CARTER BROWM
Die Sklavin mit den Mandelaugen
Roman
Apex Noir, Band 21
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DIE SKLAVIN MIT DEN MANDELAUGEN
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Das Buch
Selina, die Sklavin, war in durchsichtige Seide gekleidet. Ihr Herr saß auf einem Teppich und rauchte an seiner Wasserpfeife. Seine Zehennägel waren silbern lackiert. Und all das... mitten in New York.
Es ist für Danny Boyd ein Ausflug in die Welt von Tausendundeine Nacht, als er die Spur von geschmuggelten Diamanten und einer entführten Schönen aufnimmt, die in ein festungsähnliches Haus führt und zu einer gefährlichen Frau mit einer Schwäche für junge Männer und unsaubere Geschäfte...
Der Roman Die Sklavin mit den Mandelaugen von Carter Brown (eigentlich Allan Geoffrey Yates; * 1. August 1923 in London; † 5. Mai 1985 in Sydney) erschien erstmals im Jahr 1963; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1965.
Der Apex-Verlag veröffentlicht Die Sklavin mit den Mandelaugen in seiner Reihe APEX NOIR, in welcher Klassiker des Hard-boiled- und Noir-Krimis als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden.
DIE SKLAVIN MIT DEN MANDELAUGEN
Erstes Kapitel
Zugegeben, wenn Manhattan unter einer mittsommerlichen Hitzewelle stöhnt, können alle möglichen und unmöglichen Dinge geschehen, aber als mir nachmittags um halb sechs ein halbnacktes Sklavenmädchen, das geradeswegs den Erzählungen der schönen Scheherazade zu entstammen schien, die Tür zu der feudalen Dachetage am Sutton Place öffnete, war ich doch reichlich perplex. Mir fielen nur zwei Erklärungen ein: Entweder ich litt unter den Folgen eines Hitzschlags, oder ich war reif fürs Irrenhaus.
»Ja?«
Die Fata Morgana besaß eine teilnahmslose Stimme.
Ich schloss die Augen und stöhnte verhalten.
»Hört sich an, als hätte die Hitze Sie schon erwischt«, stellte sie schwarzseherisch fest. »Mit dem Bürstenhaarschnitt sollten Sie es sich zur Gewohnheit machen, einen Hut zu tragen. Aber immer.«
Zögernd öffnete ich meine Augen wieder. Sie war immer noch da. Mit der nackten Schulter lehnte sie am Türrahmen, während ihre großen braunen Augen mich ohne sonderliches Interesse musterten. Das dichte schwarze Haar fiel ihr in herrlicher Nachlässigkeit bis auf die Schultern, so als hätte sie vergessen, es hochzustecken. Der knappsitzende, rote Satinbolero schloss sich mit Müh und Not über ihrem verlockend üppigen Busen. Danach folgte bis zu den runden Hüften gar nichts, und ich hatte Muße, die glatte, olivbraune Haut ihres Körpers zu bewundern. Die weite Satinpluderhose wurde an den Knöcheln von großen Messingschnallen zusammengehalten. Die kleinen Füße waren nackt.
»Mein Name ist Boyd«, murmelte ich. »Danny Boyd. Ich wollte einen gewissen Osman Bey aufsuchen, aber offenbar habe ich mich in der Tür geirrt.«
»Sie sind hier schon richtig«, erklärte sie.
»Vielleicht ist er beschäftigt«, meinte ich. »Ich könnte ja im Herbst mal wieder vorbeischauen, wenn es ein bisschen abgekühlt ist.«
»Nein, nein. Er sitzt nur da und raucht seine Huka«, erwiderte sie lächelnd. »Kommen Sie nur herein, Mr. Boyd.«
Mir war immer noch nicht ganz geheuer.
»Wahrscheinlich ist es das beste, ich verschwinde wieder und lass mich hier nicht mehr blicken«, stellte ich fest.
»Kommen Sie lieber rein«, forderte sie mich leicht gereizt auf. »Und machen Sie sich ja keine falschen Hoffnungen. Das hier ist meine Berufskleidung.«
Ich folgte hingerissen, während sie mit verführerischem Hüftgewackel vor mir her tänzelte. Je weiter wir ins Innere der geräumigen Wohnung vordrangen, desto schwerer wurde die Luft von einem aufdringlichen aromatischen Duft nach Weihrauch.
Die Einrichtung des Wohnzimmers schlug den standardisierten Vorstellungen des amerikanischen Durchschnittsbürgers über gepflegte Häuslichkeit ins Gesicht. Ein wunderschöner weißer Berberteppich bedeckte den Fußboden, und darüber war wahllos eine Reihe riesiger Plüschsitzkissen verstreut. Stühle gab es nicht.
Auf einem pflaumenfarbenen Samtkissen saß mit gekreuzten Beinen ein Mann und rauchte Wasserpfeife. Ich hatte nie zuvor eines dieser seltsamen Dinger gesehen, außer mal im Witzblatt der Zeitung, und beobachtete fasziniert das komplizierte Verfahren. Allerdings war es mir nicht vergönnt, mich genau zu informieren, da sämtliche Vorhänge zugezogen waren und das Zimmer in Halbdunkel gehüllt war. Aber jedes Mal, wenn der Mann den Rauch durch das Wasser sog, gab es ein gurgelndes Geräusch, das irgendwie unanständig klang.
»Das ist Danny Boyd«, verkündete das Sklavenmädchen unfreundlich. »Mir kommt er vor wie ein unnützer Schmutzfink, der nichts als Zweideutigkeiten im Kopf hat, aber das ist ja wohl deine Sache.«
»Sind Sie Osman Bey?«, fragte ich den Mann mit unverhüllter Neugier.
Er strich sich über den Bart, den er sich offenbar in letzter Minute angeklebt hatte, denn ich konnte sehen, wie der trockene Mastix abbröckelte. Leichtes Interesse flackerte in seinen Augen.
»Bitte, nehmen Sie Platz, Mr. Boyd.«
Er wies auf eines der überdimensionalen Sitzkissen.
Ungeschickt ließ ich mich darauf nieder und wartete schweigend, während er wieder an seiner Wasserpfeife zog. Es dauerte eine Ewigkeit, bis der Rauch durch den langen Schlauch in seinen Mund gelangte, und ich hatte hinreichend Gelegenheit, ihn mir genauer zu betrachten.
Das lange schwarze Haar war voll und glänzte ölig. Über seinen Hamsterbacken spannte sich dunkle weiche Haut. Er trug ein blaues Seidenhemd, das lose über seinen Spitzbauch fiel, und eine formlose grüne Hose, deren Nähte an den massiven Schenkeln zu platzen drohten. Die nackten Füße waren lang und zart wie die einer Frau, die Nägel silbern lackiert. Der Mann wirkte widerlich.
»Ich bin Osman Bey«, verkündete er mit einer Großartigkeit, als handle es sich um die Enthüllung eines Staatsgeheimnisses, und paffte mir gleichzeitig eine dicke Rauchwolke ins Gesicht. »Seien Sie in meinem Hause willkommen.«
»Besten Dank«, brummte ich.
»Selina!« Er klatschte kurz in die Hände. »Wir möchten Kaffee haben.«
»Und wenn schon«, erwiderte das Mädchen mit einem spöttischen Lächeln.
Dann schwänzelte es aus dem Zimmer, und ich vertiefte mich in die reizvolle Rückenansicht, bis Selina verschwunden war.
Meine Neugier ließ sich nicht mehr länger bezähmen.
»Äh - ist Selina Ihre Frau?«, fragte ich und bemühte mich krampfhaft, unbefangen Konversation zu machen.
Osman Bey schüttelte schockiert den Kopf und ließ ein verächtliches Knurren vernehmen.
»Sie belieben zu scherzen, mein Freund! Ich erhielt sie von einem bankrotten Schuldner als Bezahlung.«
»Und es macht ihr nichts aus?«
»Oh, solange sich Selina ihren Lebensunterhalt nicht durch harte Arbeit verdienen muss, ist ihr alles recht«, erklärte er unbestimmt. »In meinem gelobten Vaterland, wie es in der guten alten Zeit war, hätte ich ihr zwei-, dreimal pro Tag eine Bastinade gegeben, um sie von ihrer lasterhaften Trägheit zu kurieren.«
»Bastinade?«
»Schläge auf die Fußsohlen mit einer bestimmten Gerte«, erklärte er mit träumerischer Stimme. »Sind Sie nicht auch der Ansicht, dass wir Menschen von heute allmählich die Opfer der Zivilisation werden?«
Mit einem Tablett in den Händen kehrte Selina zurück. Sie servierte uns den Kaffee in kleinen Mokkatassen. Ohne mir Gedanken zu machen, trank ich einen Schluck, nur um gleich darauf die Tasse angewidert abzusetzen. Es kostete mich eine Anstrengung, das bittere dicke Gebräu hinunterzuschlucken. Eine Welle der Übelkeit stieg in mir hoch, als mein feinfühliger Magen sich weigerte, das ekelhafte Zeug aufzunehmen.
»Ah!« Osman Bey schmatzte genießerisch. »Türkischer Kaffee ist der einzig richtige Kaffee.«
»Ja«, stimmte Selina zu, »einfach großartig.«
Sie beobachtete mich voll schadenfroher Befriedigung.
Mein Wille, das Gebräu hinunterzuwürgen, kämpfte noch immer einen erbitterten Kampf mit meinem revoltierenden Magen.
Osman Bey stellte seine leere Tasse nieder und betrachtete mich unverwandt, in seinen dunklen Augen einen Ausdruck tiefer Melancholie.
»Kommen wir zur Sache, mein Freund«, begann er niedergeschlagen. »Mein Leben ist ruiniert. Für immer werde ich Schmach und Schande leiden müssen, wenn Sie mir nicht helfen.«
»Warum versuchen Sie’s nicht mal mit Nescafé?«, schlug ich hilfsbereit vor.
»Jetzt ist nicht die Zeit zu scherzen«, verkündete er mit einem herzzerbrechenden Seufzen. »Mein Kompagnon und mir in jahrelanger Treue verbundener Freund, Abdul Murad, sandte mir sein höchstes Gut, in dem Vertrauen auf Allah und mich selbst, dass es nicht zu Schaden kommen möge, und ich habe dieses Vertrauen verraten.« Einen Augenblick sah es aus, als würde er in Tränen ausbrechen. »Ich verlasse mich auf Ihr Können und Ihr Talent, mein Freund, und hoffe, dass es Ihnen gelingen wird, diesen Schatz wiederzufinden, bevor mein Freund und Kompagnon erfährt, dass er abhandengekommen ist.«
»Was ist das für ein Schatz?«, fragte ich.
»Seine Tochter Marta«, wimmerte Osman Bey. »Ein Juwel, ein leuchtender Stern unter den Frauen und sein einziges Kind. Ohne sie ist sein Leben nicht mehr lebenswert.« Osman Bey zitterte. »Und wenn er jemals entdeckt, dass sie verschwunden ist, dann wird auch mein Leben keinen roten Heller mehr wert sein. In gerechtem Zorn ist Abdul Murad ein furchtbarer Mann, ein direkter Abkömmling der Ottomanen, die durch das Schwert herrschten. Wenn er erfährt, dass seine Tochter verschwunden ist, wird mein Leben nicht so viel mehr gelten.«
Er schnalzte dramatisch mit den Fingern.
»Wie ist es überhaupt dazu gekommen, dass sie verschwunden ist?«, erkundigte ich mich.
»Sie kam hier mit dem Flugzeug an, fuhr in ihr Hotel und rief mich dann an, um mir mitzuteilen, dass sie spätestens in einer Stunde bei mir sein wollte«, berichtete Osman Bey mit gequälter Stimme. »Ich wartete, voller Vorfreude und Eifer, die einzige vergötterte Tochter meines alten Freundes und Kompagnons in meinem armseligen Heim willkommen zu heißen. Aber sie kam nicht. Ich rief im Hotel an, und man sagte mir, dass sie eine halbe Stunde zuvor ausgezogen sei, ohne eine Adresse zu hinterlassen. Zwei Männer hatten sie besucht, und sie hatte das Hotel in ihrer Gesellschaft verlassen.«
Aus verschwommenen dunklen Augen blickte er mich kummervoll an.
»Darauf gibt es nur eine mögliche Antwort, mein Freund. Marta Murad ist entführt worden.«
»Es ist heute Morgen geschehen?«, fragte ich.
»Nein, vor vier Tagen«, erwiderte er. »Seit sechsundneunzig Stunden lebe ich in Angst und Schrecken.«
»Und die Polizei kann sie nicht finden?«
»Im Gewirr der Häuser und Türme von Manhattan kann ein junges Mädchen für immer verschwinden«, erklärte er ausweichend.
»Sie meinen, Sie haben die Polizei gar nicht benachrichtigt?«, erkundigte ich mich.
»Ich brauche leistungsfähigere und wirkungsvollere Unterstützung, mein guter Freund.« Er lächelte hoffnungsvoll. »Ich habe von Ihrem Ruf gehört. D. Boyd, der schlaueste Fuchs unter den Privatdetektiven. Für meinen alten Freund und Kompagnon ist das Beste gerade gut genug.«
»Und Sie haben vier ganze Tage gebraucht, um zu diesem Schluss zu gelangen?«, erkundigte ich mich, ohne meine Verwunderung zu verbergen.
»Ich hoffte, Marta würde mich anrufen. Ich glaubte immer noch, dass vielleicht etwas geschehen sei, wodurch sich ihr plötzliches Verschwinden auf eine natürliche Art würde erklären lassen.« Er lächelte wieder, doch auf seiner Oberlippe glänzten feine Schweißperlen. »Doch nach und nach rang ich mich zu der Überzeugung durch, dass sie mich nicht anrufen würde und dass ich mit der Suche nach ihr beginnen müsste. Und aus diesem Grund wandte ich mich an den größten Privatdetektiv von New York, um ihm diese schwierige Aufgabe anzuvertrauen.«
»Sie ist auf legalem Weg in die Vereinigten Staaten gekommen?«, fragte ich.
»Aber selbstverständlich.« Aus dem Ausdruck seiner Augen war klar zu erkennen, dass der Gedanke an gesetzeswidrige Handlungen ihn entsetzte. »Sie kam als Touristin mit einem Besuchervisum. Sie wollte lediglich dem Geschäftspartner ihres Vaters einen mehrwöchigen Besuch abstatten.«
»Was hatte sie bei sich?«
Er strich wortlos über seinen lächerlichen Bart und zuckte die Achseln.
»Eine kluge Frage! Ja, mein Einfall, mich an D. Boyd zu wenden war richtig. Das sehe ich schon jetzt. Ja, sie hatte etwas bei sich. Ein kleines Geschenk von meinem Kompagnon, einen Beweis seiner Achtung und seiner Wertschätzung für mich. Ein feierliches Geschenk, das die geistigen und moralischen Werte unserer langjährigen Partnerschaft unterstreichen sollte. Etwas Seltenes und Wertvolles, D. Boyd, eine authentische Erstausgabe der von Yusuf Kamil Pasha verfertigten Übersetzung von Racines Fenelon.«
»Tatsächlich?«, sagte ich verständnislos.
»Es ist ein äußerst wertvolles Buch.«
»Vielleicht wurde es durch einige Grämmchen Heroin, die im Einband verborgen waren, noch wertvoller?« wagte ich höflich zu vermuten.
»Heroin?« Seine fetten Wangen schlotterten vor selbstgerechter Empörung. »Dieses schmutzige Rauschgift? Ich würde meine Seele nicht...«
»Was dann?«, unterbrach ich.
Osman Bey zuckte die Achseln und bedachte mich dann mit einem leicht nervösen Grinsen.
»Nun, vielleicht ein paar niedliche kleine Diamanten, D. Boyd. Ich bin überzeugt, dass Sie dagegen keine Einwendungen zu erheben haben, nicht wahr?«
»Und welche Anzahl von niedlichen kleinen Diamanten, gegen die ich nichts einzuwenden habe, hatte Marta Murad in dieser wertvollen Erstausgabe versteckt?«, erkundigte ich mich kalt.
»Die tatsächliche Anzahl der Steine kann ich nur vermuten«, erwiderte er in entschuldigendem Ton. »Ihren Wert würde ich auf etwa, nun sagen wir, zweihunderttausend Dollar schätzen.«
»Sie wurde also entführt, und die Kidnapper wussten genau, worauf sie es abgesehen hatten«, stellte ich unumwunden fest. »Sie wussten auch, dass Sie es nicht wagen würden, sich an die Polizei zu wenden, weil die Diamanten geschmuggelt waren. Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, was dem Mädchen in den letzten vier Tagen zugestoßen ist, aber ich kann mir ein genaues Bild von dem machen, was mit den Diamanten geschehen ist.«
»Ein Mensch vertraut auf Allah und lebt in Hoffnung«, erklärte Osman Bey mit gespielter Frömmigkeit. »Ich werde Sie dafür bezahlen, wenn Sie mir die Diamanten wiederbringen, D. Boyd, und natürlich auch das Mädchen.« Es klang, als habe er sich gerade noch an das Mädchen erinnert. »Ob Sie nun Erfolg haben oder nicht - es ist Kismet. Sie können es nur versuchen. Kein Mensch kann mehr tun.«
»Aber er kann beträchtlich weniger tun«, knurrte ich.
»Für...«, er schloss die Augen und schien einige Sekunden konzentriert nachzudenken, »...eine Anzahlung von fünftausend Dollar und weitere zehntausend, wenn Sie die Steine ausfindig machen und mir überbringen - und das Mädchen natürlich auch -, würde ein Mann Ihres Schlags doch sein Bestes tun, nicht wahr, D. Boyd?«
»Richtig«, stimmte ich hastig zu, um ihm keine Zeit zu lassen, seine Ansicht zu ändern.
»Selina!« Er schnalzte gebieterisch mit den Fingern. »Bring das Geld.«
Kurz darauf trat das Sklavenmädchen wieder ins Zimmer und überreichte mir einen dicken Umschlag. Ich öffnete ihn und zählte sorgfältig die knisternden Hundertdollarnoten, die sich darin befanden. Es waren genau fünfzig.
»Im Hotel werde ich nichts Nützliches erfahren«, erklärte ich. »Soll ich nach dem gleichen Verfahren arbeiten wie die Polizei, mit dem Unterschied natürlich, dass die Polizei bei der Methode hundertmal rascher vorwärtskommt. Soll ich mich in den Krankenhäusern erkundigen, im Leichenschauhaus herumschnüffeln und so weiter?«
»Ich glaube nicht, dass die Tochter meines schätzenswerten Partners und Freundes krank oder tot ist«, meinte er. »Meiner Ansicht nach hat man sie lediglich entführt, wie ich bereits erwähnte. Man hat sie entführt, um mich daran zu hindern, die Diamanten wieder in meinen Besitz zu bringen. Sobald diese Leute die Diamanten in Händen haben, werden Sie Marta Murad nicht mehr brauchen und sie auf freien Fuß setzen. Sie müssen sie finden, bevor das geschieht, D. Boyd, dann werden Sie auch meine Diamanten ausfindig machen.«
»Okay«, sagte ich. »Aber Sie haben mir immer noch keinen Anhaltspunkt gegeben. Wer wusste, dass die Diamanten in dem Buch versteckt waren? Ihr Partner, Abdul Murad, wusste davon, weil er sie Ihnen ja geschickt hat, und Sie wussten, dass seine Tochter die Steine bei sich hatte. Wer sonst wusste genug, um die Entführung des Mädchens innerhalb weniger Stunden nach ihrer Ankunft in New York organisieren zu können?«
Osman Bey maß mich mit einem tiefbekümmerten Blick.
»Mohammed sagte einmal, dass die besten Frauen diejenigen sind, die sich auch mit Kleinigkeiten zufriedengeben, D. Boyd. Aber eine solche Frau habe ich bisher noch nicht gefunden. Sehen Sie, ich - äh -, ich habe eine Schwäche für Bauchtänzerinnen. Vor einigen Monaten lernte ich eine kennen, die meinem Geschmack ganz besonders zusagte, und wir traten in ein enges freundschaftliches Verhältnis. Ich vertraute ihr einige meiner Geheimnisse an und weiß jetzt, dass mein Vertrauen schmählich missbraucht worden ist. Sie heißt Leila Zenta.«
»Ich nehme an, Sie haben die Dame wegen dieser Angelegenheit zur Rede gestellt?«
Osman Bey zuckte nachdrücklich die Achseln.
»Warum hätte ich das tun sollen? Meinen Sie, sie würde es zugeben, wenn sie mich verraten hat? Nein, ich habe nicht mit ihr gesprochen. Aber Sie können es vielleicht tun.«
»Wo finde ich sie?«
»Sie arbeitet im Ottoman-Club.«
»Und sonst fällt Ihnen niemand mehr ein?«, erkundigte ich mich.
Er schüttelte mit Bestimmtheit den Kopf.
»Niemand. Es muss Leila gewesen sein.«
»Ich werde mich heute Abend noch mit ihr unterhalten«, versprach ich. »Und morgen früh werde ich Ihnen darüber Bericht erstatten.«
Wieder ertönte das gurgelnde Geräusch, als er an seiner Wasserpfeife zog.
»Ich glaube«, meinte er schließlich, »es ist besser, wenn ich Sie morgen im Laufe des Tages anrufe, um mir Ihren Bericht geben zu lassen, D. Boyd.«
»Wie Sie wollen«, erwiderte ich achselzuckend.
»Selina wird Sie zur Tür begleiten.« Mit unendlicher Behutsamkeit strich er über seinen Bart. »Ich wünsche Ihnen allen Erfolg. Möge Allah mit Ihnen sein.«
»Wenn ich eine Bauchtänzerin besudle?«
»In seiner unerforschlichen Weisheit hat Allah zuerst den Bauch geschaffen«, sagte er milde, »dann ist doch der Tanz, der ihm gewidmet ist, eine Art der Verehrung, oder nicht?«
»Sie hätten Rechtsanwalt werden sollen«, stellte ich bewundernd fest.
»Ich hätte in Gesellschaft einer gewissen Dame den Mund halten sollen«, erwiderte er. »Dann müsste ich mir jetzt weder um die Tochter meines Kompagnons noch um die Diamanten, die ich verloren habe, Sorgen machen.«
Das Sklavenmädchen führte mich wieder hinaus in den Vorsaal und öffnete mir die Tür. Sie stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. Selbst einen Medizinstudenten hätte der Anblick des roten Satinboleros, der sich beängstigend spannte, in den Grad höchster Verwirrung gesetzt. Ich drehte meinen Kopf ein wenig, um sie in den Genuss meines markanten Profils von der linken Seite kommen zu lassen.
»Erzählen Sie mir nur nicht, Sie hätten auch Sorgen«, meinte ich teilnahmsvoll.
»Er will eine Bauchtänzerin aus mir machen«, gestand sie unglücklich. »Aber er geht einfach nicht rauf und runter.«
»Wer geht nicht rauf und runter?«, fragte ich verblüfft.
»Mein Nabel.«
»Und wegen solcher Lappalien machen Sie sich Kopfzerbrechen?«, fragte ich wegwerfend.
»Er macht sich Kopfzerbrechen.« Sie deutete mit dem Daumen zum Wohnzimmer. »Eintausend Dollar hätte ich ihn gekostet, behauptet er, und für einen solchen Betrag könne er zumindest eine echte Bauchtänzerin erwarten. Meint er jedenfalls. Und wenn die Bauchtänzerin echt sein soll, dann muss der Nabel rauf und runter gehen.«
Zur Abwechslung wandte ich ihr diesmal mein rechtes Profil zu. Doch die Wirkung war die gleiche wie zuvor, gleich Null. Ich kam zu dem Schluss, dass dieses Mädchen nichts als seine eigenen Sorgen im Kopf hatte, und wahrscheinlich war bei ihr auch ein kleines Schräubchen locker.
»Selina«, bot ich mich großzügig an. Wenn es Ihnen recht ist, dann komme ich und helfe Ihnen üben.«
»Machen Sie keine dummen Witze«, versetzte sie kalt. »Sie haben Probleme genug, scheint mir. Ihr Kopf zuckt ja dauernd von einer Seite auf die andere.«
Zweites Kapitel
Der Ottoman-Club gehörte zu den wenigen orientalischen Nachtlokalen, die sich auch nach Abflauen der großen Bauch- tänzerinnen-Hausse vor einigen Jahren gehalten hatten. Er lag in der Nähe des Broadways, in dem Viertel, in dem sich die Straßen mit den vierziger Nummern befinden, und von außen wirkte er ungefähr ebenso einladend wie ein Begräbnisinstitut. Auch als ich eintrat, konnte ich keine Verbesserung feststellen. Die Beleuchtung war spärlich, die Getränke gepanscht und die Speisen verdächtig.
Ich hatte mich ungefähr gegen zehn Uhr an einem Tisch niedergelassen und einige zweifelhafte Whiskys mit Eis hinuntergespült, bis eine Stunde später die Attraktionen begannen. Die Gäste wurden von verschiedenen Bauchtänzerinnen unterhalten, die rasch aufeinander folgten, alle gleich aussahen, alle auf gleiche Art mit Bäuchen und Hüften wackelten und mich alle gleich kalt ließen. Dann wurde der Auftritt Leila Zentas, der exotischen Tänzerin, angesagt.
Sie war blond, mit langen Stirnfransen, die fast ihre Augen verdeckten. Das Gesicht, von dem blonden Haar umrahmt, das ihr lose auf die Schultern fiel, war mehr frech als sinnlich. Erfreulicherweise wirkte sie im Vergleich zu den vollbusigen, behäbigen Damen, die vor ihr aufgetreten waren, beinahe schlank. Schlank ja, aber selbst ein kurzsichtiger Menschenfeind hätte niemals zu behaupten gewagt, sie sei flachbrüstig.
Der Tanz, den sie, in ein knappes Bikinihöschen und zwei glitzernden Sternen, die von der Pracht ihres Busens mehr enthüllten als verhüllten, aufführte, war zwar erotisch, aber nicht exotisch. Zu ihrer Ehre muss jedoch gesagt werden, dass sie ihren bauchkreisenden Kolleginnen bei weitem überlegen war. Als der Tanz zu Ende war, applaudierten die Gäste zaghaft. Die Blonde neigte ihren Kopf kaum merklich, bedachte die Zuschauer mit einem wilden Blick blanken Hasses und ging ab. Nach Leila folgte unverzüglich eine weitere Jüngerin der edlen Kunst des Bauchtanzes - Ishna aus Istanbul -, und nach den ersten konvulsivischen Zuckungen ihres massiven Körpers gelangte ich zu dem Schluss, dass die Türken sie ausgewiesen hatten, und zwar mit Recht.
Ich winkte dem Kellner, der sich widerwillig meinem Tisch näherte. Für ihn war der Anblick Ishnas offenbar so süß wie Türkischer Honig.
»Wollen Sie noch einen Whisky?« krächzte er.
»Mein lieber Freund, ich bin Spieler«, vertraute ich ihm geheimnisvoll an. »Ich schließ über alles und jedes Wetten ab.«
»Ich bin kein Psychiater«, erwiderte er mürrisch. »Verschonen Sie mich also mit einer Beichte Ihres Lebens.«
»Ich bin bereit, zehn Dollar zu wetten«, erklärte ich vergnügt, »dass Sie behaupten würden, ich hätte nicht alle Tassen im Schrank, wenn ich Sie jetzt auffordern würde, mich ungesehen in Leila Zentas Garderobe zu schmuggeln.«
»Sie haben nicht alle Tassen im Schrank«, stellte er mit einem schadenfrohen Grinsen fest.
»Also habe ich verloren.« Ich gab ihm zehn Dollar, und plötzlich schwand sein Interesse an Ishnas akrobatischem Nabel. »Wollen Sie noch mal mit mir wetten?«, erkundigte ich mich.
»Ja«, stimmte er zu. Ich konnte ihm ansehen, dass er über das Alter hinaus war, in dem man noch an Wunder glaubt, aber offenbar hatte ich in ihm neue Hoffnung geweckt. »Vielleicht noch einmal das gleiche«, schlug er vor.
»Beinahe.« Ich lächelte ihm ermunternd zu. »Jetzt wette ich fünfzig Dollar mit Ihnen. Wenn ich Sie frage, ob Sie mich ungesehen in Leila Zentas Garderobe schmuggeln können, werden Sie sagen, dass sich das selbstverständlich machen ließe - für sechzig Dollar?«
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Carter Brown/Apex-Verlag/Successor of Carter Brown.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Mechtild Sandberg (OT: Nymph To The Slaughter).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 28.06.2022
ISBN: 978-3-7554-1642-5
Alle Rechte vorbehalten