F. R. LOCKRIDGE
Glut unter der Asche
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
GLUT UNTER DER ASCHE
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Das Buch
Inspektor Heimrich von der Staatspolizei New York ist schon überrascht, als er von den Geschwistern Jameson zu einer Geburtstagsparty eingeladen wird. Die Überraschung wird noch größer, als Jameson seine Verlobung mit einem Mädchen verkündet, das seine Enkeltochter sein könnte.
Am nächsten Tag wird Heimrich erneut zu den Jamesons gerufen - diesmal aus beruflichen Gründen. Der betagte Bräutigam ist tot, ermordet mit einem stählernen Pfeil...
Der Roman Glut unter der Asche von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1973; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1974.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
GLUT UNTER DER ASCHE
Erstes Kapitel
Mitte September beginnt man in Van Brunt im Staat New York die milden Sonnentage auszukosten, die es bald nicht mehr geben wird. Bald werden die ersten Nachtfröste kommen; auf der Terrasse des langgestreckten Hauses über dem Hudson wird sich Eis bilden. Große leuchtende Ringelblumen verdorren und müssen ausgerissen werden. Aber an diesem Samstag war es sonnig und warm, Merton Heimrich hatte fast dienstfrei, und sie saßen vor dem Mittagessen mit einem Drink auf der Terrasse.
Inspektor Heimrich hatte eben das Tablett mit den beiden hohen Gläsern auf den Tisch gestellt, als der Postbote unten an der Straße hupte.
»Heute kommt er früher als sonst«, stellte Susan fest.
»Schließlich ist heute Samstag«, sagte Heimrich und ging die steile Einfahrt hinunter: ein großer, kräftiger Mann, der fest und sicher auftrat. Susan lächelte, als sie ihm nachsah, und dachte unwillkürlich an ein Nilpferd - ein Vergleich, zu dem Merton Heimrich selbst neigt, wenn er deprimiert ist. Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Ein Windstoß zerzauste ihr kurzes braunes Haar.
Heimrich kam mit einer Handvoll Post zurück. »Hauptsächlich Quatsch.« Er breitete die Briefe auf dem Tisch aus. »Aber der Junge hat geschrieben.«
Der Junge ist Michael Faye, Susans Sohn. Er trägt den Namen seines Vaters, der in Korea gefallen ist, lange bevor Heimrich zum ersten Mal eine schlanke junge Frau betrachtete und sich fragte, was ihr Gesicht so attraktiv machte, obwohl sie nicht wirklich hübsch war.
Sie stießen an, dann öffnete Susan den Brief. Er trug den Poststempel Hanover, N. H. und musste gleich nach Michaels Rückkehr nach Dartmouth, wo er im vorletzten Jahr studierte, aufgegeben worden sein. Ich habe Glück mit meinem Sohn, dachte Susan. Heutzutage verwandeln sich viele Studenten in ganz andere Menschen, aber Michael bleibt Michael.
Letzte Nacht hat es hier den ersten Frost gegeben, las sie. Die Bäume verfärben sich bereits. Aber die Tennisplätze sind noch in Ordnung, und ich habe Eng. Lit. III bei Prof. Arnold belegt. Frank und ich wohnen zusammen und haben tatsächlich ein Zimmer mit Bad erwischt! Wir...
Sie las weiter, während Merton die übrige Post sortierte - meistens Werbedrucksachen.
»Sein Aufschlag klappt wieder besser«, berichtete Susan. »Er hat Aussichten, in die Redaktion der Studentenzeitung zu kommen. Aber das kannst du alles selbst lesen. Der Brief ist nicht allzu lang.«
»Was ist The Tor?«, wollte Heimrich wissen.
»Ein steiler Felshügel«, antwortete Susan. »Und Teil des Titels eines Bühnenstücks von Maxwell Anderson. Wie kommst du darauf?«
»Hier«, sagte Merton und schob einen Briefumschlag über den Tisch. Er hatte ihn umgedreht, so dass Susan den Absender auf der Rückseite lesen konnte. The Tor, Highlands, New York war in das schwere weiße Papier eingeprägt.
»Sieht wie eine Heiratsanzeige aus«, fügte Merton hinzu und griff nach Michaels Brief.
»Ah, dort wohnen die Jamesons«, sagte Susan. »Als kleines Mädchen habe ich immer nicht gewusst, was The Tor bedeuten sollte. Ich dachte, es sei ein Schloss. Das ist es allerdings auch fast. Du musst es kennen, Schatz.«
»Ja, natürlich«, stimmte Merton Heimrich zu. »Mr. Jameson war schon immer eine Stütze der Gesellschaft. Wir haben nie offiziell Kontakt gehabt. Was hat er dem einfachen Volk mitzuteilen?«
Susan hatte den Brief umgedreht. Er war sehr formell an Inspektor und Mrs. M. L. Heimrich adressiert. Sie öffnete den Umschlag mit der Sorgfalt, die er zu verdienen schien. Die Nachricht auf der Briefkarte mit dem eingeprägten The Tor bestand nur aus zwei Zeilen:
Cocktails und kaltes Büfett am 23. September ab 18 Uhr.
Abendkleidung. U. A w. g.
Sie gab die Einladung Merton. Er las sie durch, runzelte die Stirn und fragte: »Warum gerade uns? Warum Abendkleidung um sechs Uhr abends auf dem Lande?«
»Die Jamesons waren schon immer sehr steif«, antwortete Susan. »Sie achten sehr darauf, dass die alten Traditionen gewahrt werden. Warum sie uns eingeladen haben, weiß ich auch nicht. Es sei denn...«
Sie sprach nicht weiter. Er wartete, aber als sie nur den Fluss betrachtete, der unter ihnen in der Sonne glitzerte, sagte er: »Du scheinst sie von früher her zu kennen. Mr. und Mrs. Jameson?«
»Mr. und Miss«, korrigierte Susan ihn. »Bruder und Schwester. Für sie bin ich wahrscheinlich noch immer Susan Upton. Sie müssen schon ziemlich alt sein. Mein Vater und Arthur Jameson hatten früher die gleichen Freunde. Sie waren zu den gleichen Partys eingeladen, nehme ich an.«
»Und haben die gleichen Smokings getragen?«
Susan lachte. »Vielleicht«, gab sie zu. »Oh, das war früher eine seltsame Welt. Wahrscheinlich schon in meiner Jugend ein Anachronismus. Später habe ich kaum noch etwas davon gesehen, weil Vater kein Vermögen mehr hatte. Außerdem hatte ich einen Faye geheiratet, der nicht aus diesen Kreisen stammte.«
»Und jetzt einen Heimrich«, warf Merton ein. »Womit wir wieder bei der ursprünglichen Frage angelangt wären: Warum uns? Nur weil du eine geborene Upton bist?«
»Kann sein«, gab Susan zu. »Oder weil du Inspektor bist, Liebling. Vielleicht macht dich das zum VIP.«
Diesmal lachte Merton Heimrich kurz. »Polizisten sind keine VIPs«, stellte er fest. »Nicht für alteingesessene Familien am Hudson.«
»Aber zumindest für die Tochter einer dieser Familien«, sagte Susan. »Außerdem hast du einen Smoking, Schatz, der dir ausgezeichnet steht.«
»Die Jamesons wohnen mindestens zwanzig Meilen nördlich von Cold Harbor«, wandte Heimrich ein. Er runzelte die Stirn. »Wie steht’s mit dir? Willst du hinfahren?«
Susan nickte langsam. »Vielleicht ist es ganz amüsant. Und falls nicht, brauchen wir nicht lange zu bleiben.«
»Das Ganze klingt nach einem ziemlich steifen Vergnügen«, erklärte Merton ihr. »Smokings um sechs Uhr abends. Und vielleicht ist bis dahin wieder ein großer Mord aufzuklären. Der nächste ist schon fast überfällig.«
»Fahren wir trotzdem?«, fragte Susan.
»Gut, meinetwegen«, entschied Merton. »Inspektor und Mrs. M. L. Heimrich nehmen Ihre freundliche Einladung zu Cocktails und kaltem Büfett dankend an, falls kein Mord im Dienstbereich von Inspektor Heimrich dazwischenkommt. Soll ich noch eine Runde holen?«
»Bitte«, sagte Susan. »Aber danach muss ich mich wirklich ums Mittagessen kümmern.«
»Prima«, stimmte Heimrich zu und verschwand mit den leeren Gläsern im Haus.
Zweites Kapitel
Der 23. September war ein Samstag. Die Sonne stand bereits etwas tiefer, und es war kühler als eine Woche zuvor. Aber der Spätnachmittag war klar und sonnig, als die Heimrichs auf der NY 11 F nach Norden in Richtung Highlands, N. Y., fuhren. Heimrichs Smokingjacke saß gut über seinen breiten Schultern. Susan trug ein rot-schwarzes Kleid, dessen Stoff sie selbst entworfen hatte. Der Buick summte. Heimrich hatte das Funkgerät ausgeschaltet, so dass es nicht störte. Falls er dringend gebraucht wurde, konnte Lieutenant Forniss oder die Dienststelle ihn übers Autotelefon erreichen.
»Die Einfahrt muss bald kommen«, meinte Heimrich und fuhr etwas langsamer. »Bist du als Kind oft in The Tor gewesen?«
»Ein- oder zweimal, glaube ich«, antwortete Susan. »Ich war damals zehn, elf Jahre. Wahrscheinlich während König Arthurs - das war Arthur Jamesons Spitzname - erster Ehe. Sie hatten einen Sohn - älter als ich, fast erwachsen. Aber ich kann mich an fast nichts mehr erinnern, Schatz. Ich weiß nicht einmal, warum meine Eltern mich mitgenommen haben. Dort vorn bei den Torsäulen, glaube ich. Langsamer, Merton!«
Zwei mächtige graue Steinsäulen bezeichneten die Einfahrt. An beiden stand auf einer Metallplakette The Tor. Heimrich bog von der Straße ab. Kies knirschte unter den Reifen, als der Buick die Auffahrt entlangrollte.
»Kannst du dich noch an diesen König Arthur erinnern?«, wollte Heimrich wissen, während der Wagen die steile Zufahrt hinaufkroch. »Oder ist das schon zu lange her?«
»Eine Art Richard Cory«, antwortete Susan.
»Ha?«, fragte Merton.
»Ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle«, zitierte Susan. »Du kennst das Gedicht doch?«
»Er ist nach Hause gegangen und hat sich erschossen«, sagte Heimrich.
»Ja.«
Die Zufahrt wand sich wie ein Tunnel unter einem grünen Blätterdach bergauf. Heimrich sah ein anderes Auto im Rückspiegel auftauchen und hinter der letzten Kurve Zurückbleiben. Dann musste er plötzlich auf die Bremse treten, weil ein riesiger Hund - ein Dobermann, dachte der Inspektor - mitten auf dem Weg stand und nicht auswich.
»Der Hund der Baskervilles, was?«, murmelte Heimrich vor sich hin. Er hupte ihn an. Das Tier schien zu überlegen, machte endlich kehrt und trottete voraus. Heimrich folgte ihm langsam. Er sprach davon, wie schwierig es sein müsse, hier im Winter Schnee zu räumen.
»Oh, die Jamesons haben bestimmt reichlich Personal«, beruhigte ihn Susan.
Vor ihnen leuchtete Licht durch die Bäume. Heimrich brachte die letzte Kurve hinter sich und fuhr aus dem Tunnel auf einen großen kiesbestreuten Platz hinaus, der von Scheinwerfern auf dem Dach des zweistöckigen Landsitzes erhellt wurde. Am Rand der Parkfläche waren bereits ein Dutzend Autos abgestellt. Als Heimrich den Buick parken wollte, kam ein junger Mann in weißer Jacke, schwarzer Hose und Tennisschuhen heran und sagte: »Ich parke Ihnen den Wagen, Sir... oh, Sie sind’s, Inspektor.«
»Guten Abend, Teddy«, antwortete Heimrich. »Sie sind ziemlich weit von zu Hause weg, was?«, fragte er, denn Theodore Carnes wohnte in Van Brunt.
»Ich helfe manchmal aus, wenn Leute Partys geben«, sagte der junge Mann. Er hielt Susan die Tür auf. »Ich bin auf der Honda hergekommen.«
»Das glaube ich«, stimmte Heimrich zu. Teddy Carnes’ Honda war in ganz Van Brunt bekannt.
»Sie können gleich hineingehen«, erklärte Teddy ihnen. »Ich parke Ihren Wagen.«
Als Teddy Carnes sich ans Steuer setzte, hielt ein Mercedes hinter dem Buick.
»Dann bin ich also dir nachgefahren«, sagte Sam Jackson und stieg aus, um seiner Frau aus dem Wagen zu helfen. Die Heimrichs begrüßten Samuel und Mary Jackson. Sam wirkte mit seinen einsfünfundachtzig sehr groß neben Mary, die nur knapp einssechzig war.
Teddy kam zurück und erbot sich, auch Jacksons Mercedes zu parken. Er bekam die Autoschlüssel und fuhr davon.
Die beiden Ehepaare gingen auf das hellerleuchtete Haus zu, aus dem leise Musik drang.
»Der alte Knabe hat nichts vergessen«, meinte Sam Jackson. »Eine richtige Geburtstagsparty.«
»Tatsächlich?«, fragte Heimrich. »Das haben wir nicht gewusst.«
»Er ist dreiundsiebzig geworden«, sagte Jackson. »Oder zweiundsiebzig. Soviel ich weiß, ist das seine erste Geburtstagsparty. Ich bin jedenfalls noch nie zu einer eingeladen worden. So etwas sieht ihm überhaupt nicht ähnlich.«
»Ich kenne ihn gar nicht«, stellte Heimrich fest. »Für uns war die Einladung eine ziemliche Überraschung. Susans Eltern müssen die Jamesons gekannt haben. Sie kann sich vage daran erinnern, als Kind hier gewesen zu sein.«
»Als die kleine Upton«, stimmte Jackson zu. »Die Uptons. Die Van Brunts, bevor du Cornelia als Mörderin gefasst hast. Die Jamesons. Die Frashinghams.«
»Und die Jacksons«, warf Heimrich ein.
»Richtig«, bestätigte Samuel Jackson, »aber das war alles vor meiner Zeit. Ich bin Arthurs Rechtsanwalt. Deshalb hat er mich eingeladen, glaube ich.«
Susan und Mary erreichten die Haustür als erste. Ein Neger in weißer Jacke öffnete sie und verbeugte sich. »Guten Abend, meine Damen. Guten Abend, Gentlemen. Die übrigen Herrschaften sind im Salon. Sie können gleich hineingehen.«
Rechts von ihnen stand eine verglaste Doppeltür offen. Aus dem Raum dahinter drangen Musik und Stimmengewirr. Verdammt viele Stimmen, dachte Merton unbehaglich. Er wollte, er wäre zu Hause bei Colonel, der riesigen Dogge, und Mite, dem schwarzen Kater, geblieben. Susan und er folgten den Jacksons in den Salon.
Die Jacksons blieben gleich hinter der Tür stehen, um einen hageren alten Mann zu begrüßen, der zu seinem Smoking einen Stehkragen trug. Arthur Jackson hatte dichtes graues Haar, war sonnengebräunt und sah nicht wie ein über 70jähriger aus.
»Mary!«, sagte der Grauhaarige. »Sam! Ich bin froh, dass Sie beide kommen konnten.« Er sah an den Jacksons vorbei. »Susan! Sie müssen Susan Upton sein. Sie haben sich kein bisschen verändert.«
»Ich muss zehn oder elf Jahre gewesen sein, als Sie mich zuletzt gesehen haben. Ich habe mich bestimmt ziemlich verändert. Das hier ist...«
»Inspektor Heimrich«, warf Jameson ein. »Freut mich, dass Sie kommen konnten, Sir. Wahrscheinlich kennen Sie die meisten anderen Gäste.«
»Nett von Ihnen, uns einzuladen, Mr. Jameson«, versicherte Heimrich ihm und sah sich in dem großen Salon um. An der Rückwand des rechteckigen Raumes stand eine Bar; ein riesiger offener Kamin beherrschte eine Seitenwand. Bisher waren etwa zwanzig Gäste eingetroffen - die Herren im Smoking, die Damen im Abendkleid. Auf den ersten Blick sah Heimrich niemanden, den er kannte.
»Sie können an die Bar gehen«, schlug Jameson vor. »Oder Barnes holt Ihnen die Drinks. Kümmern Sie sich um die Herrschaften, Barnes.«
Barnes war ein schlanker Neger in weißer Jacke, der geräuschlos aufgetaucht war. »Ja, Sir, Mr. Jameson«, sagte er jetzt.
Heimrich sah zur Bar hinüber und entdeckte endlich ein bekanntes Gesicht: Harold, den ehemaligen Barkeeper aus dem Old Stone Inn, der sich vor einem Jahr zur Ruhe gesetzt hatte. Er zog Susan mit sich zur Bar, wo Harold sie lächelnd begrüßte. »Was darf’s sein?«, fragte er. »Das Übliche für beide?«
»Nein, diesmal nicht, Harold«, antwortete Susan. »Ich möchte einen Gin Tonic.« Heimrich nickte nur, und der alte Barkeeper servierte ihnen einen Gin und einen sehr trockenen Martini.
In den wenigen Minuten seit ihrer Ankunft hatte sich der große Raum erstaunlich gefüllt. Arthur Jameson stand noch immer an der offenen Doppeltür und begrüßte neue Gäste. Leute, die Heimrich nicht kannte, strömten zur Bar, so dass er mit Susan in eine Ecke zurückwich, in der weniger Gedränge herrschte.
Dort sahen sie sich einer großen weißhaarigen Frau in einem schwarzen Abendkleid gegenüber. Sie hatte ein runzliges sonnengebräuntes Gesicht mit auffällig langer Nase. Heimrich. hätte wetten mögen, dass sie eine begeisterte Golfspielerin war:
Die Weißhaarige war nicht allein. Links neben ihr stand ein athletisch gebauter junger Mann, der sein blondes Haar ungewöhnlich kurz trug. Auf seinem Gesicht schien ein breites Lächeln festgefroren zu sein. Er langweilte sich sichtlich, obwohl er sich bemühte, sich nichts anmerken zu lassen.
Rechts neben der Frau in Schwarz stand eine blonde Schönheit mit großen blauen Augen. Auch ihr Lächeln wirkte angestrengt. Unseres wahrscheinlich auch, dachte Heimrich. Sie waren schon fast an dem Trio vorbei, als die Weißhaarige mit fester Stimme sagte: »Sie müssen Susan Upton sein.«
Susan blieb stehen. Merton Heimrich folgte ihrem Beispiel.
»Ich bin Ursula Jameson«, fuhr die Alte fort. »Sie sind doch Susan Upton? Ich vergesse nie ein Gesicht.«
»Ich war früher Susan Upton, Miss Jameson«, antwortete Susan. »Jetzt bin ich Susan Heimrich. Wirklich eine bezaubernde Party.«
»Ja, ich weiß«, sagte Miss Jameson. »Natürlich weiß ich das. Ihr Mann ist eine Art Polizist.«
»Hier ist mein Mann«, erklärte ihr Susan mit ebenso fester Stimme. »Inspektor Heimrich von der New York State Police.« Sie machte eine kurze Pause. »Mein Mann ist Kriminalbeamter.«
»An Ihrem Geschäft steht aber Faye«, wandte Miss Jameson ein.
»Das war der Name meines ersten Mannes«, sagte Susan. »Er war Offizier im Marine Corps. Er ist in Korea gefallen, Miss Jameson.«
»Schade«, meinte Miss Jameson, wobei nicht ganz klar war, worauf sich ihre Bemerkung bezog. Sie wandte sich an die jungen Leute, die fast erleichtert gewirkt hatten, als die Alte sie kurz stehenließ. »Susan Heimrich«, sagte sie. »Und ihr Mann. Er ist Kriminalinspektor.«
»Guten Abend, Mrs. Heimrich«, sagte die blonde Schönheit. »Guten Abend, Inspektor. Ich bin Dorothy Selby. Das hier ist mein Cousin Geoffrey Rankin.«
»Cousin zweiten Grades«, warf Rankin ein. Er hatte eine sonore Bassstimme. »Ich...«
»Miss Selby hilft Artie bei seinem Buch«, fügte Ursula Jameson hinzu. »Mr. Rankin wohnt in New York. Er ist... Sie sind Anwalt, nicht wahr, Rankin?«
»Ja«, bestätigte er. »Soll ich frische Drinks holen? Miss Jameson? Dot?«
Die Weißhaarige wollte einen Bourbon mit wenig Wasser. Miss Selby verlangte einen schwachen Scotch mit Soda.
»Okay«, stimmte Rankin zu. »Aber dabei ist deine Mutter gar nicht hier.« Er verschwand mit drei Gläsern in der Menge.
Dorothy sah ihm lächelnd nach, zuckte mit den Schultern und wandte sich an die Heimrichs und Miss Jameson.
»Meine Mutter will nicht, dass ich Alkohol trinke, wissen Sie«, erklärte sie ihnen. »Und wie Jeff gesagt hat, ist sie heute Abend nicht hier. Das tut ihr schrecklich leid, Miss Jameson. Aber ihre Kunden... sie ist Immobilienmaklerin, wissen Sie.«
»In Cold Harbor«, sagte Merton plötzlich. »Florence Selby, stimmt’s? Meine Nichte und ihr Mann haben vor einigen Jahren durch ihre Vermittlung ein Haus gekauft. Mr. und Mrs. Alden.«
»Tatsächlich?«, fragte Dorothy scheinbar interessiert.
Heimrich warf Susan einen hilfesuchenden Blick zu. »Mr. Jameson schreibt also ein Buch?«, fragte Susan.
»Alte Narren sind am schlimmsten«, stellte Ursula Jameson dazu fest. »So, jetzt müssen die Leute allmählich zu essen anfangen.«
Mit diesen Worten setzte sie sich in Bewegung und ging auf ihren Bruder zu, der inmitten einer kleinen Gruppe auf spät eintreffende Gäste wartete. Heimrich sah ihr nach. Sie erinnerte ihn an einen langbeinigen schwarzen Vogel, als sie mit großen Schritten durch den Saal strebte.
»In Wirklichkeit ist sie viel netter«, meinte Dorothy Selby. »Sie bemuttert ihn ziemlich, obwohl sie einige Jahre jünger ist. Ja, Mrs. Heimrich, Mr. Jameson schreibt ein Buch. Ich schreibe es für ihn in die Maschine, und er diktiert mir Teile davon. Eine Familienchronik der Jamesons. Die Familie ist im siebzehnten Jahrhundert hierhergekommen, und der erste Jameson hat dieses Haus erbaut.«
»Hmmm«, sagte Heimrich. Susan bewies mehr Phantasie. Sie behauptete, das klinge sehr interessant.
»Das findet Arthur auch«, stimmte Dorothy zu. »Es wird bestimmt ein sehr interessantes Buch.«
Verrückt, dachte Heimrich. Er stellte fest, dass Susans Glas fast leer war. »Was hältst du davon, wenn wir...« Geoffrey Rankin kam mit drei Gläsern auf einem Tablett zurück. »Hat Miss Jameson die Geduld verloren?«, fragte er. »An der Bar ist ziemlich viel los.« Dorothy nickte zu der kleinen Gruppe um Arthur Jameson hinüber. Ursula hatte sich ihr jetzt angeschlossen.
»Kommst du mit an die Bar, Schatz?«, schlug Heimrich seiner Frau vor. Susan nickte langsam. Sie mussten sich einen Weg durch die Menge bahnen. Heimrich schätzte, dass knapp 50 Gäste gekommen waren. »Du hast gesagt, wir könnten früher gehen«, flüsterte er seiner Frau zu.
»Aber nicht so früh«, widersprach Susan. »Sobald die Leute zu essen anfangen, wird es hier leerer. Die beiden wollten allein sein. Das hat man ihnen angesehen.«
»Rankin ist ihr Cousin«, wandte Heimrich ein. »Falls du ihn und die hübsche Blondine meinst.«
»Ihr Cousin zweiten Grades«, stellte Susan richtig.
»Und hier kann man schlecht allein sein«, murmelte Heimrich. »Wer sind überhaupt diese ganzen Leute?«
»Ehrbare Bürger«, versicherte Susan ihm, während sie sich zur Bar vorarbeiteten. »Die Dame in Purpur ist Mrs. Parkins. Sie war neulich bei mir und hat sich Stoffe angesehen, aber ich hatte nicht viel in Purpur. Und die stattliche Dame dort drüben ist Mrs. Turner. Die in dem gelben Kleid. Sie hat letzten Sommer ihr Wohnzimmer renoviert. Dazu hat sie unendliche Stoffmengen bei mir gekauft.«
Sie erreichten die Bar und ließen sich von Harold zwei Martinis mixen. Dort begegneten sie den Jacksons wieder, die ihnen jetzt Gesellschaft leisteten.
»Um acht Uhr heben wir wahrscheinlich alle die Gläser und singen Happy birthday, dear Arthur«, meinte Sam. »Ich weiß gar nicht, was in den alten Knaben gefahren ist. Er hat immer Gesellschaften gegeben, aber das hier...« Er zuckte mit den Schultern.
»Ich möchte mich irgendwo hinsetzen«, sagte Mary Jackson.
Das erwies sich als schwieriges Unternehmen, da zu viele andere Gäste den gleichen Wunsch hatten. Aber sie fanden schließlich ein kleines Sofa, auf dem Mary und Susan sitzen konnten, während ihre Männer vor ihnen standen. Das Stimmengewirr war noch lauter geworden; vereinzelt war bereits schrilles Lachen zu hören. Merton Heimrich stellte trübselig fest, dass die Party sich genauso entwickelte, wie er es am wenigsten ausstehen konnte. Und danach mussten sie über dreißig Meilen weit nach Hause fahren - wahrscheinlich bei Regen.
»Kopf hoch, M. L.«, forderte Sam Jackson ihn auf. »Nur nicht den Mut verlieren!«
Sam Jackson schien leicht angeheitert zu sein. Oder vielleicht machten seine Nerven nicht mehr ganz mit.
Ein Gong wurde mehrmals angeschlagen. Arthur Jamesons Gäste strömten zu der offenen Doppeltür. Der Gastgeber und seine Schwester standen nicht mehr dort.
»Auf in den Kampf«, sagte Jackson zu seiner Frau und zog sie zu sich hoch. Sie schlossen sich zu viert den übrigen Gästen an. »Wie bei einer Prozession«, meinte Susan. »Oder wie ein mittelalterlicher Festzug.«
»Der Einzug der Lords und Ladies des Hofes«, stimmte Heimrich zu. Er stellte sein leeres Glas auf ein Tischchen. Susan stellte ihres ebenfalls ab. Sie verließen den Salon, durchquerten die große Eingangshalle und betraten den Speisesaal, in dem ein prächtiges kaltes Büfett aufgebaut war. Am Eingang wurde ihnen Champagner angeboten. Bisher hatte sich noch niemand am Büfett bedient. Alle schienen auf etwas zu warten.
Die Gäste, die vor den Heimrichs hereingekommen waren, standen in kleinen Gruppen beieinander und tranken Champagner. Im Gegensatz zu vorhin war die Stimmung seltsam ernst, fast feierlich. Alle sahen zum linken Ende des langen Tisches mit dem kalten Büfett hinüber, wo Arthur Jameson stand: groß, schlank und fast auffällig unauffällig gekleidet. Er stand lächelnd da und wartete, bis die letzten Gäste den Speisesaal betreten hatten.
Dorothy Selby, die in ihrem ärmellosen weißen Kleid neben ihm noch jünger wirkte, stand an seiner Seite.
Als der letzte Gast den Saal betreten hatte, wurde die Doppeltür geschlossen. Jameson betrachtete seine Gäste einen Augenblick lang lächelnd. Die blonde Schönheit neben ihm lächelte ebenfalls.
Dann sprach Jameson mit klarer Stimme.
»Freunde«, sagte er, »meine lieben Freunde, ich habe Sie hierher gebeten, um mit Ihnen mein Glück zu feiern. Dorothy hat mir die große Ehre erwiesen, meinen Heiratsantrag anzunehmen. Sie wird meine Frau werden.«
Er zog sie an sich und küsste sie.
Zunächst herrschte verdutztes Schweigen. Dann klatschten die Gäste und begannen, sich um Jameson und die junge Frau zu drängen. Heimrich fand, Jameson sehe bei Kerzenschein älter als vorhin aus. Und Dorothy Selby wirkte jünger.
Im Hintergrund erklang leise Musik. Vier Männer mit hohen weißen Mützen standen jetzt hinter dem langen Tisch, um die Gäste zu bedienen. Der erste zerteilte einen Truthahn. Der zweite schnitt einen Schinken auf, und der dritte Koch rückte Silbertabletts mit Kanapees zurecht. Der vierte Mann tranchierte etwas: ein Spanferkel mit einem Apfel im Maul.
Um Himmels willen, dachte Heimrich und folgte Susan zu dem kleineren Tisch, an dem es Teller und Bestecke gab.
Ein Mann in weißer Jacke stellte Klapptische an den Wänden auf. Ein anderer brachte die dazugehörigen Stühle. Die Gäste holten sich Teller, Besteck und
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Richard Orson Lockridge/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx. Model: Victoria Borodinova.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Wulf Bergner und Christian Dörge (OT: Not I, Said The Sparrow).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 23.06.2022
ISBN: 978-3-7554-1609-8
Alle Rechte vorbehalten