte entdecken können.

Sie sahen sich an, näherten sich mehr und mehr, und es bereitete Bark nicht geringe Mühe, den anderen nicht als erster zu grüßen. Immerhin war es möglich, dass er sich irrte.

Seine Überlegungen wurden jedoch in dem Augenblick hinfällig, in dem der andere ihn ansprach. »Sie sind neu hier«, sagte er, und es war offensichtlich keine Frage.

Bark nickte. »Ganz neu. Eben erst angekommen.«

»Und wo werden Sie arbeiten?« Die schmalen Brauen des Mannes hoben sich ein wenig.

»Gravitische Hochgeschwindigkeitsfelder«, sagte Bark.

Der andere lächelte und streckte ihm die Hand hin. »Dann bin ich Ihr Mitarbeiter, Bark. Mein Name ist Holus, Mont Holus.«

Jetzt wusste er, dass ihn seine Ahnung nicht getrogen hatte. Mit diesem Holus würde er also in den nächsten Wochen zusammenarbeiten. Tag für Tag stundenlang in eine Kammer eingesperrt unter Bedingungen, die nicht menschlich sein würden. Bereits am Vortag hatte man ihn vorsichtig informiert, von welcher Art sein Mitarbeiter sein würde. Trotzdem ließ er sich von der Geste des anderen überraschen und schlug in die dargebotene Hand ein. Sie war fest und kühl, und in ihrem Druck lag verhaltene Kraft.

Als sich Bark des Grotesken der Situation bewusst wurde, zog er seine Hand zurück, als habe er eine Qualle berührt. Mont Holus aber lächelte noch immer, und es schien Bark, als sei jetzt eine Spur von Nachsicht in dem Lächeln.

So also hatten sie sich kennengelernt, und es lag wohl an Monts Art, sich nie in den Vordergrund zu drängen und auch ohne besonderen Hinweis stets das Richtige zu tun, dass Bark ihn nach einer gewissen Zeit zu akzeptieren begann. Den größten Anteil daran hatte aber wohl ihre gemeinsame Arbeit, die sich als ziemlich gefährlich erwies. Sie waren gezwungen, sich absolut aufeinander zu verlassen, und jeder von ihnen beiden musste zumindest den Fähigkeiten des anderen unbedingt vertrauen. Ein solches Verhältnis ist eigentlich nur unter Freunden möglich. Oder umgekehrt führt die Notwendigkeit, sich aufeinander einzustellen, zwangsläufig zu Freundschaft. Zumindest unter Menschen. Bei Bark führte sie zu einer Art vorsichtiger Achtung des anderen. An Freundschaft war natürlich überhaupt nicht zu denken. Damals noch nicht.

 

Dass beim derzeitigen Forschungsstand über die praktische Anwendung gesteuerter Gravitation von ihrer Arbeit mehr Gefahren ausgingen, als es deren theoretische Aspekte ahnen ließen, das wusste Bark bereits, nachdem er die Anlage einer eingehenden Musterung unterzogen hatte. Und dass es sich dabei um einen Prototyp handelte, spielte nicht einmal die dominierende Rolle. Mehr noch, für die Auswirkungen, die sich später zeigten, war es sogar ohne jeden Belang.

Man hatte die Steueranlage außerhalb der gravitischen Zone montiert, ein Umstand, der Bark nachdenklich stimmte. Und es sollte sich auch bald zeigen, weshalb diese Anordnung gewählt worden war. Zuerst allerdings lief der Generator ohne Mucken, die gravitischen Emissionen waren in weiten Grenzen steuerbar, und die Automatik wachte mit peinlicher Genauigkeit darüber, dass die eingestellten Werte weder über- noch unterschritten wurden. Nur lässt sich eben aus einer Anlage mit externer Steuerung kein autonomes System aufbauen.

Mont riet bereits vom ersten Tag an zu baldigem Umbau, aber schon eine nur hingeworfene Bemerkung Barks zwang ihn, sich in Geduld zu fassen, bis sie mit der Anlage genügend vertraut waren. Mont fügte sich ohne Widerwillen. Zumindest eine Zeitlang. Erst nach vierzehn Tagen kam er erneut auf das Thema zurück.

»Die Steuerung gehört in das Innere der gravitischen Zone«, brummte er eines Abends, als sie das Labor verließen. »Das Hauptanwendungsgebiet gesteuerter Gravitation werden immer bewegliche Systeme sein, das Fahrzeug, das Flugzeug, der Transporter oder das Raumschiff. Dort aber benötigen wir integrierte Anlagen, eine Bordsteuerung also. Ist das richtig, Bark?«

Bark hätte Einwände bringen können. Mehr noch, er hätte sich gegen Monts massive Art verwahren müssen. Mont hatte nicht das Recht, Vorschläge in solch kategorischem Ton vorzutragen. Aber Bark schwieg. Er begann zu fürchten, man könne ihm, träte er weiter auf der Stelle, eines Tages Unentschlossenheit und übertriebene Vorsicht vorwerfen. Man hatte ihm Mont nicht ohne Grund zur Verfügung gestellt. Trotzdem schob er die unvermeidliche Änderung noch um einige Tage hinaus. Nicht, weil er sich vor der Integration der Steuerung gefürchtet hätte, weil er vielleicht geahnt hätte, welche Konsequenzen sich ergeben würden, sondern einfach, um zu dokumentieren, dass nicht Mont, sondern er die Entscheidungen zu treffen hatte.

Erst eine Woche nach Monts Vorstoß bauten sie die Anlage um. Sie arbeiteten an diesem Tag bis nach Mitternacht, und obwohl sie länger auf den Beinen gewesen waren als an irgendeinem Tag vorher, wollte Mont noch den ersten Versuch fahren. Aber Bark weigerte sich entschieden. Er war einfach zu müde. Sein einziger Wunsch war, endlich ins Bett zu kommen und sich richtig auszuschlafen. Und dieser Wunsch war wesentlich stärker als die Frage nach der Funktionsfähigkeit der modifizierten Anlage.

Damals spürte er zum ersten Mal etwas, das mit Achtung vergleichbar war, für Mont Holus, der nicht das geringste Anzeichen nachlassender Konzentration oder Körperkraft erkennen ließ.

»Müde?« Mont lachte mit seiner tiefen Stimme. »Unsinn!« Und er schüttelte heftig den Kopf. »Alles nur eine Frage von Konzentration und Kondition.«

Natürlich hatte Holus leicht reden. Dennoch fügte er sich widerstandslos. So verschoben sie den Test auf die Mittagsstunden des folgenden Tages. Später war Bark heilfroh darüber. Mit Sicherheit wäre es bereits damals zu einer Katastrophe gekommen, wären sie übermüdet in die Kabine gestiegen.

Sie wohnten beide im Südtrakt des Institutes, und zufälligerweise hatte man ihnen auch noch zwei nebeneinanderliegende Zimmer gegeben. In jener Nacht hörte Bark den anderen noch lange im Nachbarzimmer rumoren. Trotzdem wirkte Mont am Morgen, als sie sich beim Frühstück trafen, ausgeruht und frisch wie eh und je, während er, Bark, die allzu lange Schicht und die allzu kurze Nacht noch in allen Knochen spürte.

Mont drängte zur Eile, es hielt ihn kaum am Tisch, und auf dem Weg über den Institutshof war er Bark stets um einige Schritte voraus. Und Bark ließ es zu, ohne sich darüber auch nur im Geringsten zu erregen. Im Gegenteil, angesichts des tadellosen Sitzes von Monts Anzug und des exakt gebürsteten Haars spürte er fast etwas wie Bewunderung. Allerdings schalt er sich einen Toren, als er sich dieses unmotivierten Gefühls bewusst wurde.

Im Vorraum zogen sie die Kittel über, Bark wies die Assistenten genau ein, und dann bestiegen sie die Kammer, Bark wieder einen Schritt hinter Mont.

Sie schnallten sich an, überprüften den genauen Sitz der Gurte, und Bark schaltete die Geräte ein. Unter ihnen lief der Generator an, steigerte seine Drehzahl und erreichte schließlich summend den Sollwert.

Bark beobachtete die Nadel des Gravimeters. Sie stand noch immer auf null, aber sie begann kaum sichtbar zu zittern, als könne sie es kaum erwarten, über die Skale zu kriechen. Vorsichtshalber stellte Bark die Automatik nur auf 3,2g ein. Sie konnten ja jederzeit nachregeln, wenn es ihnen erforderlich schien.

Als Bark den Kontrollhebel nach vorn schob, tat die Nadel einen kleinen Sprung, bevor sie sich stetig und zielstrebig zu bewegen begann. Der Ton des Generators stieg um eine Oktave.

Obwohl die Gravitation anfangs nur wenig wuchs, schien sich um Bark herum eine Menge zu verändern. Die Luft wurde dichter, zumindest vermochte er sich dieses Eindrucks nicht zu erwehren. Die Instrumente wirkten einen Augenblick lang verschwommen, als fließe eine Schicht dünnen Öles über die Abdeckungen. Aber all das verging in einer einzigen Sekunde, und dann war da nur noch die langsam wachsende Last auf seinen Schultern.

Ab 3g wurde das Atmen erneut schwerer, und die Instrumente begannen sich wieder einzutrüben. Bark wusste, dass zuerst die Flüssigkeit in den Augäpfeln auf erhöhte Belastung reagiert und dadurch das Sehvermögen leidet, aber trotzdem vermochte er ein Gefühl der Angst nicht zu unterdrücken. »Ich kann kaum noch etwas erkennen, Mont«, stöhnte er, und die eigene Stimme klang heiser und fremd in seinen Ohren. Er erwartete, Mont werde nun unverzüglich auf phonetische Wiedergabe der Werte schalten, aber Mont tat nichts dergleichen. Er begann mit klarer und akzentuierter Stimme zu sprechen, als kümmere ihn die Belastung überhaupt nicht. Es dauerte eine ganze Weile, ehe Bark begriff, dass Mont die Werte direkt vom Gravimeter ablas.

Ab 3,2g begann Mont schneller zu zählen. Aber dann bemerkte Bark, dass es die Gravitation war, die schneller stieg. Sie war längst am Sollwert vorbei. Zuerst vermutete er, Mont habe nachgeregelt, aber als er den Kopf stöhnend zum Pult wandte, erkannte er, dass der Sollwertgeber noch immer bei 3,2g stand.

Bei 4g wusste Bark, dass der Generator durchging. Und Mont las noch immer mit unbeeindruckter Stimme die Werte ab. Die Angst überflutete Bark wie eine heiße Welle. Er versuchte Mont auf den Ausfall der Steuerung aufmerksam zu machen, aber er brachte keinen Ton mehr heraus. Wie angeschmiedet lag er im Sessel, und die tierische Angst, zerquetscht zu werden, stieg proportional mit der Gravitation. Bei 6g erhob sich Mont ein wenig, streckte den rechten Arm aus und riss den Hauptschalter herunter. Es war ungeheuerlich, dieser Mont war unbegreiflicherweise imstande, sich sogar noch bei einer Belastung von 6g koordiniert zu bewegen. Bark hätte das nie für möglich gehalten.

Die furchtbare Last verschwand von den Schultern und aus den Eingeweiden, Bark hatte das Gefühl, sein Körper blähe sich auf und könne sich jeden Moment aus dem Sessel erheben und durch die Kabine schweben.

Als er sich erholt hatte, stand er auf und drückte in einem Anfall von Dankbarkeit Monts Hände. Sie waren fest und kühl wie immer, und um Monts Mundwinkel spielte ein kleines, amüsiertes Lächeln. Bark hätte sich für die eigene, unüberlegte Regung ohrfeigen können.

 

In einer umfangreichen Versuchsreihe stellten sie fest, dass sich der Generator infolge eines Rückkopplungseffekts in der Steuerung aufschaukelte. Den Grund für diese ebenso eigenartige wie unerwünschte Erscheinung vermochten sie nicht zu ermitteln. Manche der Versuche gingen bis an die Grenze der physischen Belastbarkeit Barks, aber jetzt setzte er ein nahezu blindes Vertrauen in die Kraft und die Reaktionsschnelligkeit seines Mitarbeiters. Und wirklich gelang es Mont jedes Mal, die Anlage rechtzeitig abzuschalten.

Sie veränderten mehrmals einzelne Baugruppen der Steuerung, aber mehr als einen Teilerfolg erzielten sie nicht. Unter dem Einfluss der gesteigerten Gravitation mussten sich im Inneren der Gitterkristalle Vorgänge abspielen, die sie weder erklären noch beherrschen konnten, weil ihnen die Art dieser Vorgänge verborgen blieb. Auch erwies es sich als unmöglich, die Messwerte nach draußen zu geben, da sich das System oberhalb von 2,5g gegen die Außenwelt und damit auch gegen die Pulte der Assistenten hermetisch abschirmte. Von diesem Punkt an erwiesen sich die Helfer als praktisch wertlos. Mit ihrer Unterstützung war bei Werten über 2,5g nicht mehr zu rechnen.

So konzentrierten sich Barks Hoffnungen ausschließlich auf Monts überragende Konstitution. Er hätte die Kammer nie betreten, wäre er nicht absolut sicher gewesen, dass sein Mitarbeiter im genau richtigen Augenblick zum Hauptschalter greifen würde. Und Mont lächelte nur, wenn Bark ihm seine Anerkennung ausdrückte.

»Training, Bark! Nichts als Training«, pflegte er zu sagen, und einmal setzte er leiser hinzu: »Sie werden das vielleicht nicht verstehen, aber diese Sache macht mir riesigen Spaß. Gravitation ist etwas unglaublich Schönes.«

Es klang wie Schwärmerei, und Bark nahm sich vor, seinen Mitarbeiter beim nächsten Versuch genau zu beobachten.

Er zwang sich zur Aufmerksamkeit, auch dann noch, als die Gravitation bereits auf über 3g angestiegen war, und er sah, dass Mont still lächelte, als bereite ihm die Belastung wirklich Vergnügen. Er sah aber auch, dass Mont ihn nicht einen Augenblick lang unbeobachtet ließ und dass er beim geringsten Anzeichen von Unwohlsein die Hand auf den Hauptschalter legte.

Sein Vertrauen zu Monts überlegener Physis wuchs. Schließlich war er überzeugt, dass er sich auf seinen Mitarbeiter in jeder nur denkbaren Situation unbedingt verlassen konnte.

Er stieg jetzt völlig unbekümmert in die Kammer, und von Tag zu Tag gewöhnte er sieh mehr an den Gedanken, dass er damit sein Leben in Monts Hände legte.

 

An einem dieser Tage veranlasste Bark seinen Mitarbeiter zu einem Spaziergang. Selbstverständlich hätte er das schon viel früher tun können, eine einzige Bemerkung wäre ausreichend gewesen, aber bis zu diesem Tag hatte er einfach nicht das Bedürfnis gespürt, sich mit Mont über etwas anderes als rein dienstliche Angelegenheiten zu unterhalten. Bis dahin fand er es absolut richtig, dass Mont nie das Institutsgelände verließ und dass für ihn nichts anderes als seine Aufgabe existierte.

Mont konnte auf die Frage, ob er Interesse an einem Spaziergang außerhalb des Institutsgeländes habe, nur mit einem eindeutigen Nein! antworten. Also hatte ihn Bark direkt auffordern müssen.

Und nun bemühte er sich, das Gespräch auf persönliche Angelegenheiten zu bringen. Er wusste fast nichts von Mont, nicht mehr, als dass für ihn andere Maßstäbe galten. Aber es begann Bark zu interessieren, welcher Art diese Maßstäbe waren. So sprach er von Dingen, über die man sich mit jungen Leuten in aller Welt unterhalten konnte, vom Sport und Tanzen, von Musik und Mädchen.

Aber Mont reagierte kaum, hin und wieder ein tiefer Atemzug, ein Lächeln, meist mehr abfällig als zustimmend. Das war so ziemlich alles. Nur einmal, als Bark das Thema Mädchen absolut nicht fallenlassen wollte, blickte Mont auf und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Bark«, sagte er ohne jede Regung. »Für Mädchen besitze ich keinerlei Sensoren.«

Er sagte das in dem gleichen Tonfall, in dem ein anderer vielleicht erklärt hätte, er besitze nicht die Fähigkeit der Eichkatzen, senkrecht an Bäumen hinaufzulaufen, und er vermisse sie auch nicht. Und eigentlich hatte Bark auch keine andere Reaktion erwartet.

So blieb das Gespräch einsilbig, bis es schließlich wieder ihre Aufgabe tangierte. Und sofort wurde Mont munter. Was blieb Bark anderes, als sich zu fügen, wenn er wenigstens etwas über seinen Mitarbeiter erfahren wollte. »Wir sind nicht viel weiter gekommen in den letzten Wochen«, sagte er. »Wir müssen wohl einen anderen Weg gehen, einen, der diese verdammte Rückkopplung vermeidet.«

Mont blieb stehen und blickte ihn zum ersten Mal an diesem Abend aufmerksam an.

»Nicht die Rückkopplung selbst macht uns zu schaffen«, sagte er. »Es ist etwas ganz anderes.«

Bark begriff nicht sofort, worauf Mont hinauswollte. Der aber begann plötzlich zu gestikulieren, wie Bark es noch nie von ihm gesehen hatte. Es war im höchsten Grad verblüffend, ja, eigentlich sogar unnatürlich. Er hätte nie vermutet, dass Mont Temperament entwickeln könnte.

»Begreifen Sie doch, Bark!«, rief Mont. »Nicht diese Rückkopplung selbst macht uns Sorge, sondern die durch sie ausgelöste Eskalation der Schwerkraft. Das ist es doch!«

»Aber dieser Rückkopplungseffekt ist der Grund dafür. Du sagst es selbst. Ihn müssen wir beseitigen.«

Mont schüttelte heftig den Kopf. »Sie haben noch immer nicht begriffen, Bark. Kümmern Sie sich nicht um die Rückkopplung, sie ist unwichtig. Wirklich! Sie ist für das Hirn der Anlage nur Mittel zum Zweck. Der eigentliche Grund...«

»Also Programmänderung...?«

Mont blickte fast ein wenig traurig. »Nein, nein!«, rief er. »Das auf gar keinen Fall! Das Programm hat mit alldem nicht das Geringste zu tun. Es gibt, soviel ich sehe, nur einen einzigen Grund. Die steigende Gravitation muss in diesem Gitterkristallhirn Vorgänge auslösen, die man durchaus als eine Art Vergnügen bezeichnen könnte.«

Bark war starr vor Erstaunen. »Das kann nicht dein Ernst sein!«

Aber Mont lächelte nachsichtig. »Selbstverständlich meine ich das ernst. Und deshalb bleibt uns nur ein Weg. Wir müssen dem Hirn deutlich machen, dass es bei einer Erhöhung der Gravitation über das Maß hinaus keinen Genuss, sondern eine empfindliche Strafe zu erwarten hat. Wir müssen ihm einen Pawlowschen Reflex antrainieren. Ist dieser Gedanke nicht gut?«

Bark war keineswegs überzeugt, dass es sich um einen guten Gedanken handelte. Aber er wusste, dass nur Mont darauf verfallen konnte. Diese Idee war einfach grotesk, das war sie, aber gut war sie auf keinen Fall. Natürlich konnte man die Sache durchdenken, musste es wohl sogar, aber wenn jemand behauptete, das Hirn der Anlage empfinde beim Auftreten dieses Rückkopplungseffekts eine Art Lustgefühl und steigere nur deshalb die Gravitation über den Sollwert hinaus, dann war das doch zu skurril, um ernsthaft diskutiert zu werden. Und deshalb wusste Bark nichts Besseres, als zu lachen.

Aber Mont verzog keine Miene. Nur die Schultern hob er ein wenig. »Entschuldigen Sie, Bark«, sagte er schließlich steif. »Ich finde das durchaus nicht lächerlich. Denn Sie müssten eigentlich wissen, dass sich in kybernetischen Systemen Vorgänge abspielen können, die menschlichen Gefühlen nicht ganz unähnlich sind. Selbstverständlich keine Gefühle im exakt menschlichen Sinn. Bei solchen Systemen sind die Auslöser hierfür aus dem programmierten Drang, optimale Abläufe zu schaffen, erklärbar. Und bei unserer Anlage scheinen sich mit ansteigender Gravitation im Hirn Dinge zu tun, die möglicherweise die Lösung der gestellten Aufgabe erleichtern. So einfach ist das! Eine genauere Definition können Sie allerdings von mir nicht erwarten, es ist das erste Mal, dass ein Gitterkristallhirn mit erhöhter Schwerkraft konfrontiert wird.«

Den letzten Satz hatte Mont leise, fast zu sich selber gesprochen. Es war offensichtlich, dass er über dieses Problem schon längere Zeit nachgrübelte. Und da er weiterhin ernst und nachdenklich blieb, versank auch Bark in Gedanken. Vielleicht ist an der Sache doch etwas, sagte er sich. Und da ihnen ohnehin niemand die Aufgabe, diesen Fehler zu beseitigen, abnehmen konnte, war eine vage Theorie immer noch besser als überhaupt keine. Trotzdem gab er nicht sofort nach. »Gefühle in einer kybernetischen Anlage«, sagte er kopfschüttelnd. »Das klingt ja fast wie ein Witz.«

Mont hob den Kopf. Es war eine schnelle und eigentlich unbeherrschte Bewegung, aber Bark wusste selbstverständlich, dass es Mont nicht gegeben war, aufzubrausen. Aber Monts Augen waren schmal geworden, und in ihnen blitzte ein Funke, der ein wenig wie Zorn wirkte.

»Das geht, nehme ich an«, sagte Mont, und jetzt klang seine Stimme eiskalt, »erheblich über Ihr menschliches Begriffsvermögen. Da stellt man fest, dass Kyberneten eine spezielle Art von Gefühlen entwickeln, da findet man heraus, dass auch Tiere in bestimmten Grenzen abstrakt zu denken vermögen, und nun entdeckt man auch noch, dass sich Kunsthirne Emotionen leisten. Alles Dinge, die bisher ausschließlich den Menschen vorbehalten waren. Ich glaube Ihnen gern, Bark, dass eine solche Erkenntnis schmerzt. Vor allem, weil sie einen lange sorgsam gehegten Mythos zerstört. Aber ich kann Ihnen in dieser Beziehung nicht helfen. Ich stehe auf der anderen Seite. Die Menschen werden sich an solche Gedanken gewöhnen müssen. Unter anderem auch an den, dass sie in uns Hominiden Wesen zur Seite haben, die ihnen zumindest ebenbürtig sind – und gleichwertig, Bark. Das zu begreifen wird euch schwerer werden als all das andere.« Das war ein Tiefschlag. Vor allem, weil Mont in Worte gekleidet hatte, worüber Bark schon seit Tagen nachdachte. Seit er Mont kennengelernt hatte, grübelte er, und stets kam er zu Schlüssen, die ihn aufs äußerste verwirrten. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb er seinen Mitarbeiter nicht augenblicklich in die Schranken wies.

»Hominiden«, sagte er stattdessen. »Du behauptest im Ernst, ihr Hominiden verfügtet über die gleichen Emotionen wie wir Menschen? Hast je du derartiges an dir beobachtet, Mont?« Es sollte abfällig klingen, aber es wurde eine ganz sachlich gestellte Frage.

»Ich bin absolut sicher, dass wir mit euch Menschen sehr viele Gemeinsamkeiten haben«, sagte Mont leise, und plötzlich sah er erschöpft und müde aus. »Mehr noch! Ich fürchte, wir sind Menschen, Menschen wie ihr, Bark. Mit den gleichen Gefühlen und den gleichen Problemen. So furchtbar es für uns wäre, ich bin zu dieser Überzeugung gekommen.«

Es war wohl die ebenso offensichtliche wie ungewöhnliche Niedergeschlagenheit Monts, die Bark veranlasste, einen Augenblick lang alle Unterschiede zu vergessen.

»Lass uns ein Stück gehen, Mont!«, sagte er. »Du solltest mir von dir erzählen.« Es klang wie eine Bitte.

 

Mont ging ohne Widerstreben mit, aber er schritt schweigend und mit gesenktem Kopf neben Bark her. Seine Haltung drückte Ablehnung aus. Bark sah, dass der Hominide die Berghänge im Hintergrund und die Bäume und Sträucher zu Seiten ihres Weges mit keinem einzigen Blick bedachte. Vielleicht sah er sie, bestimmt aber empfand er nichts bei ihrem Anblick. Und er atmete selbst hier, in der würzigen Luft des kleinen Wäldchens, um nichts tiefer als in der künstlich aufbereiteten Atmosphäre der Testkammer.

In Bark stieg die unsinnige Hoffnung auf, Monts Erklärung werde sich als Mystifikation heraussteilen oder als die Selbstüberschätzung eines Wesens, das außerstande ist, die eigenen Grenzen zu erkennen. Wer keinen Sensor für die Schönheiten des anderen Geschlechts besitzt, wer beim Anblick einer sich langsam öffnenden Rosenknospe oder eines Sees im Morgenlicht nicht das Vergnügen des Schauens empfindet und wer den Geruch von Salz und Tang in einer frischen Meeresbrise nicht zu genießen vermag, der kann sich auch nicht mit Fug und Recht Mensch nennen, versuchte er sich zu beruhigen. Aber bereits damals wusste er, dass er Gefahr lief, sich selbst zu betrügen. Er hatte die Regungen in Monts Gesicht gesehen. Nicht beim Anblick von fernen Bergen oder bunten Blumen, aber immer dann, wenn sie mit ihrer Arbeit ein Stück vorangekommen waren, wenn es sich zeigte, dass sie dieser vertrackten Anlage abermals eins ihrer Geheimnisse entrissen hatten. Und wenn Mont Gelegenheit hatte, seine Kräfte mit der sprunghaft wachsenden Gravitation zu messen. Und dass Mont auch Ärger und Verdruss empfand, hätte wohl nichts besser beweisen können als die Art seines Plädoyers für den menschengleichen Status der Hominiden.

Zwar waren all diese Gedanken für Bark durchaus nicht mehr neu, aber jetzt begriff er zum ersten Mal ihre volle Tragweite. Und so kam es, dass auch er in Schweigen versank.

Von Holus Mont hörte er an diesem Tag kein einziges Wort mehr.

Es schien, als wolle der Hominide Barks Umdenkungsprozess nicht durch irgendwelche Erörterungen stören.

 

Sie kamen nie mehr auf dieses Gespräch zurück. Auch nicht in jenen Stunden, in denen sie gemeinsam über Tabellen, Kurven und Hologrammen saßen und in denen die Methode, mit der sie sich das Hirn der Steueranlage gefügig machen wollten, Gestalt annahm. Und auch an dem Tag, an dem sie mit den Tests erneut begannen, vermieden sie dieses Thema, als hätten sie eine stille Übereinkunft getroffen.

Schweigend stiegen sie die Leiter zur Gravitationskammer hinauf, setzten sich in ihren Sesseln zurecht und gurteten sich an. Bark kennzeichnete einen bestimmten Punkt auf dem Globoid des Hirns mit einem grünen Ring, und Mont legte einen handlichen Magnetschockemitter griffbereit auf die Pultplatte.

Dann ließ er den Generator anlaufen, und Bark hatte das seltsame Gefühl, als liege diesmal ein nervöses Schwingen über den Vibrationen der Maschinerie. Wenig später begann die Gravitation zu steigen, und der Hominide las die Messwerte mit einer Stimme ab, der weder Interesse noch Bewegung anzuhören waren. Sie hatten den Geber auf 2,5g eingestellt und bei 2g eine Richtungsänderung programmiert. Bark starrte auf das Vektometer, das eigentlich nichts anderes war als ein gebremstes Pendel, das sich stets in die Wirkungsrichtung der Schwerkraft einstellte. Exakt bei 2g veränderte der Zeiger seine Stellung. Wies er eben noch senkrecht nach unten, so schlug seine Spitze jetzt um einen deutlich sichtbaren Betrag in Richtung ihrer beiden Sessel aus. Gleichzeitig hatte Bark das Gefühl, sein Sitz kippe nach hinten. Unten war plötzlich nicht mehr genau dort, wo sich der Fußboden befand, sondern dort, wo die hintere Kabinenwand mit dem Fußboden eine Kante bildete. Alles schien programmgemäß zu verlaufen.

Dann aber begann der Magnetschockemitter über die Pultplatte zu rutschen. Mont bekam ihn im letzten Augenblick zu fassen. Die Bewegung, mit der er die Waffe ergriff, war unglaublich exakt, obwohl die im Verlauf der Lebensjahre

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Klaus Frühauf/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Peter Fischer-Sterneaux/Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Korrektorat: Mina Dörge.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 26.07.2022
ISBN: 978-3-7554-1793-4

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