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Leseprobe

 

 

 

 

JOW MCBROWN

 

 

Nachts in Whitechapel

 

Roman

 

 

 

 

APEX CRIME CHEFAUSWAHL, BAND 8

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

NACHTS IN WHITECHAPEL 

ERSTER TEIL 

ZWEITER TEIL 

DRITTER TEIL 

 

 

Das Buch

Die beiden Zwillingsbrüder Edward und Conway Harper, ihres Zeichens Privatdetektive, deren Auftraggeber in erster Linie die upper class von London war, ahnten nicht, was alles auf sie zukam, als Jane Gaskil sie um Hilfe bat.

Jane, deren Bruder Gerald unter mysteriösen Umständen ermordet wurde, wusste nicht, dass der Mordanschlag gleichzeitig auch ihr gegolten hatte. Ebenso war es ihr unbekannt, dass ein entfernter Verwandter aus den USA sie nach seinem Tode als Erbin seines gewaltigen Vermögens eingesetzt hatte...

 

Der Roman Nachts in Whitechapel von Joe McBrown (eigentlich Hans-Joachim von Koblinski - * 16. Juni 1921 in Berlin; † 9. August 2013 in Hamburg) erschien erstmals im Jahr 1971 als Leihbuch.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME CHEFAUSWAHL.

  NACHTS IN WHITECHAPEL

 

 

 

 

 

 

 

  ERSTER TEIL

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

 

Edward Harper war müde. So müde, wie nur ein Mann sein kann, der fünf Stunden lang mit der schönsten Frau Londons getanzt hat. Jetzt hatte er Miss Lydia Grosnevir brav daheim abgeliefert, war, um ein wenig frische Luft in die Lungen zu bekommen, den weiten Weg bis zur Royal Mint Street zu Fuß gegangen und steckte nun den Schlüssel in das Türschloss des Hauses Nr. 9, das er zusammen mit seinem Zwillingsbruder Conway bewohnte, Conway und er waren ledig, und sie übten einen Beruf aus, von dem die meisten Menschen nichts wussten. Sie führten ein Detektivbüro. Ihre Büroräume lagen weit weg von der Royal Mint Street. Sie führten ihre Firma gewissermaßen unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Ihre Kundschaft rekrutierte sich ausschließlich aus den allerhöchsten Kreisen, Leuten von Adel und Leute mit mehr als nur viel Geld. Ihre Klienten legten keinerlei Wert auf Publicity, weder bei sich selbst noch bei den Menschen, deren Dienste sie für sich in Anspruch nahmen. Conway und Edward Harper lebten gewissermaßen anonym, und einen Teil des vielen Geldes, das sie verdienten, verdankten sie dieser Anonymität.

Edward Harper gähnte herzhaft, während er den Schlüssel im Haustürschloss drehte und dachte nichts Arges. So bemerkte er die schlanke Gestalt mit dem wiegenden Gang nicht, die sich in dieser Sekunde aus der Türnische des Nachbarhauses löste und mit raschen, lautlosen Schritten von hinten her auf ihn zukam.

Der Fremde war wegen der Dunkelheit nicht zu erkennen. Er trug einen leichten, für die derzeitige Mode viel zu langen Mantel, dessen breiter Kragen hochgestellt war. Den Hut hatte er so tief in die Stirn gezogen, dass man kaum etwas von seinem Gesicht sah. Seine Bewegungen waren geschmeidig wie die einer Katze. In der Rechten trug er einen sonderbaren Gegenstand, von dem bei dem ungewissen Lichtschein, den die Straßenlaternen verbreiteten, nicht gesagt werden konnte, ob es sich um einen Gummiknüppel oder um einen Sandsack handelte.

Als der Mann drei Schritte hinter seinem Opfer stand, hob er den Arm und schlug genau in der richtigen Dosierung zu.

Edward Harper spürte einen furchtbaren Schmerz am Hinterkopf. Es wurde finster um ihn. Er wusste nichts mehr von sich und der Welt. Er sank in sich zusammen, ohne auch nur den geringsten Laut von sich zu geben.

Einen Augenblick lang blieb auf der Szene des Geschehens alles still. Dann griff der Mann, der Edward Harper niedergestreckt hatte, mit der Erfahrung eines Menschen zu, der solche Dinge nicht zum ersten Mal tut. Mit einer Bewegung, die viel Kraft verriet, warf er sich den Bewusstlosen über die Schulter. Er trug ihn im Laufschritt nach der Türnische, aus der er eben gekommen war.

Wenige Sekundenbruchteile später kam eine große, dunkle Limousine die Straße entlang. Sie fuhr völlig geräuschlos. Ihr Besitzer, Lord Melchett Brantly, saß zu dieser Stunde ein wenig gelangweilt im Rauchzimmer seines Clubs in der Iron Lane und wusste nicht, dass ihm sein Auto vor genau einunddreißig Minuten gestohlen worden war. Der Wagen fuhr an den Rand des Bürgersteigs und hielt. Eine der Fondtüren öffnete sich. Der Herr im Mantel brachte Edward Harper aus der Haustürnische.

Er wurde vorsichtig auf die Hintersitze des komfortablen Autos deponiert. Die Tür schlug zu, und gleich darauf setzte sich das Auto ebenso lautlos, wie es gekommen war, wieder in Bewegung. Es nahm Richtung auf die Hafendocks.

Beinahe am Ziel hatte die lautlose Limousine jedoch Pech. Sie erreichte zwar haargenau die Stelle, die ihr Ziel war. Aber in dem Augenblick, in dem sie hielt, trat ein großer, kräftiger Herr aus dem Schatten eines der vielen Lagerhäuser heraus, die es hier gab. Er sah das Auto und wunderte sich. Da vornehme Wagen um diese Zeit in der Gegend der Docks automatisch Aufmerksamkeit und Verdacht erregten, trat er rasch wieder in den Schatten des Schuppens zurück, aus dem er aufgetaucht war. Er stand jetzt ungesehen in guter Deckung und beobachtete interessiert, was vor sich ging.

Zwei Mann kletterten eiligst von den Vordersitzen des großen Wagens. Der Motor lief weiter. Die beiden öffneten die Fondtüren ihres teuren Gefährts und holten einen anscheinend bewusstlosen Menschen heraus. Im Laufschritt schleiften sie ihn quer über den Fahrdamm in das Gewirr von Gässchen zwischen den verschiedenen Lagerhäusern hinein und dem Kai zu.

In diesem Moment sprang der Beobachter aus dem Schatten des Schuppens hervor. Er sprintete auf die Männer zu, die den Reglosen schleppten, als habe er vor, beide zusammen in einem einzigen Ansturm zu erledigen. Die beiden wandten sich um, als sie seine Schritte vernahmen, ließen ihre Last zu Boden gleiten und wollten sich ihm zum Kampf stellen. Aber ehe es überhaupt zu einer Schlacht kam, hatte einer der beiden einen so heftigen Schlag mit der Handkante gegen die Halsschlagader erhalten, dass er lautlos zusammenbrach. Der andere war eine Sekunde lang starr vor Überraschung und Schreck. Dann tat er das, was er in dieser Situation für das klügste hielt: Er ließ seinen Komplizen im Stich und rannte davon. Kurze Zeit später war er in dem Gewirr der Schuppen und Lagerhäuser, die sich bis an die Themse hinzogen, so erfolgreich verschwunden, dass sein Gegner einsah, er würde seiner nie habhaft werden. Also kümmerte er sich lieber um den bewusstlos am Boden Liegenden. Er holte seine Taschenlampe hervor und leuchtete dem reglosen Bündel Mensch zu seinen Füßen ins Gesicht.

»Edward!«, rief er verwundert aus.

In diesem Augenblick sah er das Stückchen Karton, das an dem Hut seines Zwillingsbruders steckte. Conway Harper liebte nächtliche Spaziergänge, und er liebte den Hafen, wenn er ruhig und verlassen dalag. Dass er aber seinen Bruder bei Gelegenheit eines solchen Spaziergangs davor bewahren würde, in den Fluss geworfen zu werden, daran hätte er nie und nimmer geglaubt.

Er beleuchtete den Karton von Postkartengröße mit der Taschenlampe und schüttelte verblüfft den Kopf. Mit einem Gummistempel war eine sonderbare Zeichnung darauf gedrückt, ein sitzender Vogel, der einen Menschenkopf trug. Das Ganze sah ein wenig steif und eckig aus. Es erinnerte an die Zeichnungen ägyptischer oder assyrischer Keilschriften.

Er steckte die Karte in die Tasche und fühlte nach dem Puls des Bewusstlosen. Gleich darauf richtete er sich aufatmend wieder hoch und sagte murmelnd: »Sehr schwach, Zwillingsbrüderchen, aber du lebst, und das ist die Hauptsache.«

Er nahm den Bewusstlosen vorsichtig auf und trug ihn zu der Limousine, die immer noch leer und verlassen an der gleichen Stelle stand. Gerade, als er dabei war, den Zwillingsbruder möglichst sanft in die weichen Polster des feudalen Wagens zu betten, schlug Edward die Augen auf. »Was ist denn los, Conway?«, fragte er verwundert. Dann aber wusste er sofort wieder, was geschehen war. »Wo, zum Teufel, kommst du her?«, fragte er verwirrt. »Und was ist mit mir passiert? Wo sind wir denn eigentlich?«

»Ich dachte, du würdest mir das erklären können«, erwiderte Conway mit einem beruhigten Lächeln. »Soweit ich Bescheid weiß, müsstest du in diesem Augenblick mit der wunderbaren Miss Gwen tanzen, oder?« Edward setzte sich auf und machte es sich so bequem, als es gehen wollte. »Mit der Tanzerei war alles okay«, erklärte er matt. »Die kleine Gwen tanzt tatsächlich wie eine Elfe und ist das netteste Girl, das ich seit langem kennenlernte. Als es soweit war, brachte ich sie nach Hause, und als ich dann in unser eigenes Zuhause zurückkehrte – well, in der Haustür erhielt ich von irgendeinem üblen Gentleman von hinten her einen Schlag über den Kopf, und damit hatte sich’s für mich. Vollkommene Verdunklung bis zu dem Augenblick, in dem ich hier unter deiner tatkräftigen Mithilfe wieder ins Leben zurückfand. Mehr kann ich dir beim besten Willen nicht sagen. Wieso tauchtest du genau im richtigen Moment auf, um mich aus den Klauen der Hyänen zu befreien, die bestimmt nichts Gutes mit mir vorhatten? Soviel ich sehe, befinden wir uns irgendwo in den Hafendocks.«

»Dass ich zur rechten Zeit am rechten Ort war, ist reiner Zufall«, berichtete Conway. »Du weißt, dass ich nächtliche Spaziergänge liebe und dass ich dazu die menschenleeren Hafenanlagen bevorzuge. Als dann dieses stinkvornehme Auto ankam, das in die Docks passt wie die Faust aufs Auge – dass du derjenige warst, der ins Wasser geworfen werden und ins Meer hinausschwimmen solltest, wusste ich natürlich nicht. Es erhebt sich die große Frage: Was hat das Ganze zu bedeuten?«

Edward stöhnte. »Lass meinen Kopf erst wieder klar werden, dann wollen wir darüber nachdenken«, schlug er vor.

Conway Harper setzte sich ans Steuer, und innerhalb nicht übermäßig langer Zeit, erreichten sie ihr Privathaus in der Royal Mint Street.

Im Arbeitszimmer ihrer recht umfangreichen und sehr vornehmen Wohnung trat Edward zunächst an den Schreibtisch. Er wollte die Whiskeyflasche aus dem Seitenfach holen, die dort für alle Fälle stand. Nach dem sonderbaren Abenteuer, das er eben hinter sich gebracht hatte, verspürte er das Bedürfnis, sich kräftig zu stärken.

Der Schreibtischstuhl besaß eine so hohe Lehne, dass er die junge Dame, die darin saß, erst im allerletzten Augenblick sah.

»Conway«, murmelte er verblüfft. »Komm einmal her und sieh dir das an.«

 

 

 

Zweites Kapitel

 

 

Die junge Lady mochte ungefähr zwanzig Jahre alt sein. Edward, der als unverbesserlicher Verehrer des schönen Geschlechtes etwas von Frauen verstand, sah in der gleichen Sekunde dass sie unwahrscheinlich anziehend war. Dabei schien sie nicht gerade mit Glücksgütern gesegnet, stellte er auf den zweiten Blick fest. Ihre Kleidung erwies sich zwar als geschmackvoll, aber einfach und schlicht. Sie befand sich in einem Zustand hochgradiger Erregung.

»Sieh an, sieh an«, sagte er leise, aber aufmunternd. »Wie kommen Sie denn hierher, schöne Dame? Nicht, dass ich etwas dagegen hätte, Ihre Bekanntschaft zu machen. Aber immerhin...«

»Finden Sie es nicht ein wenig seltsam, so einfach in meinem Arbeitsstuhl zu sitzen, Miss?«, fragte Conway irritiert und musterte die unerwartete Besucherin eingehend.

»Ich wollte Sie sprechen«, beeilte die junge Dame sich, ihre Anwesenheit zu erklären. »Ihre Hausdame ließ mich ein, weil ich so dringlich darum bat. Aber es dauerte sehr lange, bis Sie endlich kamen, und in der Zwischenzeit scheint sie mich vergessen zu haben. Bitte, entschuldigen Sie...«

Plötzlich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, und sie stöhnte auf. »Mein Bruder! Jemand hat meinen Bruder ermordet.« Dann schlug sie die Hände vors Gesicht und weinte.

Conway betrachtete sie interessiert. Edward zuckte es in den Fingerspitzen, die Hand zu heben und damit tröstend über das Haar der jungen, anziehenden Besucherin zu fahren. »So reden Sie doch, please«, bat er, als sich das Girl nicht beruhigen konnte. »Was ist mit Ihrem Bruder? Sagten Sie tatsächlich ermordet?«

»Er ist tot«, stieß die junge Dame gequält hervor. »Innerhalb weniger Minuten gestorben, ohne dass er vorher krank war. Nachdem er diesen Magenbitter getrunken hatte...«

Conway Harper horchte auf. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich dem Mädchen gegenüber. »Das müssen wir andersherum anfangen«, erklärte er mit jener freundlichen Energie, die ihm das Vertrauen eingeschüchterter Menschen gewöhnlich innerhalb von wenigen Minuten erwarb. »Ich glaube, es wird leichter und einfacher sein, wenn ich frage und Sie antworten. Zuallererst einmal werden Sie uns sagen müssen, wie Sie heißen, meine Dame.«

Das Mädchen fasste sich und blickte ohne Furcht zu ihm auf. »Ich heiße Jane Gaskil, Sir«, entgegnete es gehorsam. »Ich bin als Stenotypistin bei Fraser, Fraser and Son in der Pall Mall angestellt.«

»So?« Conway nickte ihr freundlich zu. »Und warum kommen Sie in diesem Fall zu uns, Miss Gaskil? Zu so später Stunde und in unsere Privatwohnung? Ihr Bruder ist tot, sagten Sie. Wäre es da nicht vernünftiger gewesen, das nächste Polizeirevier aufzusuchen und dort Meldung zu erstatten? Wie lange sitzen Sie denn schon hier herum?«

In diesem Augenblick trat Mrs. Wesley, die Hausdame der Zwillingsbrüder mit hastigem Schritt ins Zimmer und meldete: »Das Abendessen ist angerichtet. Wenn sich die Herren ins Esszimmer bemühen wollen?«

»Wie lange ist es her, dass Sie Miss Gaskil bei uns einließen?«, fragte Conway streng.

Die Haushälterin machte ein bestürztes Gesicht. »Mein Gott«, stammelte sie. »Das habe ich tatsächlich ganz und gar vergessen. Ich wäre schlafen gegangen, ohne daran zu denken, dass sie immer noch hier sitzt. Sie kam vor ungefähr einer Stunde bei uns an. Da sie sich nicht abweisen lassen wollte, dachte ich...«

»Schon gut«, unterbrach Conway ihren Redefluss. »Sie können wieder gehen, Mrs. Wesley.«

»Warum also kamen Sie zu uns?«, wandte er sich an Miss Gaskil, als die Hausbesorgerin mit ziemlicher Lautstärke die Zimmertür hinter sich geschlossen hatte.

»Ich hörte in der Firma, in der ich beschäftigt bin, von Ihnen sprechen. Der Seniorchef behauptete, Sie seien die tüchtigsten Detektive, die es auf der ganzen Welt gäbe. Da kam ich hierher, weil ich dachte...«

»Und woher erhielten Sie unsere Privatadresse?«, forschte Conway misstrauisch.

»Mein Chef erwähnte sie einmal seinem Teilhaber gegenüber«, erklärte Jane Gaskil schuldbewusst. »Sie blieb mir im Gedächtnis haften und...« Sie schwieg unglücklich.

»Wo wohnen Sie, Miss Gaskil?«, fragte Conway. »Sie werden einsehen, dass wir uns danach erkundigen müssen, ehe wir uns weiter mit Ihnen unterhalten.«

Die junge Dame nickte. Dann erklärte sie halblaut: »128, Maydon Street, Sir. Es ist nicht sehr weit von hier.«

»Ich kenne die Gegend, und mein Bruder kennt sie auch«, ließ Edward sich hören. »Größtenteils kleine Leute, die da wohnen, oder?«

Das Mädchen lächelte bitter. »Das stimmt sehr genau, Mr. Harper«, erwiderte es. »Wir haben dort nicht einmal eine eigene Wohnung, sondern wohnen nur in Untermiete. Es handelt sich um zwei kleine Dachstuben, und oft genug fällt es mir schwer, den geringen Mietzins aufzubringen, den wir dafür zu entrichten haben. Fraser, Fraser and Son zahlen nicht gerade gut. Aber es ist heutzutage schwer, eine Stellung zu finden, wenn man nicht mehr als Maschineschreiben und ein wenig stenographieren kann.«

»Arbeitet Ihr Bruder denn nicht?«, erkundigte sich Edward verwundert. »Man sollte meinen...«

»Gerald ist jünger als ich«, unterbrach ihn das junge Mädchen. Es klang, als bitte sie um Entschuldigung. »Er studiert. Da wir beide allein in der Welt stehen und von niemand Hilfe erwarten können, nahm ich mir vor, ihm die Ausbildung geben zu lassen, die nötig ist, wenn er es im Leben zu etwas bringen soll. Jetzt nun...« Sie erinnerte sich daran, weshalb sie hierhergekommen war, und starrte die Brüder voller Entsetzen an.

»Nun ist er tot. Ich werde nie wieder etwas für ihn tun können.«

»Und er starb tatsächlich an einem Schluck Magenbitter?«, fragte Conway interessiert.

»Er trank eines dieser kleinen Fläschchen, die überall verkauft werden«, berichtete Miss Gaskil. »Nicht, dass er dergleichen gern getrunken hätte. Er war kein Freund von Alkohol. Aber da er plötzlich Magenschmerzen bekam, glaubte er, es würde ihm helfen.«

»Wo kauften Sie diesen Magenbitter?«

»Wir kauften ihn nicht. Er wurde uns ins Haus geschickt. Schon vor einigen Monaten. Es handelte sich um eine Probesendung. Drei Fläschchen in einem Karton. Mit einem Begleitschreiben der Firma, sie würde sich freuen, wenn wir ihr Produkt einmal ausprobieren und feststellen würden, wie gut es sei und wie vorzüglich es schmecke. Nun, keiner von uns beiden liebte so etwas. Ich wollte die kleinen Fläschchen aber nicht wegwerfen und stellte sie deshalb in den Schrank. Als mein Bruder diese Magenschmerzen bekam, erinnerte er sich daran und trank eins davon.«

»Und es ist schon Monate her, dass Sie diese Fläschchen zugesandt bekamen?«

»Ich weiß nicht mehr genau, wie lange es her ist, aber sechs bis sieben Wochen bestimmt.«

»Den Begleitbrief und das Verpackungspapier besitzen Sie natürlich nicht mehr?«

»Ich tat es damals gleich weg, nachdem ich das Päckchen geöffnet hatte. Die Polizei fragte auch danach, als sie begann, die Sache zu untersuchen.«

»Die Polizei beschäftigt sich also bereits mit dem mysteriösen Tod Ihres Bruders?«

»Als Gerald das Fläschchen ausgetrunken hatte, brach er zusammen und stürzte zu Boden. Es war furchtbar. Er krümmte sich vor rasenden Schmerzen. Ich versuchte ihm zu helfen. Als meine Bemühungen keinen Erfolg zeitigten, lief ich und holte den nächsterreichbaren Arzt. Er kam sofort, konnte aber nur noch den Tod meines Bruders feststellen. Er war in der Zwischenzeit gestorben. Pflichtgemäß meldete er den Vorfall der Polizei. Die Beamten vom Yard kamen und untersuchten die Sache. Ich erinnerte mich an das, was mein Chef seinerzeit über

Sie gesagt hatte, und als ich nicht mehr gebraucht wurde, kam ich zu Ihnen, in der Hoffnung, dass Sie mir helfen würden, den Mörder meines Bruders der Gerechtigkeit zu übermitteln.«

Unter anderen Umständen hätte Conway seine Besucherin darauf hingewiesen, dass London in Scotland Yard die beste Polizei der Welt habe, dass jeder Beamte dort ein Experte sei, und dass die Yardleute den Mörder ihres Bruders sicherer der strafenden Gerechtigkeit zuführen würden, als er selbst und sein Zwillingsbruder dies tun könnten. In diesem besonderen Fall aber fühlte er das Bedürfnis, etwas für das arme Mädchen zu tun. Kurz entschlossen sagte er: »Well, begeben wir uns in Ihre Wohnung, Miss Gaskil. Die Mordkommission wird dort wahrscheinlich immer noch an der Arbeit sein. Das ist mir sehr recht. Wir bekommen dann unsere Informationen aus erster Hand.«

 

 

 

Drittes Kapitel

 

 

Die Brüder Harper sollten jedoch nicht dazu kommen, das Haus zu verlassen. Sie waren noch nicht ganz aus dem Zimmer, da läutete die Türglocke, und Mrs. Wesley zwängte sich an ihnen vorbei, um öffnen zu gehen. Kaum war sie an der Haustür, da hörten die Brüder einen erfreuten Ausruf aus ihrem stimmgewaltigen Mund. »Mr. Windemore!«, rief sie begeistert. »Tatsächlich Mr. Windemore! Was werden die Herren Harper für eine Freude haben, wenn sie Sie sehen!« Außer Atem kam sie ins Wohnzimmer zurückgelaufen. »Mr. Windemore ist da«, berichtete sie japsend. »Mr. Windemore ist wieder in England – und er hat es nicht versäumt, direkt vom Flugplatz hierherzukommen!«

Über Conway Harpers Gesicht lief ein Ausdruck ehrlicher Freude. Rasch eilte er

in die Diele hinaus. »Charles!«, rief er lachend. »Welche Überraschung!« Er ergriff die Hand des Herrn, der vor ihm stand, und erst seinen Koffer absetzen musste, um ihn begrüßen zu können. Der Ankömmling war ein Mensch von ungefähr vierzig Jahren, eine große, schlanke, distinguierte Erscheinung, geschmeidig in allen seinen Bewegungen. Das Gesicht war von der Sonne gebräunt, und er machte einen recht sportlichen Eindruck. Seine Augen blitzten in der Freude des Wiedersehens.

»Ich habe mir eure Gesichter auf dem ganzen Flug von New York bis hierher im Geist vorgestellt«, sagte er lachend. »Ich muss sagen, der Anblick entspricht voll und ganz meinen Erwartungen. Ich komme acht Tage eher, als ich es euch angekündigt habe, und das bedeutet acht gesparte Tage, die mir nun für old England zur Verfügung stehen. Wie ich mich freue! Es ist immerhin zwei volle Jahre her, seit wir uns das letzte Mal sahen.«

Edward zog den Angekommenen ins Zimmer. Auch auf seinem Gesicht lag Wiedersehensfreude. Windemore stutzte, als er Miss Gaskil erblickte. Er schien von der stillen Schönheit des jungen Mädchens tief beeindruckt. »Verzeihung«, bat er. »Ich wusste nicht, dass ihr Besuch habt. Ich will aber nicht lange stören, denn ich muss sowieso erst auf die Suche nach einem ordentlichen Hotelzimmer gehen. Ich werde also...«

»Unsinn«, unterbrach ihn Edward fröhlich. »Hotelzimmer kommt nicht in Frage. Natürlich wohnst du bei uns. Zumindest so lange, bis du eine geeignete Wohnung gemietet hast, falls du länger in London bleibst. Deine alte Wohnung kannst du nicht wiederbekommen, wie ich zufällig weiß. Ich hielt Nachfrage, als wir die Nachricht von deiner Rückkehr bekamen. Sie ist für die nächsten Mal fünf Jahre fest vermietet. Es dauert nicht lange, dann hat Mrs. Wesly ein Zimmer für dich gerichtet, und du kannst es dir bequem machen.«

Der Besucher schüttelte lächelnd den Kopf. »Das ist zwar sehr nett von euch, aber ich habe bereits von New York aus ein Zimmer im Astoria für mich gebucht. Natürlich werden wir uns in den nächsten Tagen so oft sehen, wie das nur irgend möglich ist. Ich habe eine unbändige Sehnsucht danach, unser altes London kreuz

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Hans-Joachim von Kublinski/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/APex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/APex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Korrektorat: Mina Dörge.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 19.07.2022
ISBN: 978-3-7554-1737-8

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