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Leseprobe

 

 

 

 

HARRY CARMICHAEL

 

 

Falscher Glanz

und echte Steine

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 285

 

 

 

 

Apex-Verlag

 

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

FALSCHER GLANZ UND ECHTE STEINE 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Dreiundzwanzigstes Kapitel 

 

 

Das Buch

Der Antiquitätenhändler Raymond Barrett beging Selbstmord. So lautete der Gerichtsbeschluss. Und die Juwelen in seinem Koffer waren billige Imitationen. 

Aber der Versicherungsdetektiv John Piper und sein Freund, der Reporter Quinn, sind ganz anderer Meinung... 

 

Harry Carmichael (eigtl. Hartley Howard/Leopold Horace Ognall - * 20. Juni 1908 in Montreal, Québec; † Großbritannien) war ein britischer Schriftsteller.

Der Roman Falscher Glanz und echte Steine erschien erstmals im Jahr 1955; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1975. 

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME. 

  FALSCHER GLANZ UND ECHTE STEINE

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Der Abendzug nach King’s Cross fuhr am vierundzwanzigsten Januar pünktlich um 17.15 Uhr in Leeds ab - an dem Abend, an dem Stephen Quinn von der Morning Post in den ersten der Barrett-Morde verwickelt wurde. Um diese Zeit war es bereits dunkel. Eisiger Regen klatschte gegen die Fenster, als der Zug den Bahnhof verließ, und die Lichter der Stadt blieben in sturmgepeitschter Dunkelheit zurück.

In Doncaster fiel nasser Schnee. Bei der Einfahrt in Grantham war daraus wieder Schneeregen geworden. Und trotz der gut funktionierenden Heizung schien etwas von der Kälte in das Abteil zu dringen, in dem Quinn in seiner Ecke hockte, Zigaretten rauchte, zwischendurch etwas döste und ab und zu den Mann in dem Tweedmantel beobachtete.

Sie waren von Anfang an allein im Abteil gewesen. In Wakefield hatte eine Frau in einem blauen Plastikregenmantel die Tür geöffnet, die beiden Männer angestarrt und gemurmelt: »Oh, ich dachte, hier wäre Nichtraucher...« Dann hatte sie ihren Koffer mühsam in den Gang zurückbugsiert und war verschwunden.

»Entweder kann sie nicht lesen«, meinte Quinn grinsend zu seinem Gegenüber, »oder wir waren ihr unheimlich. Das kommt davon, wenn die Frauenzeitschriften Damen in ihrem Alter einreden, sie seien noch unheimlich sexy. Ich trinke eigentlich lieber Bier.«

Der Mann in dem Tweedmantel äußerte sich nicht dazu. Er lächelte nur flüchtig und schien sich dann noch weiter in seine Ecke zurückzuziehen. Sein Blick verriet nicht, was er von diesem Versuch hielt, ein Gespräch anzuknüpfen. Aber Quinn fiel auf, dass seine braunen Augen sich jedes Mal erwartungsvoll oder fast ängstlich zu verengen schienen, wenn jemand an der Tür ihres Abteils vorbeikam. Und Angst hätte auch der Grund dafür sein können, dass der Mann seinen Aktenkoffer so fest umklammerte.

Quinn döste wieder eine Zeitlang. Als er die Augen öffnete, fiel sein Blick auf den Aktenkoffer: ein ganz gewöhnlicher Aktenkoffer mit abgestoßenen Ecken, abgewetztem Griff und Messingschloss. Über dem Schloss war das Monogramm R. B. ins Leder geprägt. Es musste viele Leute geben, die das gleiche Monogramm hatten... zum Beispiel Robert Burns, der schottische Dichter... und umgekehrt hätte es British Railways heißen können...

Der Mann war so durchschnittlich wie sein Aktenkoffer - frischer Teint, blondes Haar und Allerweltsgesicht. Dazu war er noch mittelgroß und hatte eine Durchschnittsfigur. Alles an ihm war durchschnittlich. Er schien Mitte Dreißig zu sein. Ein ganz gewöhnlicher jüngerer Mann, der sich unterwegs langweilte und so schnell wie möglich nach Hause wollte.

Oder sah er nicht nur aus Ungeduld so oft auf seine Armbanduhr? Trug sein Gesicht dabei nicht einen sorgenvollen Ausdruck? Je länger sie unterwegs waren, desto deutlicher war zu erkennen, dass er sich Sorgen machte. Als er einmal Quinns Blick begegnete, schien er etwas sagen zu wollen. Aber dann schwieg er doch und sah danach nicht mehr auf die Uhr.

 

Peterborough... Im Wind schwankende Lampen... das Rattern und Klappern eines Güterzuges auf dem Gegengleis... eine Lautsprecherdurchsage; »Dieser Zug hält nicht bis King’s Cross!«... Menschen auf dem Bahnsteig, deren Gesichter zu hellen Flecken verschwammen, als der Zug wieder anfuhr... »Entschuldigen Sie bitte«, sagte eine Stimme über Quinn, der eben mit halbgeschlossenen Augen döste. Er setzte sich automatisch auf und zog die Beine an. Der andere konnte also doch reden! Er hatte allerdings nur drei Worte gesagt. Und er ließ die Tür zum Gang offen, als er mit seinem Aktenkoffer unter dem Arm in Richtung Zugende davonschwankte.

Quinn stand auf und reckte sich. Dann nahm er wieder Platz, fuhr mit dem Ärmel über die beschlagene Scheibe und versuchte, nach draußen zu sehen. Aber er sah nur sein eigenes Spiegelbild und fragte sich, wie spät es jetzt war, ob der Zug Verspätung hatte und was der Mann in dem Tweedmantel in seinem Aktenkoffer mit sich herumschleppte. Sein Koffer auf der Gepäckablage über seinem Platz schien ihm weniger Sorgen zu machen; er hatte Quinn nicht einmal gebeten, inzwischen auf den Koffer aufzupassen.

Allerdings konnte er den Koffer ruhig dalassen. Der Zug hielt erst wieder in King’s Cross, und ein Gepäckdieb hätte wohl kaum riskiert... anscheinend ein brandneuer Koffer... ein teures Stück, das ohne Zweifel diesem R. B. gehörte. Aber er hatte den Koffer seit Leeds keines Blickes mehr gewürdigt... und er war jetzt schon lange fort...

Stephen Quinn wusste nicht, wie er darauf kam, aber er dachte plötzlich an Sabotage, an einen Bombenanschlag, an... Warum war der Mann in dem Tweedmantel so besorgt gewesen? Weshalb hatte er ständig auf seine Uhr gesehen? Warum war er nicht zurückgekommen? Und was enthielt der brandneue Koffer auf der Gepäckablage?

»Ihre Fahrkarte, Sir?«, verlangte eine Stimme von der Tür her. Quinn zuckte zusammen und machte sich Vorwürfe, weil er feuchte Hände und eine trockene Kehle hatte. Wenn er dem Schaffner von seiner verrückten Idee erzählte, machte er sich bestimmt nur lächerlich. Er zeigte seine Rückfahrkarte vor, steckte sie wieder ein und räusperte sich verlegen, weil er nicht wusste, was er sagen sollte.

Aber als der Uniformierte die Tür schließen wollte, erklärte Quinn ihm: »Der Koffer dort oben gehört nicht mir. Er gehört einem Herrn, der kurz nach Peterborough rausgegangen ist.« Das klang geradezu lächerlich, aber die Sache mit dem Koffer kam ihm nun mal verdächtig vor.

Der Schaffner war ein hagerer Mann mit hängenden Schultern, faltigem Gesicht und kalten grauen Augen. Er warf Quinn einen prüfenden Blick zu. »Ja, Sir?«

»Ich dachte... wissen Sie, ich dachte, das sei merkwürdig. Er ist seit Peterborough weg, verstehen Sie? Ich dachte, ihm sei vielleicht schlecht geworden oder so was...«

»Hm.« Der Schaffner kam wieder ins Abteil, betrachtete Quinn nachdenklich und sah dann zu dem Koffer auf. Er zupfte sich am rechten Ohrläppchen. »Vielleicht hat er in einem anderen Abteil einen Bekannten gesehen«, schlug er vor. »Haben Sie darauf geachtet, in welche Richtung er weggegangen ist?«

»Nach rechts«, antwortete Quinn. »Ich will keine Staatsaffäre aus der Sache machen, aber er hat ziemlich durcheinander gewirkt. Vielleicht hat er auf dem Weg zur Toilette einen Bekannten getroffen, aber er war nicht gerade in geselliger Stimmung, glaube ich.«

Der Schaffner hüstelte. »Dort hinten ist übrigens keine Toilette«, sagte er. »Er hätte vor der Tür des Gepäckwagens gestanden... Wissen Sie bestimmt, dass er nicht zurückgekommen ist?« Sein fragender Blick wirkte jetzt vage misstrauisch.

»Ich habe die ganze Zeit hier gesessen«, versicherte Quinn ihm. »Da hätte mir doch auffallen müssen, wenn er zurückgekommen wäre, stimmt’s?«

»Und Sie haben ihn nicht mehr gesehen?«

»Ich hab’ ihn nicht mehr gesehen.« Quinn machte sich keine Sorgen mehr wegen des neuen Koffers auf der Gepäckablage. Er ärgerte sich über den Mann im Tweedmantel, den Schaffner und sich selbst. Besonders über sich selbst.

»Von mir aus können Sie die ganze Sache vergessen«, erklärte er dem Uniformierten. »Nächstes Mal halte ich garantiert den Mund. Anscheinend kann man heutzutage nichts mehr sagen, ohne gleich den dritten Grad zu riskieren.«

»Immer mit der Ruhe, Sir!«, wehrte der Schaffner gelassen ab. »Schließlich haben Sie davon angefangen, und ich wollte nur... Wie hat er denn ausgesehen?«

»Er ist blond und trägt einen Tweedmantel, graue Hosen und braune Schuhe. Und er hat einen alten Aktenkoffer unter dem Arm. Mit dem Monogramm R. B., glaube ich.«

»Hm, jetzt fehlt nur noch die Augenfarbe, dann ist die Personenbeschreibung komplett«, meinte der andere. »Haben Sie zufällig...«

»Ja, ich habe«, unterbrach Quinn ihn. »Er hat braune Augen. Und er ist noch immer nicht zurückgekommen, falls Ihnen das nicht aufgefallen ist. Wie lange fahren wir noch bis King’s Cross?«

»Sechs bis sieben Minuten.« Der Zug ratterte über einige Weichen, und Quinn sah draußen Bahnhofslichter vorbeiflitzen. »Das war Potters Bar. Ich seh’ mich lieber nach ihm um...« Der Schaffner zögerte, bevor er widerstrebend hinzufügte: »Wären Sie so nett, inzwischen auf den Koffer zu achten? Ich bin gleich wieder da.« Er warf Quinn noch einen Blick zu, als wolle er sich die schäbige Erscheinung des Reporters einprägen, bevor er endlich ging.

Er marschierte bis ans Wagenende und blieb an jeder Abteiltür stehen, um hineinzusehen. Quinn beobachtete ihn von seiner eigenen Tür aus. Der Schaffner kam schweigend zurück, öffnete die WC-Tür und sah hinein.

»Nichts?«, fragte Quinn, als er wieder zum Vorschein kam.

»Nein. In diesem Wagen ist er jedenfalls nicht. Sie müssen sich getäuscht haben. Wahrscheinlich ist er doch nach vorn gegangen. Falls ich ihn verfehlen sollte, möchte er bitte in King’s Cross auf mich warten. Das Ganze ist wahrscheinlich Zeitverschwendung, aber ich will mir nicht vorwerfen lassen, ich hätte es abgelehnt, mich um einen verschwundenen Reisenden zu kümmern...«

Der Uniformierte ging kopfschüttelnd weiter. Quinn setzte sich wieder auf seinen Platz und starrte den brandneuen Koffer an. Draußen im Gang machten andere Reisende sich allmählich zum Aussteigen fertig. Der Zug bremste und fuhr im Schritttempo in den letzten langen Tunnel vor King’s Cross ein. Und der Schaffner war noch immer nicht zurück.

Quinn fragte sich, was passieren würde, wenn er jetzt die Tür aufreißen und die Leute vor einer Zeitbombe in diesem Abteil warnen würde. Das würde ihm kein Mensch glauben, und man konnte bestraft werden, wenn man auf diese Weise vielleicht noch eine Panik hervorrief. Wer würde außerdem in diesem Zug eine Bombe legen wollen? Aber der Mann in dem Tweedmantel hatte seinen Koffer zurückgelassen und war nicht wiedergekommen. Und der Schaffner musste bis ganz vorn durchgegangen sein, sonst wäre er nicht so lange ausgeblieben.

Dann sah Quinn ihn draußen im Gang. Er versuchte, sich an einem stämmigen jungen Mann mit einem Rucksack auf dem Rücken vorbeizuzwängen, und rief laut: »Hat hier jemand einen Aktenkoffer verloren? Hören Sie, würden Sie so freundlich sein, dort hinten zu fragen, ob jemand einen Aktenkoffer mit dem Monogramm R. B. vermisst? Ich hab’ ihn auf dem Wagenboden gefunden, wo jeder ihn hätte aufheben und mitnehmen können. Gehört er vielleicht jemandem dort hinten?«

Der Schaffner zwängte sich an den im Gang wartenden Reisenden vorbei, die ihm widerwillig Platz machten. Als er eben aus Quinns Gesichtsfeld verschwunden war, fuhr der Zug in den Bahnhof ein. Die Bremsen kreischten, dann kam er mit einem letzten Ruck zum Stehen. Auf den Bahnhofsuhren war es 21.41 Uhr.

Drei Minuten später war der Wagen leer, und Quinn hockte trübselig in seiner Ecke und wartete. Er dachte an das kühle Bier in dem Pub in der Euston Road, auf das er sich unterwegs gefreut hatte. Aber damit war’s jetzt bestimmt aus. Sie würden ihm Fragen über Fragen stellen - und er konnte sie alle nicht beantworten.

Dann kam der Uniformierte herein und starrte Quinn mürrisch an. Er trug den Aktenkoffer des Mannes mit dem Tweedmantel. »Ist das der Koffer, von dem Sie gesprochen haben?«, fragte er Quinn, dem auffiel, dass der andere ihn nicht mehr mit Sir ansprach.

»Scheint der gleiche zu sein«, bestätigte Quinn. »Kann ich ihn mir kurz ansehen?«

Der Schaffner zögerte zuerst noch. »Gut, überzeugen Sie sich meinetwegen«, entschied er dann. »Ich hab’ die Bahnpolizei verständigt, deshalb war’s besser, wenn Sie nichts daran verändern würden. Das versteh’ ich einfach nicht!« fügte er kopfschüttelnd hinzu. »Der Mann, den Sie mir beschrieben haben, war nirgends im Zug, aber der Reisende, der den Koffer eigentlich gefunden hat, weiß nicht mehr genau, ob die Wagentür richtig geschlossen war. Der Wind kann sie... He! Ich hab’ Ihnen doch verboten...«

Aber er protestierte zu spät. Quinn hatte den Aktenkoffer bereits geöffnet. Er warf einen Blick in das Mittelfach, zog erstaunt die Augenbrauen hoch und ließ auch den Schaffner hineinsehen. Der Uniformierte schüttelte verblüfft den Kopf. Er schien im ersten Augenblick sprachlos zu sein.

»Donnerwetter!«, sagte Quinn leise.

  Zweites Kapitel

 

 

Der Mann in dem Tweedmantel wurde bei Three Countries an der Bahnstrecke aufgefunden. Er hatte einen doppelten Schädelbruch und zahlreiche innere Verletzungen. In seinen Taschen wurden vierzehn Pfund in Scheinen und etwas Kleingeld gefunden. Er hatte außerdem eine Fahrkarte von Leeds nach London, einen Schlüsselbund mit mehreren Schlüsseln, von denen einer zu dem Aktenkoffer passte, und einen Kugelschreiber in der Tasche.

Aber das war bereits alles. Der Tote hatte keinen Ausweis bei sich.

Erst der Inhalt seines Aktenkoffers ermöglichte die Identifizierung. Er enthielt einen leeren Briefumschlag mit dem Namen Raymond Barrett und einer Londoner Adresse. Auf der Rückseite des Umschlags hatte jemand Zahlen addiert. In dem gleichen Fach steckte das obere Stück eines alten Briefes, der mit Mein liebster Raymond begann. Er trug keine Adresse, war aber dem Datum nach vor elf Jahren zu Papier gebracht worden.

 

Quinn wurde zur gerichtlichen Feststellung der Todesursache vorgeladen. Um das Ansehen der Presse hochzuhalten, zog er ein frisches Hemd an und ließ, sich in Aldwych die Schuhe putzen, bevor er mit dem Zug in die Stadt fuhr. Aber er war zu faul, um sich zu rasieren, und sagte sich, dass die Bartstoppeln bestimmt nicht störten, wenn er nur der Vorladung Folge leistete.

Die Identifizierung geschah durch Mrs. Elizabeth Barrett, die aussagte, der Tote sei ihr Mann. Sie hatte ihn zuletzt am Morgen des dreiundzwanzigsten Januar gesehen. Das Brieffragment aus seinem Aktenkoffer war ein Teil eines Briefes, den sie ihm damals geschrieben hatte. Sie fügte sichtlich bewegt hinzu, sie habe nicht geahnt, dass ihr Mann sich dieses Andenken an die Zeit vor ihrer Hochzeit aufgehoben habe.

Mrs. Barrett war eine kleine mollige Frau, die bereits einzelne graue Strähnen hatte. Sie kleidete sich ohne besonderen Chic. Sie sah wie eine typische Hausfrau aus, die ihr Leben lang in Reihenhäusern aus roten Klinkern gewohnt hat. Außerdem wirkte sie ängstlich, verwirrt und mitleiderregend.

Der Coroner, ein glatzköpfiger, bebrillter Mann, schlug vor, sie solle ihre Aussage im Sitzen machen, und bat den Gerichtsdiener, ihr ein Glas Wasser zu bringen. Er sprach ihr sein Beileid aus, bevor er sagte: »Wenn Sie sich jetzt besser fühlen, Mrs. Barrett, können Sie uns vielleicht sagen, wie lange Sie und Ihr Mann verheiratet gewesen sind?«

»Etwas über neun Jahre«, antwortete sie mit zitternder Stimme.

»Würden Sie Ihre Ehe als glücklich bezeichnen?«, fragte der Coroner weiter. »Tut mir leid, aber ich muss Ihnen diese Fragen stellen, so schmerzlich sie für Sie sein mögen.«

»Ja, wir waren sehr glücklich. Er war immer sehr gut zu mir, und ich weiß, dass er gewusst hat, wie sehr... ich ihn geliebt habe. Wir hatten keine Kinder, deshalb haben wir einander so viel bedeutet.«

»Aha... Hat er irgendwann Selbstmordgedanken geäußert?«

»Niemals! Das verstehe ich eben nicht. Beim Frühstück war er ganz normal... Ich konnte es gar nicht glauben, als die Polizei angerufen hat...« Sie fuhr zusammen, als friere sie.

»Ja, natürlich, ein grässlicher Schock für Sie als Ehefrau.« Der Coroner machte eine Pause. »Wissen Sie, ob er finanzielle Sorgen gehabt hat?«

»Davon weiß ich nichts. Aber wenn er welche gehabt hätte, hätte er mir bestimmt nicht davon erzählt. Er war stets der Meinung, es habe keinen Zweck, seine Sorgen mit anderen zu teilen. Auf diese Weise würden dann zwei Menschen statt nur einem unglücklich.«

»Hm... Vielleicht war’s nicht zu dieser Situation gekommen, wenn er anders gedacht hätte.« Der Coroner starrte Mrs. Barrett durchdringend an. »Hat er Ihnen mitgeteilt, dass er nach Yorkshire fahren wollte?«

Sie starrte ihre Hände an, fuhr erneut zusammen, hob langsam den Kopf und sah zu der Wanduhr hinter dem Coroner auf, ohne zu antworten.

Er legte die Fingerspitzen gegeneinander. »Ja, Mrs. Barrett? Haben Sie gewusst, wohin Ihr Mann wollte?«

»Nein«, antwortete sie leise. »Ich dachte, er sei wie immer im Geschäft... er hat nichts von einer Reise gesagt... er hat eigentlich nie Geheimnisse vor mir gehabt.«

»Haben Sie sich denn keine Sorgen gemacht, als Ihr Mann abends nicht nach Hause gekommen ist?«

»Ich habe nicht gewusst, dass er nicht zu Hause war. Meine Schwester war krank, und ich habe bei ihr übernachtet. Darüber hatten wir beim Frühstück gesprochen.«

»Und am nächsten Mal Tag? Sind Sie nicht unruhig geworden, als er sich nicht gemeldet hat? Oder hat Ihre Schwester kein Telefon?«

»Doch... und ich habe vormittags im Geschäft angerufen. Gegen elf Uhr. Ich habe mit Mr. Seaward, dem Geschäftsführer, gesprochen.«

»Was haben Sie von ihm erfahren?«

»Nur, dass mein Mann noch nicht ins Geschäft gekommen war. Er hat kein Wort davon gesagt, dass er ihn seit zwei Tagen nicht mehr gesehen hatte.« Ihre Stimme klang scharf, als sie hinzufügte: »Warum ich das nicht erfahren sollte, weiß ich natürlich nicht. Aber es ist wohl nicht mehr wichtig.« Sie zuckte mit den Schultern. »Nichts ist mehr wichtig.«

Der Coroner wartete, bis das erstaunte Murmeln im Saal verstummt war, bevor er ruhig fragte: »Hatten Sie nicht den Verdacht, mit Ihrem Mann könnte irgendetwas nicht in Ordnung sein, nachdem Sie mit Mr. Seaward gesprochen hatten, Mrs. Barrett?«

Sie trank einen Schluck Wasser. »Warum stellen Sie mir immer wieder die gleiche Frage?«, wollte sie dann wissen. »Ich hatte keinen Grund, mir Sorgen zu machen. Als er auch zu Hause nicht zu erreichen war, habe ich angenommen, er sei morgens als erstes zu einem Kunden gefahren. Wenn ich gedacht hätte, er sei... Aber ich hatte nie Grund gehabt, mir Sorgen um ihn zu machen...«

»Ich kann Ihnen versichern, dass wir Sie möglichst schonen wollen, Mrs. Barrett«, sagte der Coroner, »aber wir sind hier, um die Todesursache Ihres Mannes festzustellen, und das setzt voraus, dass wir sämtliche Aspekte berücksichtigen. Dazu gehört beispielsweise auch der Geisteszustand des Verstorbenen. Das verstehen Sie doch, nicht wahr?«

»Völlig«, bestätigte sie. Ihr Tonfall veränderte sich kaum, als sie hinzufügte: »Ich kann seinen Geisteszustand wohl am besten beurteilen. Wir haben uns geliebt. Und ich halte es für ausgeschlossen, dass er Selbstmord begangen haben sollte.«

»Wollen Sie damit etwa andeuten, er...« Der Coroner brachte den Satz nicht zu Ende, sondern schüttelte ungeduldig den Kopf. »Tut mir leid, aber wir können uns hier nicht mit persönlichen Ansichten aufhalten, Mrs. Barrett. Was war Ihr Mann von Beruf, und musste er gelegentlich Geschäftsreisen unternehmen?«

»Nur sehr selten. Er war Antiquitätenhändler und Inhaber der Firma Dickinson und Gibb in der Albemarle Street.«

»Hmm... Er hätte also im Voraus wissen müssen, ob eine Geschäftsreise anstand. Ich meine, er war jedenfalls kein kleiner Angestellter, der überraschend hätte fortgeschickt werden können, ohne noch Zeit zu haben, Sie zu benachrichtigen?«

»Nein. Ich kann mir nichts vorstellen, was so dringend gewesen wäre, dass er mich nicht mehr...« Der Rest ihrer Antwort war unverständlich, als sei sie außer Atem.

»Danke, Mrs. Barrett, das war vorläufig alles«, erklärte ihr der Coroner. »Ich glaube nicht, dass wir Sie nochmals belästigen müssen. Wenn Sie wollen, können Sie draußen warten, bis die Geschworenen ihren Spruch verkünden.«

Mrs. Barrett machte von der angebotenen Möglichkeit keinen Gebrauch. Sie nahm neben einem hageren, blassen Mann auf der Bank vor den Pressesitzen Platz. Die beiden flüstern miteinander, bis der nächste Zeuge aufgerufen wurde. Mrs. Barrett schien sichtlich verwirrt zu sein.

Peter Seaward war klein, rosa und wohlgenährt. Er hatte ein glattes, rundes Gesicht und eine beginnende Glatze. Sein schneeweißes Hemd passte gut zu seinem dunkelblauen Anzug mit dezenten Nadelstreifen. Nachdem er den Zeugeneid geleistet hatte, nickte er Mrs. Barrett zu und konzentrierte sich auf den Coroner, sobald ihm die erste Frage gestellt wurde. Er ließ keinen Zweifel daran, dass seine Antworten so exakt wie sein ganzes Auftreten sein würden.

»Sie heißen Peter Seaward?«, begann der Coroner.

»Ganz recht, Sir.«

»Sie sind Geschäftsführer der Firma Dickinson und Gibb in der Albemarle Street?«

»Ja, Sir.« Seaward räusperte sich. »Seit nunmehr fast sechs Jahren.«

»Sie können also von sich behaupten, die Geschäftsgepflogenheiten und die persönlichen Gewohnheiten des Verstorbenen zu kennen?«

»Ja, Sir.«

»Gut. Schildern Sie den Geschworenen bitte, was Sie über Mr. Barretts Verhalten am Morgen des dreiundzwanzigsten Januar wissen. Und lassen Sie sich ruhig Zeit.«

»Danke, Sir.« Seaward sah jetzt zu den Geschworenen hinüber. Er wirkte völlig selbstsicher, als habe er jedes Wort und jede Geste zu Hause geprobt. Und während er seine Aussage machte, schien er sich durch einen gelegentlichen Blick in Mrs. Barretts Richtung vergewissern zu wollen, dass sie mit dem Gesagten einverstanden war.

»Mr. Barrett ist gegen halb zehn Uhr ins Geschäft gekommen«, berichtete Seaward. »Er hatte es offenbar eilig. Als eine Verkäuferin ihn angesprochen hat, ist er nicht darauf eingegangen. Er hat auch nichts geantwortet, als ich ihm einen guten Morgen gewünscht habe. Das ist mir als erstes aufgefallen. Später haben sich natürlich noch andere Hinweise ergeben, die nur nicht gleich...«

»Beschränken Sie sich bitte auf Ihre tatsächlichen Beobachtungen«, unterbrach ihn der Coroner. »Ich weiß, dass Sie uns dadurch helfen wollen, aber ich muss Sie bitten, sich auf Tatsachen zu beschränken.«

»Natürlich, Sir«, stimmte Seaward gelassen zu. »Als ich eine Viertelstunde nach Mr. Barretts Ankunft in sein Büro gehen wollte, war die Tür abgeschlossen. Auf mein Klopfen hin bekam ich die Antwort, er wünschte jetzt nicht gestört zu werden und wolle später mit mir sprechen. Das war das erstemal seit fast sechs Jahren, dass er seine Bürotür abgeschlossen hatte.«

»Bitte weiter, Mr. Seaward.«

»Gegen zehn Uhr hat er telefoniert. Dann ist er an die Tür gekommen und hat mich in sein Büro gerufen. Ich hatte den Eindruck, er sei nervös und aufgeregt.«

»Was hat er zu Ihnen gesagt?«

»Er hat mir erklärt, er müsse ein paar Tage privat verreisen und verlasse sich darauf, dass während seiner Abwesenheit alles wie gewohnt weitergehe. Als ich mehrere Angebote erwähnt habe, die wir bekommen hatten, hat er geantwortet, sie hätten bis später Zeit. Ich hatte allerdings das Gefühl, er habe mir gar nicht richtig zugehört.«

»Hat er angedeutet, wohin er wollte?«

»Nein, Sir. Und seine ganze Art ließ Fragen nicht geraten erscheinen. Er war so reizbar, wie ich ihn noch nie erlebt hatte.«

Der Coroner spielte mit einem Bleistift, während er zu den Geschworenen hinübersah. »So viel wir von Mrs. Barrett gehört haben, war das Verhalten ihres Mannes beim Frühstück keineswegs ungewöhnlich«, sagte er dann zu Seaward. »Sie haben festgestellt, dass der Verstorbene sich im Geschäft merkwürdig benommen hat. Halten Sie’s für möglich, dass er mit der Post eine beunruhigende Mitteilung bekommen hat?«

Seaward machte ein nachdenkliches Gesicht, bevor er langsam den Kopf schüttelte. »Nein, Sir, das halte ich für ausgeschlossen. Ich hatte die Post selbst geöffnet und kann mich an nichts erinnern, was Mr. Barrett hätte beunruhigen müssen. Außerdem hat er sich von Anfang an so merkwürdig benommen.«

»Richtig, Mr. Seaward. Wir können also davon ausgehen, dass er auf dem Weg in die Albemarle Street eine Mitteilung erhalten hat, die diesen Zustand bewirkt haben muss.« Der Coroner hüstelte. »Hat er sonst noch etwas mit

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Leopold Horace Ognall/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Wulf Bergner (OT: Money For Murder).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 27.06.2022
ISBN: 978-3-7554-1634-0

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