HANS BACH
Die Glastropfenmaschine
KOSMOLOGIEN – SCIENCE FICTION AUS DER DDR, Band 12
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DIE GLASTROPFENMASCHINE
AUFBRUCH
EVULON
ASTRAS
CIRRULAAN
GALACTUUR
HUMANOS
GHETTON
DESTRUSOS
RÜCKKEHR
Das Buch
Als Reik Regenbach bei einer Exkursion im Rüdersdorfer Kalk einen seltsam geformten Stein findet, der einem Rattenkopf mit Zähnen und Augen wie Glastropfen ähnelt, spürt er, dass er verfolgt und bedroht wird. Anja Winterlicht, seine Freundin, sieht plötzlich aus, als sei sie ein ganz anderes Mädchen und keinesfalls aus Fleisch und Blut, und ein Fremder versucht, ihn in einen Abgrund zu stürzen. Schon will Reik den Steinernen Kopf wegwerfen, als er fühlt, dass er sich nicht von diesem Fundstück trennen darf. Wenig später verwirrt sich in ihm das Gefühl für Zeit und Raum. Er weiß nur noch, dass er den Baum der zehn Zeiten erreichen muss, dessen Blätter wie Schwanenflügel im Wind rauschen und dessen Äste in verschiedene Welten führen...
Hans Bach (* 1940 in Berlin) ist ein deutscher Science-Fiction-Autor; sein bekanntester Roman Die Glastropfenmaschine erschien in der DDR erstmals im Jahre 1988.
Der Apex-Verlag veröffentlicht diesen Roman als durchgesehene Neuausgabe in der Reihe KOSMOLOGIEN - SCIENCE FICTION AUS DER DDR.
DIE GLASTROPFENMASCHINE
AUFBRUCH
Erstes Kapitel: Der steinerne Rattenkopf
Reik Regenbach blickte zu den Mädchen hinüber. Sie saßen zu viert auf einer Doppelbank der Straßenbahn, die zum Kalkwerk Rüdersdorf fuhr. Maria und Anja wandten Reik die Gesichter zu, während Jana und Janine in Fahrtrichtung sahen. Anja erzählte, und die anderen drei lachten fast ununterbrochen. Sie schien in Hochform zu sein.
Wegen Anja Winterlicht saß Reik in der Bahn. Ihretwegen war er bereit, einen halben Tag durch den Kalk zu laufen und sich etwas über Saurier und Sedimente anzuhören. Frau Seiffert, die Klassenleiterin, stand ganz vorn, und ihr Blick wurde nur wach, wenn sie eine Haltestelle erreichten. Sie hatte die Exkursion organisiert. Wer kein Interesse dafür zeigte, machte in einer anderen Klasse den Wandertag mit. Verwundert hatte sie Reik angesehen, als er sich für Rüdersdorf meldete. Jana und Janine kicherten, weil sie wussten, warum er plötzlich für die Paläontologie schwärmte.
Reik stand auf dem hinteren Perron. Er war auf sich selbst wütend, denn Anja hatte ihn behandelt, als würde sie ihn überhaupt nicht kennen. »Seht mal, da«, hörte Reik und sah Anjas Finger, der auf einen grünen Skoda wies, »ich wette...«
Reik versuchte zu erfahren, was Anja wettete, aber er verstand kein Wort. Nur als Jana »Du spinnst ja!«, rief, dachte er: Sie spinnt heute tatsächlich. Hoffentlich fällt sie rein mit ihrer Wette.
Die Straßenbahn hielt. Eine Frau mit zwei kleinen Kindern verließ den Wagen. Ein älterer Mann, bebrillt und mit schwarzem Regenschirm unter dem Arm, stieg zu. Er räusperte sich. Anja hob den Kopf und blickte in seine Richtung. Der Mann blinzelte dem Mädchen zu. Dann wandte er sich gleichmütig ab, trat an die Zahlbox und zog sich einen Fahrschein. Er betrachtete ihn von allen Seiten, begann den spärlichen Text zu studieren, und doch war es Reik, als wenn die Aufmerksamkeit des Fremden nur Anja galt. In Reik erwachte ein nie gekanntes Gefühl der Eifersucht.
Sie kamen an einer Kreuzung vorbei, und Reik hörte, wie die drei Mädchen, die mit Anja gewettet hatten, erstaunte Rufe ausstießen. Sie pressten die Gesichter gegen die Scheibe, und als er zu erkennen versuchte, was es gab, konnte er nur ein grünes Autodach sehen.
Die Kreuzung blieb hinter ihnen zurück. Die Mädchen verstummten. Sie starrten vor sich hin. Nur manchmal hob eine von ihnen den Kopf, wollte Anja etwas fragen, aber schwieg dann doch. Schweigsam verlief die weitere Fahrt. Gemächlich zogen die schmalen Straßen von Rüdersdorf vorüber.
Als sie ausstiegen, erwartete sie ein Mann mit dichtem schwarzem Bart und ebensolchen Haaren. Er trug eine kleine runde Brille, die in seinem Gesicht verloren wirkte. Jeans, kragenloser Pullover und Wildlederjacke und dazu die sonnengebräunte Haut verliehen ihm das Aussehen eines Menschen, der viel unterwegs ist, der kaum an seinem Schreibtisch anzutreffen ist.
»Ich bin der Paläontologe Doktor Berksassen«, stellte er sich vor, »mit dem ihr verabredet seid.«
Frau Seiffert gab ihm die Hand und errötete leicht.
Sie gingen einen »inoffiziellen Weg«, wie Berksassen ihnen sagte, kamen in die Welt des Kalkbruchs. Hier war alles weiß, weißgrau oder grauschwarz. Bläulich lagen die Schatten der hochaufragenden Plattenberge auf den Pfaden. Manchmal glaubten sie in einer Winterlandschaft zu sein, und dann wieder fühlten sie sich wie in einem Hochgebirge.
»Vor zweihundertzehn Millionen Jahren«, erklärte Berksassen, »befand sich hier ein gewaltiges Meer. Fremdartige Reptilien, riesige Schildkröten und Fische mit den ungewöhnlichsten Auswüchsen durchfurchten die Wasser, lieferten sich Kämpfe auf Leben und Tod oder bewegten sich träge über den Grund. Und das, was euch jetzt wie ein kleines Gebirge vorkommt, ist aus den Schalen der toten Muscheln entstanden, die sich Schicht für Schicht übereinanderlegten. Am schlimmsten waren die Schildkröten wie Triassuchelys und Archeion dran. Sicher wurden sie von allen gejagt und ver...
»Das glaube ich nicht«, unterbrach ihn Anja ruhig, »niemand fing Archeion ungestraft. Sie waren paarweise unterwegs. Triassuchelys in Gruppen. Und kam ihnen jemand zu nahe, dann zogen sie den Kopf ein und benutzten ihren Panzer als Waffe. Was sie so berührten, zersägten sie einfach.«
»Ein phantasievolles Mädchen...«, begann Berksassen lachend, ohne den Satz zu vollenden. Noch während er sie ansah, Anja wich seinem Blick nicht aus, verschwand das Lächeln, und etwas wie Bestürzung oder tiefe Nachdenklichkeit breitete sich in seinem Gesicht aus. »Na ja«, sagte er endlich, während er sich mit dem Taschentuch einige Schweißperlen von der Stirn wischte, »warum auch nicht. Es würde vieles erklären... sehr vieles sogar.«
Reik hatte die Szene beobachtet. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Anja, seine Klassenkameradin Anja Winterlicht, belehrt einen
Wissenschaftler, unterbricht ihn und verwirrt ihn mit einem Blick ihrer Augen.
Der Pfad wand sich um den Berg, führte höher hinauf. Sie erreichten einen stillgelegten Teil des Kalkwerks. Junge Bäume, Stauden und frische Gräser wiegten sich im Wind.
Jana, die etwas zurückblieb, ging jetzt neben Reik her. Da fiel dem Jungen die Wette aus der Straßenbahn ein. »Jana«, sagte er hastig, »in der Straßenbahn, um was habt ihr gewettet?«
»Frag sie doch selbst«, antwortete Jana, »du bist doch ihretwegen hier.«
»Kann man sich nicht mal irren«, Reik lächelte Jana zu, »bei mir ist sie weg vom Fenster. Wie die sich aufführt... ohne mich.«
»Weißt du«, Jana spielte nervös mit dem Trageriemen ihrer kleinen Tasche, »das war verrückt. Du wirst es nicht glauben. Anja sagte, dass man Autos hypnotisieren kann, und die bleiben dann einfach stehen. Und da kam der grüne Skoda. Sie starrte ihn an, murmelte etwas, und... und mitten auf der Kreuzung stand der tatsächlich. Ich würde es nicht glauben, wenn ich es nicht gesehen hätte.«
Reik antwortete nichts, und Jana ging wieder schneller, um Janine einzuholen. Er versuchte sich einzureden, dass es ein Zufall war. Oder es hätte auch ein Auto an der Kreuzung stehen können, und ein ähnliches war vorbeigekommen. Nur, dass Anja überhaupt so etwas sagte, das passte nicht zu ihr. Es musste etwas mit ihr los sein. Oder sie tat das alles, um ihn zu testen. Sie wollte vielleicht sehen, ob er auch zu ihr hielt, wenn die anderen gegen sie waren.
»Sie stellt mich auf die Probe«, murmelte Reik, aber da fiel ihm der Bebrillte und dessen eigenartiges Verhalten ein. Der Mann mit dem Regenschirm war auch am Kalkwerk ausgestiegen. Er hatte ungeschickt Berksassen angerempelt und war kopfschüttelnd auf die Straße gegangen, und dann... Wo war er dann geblieben? Er war einfach weggewesen.
Reik hob den Kopf, suchte Anja. Sie ging ein wenig abseits und hielt ein Notizbuch in der Hand. Reik beschleunigte seine Schritte. Er wollte ihr zeigen, dass sie sich trotz allem auf ihn verlassen konnte.
Als er nahe heran war, sah er, dass es kein Notizbuch, sondern ein grünes Plättchen war. Etwas größer als eines dieser Lesezeichen. Reik war schon dicht hinter Anja. Er schaute ihr über die Schulter. Sein Mund öffnete sich, und seine Augen blickten fassungslos. Als begeisterter Elektronikbastler wusste er, dass er etwas Einmaliges sah. Auf diesem Plättchen war vieles gleichzeitig. Die Landschaft wurde düsterrot abgebildet. Da, wo die anderen liefen, wurden sie von phosphoreszierenden Strudeln und glitzernden Entladungen umtost.
Gleichzeitig aber wogte hier ein Meer. Träge, hellgrün mit kleinen, gekräuselten Wellen. Merkwürdige große Echsen zogen als Schwarm dahin. Das Meer wurde blass, und stattdessen dehnten sich Sümpfe von Horizont zu Horizont aus. Und dann erloschen alle Bilder, und ein seltsamer Flugkörper tauchte auf, kam rasch näher und zerplatzte. Es regnete glühendes Metall. Die dunkelrote Landschaft Rüdersdorf erschien nun erneut, und als zuckende blaue Punkte wurden einige der Wrackteile von jenem geborstenen Flugkörper sichtbar.
Reik bewegte den Kopf. Da erglänzte ein weißer Punkt in der Mitte des Bildes, und aus dem Punkt wurde Reiks Gesicht. Mit einer schnellen, wenn auch ruhigen Bewegung steckte Anja das Plättchen in eine der vier Blusentaschen. Übrigens hatte Reik diese Bluse noch nie gesehen, die aus einem metallglänzenden, groben Material gefertigt war.
»Du kannst dich auf mich verlassen«, begann Reik, »das wirst du wohl schon gemerkt haben. Ich bin nur deinetwegen hier...«
»So«, unterbrach ihn Anja und sah ihn einen Augenblick starr an, »ach so... Meinethalben. Unserer Säugetiernatur wegen. Meinst du das?« Sie lächelte weich, schüttelte ein wenig den Kopf.
»Was ist?« Reik schluckte. »Hör mal, du hast wohl gestern versehentlich ein Biolexikon gefressen oder so was? Kannst du auch reden wie immer? Oder ziehst du die Show wegen der EOS ab?«
Er wollte nach dem Plättchen fragen, aber Anja ließ ihn einfach stehen und lief zu den anderen.
»Anja«, rief ihr Reik hinterher, aber nur Jana drehte sich um, kicherte und schrie ihm ein Wort zu, das er nicht verstand.
Reik schaute zu Boden. Da fiel sein Blick auf einen seltsam geformten Stein. Der war dunkelblau, von einer rötlichen Brandspur überzogen und hatte die Form eines großen Rattenkopfes. Vor ihm lag ein steinerner Rattenkopf. Reik bückte sich, hob ihn auf. Der Stein war schwer und unhandlich. Reik steckte ihn in seine Umhängetasche, die er sorgfältig verschloss.
Ich werde ihn anmalen, dachte er, und morgen schenke ich ihn Anja. Und ich werde raufschreiben: von einem Saurier für eine nette Schildkröte. Oder so etwas Ähnliches.
Langsam ging Reik weiter. Der Tasche entströmte eine ungewöhnliche Kälte, die mit der Zeit zuzunehmen schien. Reik schob die Tasche etwas zurück. Er wollte jetzt schneller gehen, wollte Anja einholen und stumm neben ihr herlaufen, aber er kam nicht dazu.
»Ich weiß doch, dass du zu mir hältst«, erklang es dicht neben Reik, der zusammenzuckte und herumfuhr. Er blickte direkt in Anjas Augen, die unmittelbar vor ihm stand. Sie lächelte ihm zu. »Vorhin, das war dumm«, fuhr sie fort, »aber wir sind Verliebte, und da streitet man sich auch manchmal.«
Reik sah nur ihre Augen. Er gewahrte zum ersten Mal – vielleicht lag das an der Sonne, dass sie fast hellgrüne Augen hatte. Er war immer der Ansicht gewesen, dass ihre Augenfarbe hellbraun war.
»Du redest so komisches Zeug«, sagte er, »entweder du hast zu viel Populärwissenschaft im Fernsehen gesehen, oder... oder es ist dein Ziel, aus mir einen Clown zu machen. Versuch einfach mal wie gestern zu sein.«
»Du brauchst den Stein nicht anzumalen«, Anja lächelte noch immer, »gib mir den Rattenkopf jetzt.«
Mechanisch fasste Reik zur Tasche, wollte den Stein herausholen. Eilig zog er die Hand zurück, denn der Stein war glühend heiß. Dabei bemerkte Reik nicht einmal, dass auf der Körperseite große Kälte durch die Tasche drang.
»Das Ding ist heiß«, sagte er kopfschüttelnd, »komm doch am Nachmittag vorbei und hole ihn ab.«
»Heiß«, wiederholte Anja, und eine Veränderung ging in ihr vor, »so – also heiß.« Ein seltsames Glitzern entstand in ihren Augen. Die Vormittagssonne spiegelte sich in ihren Pupillen, die zu zwei spitzen, schmerzenden Lichtpunkten wurden. Reik blinzelte geblendet.
»Tauschen wir«, schlug Anja vor, »ich kenne eine Versteinerung, die noch keinen Namen hat. Gib ihr deinen Namen, und du bist berühmt. Die anderen, die Lehrer, alle werden dich bewundern. Ist das nicht ein guter Tausch gegen diesen heißen Rattenkopf?«
»Ich weiß etwas Besseres«, sagte Reik und lächelte, wenn auch nicht glücklich, denn diese geschäftsmäßige Art von Anja war ihm bisher unbekannt, »gib mir das Videospiel aus deiner Blusentasche. Für drei Tage. Dann hast du den Rattenkopf.«
Anja hob die Rechte, deutete nach vorn. Der Pfad, dem die Kinder unter Berksassens Führung folgten, schlängelte sich immer noch bergauf. Er verlief sich auf einer steinigen, leblosen Fläche, die etwa hundert Meter voraus wie abgeschnitten endete. Die Abbruchstelle war mit einem Stahlseil gesichert. Wie tief es dort hinunterging, konnte man nicht sehen, nur lagen drei- bis vierhundert Meter Luftlinie zwischen der Hochfläche hier und ihrer Fortsetzung auf der anderen Seite.
»Du siehst den Abgrund«, Anjas Gesicht blieb unbeweglich, während sie die Worte sprach, »und ich sage dir, dass dich der Stein in die Tiefe ziehen wird, wenn du ihn dann noch in der Tasche trägst. Nimm dies als Warnung.«
»Und dich zieht er natürlich nicht in die Tiefe«, spottete Reik, »du kannst ja auch Autos hypnotisieren. Ich finde so was blöd. In Ordnung, mit Janas Logik ist es nicht weit her, aber sie so zu verspotten... Ich bin ziemlich froh, dass ich diese Staubexpedition mitgemacht habe. Jetzt weiß ich wenigstens, wie du auch sein kannst.« Er ließ Anja stehen und lief los. Schnell holte er die anderen ein, ging an Frau Seiffert vorbei und gehörte, als sie bei den Stahlseilen angekommen waren, zur Spitzengruppe.
Der Pfad war jetzt eingeklemmt zwischen einigen Blöcken und dem Seil. Mindestens hundert Meter unter ihnen wanden sich winzige Schienenstränge durch die Tiefe der Schlucht. Einige Loren und ein hölzerner Schuppen waren zu sehen. Zwei mächtige Bagger stützten sich auf ihre stählernen Fäuste, und dazwischen stand klein und verloren jener beschirmte Mann aus der Straßenbahn. Er hob die Hand gegen die Sonne und blickte hoch. Berksassen stand mit dem Rücken zum Seil und gab acht, dass die Kinder unbeschadet ihren Weg fortsetzen konnten. »Vorsicht«, mahnte er, »geht vorsichtig. Immer einzeln, Freunde. Immer einzeln.«
Als Reik sich dem Seil näherte, dachte er voll Ingrimm an das, was Anja gesagt hatte. Sie hatte ihm gedroht. Sie war egoistisch.
Reik erreichte den Abgrund und fühlte in dem Augenblick, wie sich eine Kalksteinplatte unter seinem Fuß löste. Es zog ihn gegen das Seil.
Berksassen fasste den wegrutschenden Reik und stellte ihn mit einem harten Griff auf die Füße. Reik sah den Wissenschaftler groß an. In der Tiefe schlug die Platte auf. »Schon in Ordnung«, sagte der Paläontologe, »nichts passiert. Gar nichts.«
Niemand, nicht einmal Frau Seiffert, hatte die Szene registriert. Es war alles so schnell gegangen.
Es war fast Mittag, als die Gruppe die S-Bahn verließ. Einige hatten Muscheln und Schnecken gefunden, und Berksassen hatte ihnen für den Biologieunterricht einen Trilobiten und einen Ammoniten mitgegeben. Die würden einen Ehrenplatz bekommen.
»Tust du mir einen Gefallen«, bat Frau Seiffert zum Abschluss Reik, »du kannst doch schnell mal an der Schule vorbeigehen und diesen Schlüssel abliefern. Dann kann ich mit der nächsten Bahn nach Hause fahren.«
»In Ordnung«, sagte Reik nur und steckte den Schlüssel ein. Er verließ als letzter den Bahnhof. Er blinzelte in die Sonne. Nachdenklich musterte er die Büsche, die den Weg vom Bahnhof bis zu den Neubaublöcken säumten.
Jeder hat mal seinen miesen Tag, sagte sich Reik und dachte an Anja: »Aber sie hat doch braune Augen.« Er sah sie vor sich, wie sie in die Schule kam. Immer trug sie die langen schwarzen Haare offen, machte nicht all die müden Moden der anderen mit. Sie hatte Geschmack und einen tollen Gerechtigkeitssinn.
Rüdersdorf schien plötzlich endlos weit weg zu sein, und wäre nicht die Kühle des Steines in seiner Tasche, Reik hätte gemeint, dass das alles nie stattgefunden hatte.
Reik durchquerte die kleine Gartenanlage und war plötzlich überzeugt, dass Anja am Nachmittag zu ihm kommen würde. Er bog in die Amselstraße ein, wo grau und mächtig das große Schulgebäude stand.
Es war still in der Schule. Der feine Kies knirschte unter Reiks Schritten, und in einigen Fenstern spiegelte sich die Sonne.
In der schattigen Vorhalle des Schulgebäudes traf er auf den Stellvertretenden Direktor. Herr Gerstfeld beeindruckte alle. Er war über zwei Meter groß, breitschultrig und wirkte wie ein gut durchtrainierter Sportler. Seine Nase war breit, die Augen waren hinter einer dicken Brille versteckt und die sandfarbenen Haare glatt nach hinten gekämmt.
»Guten Tag, Herr Gerstfeld«, sagte Reik, »ich sollte nur einen Schlüssel abgeben.«
Herr Gerstfeld machte eine einladende Handbewegung, und sie gingen, den eigenen hallenden Schritten lauschend, in das Lehrerzimmer.
Reik zog den Schlüssel aus der Tasche und legte ihn auf einen Tisch. »Ich muss gehen«, sagte er, durch Gerstfelds Schweigen beunruhigt, »in Rüdersdorf war alles in Ordnung.«
»Wenn du jetzt losrennst«, warnte Herr Gerstfeld, »fangen sie dich ab und haben dich. Darauf warten sie nur.« Nach diesen rätselhaften Worten durchquerte er das Lehrerzimmer und stellte sich ans Fenster. Er beobachtete den leeren Hof. »Was wirst du tun?«, wollte er wissen, und seine dunkle, dröhnende Stimme zerschnitt die Stille. »Wirst du ihr tatsächlich den Rattenkopf geben? Wie willst du dich ihr widersetzen? Das hältst du nicht durch. Sie wird ihn sich einfach holen. Du kommst nicht gegen sie an. Was dann geschieht, wenn sie ihn hat, kannst du dir nicht vorstellen. Nicht in deinen schrecklichsten Träumen. Du darfst ihn nie hergeben!«
»Ich...«, begann Reik verwundert und brach sofort wieder ab. Er begriff gar nichts mehr. Woher wusste Gerstfeld von dem Stein? Und was hatte es mit diesem auf sich? Reik fasste in die Tasche, wollte den verfluchten Rattenkopf herausholen und auf den Tisch knallen. Und dann würde er loslaufen. Doch wieder schlug ihm eine Hitzewelle entgegen, sodass er die Hand eilig zurückzog.
»Na, was ist denn?« Herr Gerstfeld lachte. »Ich denke, du willst ihn loswerden? Es gefällt ihm wohl bei dir?« Der Stellvertretende Direktor schien sich an etwas zu erinnern. »Ach ja«, sagte er, »siehst du, das hätte ich fast vergessen. Frau Winterlicht rief heute Morgen an: Ihre Tochter hat Fieber und wird also erst am Montag wieder zur Schule kommen.«
»Aber«, entgegnete Reik erschrocken, »sie war doch in Rüders... ich meine, ich habe doch mit ihr... Können Sie mir das nicht erklären, damit ich es auch verstehe?«
»Ja, ja«, sagte Herr Gerstfeld, »verstehen... Du wirst es.« Er wandte sich dem Jungen zu, musterte ihn freundlich durch seine dicken Brillengläser. »Fall aber nicht gleich um«, fuhr er fort, »du musst dich noch ein Weilchen gedulden. Doch du wirst alles erfahren. Alles.«
»Und wie kann sich Anja den Rattenkopf holen«, fragte Reik mutiger als zuvor, »wenn sie im Bett liegt und Fieber hat?«
»Das ist es doch«, erklärte Herr Gerstfeld, »eben, weil Anja krank ist, wird sie, die andere, sich den Stein holen. Aber das ist wie bei höherer Mathematik. Man versteht sie nicht, wenn man nicht das kleine Einmaleins weiß. Und du musst sogar noch lernen, was eins plus eins ist. Ich will dir nur soviel sagen: Sie haben sich verrechnet. Weil sie ohne Hoffnung und Zukunft, ohne Liebe und Freundschaft leben, können sie nicht wissen, wie freundliche Gedanken und Zuneigung wirken. Sie sind umgeben von kaltem Licht und sprödem Glas. Und sie wähnen sich allmächtig. Ja... Und plötzlich versagt ihre Kunst, denn der Rattenkopf findet dich sympathisch. Er möchte bei dir bleiben. Und wir wollen das auch. Und das kann eine glückliche Wendung für euch und ein schlimmes Unheil für sie sein. Versuche das zu verstehen; mehr darf ich dir nicht sagen, selbst wenn ich wollte.« Er drehte sich wieder weg, beobachtete weiter den Schulhof. »Na bitte«, sagte er unerwartet, »etwas anderes blieb ihnen nicht.«
Reik durchquerte den Raum, stellte sich neben Herrn Gerstfeld ans Fenster. Er betrachtete ebenfalls das große Schultor, ohne dass er jedoch etwas Ungewöhnliches entdecken konnte. Die Sekunden verstrichen, wurden zu Minuten. Da hörte Reik einen nadelfeinen Ton, der allmählich anschwoll und zu einer gellenden Sirene wurde. Noch nie hatte er eine solche Sirene gehört. Vielleicht ein Krankenwagen, dachte er.
Da dröhnte auch schon ein Automotor, und Räder quietschten. Ein Fahrzeug kam durch den Torbogen, stellte sich quer. Die vier Türen des Funkstreifenwagens flogen auf, und fünf Polizisten sprangen heraus. Und ihnen folgte Anja Winterlicht.
Obwohl das alles in Sekunden geschah, gewahrte Reik, dass dieses Auto größer war als ein normaler Funkstreifenwagen. Zudem waren die Farben grell und spiegelten die Sonne hart wider. Die eingeschalteten Scheinwerfer durchdrangen wie Geisterfinger sogar das Mittagslicht der Sonne und blieben starr auf die Fenster des Lehrerzimmers gerichtet.
Anja hob die Rechte und deutete auf das Lehrerzimmer.
»Aber...«, stieß Reik hilflos hervor.
»Später«, raunte ihm Herr Gerstfeld zu.
Reik fühlte sich hochgehoben. Wie Schemen glitten die Tische des Lehrerzimmers vorüber. Kaum aber, dass Gerstfeld und Reik den langen Korridor erreichten, öffnete sich ein Fenster. Und dann standen sie auch schon inmitten der Pflanzen, die hinter der Schule wuchsen. Herr Gerstfeld ließ Reik nicht los. Sie liefen durch die Kleingartensiedlung und waren einen Augenblick später in der Pirolstraße.
Als Herr Gerstfeld Reik freigab, standen sie auf dem Gelände der Kinderkrippe. Schaukeln, Rutschbahnen und hölzerne Elefanten umgaben sie, eine kleine Eisenbahn war da, und ein Schaukelgerüst reckte sich vor ihnen auf. Dahinter lag das gelbe, einstöckige Gebäude.
Herr Gerstfeld ging darauf zu, und Reik folgte ihm benommen. Der Stellvertretende Direktor machte entschlossen die Tür auf.
Es roch nach Pudding und nach Kindern. Irgendwo klapperten Kochtopfdeckel, und jemand sang ein Lied dabei. Im Korridor hingen farbige Märchenfiguren an den Wänden. Alles war klein, die Stühle und die Tische. Es gab Blumenvasen mit Margeriten.
Reik blieb stehen, sah sich staunend um.
»Schlaf nicht ein«, flüsterte Herr Gerstfeld, »das wollen sie doch nur.« Er ging voran und verharrte schließlich vor einer Tür, auf der Betten abgebildet waren. Lautlos öffnete er. Sie waren im Schlafraum der Kinder.
Die Kleinen lagen auf den Betten, die reihenweise aufgestellt waren. Einige hatten die Köpfe gereckt. Stupsnasen, die in die Luft ragten. Gerötete Schlafwangen. Halboffene Münder. Lächeln im Schlaf.
Herr Gerstfeld zog Reik mit sich, und sie verbargen sich hinter einigen Rankenpflanzen.
Was bedeutet das, fragte sich Reik, seit wann bin ich auf der Flucht vor der Polizei...?
Weiter kam Reik nicht in seinen Gedanken, denn in dem Augenblick tauchte einer der Bewaffneten vor der Glastür, die den Raum vom Garten trennte, auf.
Das war kein Polizist. Glashelle, völlig farblose Augen starrten suchend in alle Richtungen. Das marmorweiße Gesicht lag im Schatten der Mütze, und der Mund war zu einem Lächeln gefroren, das fern jedem Mitleid war. Die Uniform, die Reik am Anfang grün erschienen war, schimmerte wie getriebenes Metall, das alle Farben annehmen konnte. Die Waffe war gläsern durchscheinend, und nur ihre Spitze funkelte blutrot.
Der Verfolger stierte in den Schlafraum und wischte sich immer wieder über die Augen. Schließlich stolperte er, wobei er mit einem Erstickungsanfall zu kämpfen hatte, rücklings die zwei flachen Stufen hinunter und rannte entsetzt fort.
Reik zitterte am ganzen Körper.
»Still«, sagte Herr Gerstfeld leise, »es ist alles in Ordnung. Gegen den gewaltigen Strom der freundlichen Kinderträume sind sie machtlos. Sie vergehen hier. Du hast es gesehen. Der wäre fast erstickt, als er hineinsah. Aber wir müssen weiter, denn bald werden die Kinder geweckt, und es gäbe ein heilloses Durcheinander, wenn man uns hier findet. Komm...«
Welch ein Weg! Obwohl sie durch Straßen liefen, die Reik kannte, konnte er sich hinterher an nichts mehr erinnern. Bäume, Häuser und Kreuzungen tauchten auf und verschwanden. Sie durchmaßen breite Alleen und schmale Gassen. Und irgendwann saßen sie in der S-Bahn zwischen Menschen, die aus dem Fenster sahen oder Zeitung lasen, Rätsel lösten oder sich unterhielten. Und keiner von denen ahnte etwas von dem seltsamen Rattenkopf in Reiks Tasche.
In Königs Wusterhausen stiegen sie zusammen mit den anderen aus der Bahn, wurden vom Menschenstrom durch den Tunnel getragen und tauchten auf der anderen Seite wieder auf. Sie verließen den Bahnhof.
Reik bekam Hunger. Er dachte an seine Mutter, die mit dem Essen wartete und sicher wieder und wieder auf die Uhr schaute. Und als sie an einer Bäckerei vorbeikamen, blieb er einfach stehen.
»Ich glaube nicht«, sagte Herr Gerstfeld, »dass du tatsächlich Hunger hast. Das ist ihr Werk, um uns aufzuhalten.«
Sie kamen an einem Flüsschen vorbei, bogen links um die Ecke und sahen vor sich das gelbe Schild der 179. Also hatten sie eine Fernverkehrsstraße erreicht. Neben ihnen quietschte eine Autobremse, und der Fahrer stieß die Tür des Fonds auf.
Herr Gerstfeld schob Reik ins Innere des Wagens und folgte ihm dann. Die Tür schlug zu, und sie fuhren los. Der Fahrer blickte Herrn Gerstfeld an. Er war unbestimmten Alters, trug eine Schirmmütze, eine Sonnenbrille und einen Schnauzbart.
Sie fuhren nun schon so schnell, dass die anderen Fahrzeuge nichts als zuckende Schatten waren. Bäume, Häuser, Zäune und Menschen verwoben sich zu einer dunklen, vielschichtigen Kulisse ohne Konturen. Selbst das Licht war anders, schien gelblicher oder gar etwas rötlich.
Reik verlor jedes Zeitgefühl. Vielleicht waren sie nur zehn Minuten gefahren, oder sie waren schon wochenlang unterwegs, als der Fahrer hart bremste. Es zog Reik nach vorn, und er schnappte nach Luft. Der Wagen bog in eine Nebenstraße. Auf der einen Seite war ein schmaler Grünstreifen mit Birken, dann etwas Sand und ein langer, leicht gekrümmter See, auf der anderen Seite standen kleine Einfamilienhäuser.
Herr Gerstfeld saß schweigend neben dem Fahrer und blickte wachsam nach vorn.
Der See entschwand ihren Blicken, ein Eisladen mit einigen Tischen und Gartenstühlen im Freien tauchte auf. Die Straße wurde holprig, das Auto sprang wie ein Känguru zwischen dörflichen Häusern und prunkenden Gärten immer weiter. Die Häuserzeile riss jäh ab, das Fahrzeug glitt einen Sandweg hinauf und jagte jetzt an Feldern und Wäldern vorbei.
»Argarro dero?« Die Frage des Fahrers klang metallisch hell.
»Dero, dero – vartian«, antwortete Herr Gerstfeld.
Die Bäume rückten zusammen, der Weg wurde schmal. Es ging bergauf und bergab. Sie fuhren nun langsamer, und das Knistern der vorjährigen Farne und Gräser drang zu ihnen herein.
Sie hielten an.
»Salvaston dero«, sagte der Fahrer, verneigte sich sitzend vor Herrn Gerstfeld und Reik.
Die Türen öffneten sich, und Reik verließ das unheimliche Gefährt.
Als er draußen das erste Mal tief durchatmete, als er den herben Duft des Waldes und der Erde einsog, stand Herr Gerstfeld schon neben ihm, die Türen des Autos schlossen sich wieder, und wie ein Schatten verschwand es zwischen den Stämmen der Bäume.
Sie gingen los und liefen durch Kuscheln. Dann riss die Fläche ab. Sie standen vor einer verlassenen Kiesgrube, auf deren Grund zwei große Teiche schimmerten.
»Hier sollten wir einen Wandertag machen«, sagte Reik und betrachtete andächtig die malerische Landschaft.
»Wir müssen hinunter«, wies Herr Gerstfeld nur an, und sie rutschten über den Kies, glitten durch Grasnarben und standen schließlich in der Talsohle der Grube. Aus dieser Perspektive wirkte alles noch wilder und fremdartiger.
Frösche quarrten in den Teichen, rundum wuchsen harte Stauden und schneidend scharfe Gräser. Schwarzbraun lagen einige vergessene Holzschwellen im überwachsenen Sand. Schilf und Seggen umstanden den Teich, in dem ganze Wälder dunkler Wasserpflanzen wuchsen, während einige Seerosen auf ihm trieben.
»Es dauert nur etwas länger«, erklärte Herr Gerstfeld, »aber die verlieren nicht unsere Spur. Setz dich hin und ruh dich aus!«
Reik ließ sich in den heißen Sand fallen. Der Hunger war fort. Dafür quälte ihn jetzt Durst.
»Kann ich ihn nicht einfach wegwerfen«, schimpfte Reik und deutete auf seine Tasche, »da, in den Teich. Oder ich zertrümmere ihn.«
»Man kann ihn nicht wegwerfen«, Herr Gerstfeld beobachtete scharf den Himmel, während er sprach, »und wenn du es doch tust, dann verbrennt er dich. Dann kommen sie und holen ihn sich. Sie finden ihn, wo er auch steckt.«
»Meine Mutter wartet auf mich«, gab Reik zu bedenken, »sie wird sich Sorgen machen.«
»Das hast du schon zweimal gesagt«, erwiderte Herr Gerstfeld, »ich weiß es. Das hier, das geht euch alle an. Eine große Aufgabe.«
»Ach so«, Reik wurde zornig, »eine große Aufgabe. Wissen Sie, was Sie uns immer gelehrt haben? Wer eine große Aufgabe erfüllen will, kann es tun. Jeden Tag. Er braucht nur seinen kleinen Pflichten ordentlich nachzukommen. Und mit einem Mal soll es unwichtig sein, ob sich meine Mutter Sorgen macht und ich nach Hause muss? Plötzlich gibt es etwas, von dem ich nicht einmal erfahren darf, was es überhaupt ist.«
Herr Gerstfeld lächelte nachsichtig. »Präzise«, stimmte er zu, »du hast aus deiner Sicht völlig recht. Aber ich bitte dich um etwas Geduld. Und nun steh auf! Wir folgen unserem Weg.«
Als sich Reik erhob, fühlte er sich erfrischt. Sogar der Durst war weg. Als er kräftig ausschreiten wollte, durchzuckte die Luft ein schriller, schmerzender Ton.
»Sie haben unsere Spur«, stieß Herr Gerstfeld hervor, »sie dürfen uns auf keinen Fall hier festhalten...« Er zeigte auf den sumpfigen Rand des Teiches und schaute sich suchend um. »Da«, fuhr er fort und deutete zum Himmel, »sie haben es genau berechnet. Deshalb taten sie so, als hätten sie unsere Spur verloren. Sie haben uns bis hierher kommen lassen.«
Zunächst entdeckte Reik nichts, doch dann gewahrte er einen schwarzen Punkt. Es schien ein Hubschrauber zu sein, der sich ihnen näherte. Doch je näher das Luftfahrzeug kam, desto unheimlicher wirkte es. Es hatte weder Propeller, noch Düsen- oder Raketenantrieb.
»Nimm den Kopf aus der Tasche«, wies Gerstfeld an, »schnell.« Vorsichtig fasste Reik in die Tasche. Der Stein blieb kühl, glitt wie von allein in die Hand, und es war dem Jungen, als verwüchse seine Haut mit den unbekannten Mineralien.
Der Steinerne Kopf schimmerte jetzt in allen Farben des Regenbogens und sah überraschend gläsern aus. Es war der Kopf eines Tieres, das Reik unbekannt war. Zwei Rubine bildeten die Augen, und in dem Maul steckten winzige, tropfenförmige Zähne aus Malachit.
»Richte den Kopf gegen das Luftfahrzeug«, befahl Gerstfeld, »wenn ich das Kommando gebe. Zögere nicht und traue nicht deinem Gefühl. Es könnte dir sagen, dass dein Arm leblos und unbeweglich ist. So etwas tun sie.«
Reik nickte wortlos. Er fasste den Steinernen Kopf mit beiden Händen und verfolgte mit den Augen jenes Gefährt, das sich ihnen näherte. Ein feines, gleichmäßiges Sirren lag in der Luft. Düsterrote Scheinwerferfinger tasteten den Boden ab. Zwei mächtige grünschimmernde Gläser, hinter denen anscheinend die Flugkanzeln lagen, waren wie Reptilienaugen auf alles gerichtet, was die Scheinwerfer berührten.
»Sie kommen mit Chooroon, dem Letzten Fahrzeug aus dem diamantenen Hangar«, flüsterte Gerstfeld heiser, »sie können mit der Zeit um die Wette fliegen und sogar Gedanken überholen. Und an Bord haben sie die Maschine Norrh. Du kennst sie nicht, aber sie kennt dich. Es gibt nicht ein Lebewesen auf tausend belebten Planeten, von dem sie nicht wüsste, wann es was tun wird. Und sie haben den Lenker des Letzten Fahrzeugs, Cerberon den Hellen. Wenn du gute Augen hast, dann siehst du gleich hinter ihm Anja Winterlicht stehen. Sie ist in eine Rüstung aus Plutonitan gehüllt und hält die Waffe in der Hand, die deine Gedanken verwirren soll, die ein Fieber in dir erzeugen wird. Und du wirst hassen, was du lieben müsstest, und du wirst lieben, was dich zerstört. Vergiss das nie!«
Und dann war Chooroon dicht vor ihnen. Auch das Innere wurde sichtbar. Ein phantastischer Anblick bot sich dem Jungen.
Im selben Augenblick entrang sich Reik ein gurgelnder Schrei. Etwas Brennendes fuhr ihm in die Gedanken. Dort oben, über ihm in der Luft stand Anja Winterlicht, und sie sah schöner aus als jedes andere Mädchen. Sie streckte ihm ihre Hände entgegen, und ihre Augen blickten unsagbar traurig drein.
Da fühlte Reik, dass es nur einen gab, der verhindern wollte, dass er Anja haben konnte, und dieser eine hieß Gerstfeld. Gerstfeld mit den Froschaugen und den dicken Brillengläsern. Und er wusste auch, dass er nur den Rattenkopf fortschleudern musste, um glücklich zu sein.
»Den Steinernen Kopf hoch!«, klang es aus endloser Ferne.
Es war, wie Reik es wusste, irgendwoher wusste: Die Arme waren bleischwer, er konnte sie nicht heben. Und er wollte sie nicht heben. Es ging um Anja und ihn... Und doch hoben sich seine Arme mehr und mehr, und schließlich zeigte die Schnauze des Tierkopfes auf Chooroon. Dunkelheit erfüllte die Welt. Und diese Finsternis trug ihn wie der Herbstwind das Blatt. An Reiks Seite aber schwebte Gerstfeld.
»Nun hast du ein wenig von der Wirkung ihrer Waffen erlebt«, weich und freundlich klangen die Worte des großen Mannes, »und vielleicht ahnst du jetzt, wie wichtig es ist, dass sie den Steinernen Kopf nie bekommen. Denn er kann diese Wirkung vervielfachen.«
Reik stöhnte nur, noch immer schmerzte ihm der Kopf, suchten ihn verwirrende Bilder heim, auch wenn sie zusehends schwächer wurden.
»Wir haben ein wenig Zeit«, fuhr Gerstfeld fort, »und deshalb will ich dich beruhigen, was deine Mutter betrifft.« Er zog ein Plättchen aus der Tasche, das dem glich, welches Anja in Rüdersdorf benutzt hatte. Gerstfeld hielt es so, dass Reik hineinsehen konnte. Aus einem vielfarbigen Liniengewirr kristallisierten sich Dinge heraus. Zuerst ein Kalender mit dem heutigen Datum. Reik erkannte ihn sofort: Es war sein Kalender. Er hatte ihn sich selbst angefertigt. Dann sah er seine Flugmodelle, die begonnene Eisenbahnanlage und auf seinem Tisch die Teile, die er heute hatte zusammenlöten wollen. Eine Hand kam ins Bild, nahm ein Teil. Der Junge aber, zu dem die Hand gehörte, war – Reik. Reik erblickte sich selbst, wie er am Tisch saß und zwei Teile zusammenfügte. Und dann sah er in der Tür seine Mutter stehen. »Möchtest du noch etwas essen?«, fragte die Mutter.
»Nein«, antwortete Reik, »ich bin satt. Ich setze noch schnell diese Teile zusammen, und dann hole ich die Wäsche ab.«
»Aber...«, Reik wandte den Kopf, suchte Gerstfelds Augen, »das geht doch nicht...«
»Nein«, entgegnete Gerstfeld, »du bist das nicht. Das ist dein Ersatz. Verstehst du? Solange du in Sachen Steinerner Kopf unterwegs bist, ist der für dich da. Ein ausgezeichneter Schüler. Nur Einsen bringt er nach Hause. Er hilft immer und überall. Wäscht, trocknet ab, holt die Wäsche, kauft ein. Schleppt im Winter Kohlen und bringt die Asche runter. Er ist höflich, ohne zu duckmäusern. Man muss ihn nie bitten oder drängen. Er fühlt sich auch nicht als der Größte. Es ist ihm nicht gegeben, zu spotten oder zu lästern. Zufrieden?«
»He«, Reik kratzte sich den Kopf, »gegen den habe ich überhaupt keine Chance. Wenn ich zurückkomme, werden ihn meine Eltern nur ungern wieder gegen mich eintauschen wollen.«
»Nein«, Gerstfeld lachte, »das glaube ich nicht. Sie werden, ohne dass sie es je begreifen, froh sein, dass du wieder da bist. Denn dem da fehlt etwas, was nur du hast.«
»Und was ist das?«
»Es ist einfach das, was dich ausmacht.«
»Werde ich sehr lange weg sein?«, fragte Reik.
»Was ist lange, was ist kurz?« Gerstfeld hob die Schultern. »Es hat hunderttausend Jahre gedauert, ehe der Steinerne Kopf vollendet war, und Millisekunden genügen, ihn in der Wut der Explosion zu vernichten. Menschen werden geboren und sterben, ehe eine Stadt gewachsen ist, und viele Städte blühen auf und welken, ehe ein Gebirge nur zwanzig Meter niedriger geworden ist. Lang und kurz sind keine Begriffe, die uns jetzt beschäftigen sollten. Frage etwas anderes!«
»Sie sagten, dieser Ersatz von mir, der wird immer höflich sein – sicher auch zu Anja Winterlicht. Aber wie kann er das, wenn sie in diesem Letzten Fahrzeug sitzt?«
»Du hast nicht aufgepasst«, Gerstfeld lächelte, »ich sagte, dass Anjas Mutter angerufen hat, um ihre Tochter zu entschuldigen. Sie liegt fiebernd im Bett.«
»Ich habe es mir gemerkt«, Reik sprach hastig, »sehr gut sogar. Aber das ist verwirrend. In meiner Klasse sind eine echte Anja und ein falscher Reik, und hier bin ich, der wirkliche Reik, und ist eine unechte Anja. Wer ist das überhaupt, diese verkleidete Anja?«
»Sie ist die Herrin von Zitadorra, einem bösen Ort«, Gerstfeld presste die Lippen zusammen. »Aber das sagt dir noch nichts«, fuhr er dann fort, »und vielleicht wird es dir nie etwas sagen. Denn wir wissen nicht, wie sich alles entwickelt. Doch wenn du ihr gegenübertreten musst, dann sei auf der Hut. Fürchte sie.«
»Ich will es mir merken«, erklärte Reik, »nur noch eine letzte Frage: Wer sind Sie? Ich weiß, dass auch Sie nicht Herr Gerstfeld sind.«
Das Gesicht des wuchtigen Mannes wurde einen Augenblick lang glatt und starr. Die grauen Augen erinnerten an eingefärbtes Glas. Doch dann kehrte das Leben in sie zurück. Er lächelte weich. »Ja, ja«, sagte er in der Art von Herrn Gerstfeld, »das stimmt. Und der Tag ist nicht fern, da wirst du wissen, wer ich bin. Aber die ASGEDAN-Runde hat beschlossen, dass ich noch in dieser Gestalt bleiben soll. Sage also ruhig Herr Gerstfeld zu mir. Und du bist der Schüler Reik. Vorerst noch. Doch nun pass auf, wir sind gleich da.«
Schmale Lichtkorridore schoben sich aus der Finsternis. Aus dem Schweben wurde ein kurzer Fall. Wasser spritzte auf. Reik sprang, als er die Nässe um sich fühlte, steil in die Höhe, schüttelte die Tropfen ab.
Gerstfeld stand nicht weit von ihm. »Dies«, er machte eine weitausholende Handbewegung, »ist das Reich Seiner Majestät Strepton Pyrogenum von der Pestard und seiner Frau, der Königin Lyssa Albina. Hier ist die Pforte, die man überwinden muss, wenn man diesen Weg geht.«
Zweites Kapitel: Der fiebrige König lässt bitten
Die endlose Weite der Landschaft, die sich flach wie ein Tablett um sie erstreckte, beunruhigte Reik. Die Sonne schien kraftlos durch eine fahle Wolkendecke, und eine dünne Nebelschicht stieg auf, erinnerte an schmutzigen Schnee, der jedes Leben erstickt. Fast schwarz standen in unregelmäßigen Abständen bizarre Bäume, die ihre kahlen, spitzen Äste wie fleischlose Hände in den milchigen Himmel krallten. Kleine weißlich-gelbe Pflanzen ragten aus den Wassern, die den größten Teil der Ebene bedeckten, und bildeten stellenweise fahle Teppiche. Das einzige Geräusch, das es hier gab, war das unregelmäßige Tröpfeln herabfallenden Wassers. Kein Vogellaut, kein Insektengesumm durchbrachen die unheilvolle Stille. In der Ferne gab es zwei Waldsäume. Es mochten Nadelbäume sein; das fast schwarze Grün reichte auf den Boden herab und ließ keine Stämme erkennen. Irgendwo sprang ein Tier aus dem Wasser, fiel aufklatschend zurück.
Gerstfeld zog das Plättchen aus der Tasche und ließ Reik hindurchschauen. Reik sah jetzt die Wälder ganz nahe. Es waren Bäume, die auf ihren Wurzeln wie auf Stelzen standen. Blätter besaßen sie nicht. Nur nasse, grünliche Algenbehänge, von denen es herabtropfte.
»Und wir müssen bis da hin?« Zweifel flackerten in Reiks Augen.
»Noch viel weiter«, antwortete Gerstfeld.
Sie gingen los. Das Wasser platschte unter ihren Füßen. Gleichgültig blickte Reik auf Gerstfelds breiten Rücken, der sich vor ihm ruhig bewegte. Das war das einzige Zeichen dafür, dass sie überhaupt vorankamen. Und dann die Kreise auf dem Wasser. Bei jedem Schritt entstanden sie, breiteten sich aus, schnitten einander, wurden ungleichmäßig, liefen weiter nach außen, verschwanden irgendwo. Aber schon waren die nächsten Ringe da, und das Spiel begann von vorn.
»Gehen wir überhaupt?«, murmelte Reik nach einer Weile müde und ausgelaugt.
»Ich muss so gehen, wie du es vorgibst«, sagte Gerstfeld sanft, »denn mein Auftrag ist, so lange wie möglich an deiner Seite zu bleiben.
Wenn du auf der Stelle trittst, mache ich das auch. Kommst du voran, komme ich ebenfalls vorwärts, und legst du dich nieder, weil das Land stärker ist als du, dann lege ich mich neben dich hin.«
»Aber Sie sind doch vorn«, widersprach Reik, »wie kann ich da das Tempo bestimmen?«
»Du tust es trotzdem«, erläuterte Gerstfeld, »denn dieses Land der Grauen Bilder ist deine Prüfung. Aber eins musst du wissen: Gibst du auf, dann wird die Paradestraße Seiner Majestät vierzig Zentimeter länger, sein Thron wird höher werden, und das Tränenfließ wird heftiger als vorher rauschen und brausen... Und Seine Majestät wird den Steinernen Kopf gegen einige zehntausend Unglückliche bei ihnen eintauschen. Bedenk es.«
Neben ihnen gurgelte es in einer Lache, und ein grauer, nackthäutiger Kopf, augenlos und doch ihre Bewegungen wahrnehmend, hob sich aus den Fluten. Ein offenes, zahnloses Maul reckte sich ihnen hungrig entgegen, bewegte sich hin und her, suchte etwas.
»Moraxon«, sagte Gerstfeld und zog Reik mit einem heftigen Ruck aus dem Umkreis des tastenden Mauls, »man nennt es das Glatthäutige.«
Reik sah das Wesen gebannt an. Es watschelte auf flossenartigen Beinen aus der Lache, schob den unförmigen, qualligen Körper zwischen die niedrigen Pflanzen und tastete ununterbrochen nach der Beute, von der es wusste. Gleich darauf wandte es sich ab, stürzte sich zurück ins Wasser, das hoch aufspritzte. Es tauchte in dämmrige Tiefen hinab.
Noch immer stand Reik unbeweglich. »Ich will zurück«, sagte er leise, »schnell zurück!«
»Dreh dich um«, forderte Gerstfeld den Jungen auf, »sieh, wohin wir dann kommen.«
Reik folgte der Aufforderung. War die Landschaft vor ihnen trostlos und verloren, so schien sie hinter ihnen noch schrecklicher. Da war nichts. Kein toter Baum, kein Algenwald, nicht eine Pflanze.
Grau und aufgeweicht war der Boden, kraterzerrissen und von schwefligen Nebelschwaden durchsetzt. Das Land schien sich zu neigen, endlich in einer nachtschwarzen Tiefe selbst zu Nebel zu werden.
»Nun, willst du dorthin?«
»Der Rattenkopf«, flüsterte Reik tonlos, »er soll uns wegbringen. Warum kann er das nicht?«
»Es geht nicht«, antwortete Gerstfeld, »es geht nicht. Wir müssen durchkommen, oder...« Er blickte Reik besorgt an, dann aber nickte er ihm aufmunternd zu.
Doch Reik rührte sich nicht. Er betrachtete hilflos die Wasseroberfläche, die jenes blinde Tier barg. »Wir treten immer nur auf der Stelle«, stöhnte er. »Was soll das? Dann kann ich mich auch hinsetzen und warten.«
In der Lache entstand eine unruhige Bewegung. Ein grünlicher Lichtschein schwebte aus der Tiefe herauf. In dem phosphoreszierenden Licht erschienen schlangenartige Tiere, weißlich wie riesige Fliegenmaden, bestachelt wie Raupen und über einen Meter lang. Sie kamen unglaublich schnell nach oben, ihre Tastrüssel wie eine Lanze nach vorn gerichtet. Springend verließen sie das Wasser, entfalteten lederhäutige Stummelflügel, erhoben sich ungelenk in die Luft und flogen im Zickzack hin und her, die Rüssel in alle Richtungen drehend und schlürfend Luft einsaugend.
»Achtung«, warnte Gerstfeld, »fliegende Nacktegel.«
Aber Reik starrte weiter auf das Wasser, denn der grünliche Schein wurde noch intensiver, und umgeben von flackerndem Licht, tauchten andere Wesen auf, die kleine stechende Augen und viele dünne Krallen hatten. Wie Schmetterlinge umtanzten sie jenes augenlose Tier, das wieder an die Oberfläche gekommen war.
Reik begriff, dass die Grünlichtigen die Augen des Moraxons waren und dem Glatthäutigen zeigen konnten, wo sich die Beute befand. Und Reik erkannte, dass er und Gerstfeld das Ziel des Angriffs waren. Er schrie auf und stürzte davon, vorbei an Gerstfeld, der ihm dichtauf folgte.
Reik stolperte, riss Wasserpflanzen ab und rannte platschend und taumelnd weiter. Der Bann war gebrochen.
Während Reik keuchend weiterhastete, bemerkte er, wie sich die Position der Bäume veränderte. Jetzt trat er nicht mehr auf der Stelle, gewann Boden. Zugleich stellte er fest, dass der grünliche Schein sie immer noch umtanzte, dass die Wesen der Tiefe ihnen klatschend, schmatzend und knurrend folgten.
»Endlich begreifst du«, rief Gerstfeld erleichtert, »dass man hier nicht ruhen und sich aufgeben darf. Wir werden es schaffen.«
Das Wasser unter ihren Füßen wurde flacher und flacher. Sie liefen über trockenen, leicht federnden Sumpfboden. Der grüne Schimmer blieb zurück. Die Geräusche der Verfolger wurden leiser und verebbten schließlich. Stille umgab die beiden. Gerstfeld übernahm nun wieder die Führung, nickte Reik, als er ihn überholte, anerkennend zu.
Reik sah sich um. Einer der Algenwälder war ihnen deutlich nähergekommen. »Wollen wir durch den Wald?«, fragte der Junge.
»Auf keinen Fall«, antwortete Gerstfeld, ohne seinen Lauf zu unterbrechen, »wenn es sich vermeiden lässt. Man kann allzu leicht in das Endmoor geraten. Oder man begegnet Virulon und seinen Kriegern. Es ist schwer, ihn zu besiegen. Wir wollen nicht hindurch.«
»Wir kommen ihm aber nahe«, flüsterte Reik, »wir sollten uns mehr links halten.«
»Umgekehrt«, widersprach Gerstfeld, »er nähert sich uns. Es ist ein Wettlauf. Er will uns den Weg abschneiden und uns in den Gorgos treiben. Hier gibt es zwei Ströme: Gorgos und Hacos. Man kann sie nicht überwinden. Wir müssen laufen. So schnell du kannst.«
Sie kamen immer schneller voran. Reik spürte neuen Mut und neue Kraft in sich. Hunger und Durst waren vergessen und seine Mutlosigkeit verweht. Er war überzeugt, dass sie den Wettlauf gewinnen würden. Plötzlich jedoch versank er bis an die Oberschenkel im weichen Boden. Wütend wollte sich Reik befreien. Das war nicht leicht. Der Untergrund hielt ihn fest. Nur langsam und mühevoll zog er erst ein Bein und dann das andere hervor. Schwarzbraune Erde bedeckte seine Hosen. Reik, in dem sicheren Gefühl, dass Gerstfeld neben ihm stand und ihm zusah, versuchte einige Pflanzen auszureißen, um sich damit zu säubern. Er zerrte an den weißlichen Stängeln, holte aber nur die weitverzweigten Wurzeln und Sprosse aus dem Sumpfboden. Dabei richteten sich die Pflanzen auf, überragten ihn. Und als sich Reik umwandte, stellte er verblüfft fest, dass ihn die Pflanzen wie ein weißlich-gelbes Gitter umgaben. Er wollte sie niederdrücken. Doch sie leisteten Widerstand. Reik versuchte über sie hinwegzuklettern. Dabei rutschte er immer wieder ab. Als Reik es mit einem Sprung versuchen wollte, hielt ihn der Sumpfboden fest, und er stürzte gegen die Pflanzenbarriere, die ihn aufnahm und sanft zurückdrückte, sodass er auf dem Rücken zu liegen kam. Angst beschlich ihn. Er spähte durch eine Ritze und sah, dass Gerstfeld kaum größer als ein Daumennagel schien und kleiner und kleiner wurde. Hatte er denn nicht bemerkt, dass Reik ihm nicht mehr folgte?
Reik irrte im Kreis umher. Die Pflanzen hatten ihn gefangen. Und irgendwo in weiter Ferne schimmerte es grünlich, und erneut hörte er das Klatschen jenes blinden Wesens, das ihre Spur immer noch nicht aufgegeben hatte.
Eine Bewegung schreckte Reik auf. Auf dem oberen Rand bewegte sich etwas. Reik blickte hoch und sah ein Tier, das ihn unverwandt anschaute. Es war halb so groß wie der Junge und besaß große, halbkugelige und gläsern wirkende Augen. Der Mund war weit vorgestülpt. Arme und Beine waren mager, schienen nur aus Knochen und Sehnen zu bestehen, überzogen von einer faltigen und ledernen dunklen Haut. Die Finger und Zehen erinnerten an junge Schlangen, die in die verschiedensten Richtungen krochen. Der prallvolle Bauch hing ein wenig herab. Das Tier glänzte rostrot, und nur die Innenflächen seiner Hände und Füße und seine Lippen schimmerten blassblau.
»Fifififi«, machte das Tier und bewegte seinen Kopf unruhig hin und her, »gefangen, du bist gefangen.«
»Ich bin gefangen«, wiederholte Reik und sah sich vergeblich nach einer Waffe um.
»Gerstfeld hört nicht«, fuhr es fort, »der ist weit weg. Aber die Nacktegel werden kommen und Moraxon. Auch die Astranos, die Irrlichter, und Nebulon, der Nebelhäutige. Surax, das watschelnde Moorschwein, und der Lachenfraß. Sie kommen immer, wenn es Beute gibt.«
»Spotten kann ich auch«, erwiderte Reik, »aber helfen ist eine andere Sache.«
»Achsoklein spottet nicht«, antwortete es und ließ die Arme herabhängen, »Achsoklein kann sogar helfen!«
»Wie heißt du?« Reik musste lachen. »Achsoklein? Das ist doch kein Name, und so klein bist du auch wieder nicht.«
Das Glasäuglein schien beleidigt. Es kehrte Reik den Rücken zu. »Als Achsoklein geboren wurde«, widersprach es Reik, »war es, ach, so klein. Und darum heißt es Achsoklein. Und es ist immer noch sehr klein.«
»Also gut«, lenkte Reik ein, »du bist sehr klein. Hilfst du mir jetzt hier raus?«
»Was gibst du mir dafür?«, fragte Achsoklein.
»Was willst du haben?« Reik warf einen besorgten Blick über die Schulter, wo es bereits hörbar schnaufte, platschte, hastete und vorankeuchte. Die Verfolger schienen sich zu nähern, auch wenn sie noch nicht zu sehen waren.
»Was hast du?«, fragte Achsoklein, blinzelte und legte den Kopf schief.
»Ein Notizbuch«, zählte Reik auf, »einen Kugelschreiber und ein paar Buntstifte. Eine kleine Feuerwehr ohne Leiter. Etwas Kleingeld. Was noch...?« Er dachte nach.
Achsoklein schüttelte traurig den Kopf. »Du hast nichts, was Achsoklein mag. Nichts. Schade.«
»Dann sag doch wenigstens, was du willst«, bat Reik, denn die Geräusche wurden zunehmend lauter.
»Du sollst mich in den Schlaf wiegen«, flüsterte Achsoklein verträumt und schlang seine langen, spinnenbeindünnen Arme um die eigenen Schultern, wiegte sich ein wenig hin und her, »und du sollst mir ein Lied singen und meine Träume beschützen. Willst du das?«
»Von Wollen kann keine Rede sein«, antwortete Reik, »aber ich werde es tun, wenn du mich befreist.«
»Abgemacht«, sagte Achsoklein. Und mit unerwartetem Eifer und mit Bewegungen, denen Reik nicht folgen konnte, entflocht das rostrote, glasäugige Wesen die Pflanzen und schaffte einen Durchgang für Reik.
Der Junge zwängte sich stöhnend hindurch, stand endlich wieder auf festem Untergrund und lief in die Richtung, in der Gerstfeld verschwunden war.
Das Glasäuglein hielt sich dicht bei Reik. »Er hat es geschafft«, piepste es in den höchsten Tönen, »er ist noch am Wald vorbeigekommen. Wir schaffen es nicht.«
Reik sah, dass der Wald den gesamten Horizont verdeckte. Die hochaufragenden Wurzeln waren dunkel und glatt. Die Wassertropfen fielen mit solcher Heftigkeit von den Ästen herab, dass man meinen konnte, ein Regenguss ginge nieder. Die Algen glänzten schwarz, waren vielschichtig und ineinander verwoben. Der Wald verdeckte jetzt schon die Sonne, und ein düsterer Schatten legte sich über das Land, über Reik und Glasäuglein. Die beiden blieben stehen, versuchten mit ihren Blicken die Finsternis zu durchdringen, wagten kaum zu atmen. In dem Dämmer zuckten Augenpaare auf. Sie wurden beobachtet, angestarrt und gemustert.
»Und das ohne Gerstfeld«, Reik stöhnte und sah Achsoklein in die gläsernen Augen. »Können wir nicht um den Wald herumlaufen?«
»Dort ist das Endmoor«, jammerte das Kleine, »und auf der anderen Seite Gorgos. Surax und die anderen haben uns den Rückweg abgeschnitten... Wir müssen hindurch.«
»Hier vorn«, Reik deutete auf einen der vielen Waldausläufer, »scheint er weniger dicht zu sein. Versuchen wir es.«
Im Wald war es finster, uneben der Boden und glatt. Reik rutschte immer wieder aus, stürzte über Wurzeln und faulende Äste, verfing sich in den dichten Algenbärten und keuchte und schimpfte ununterbrochen. Achsoklein blieb dicht bei ihm und fiepte bei jedem unbekannten Geräusch angstvoll auf. Und es half Reik, sobald er sich irgendwo verfangen hatte und steckenzubleiben drohte. Der Pfad, dem sie folgten, war vielfach gekrümmt und morastig, voll tiefer Löcher.
»Wenn ich nur wüsste«, rief Reik, »wo wir überhaupt sind und in welche Richtung wir müssen. Ich habe jede Orientierung verloren.«
»Wir können nur noch dem Pfad folgen«, antwortete Achsoklein, »mehr weiß ich auch nicht.«
In ihren Köpfen dröhnte es. Dazu war es stickig warm hier. Die Luft schien angefüllt mit Fieberdünsten und jauchigem Fäulnisgestank. Sie arbeiteten sich nur mühsam voran. Als sie die Lichtung erreichten und Reik das erste Mal etwas leichter atmen konnte, trat hinter einer Algensäule ein Wesen hervor, das ihn allein durch seinen Anblick lähmte. Der da vor ihnen stand, hatte doppelte Menschengröße. Sein Körper steckte in einer Rüstung, die aus Tausenden von aneinandergesetzten Kugeln bestand. Seine Augen schützte ein metallenes Gitter. Er hob die Hand und durchfurchte mit einer Keule sausend die Luft. In der Linken hielt er einen Schild. Dann machte er die Beine ein wenig breit, und aus einem Haufen schmieriger Algen gerann ihm ein Reittier, das ihn anhob und wie er in einem Panzer steckte.
»Nun denn«, rief der Fremde drohend, »da du es gewagt hast, den Wald des Virulon zu entweihen, so kämpfe! Ich biete dir freien Durchgang, wenn du siegst, und du verpfändest dein Leben. Werde ich dein Meister, dann treibe ich dich ins Endmoor.«
»Soll ich mit einem morschen Ast kämpfen?«, fragte Reik, sich seiner Wehrlosigkeit bewusst.
»Ich, Virulon«, antwortete der riesenhafte Krieger, »werde der Verlorene genannt, weil ich keinen eigenen Körper besitze. Aber wisse, dass ich mir aus tausend mal tausend Menschenkörpern den einen schaffen werde, dessen Vollkommenheit das Universum dazu bringen wird, sich vor mir zu verneigen. Oh, noch muss ich experimentieren, noch treibe ich viele meiner Opfer in das Endmoor, noch bin ich dem König Strepton untertan. Aber nicht ewig wird das so sein, mein Kleiner. Ich werde es schaffen. Einst wird der vollkommene Leib mein eigen sein. Dann lache ich über Alter und Verfall. Und nun nimm deine Waffen und tritt vor!«
Reik warf einen hilflosen Blick auf Achsoklein, dessen Augen ein mildes Licht verbreiteten. »Hast du eine Idee?«, flüsterte er und schluckte heftig. »Ich finde, man muss irgendetwas tun. Wir können uns doch nicht so einfach ergeben.«
Das Glasäuglein kratzte sich sorgenvoll den Bauch. Abwechselnd betrachtete es Virulon und Reik. Endlich tippte es wortlos auf Reiks Umhängetasche.
»Du denkst, dass der Rattenkopf... ja, davon hat Gerstfeld nichts gesagt. Aber verboten hat er es auch nicht.« Reik fasste in die Tasche, befühlte das jetzt kühle Glas. Unversehens geriet seine Hand in das offene Maul des Steinernen Kopfes. Da löste sich auch schon einer der Zähne und blieb in Reiks Hand liegen. Reik zog den Zahn hervor. Hell leuchtete der auf, und Reik spürte, wie etwas mit ihm und an ihm geschah.
»Oh«, rief Glasäuglein, »wie du aussiehst!«
Reik blickte an sich hinunter. Er war in glänzend blaues Metall gehüllt. An seiner Hüfte hing ein Schwert, und statt des Zahnes hatte er einen Schild und eine Lanze in den Händen.
»So nenn deinen Namen!«, dröhnte die klirrende Stimme Virulons an Reiks Ohr.
»Ich heiße Reik Regenbach«, sagte der Junge trotzig.
»Regenbach!« Virulon der Verlorene lachte gellend auf. Er schlug sich auf die Schenkel und musste sich auf seinem Reittier abstützen, »Regenbach... Ritter Wasserwanze vom tropfenden Fass, wie...?« Der Herr des wandernden Waldes brach abrupt ab und schob das Kinn vor. Dann schaute er sich suchend um, pfiff grell.
»Ich habe kein Pferd«, flüsterte Reik Achsoklein zu, »ich kann doch nicht zu Fuß gegen diesen reitenden Elefanten antreten.«
»Er wird dir ein Ross anbieten«, antwortete Glasäuglein ebenso leise, »du darfst es jedoch auf keinen Fall annehmen, denn während eures Kampfes wird es in Flammen aufgehen und dich zu Asche verbrennen. Ich schlage dir vor: Nimm mich als Reittier.«
»Du bist sehr lieb«, bedankte sich Reik und sah traurig das Kleine an, »denn du willst mich retten. Nur würdest du unter meinem Gewicht zusammenbrechen.«
»Nimm mich«, flüsterte das Kleine noch einmal.
Mit einem Wiehern trat ein schneeweißes Pferd aus der Finsternis der Stämme. Golden schimmerte seine Mähne, und tiefbraun waren die klugen Augen.
»Da«, Virulon verneigte sich höflich während seiner Rede, »ich leihe dir dieses Ross. Denn niemand soll sagen, ich, ein Reiter, trete gegen einen Unberittenen an. Es heißt Feuervogel, und es gehorcht jedem Wink.«
Reik konnte kein Auge von dem edlen Tier lassen, und wäre nicht der Name gewesen, der ihn an das erinnerte, was Glasäuglein gesagt hatte, er würde die Warnung in den Wind geschlagen haben. »Nein«, lehnte er entschlossen ab, »wie kann der, der mich verderben will, etwas Gutes für mich tun? Ich habe mein Reittier dabei. Achsoklein wird mich tragen.«
»Ach – so – klein«, Virulon lachte wieder sein abstoßendes Lachen, »meinst du diese Pfützenwanze? Diese kugelbäuchige Affenspinne? Diese glasäugige Asselkrabbe? Der bricht ja schon unter dem Gewicht seines Bauches zusammen. Wie will er dich transportieren? Aber schön, du hast es so gewollt. Jammere also nicht, wenn ich euch beide bei meinem ersten Antritt zermalme!«
Achsoklein ließ sich auf seine Hände hinab, stand vierbeinig und winzig vor Reik. Der setzte sich sehr vorsichtig, fürchtete er doch, dass Glasäuglein zusammenbrechen würde. Nichts dergleichen geschah. Achsoklein reckte und streckte sich so lange, bis Reiks Füße nicht mehr den Boden berührten. Gleichzeitig war es Reik, als klebte er an seinem Reittier fest.
»Nun denn«, frohlockte Virulon, »wenn du endlich bereit bist, wollen wir beginnen. Im Namen der gläsernen Stadt: Stirb denn, Vermaledeiter!« Er gab seinem Reittier die Sporen, und es grunzte wild auf, setzte sich mit unglaublicher Schnelligkeit in Bewegung. Bäume brachen unter seinen Tritten, Sumpfboden spritzte auf, und Algen wurden herabgerissen. So preschten Reiter und Tier heran.
Glasäuglein sprang geschickt zur Seite, hüpfte mit Reik einen Baum hinauf, und mit einem ungeheuren Satz folgte es Virulon. Reik, der die Lanze nach vorn hielt, sah, wie sie in den Leib des Verlorenen eindrang und dort im Leeren abbrach. Glasäuglein wendete, noch immer in der Luft, und landete auf der Lichtung. Reik warf die geborstene Lanze fort und zog das Schwert aus der Scheide.
»Oha«, brüllte Virulon auf, »so ist das also! Er sucht den tödlichen Kampf. Er soll ihn haben!« Und wütend schlug er mit seiner Keule um sich, fällte Bäume und riss Astwerk ab. Ein kleines trübes Himmelsstück wurde sichtbar, und Virulon, von dem Licht berührt, erschien nicht mehr nachtschwarz, eher neblig grau.
Wieder rannte Virulon gegen sie an. Seine Keule schuf einen breiten, lichten Korridor. Und wieder wich Achsoklein aus und jagte dem Vorüberrasenden hinterher. Diesmal traf Reiks Schwert den Hals des Körperlosen.
Virulon wendete fast auf der Stelle und starrte Reik aus seinen dunklen Augenhöhlen an. »Ich habe dich unterschätzt«, rief er gereizt, »ich habe dich tatsächlich nicht für voll genommen, Regenbach aus dem Menschengeschlecht. Aber nun sollst du mich kennenlernen.« Und wütend schleuderte er seine Keule nach Reik. Schneller als das fliegende Geschoss heran war, sprang Achsoklein zur Seite.
Nun zog Virulon sein Schwert. Milchig-hell glänzte es, und seine beiden Spitzen loderten wie zwei Flammenzungen im Dämmerlicht des Waldes auf. Und als er die Klinge über seinem Kopf hin und her schwang, entstand ein Geräusch, als bräche ein heftiger Sturm los. »Vorwärts«, brüllte er, dass Reik erzitterte, »jetzt wollen wir es diesem kleinen Widerling zeigen.«
Und das glutäugige Reittier stürzte sich mit seinem furchterregenden Reiter erneut auf Reik. Achsoklein sprang ihnen entgegen und huschte unter dem Schwert des Virulon hindurch, sodass dessen Hieb ins Leere ging. Und wieder und wieder wichen sie aus. Und Virulon wehte heran, ein ums andere Mal. Sein Schwert pfiff, heulte und orgelte, es regnete abgehauene Äste und aufgeschlitzte Nacktegel.
Endlich blieb das Reittier erschöpft stehen. Da machte Glasäuglein einen weiten Sprung nach vorn und huschte in Brusthöhe an Virulon vorbei. Reiks ausgestrecktes Schwert traf den anderen ins Gesicht. Der stürzte aufheulend von seinem Reittier und rappelte sich stöhnend auf. Stand unsicher auf seinen Füßen. Hielt sich den Kopf.
Vielleicht wäre das die Gelegenheit gewesen, Virulon eine noch gründlichere Niederlage zu bereiten, aber weder Achsoklein noch Reik brachten es übers Herz, den angeschlagenen Mann, der nun wirklich wie ein Verlorener aussah, anzugreifen.
Es dauerte Minuten, bis Virulon auf sein fauchendes Tier geklettert war. Er blickte Reik und Achsoklein an. »Warum«, dröhnte seine Stimme durch den Wald, »warum habt ihr das getan? Weshalb habt ihr mir nicht den Kopf abgeschlagen? Ihr Verruchten wisst, dass ich euch nun nichts mehr antun kann.« Er holte tief Luft. »Na los denn«, schrie er gellend.
Ehe Achsoklein und Reik reagieren konnten, stürzten Algenlawinen auf sie nieder, begruben sie unter sich. Sie zappelten und versuchten sich zu befreien, doch es gelang ihnen nicht. Immer fester wurden sie eingeschnürt, immer enger umschlossen feuchte Algenbänder die beiden.
Virulon lachte gehässig. Und eine schrille Stimme fragte: »Herr, sollen wir sie ins Endmoor bringen?«
»Nein«, antwortete Virulon, »um der gläsernen Stadt willen, nein. Das ist es doch: Sie haben mich verschont... Oh, diese Verruchten! Bringt sie Seiner Majestät Strepton. Man soll im Schloss entscheiden, was mit ihnen zu geschehen hat... Schafft sie mir aus den Augen!«
Reik konnte nur wenig von der Umgebung erkennen. Die Algen, in die sie eingeschnürt waren, zeigten ihm nur einen kleinen Ausschnitt des Landes. Nachdem sie den Wald verlassen hatten, kamen sie an einem schmalen, glasklaren Fließ entlang.
»Sieh nur«, sagte Reik zu seinem ebenfalls gefangenen Freund, »was für ein wunderbares Wasser.«
»Es ist das Tränenfließ«, antwortete Glasäuglein, »man nennt es so. Es heißt, immer wenn die Heerscharen Seiner Majestät jemanden überfallen und niederwerfen, weinen dessen Freunde und alle seine Angehörigen um ihn. Und dann tritt dieses Fließ über seine Ufer, spült die Krieger fort, setzt Teile des Palastes unter Wasser und hat schon einige Mal Seine Majestät gezwungen, den Gefangenen freizugeben.
Unter ihnen tauchte ein Knüppeldamm auf, und die Träger liefen schneller.
»Dieser Weg«, flüsterte Achsoklein, »führt zur Paradestraße Seiner Majestät.«
Reik wurde müde. Alles huschte an ihm vorbei. Und dann gab es einen Ruck, und die Träger hielten an.
»Halt«, dröhnte eine finstere Stimme, »wer seid ihr, und was ist euer Begehr?«
»Wir sind zwei Nebelhäutige«, antwortete einer der Träger mit kratziger Stimme, »und wir kommen aus dem wandernden Wald. Virulon der Verlorene schickt uns, denn wir haben zwei Geschenke für die Tochter Seiner Majestät und sollen sie hier abgeben.«
»Übernahme!«, kommandierte der unsichtbare Wortführer, und es war deutlich spürbar, wie andere Hände zupackten. »Nebelhäutige«, befahl er dann, »zurück in den Wald! Schlosswachen! Im Schnellschritt zum Palast!«
Mit klatschenden Schritten wurden sie nun über eine Marmorstraße getragen. Reik versuchte zu erkennen, was für seltsame Worte in diese Straße eingemeißelt waren. Es dauerte lange, ehe er eine Zeile entzifferte: »Nach langer, schmerzhafter Krankheit ging unser lieber...«, mehr konnte er nicht lesen, denn da waren die Wachen mit ihnen schon weitergeeilt.
»Glasäuglein«, fragte Reik, »was ist das für eine Marmorstraße?«
»Der König hat viele Steinmetze«, antwortete Achsoklein, und seine Stimme klang trostlos, »und sie haben nur die eine Aufgabe: die Leichensteine all jener, die ihm oder seinen Heerscharen zum Opfer fielen, nachzumachen. Es ist sein einziger Triumph, seine einzige Freude. Und aus diesen Steinen besteht seine Paradestraße, und er hofft, dass eines Tages sein ganzes Reich kreuz und quer von Straßen dieser Art durchzogen wird. Vergiss das nicht, denn Seine Majestät kann auch sehr fröhlich und scheinbar menschenfreundlich sein. Er hat nur den einen Wunsch: seine Straßen zu bauen, neue Namen und neue Inschriften zu bekommen.«
Die Marmorstraße war lang, und außer ihnen schien es nichts Lebendiges hier zu geben. Nirgends wurde gesprochen oder gestritten, kein Vogel sang, und eine beklemmende Stille lastete über allem. Endlich erreichten sie eine Brücke, die unter den Schritten der Wache ächzte und stöhnte. In dem darunterliegenden Wasser wälzten sich riesige Tiere, die schmatzende und gurgelnde Laute ausstießen und mit ihren Schuppen rau an hölzernen Balken entlangglitten. Dann erlosch das Tageslicht, und im unruhigen Schein vieler Fackeln wirkte das wenige, das Reik sah, gespenstisch. Dieses Schloss, so sah er es durch den Spalt, war ein Raum der tanzenden Schatten, der hallenden Worte und Schritte und der zerfließenden Konturen.
Man legte die beiden Gefangenen hart und achtlos ab, und die Straßenwachen entfernten sich ebenso schnell, wie sie gekommen waren. Schattenhaft und lautlos näherten sich kleine Wesen, die an den Algenstricken zu zupfen begannen. Manchmal griffen sie durch die Pflanzendecke, und Reik fühlte die weichen, nachgiebigen Händchen auf seinem Gesicht. Ein unangenehmes Gefühl durchzuckte ihn dann jedes Mal. Endlich war die Fesselung so dünn, dass Reik sie sprengte und auf die Füße sprang. Die Schattenwesen huschten aufquiekend in das Dunkel eines Nebenganges. Auch Glasäuglein stand schon und betrachtete Reik gedankenvoll. Doch wie erstaunt war der, als er ein zweites Glasäuglein durch den Gang kommen sah, das ein Algenbündel um den Kopf schwang. Als das andere Glasäuglein heran war, schleuderte es zornig die Algen fort, knickste höflich vor dem staunenden Reik. »Mit Verlaub«, sprach es, mit zarter Mädchenstimme, »ich bin Treponas, der Hofnarr, und habe die große Ehre, den jungen Prinzen zu erheitern.« Und das Glasäuglein, das sich Treponas genannt hatte, stieß seufzende und klagende Töne aus, die sich in qualvolle Schreie umwandelten und dann, so unerwartet, wie sie begonnen hatten, abbrachen.
Reik schüttelte es. Seine Nackenhärchen richteten sich auf, und er zitterte am ganzen Leib, denn das, was eben zu hören gewesen war, hatte wie der Todeskampf eines Menschen geklungen.
Treponas kicherte und umrundete radschlagend Reik. Dabei veränderte er sich auf unbestimmte Art und Weise, bis er Reiks Zwillingsbruder hätte sein können. Treponas-Reik stand nun vor dem Menschen-Reik und verneigte sich devot. »Ach, Brüderchen«, er stöhnte und grunzte wie ein Moorschwein, »was seid ihr für humorlose Nichtlacher. Ich habe es schwer, den Frohsinn in euch zu entzünden.« Nach diesen Worten blähte sich Treponas auf, ähnelte nun Gerstfeld und betrachtete Reik durch gesprungene Brillengläser. »Nun, mein bester Reik«, sprach er mit Gerstfeldscher Stimme, »nenn mir doch einmal den Unterschied zwischen einer Mumie und einer Wasserleiche. Du kennst ihn nicht? Setzen! Fünf!« Er dehnte und streckte sich, schmolz in sich zusammen und wurde zu Anja Winterlicht. »Mein einzigartiger Geliebter«, er wiegte sich in den Hüften, und ein verzehrendes Feuer brannte in seinen Augen, »ich flehe dich um einen Kuss an... Du, mein seerosenfarbener Prinz, mein Herr, umschlinge mit deinen starken Armen meinen Lilienleib.« Und während er so sprach, hob er sein glitzerndes Sommerkleid ein wenig in die Höhe.
In diesem Augenblick traten zwei in Bronzerüstungen gehüllte Ritter vor sie hin, und Treponas, noch immer als Anja Winterlicht, hakte sich bei Reik ein, der, kaum dass der Hofnarr ihn berührte, schwerer als zuvor Luft bekam. Die Ritter schritten vor ihnen her, und sie folgten. So gelangten sie an eine große eichene Tür, die, nachdem die Ritter dreimal dagegen geschlagen hatten, langsam und knarrend aufschwang.
Der Raum war klein, die Wände schwarz vor Alter und Rauch. Vier langbärtige Männer saßen auf schweren Armsesseln und blickten die Eintretenden aus roten, entzündeten Augen an. »Ah, ah«, machte der dürrste von ihnen, »es sind die Gaben seiner Unterwerfung, gesandt von Virulon für die von ihm angebetete Prinzessin Vibriana Valpurga. Aber es sind ihrer nur zwei. Jenes Mädchen dort ist der verruchte Treponas.«
Aus Anja Winterlicht wurde ein nebelhaftes, äffisches Wesen, das von Reik ließ und sich mit vielen unterwürfigen Verneigungen zur Tür hinausstehlen wollte. »Verzeiht, Ihr Herren«, lispelte es dabei, »soll ich Euch zu Eurer Beglückung vielleicht das keuchende Stöhnen eines Asthmatikers vorführen?«
Eine Handbewegung des Dürren ließ den Hofnarren verstummen. »Hört also«, er wandte sich nun an die beiden Freunde, »ich bin Andofalon, der Weiseste der Weisen. Zu meiner Rechten sitzt Argon Glenon. Es gibt nichts, was er nicht sieht. Er sorgt für Frieden und Ruhe allhier. Jene anderen beiden Weisen sind weniger wichtig. Hört also: Seid fröhlich, so die Prinzessin ihre teuren Worte an euch richtet. Tanzt und plaudert mit ihr, lasst euch führen, wohin sie es mag, schlagt ihr keinen Wunsch ab, sondern lest ihr selbige von den Augen ab. Sie hasst nichts so sehr wie Widerspruch oder eigene Gedanken anderer.«
»Argon Glenon«, fragte Reik den alles Sehenden, »ich suche meinen Freund, Herrn Gerstfeld. Seht ihr ihn? Sagt mir bitte, wo er ist.«
»Es gibt einen solchen«, hub Argon mit harter Stimme an zu sprechen, »aber er arbeitet jenseits unserer Düsternis. Ein ekelhafter Bursche, den wir hier nicht brauchen. Morgens kalte Duschen. Laufen und Schwimmen, Ski- und Radfahren... Ekelhaft abgehärtet. Nichts für Seine Majestät. Aber du suchst einen, der einen anderen Namen trägt. Einen Namen, vor dem wir alle erzittern. Sein Name ist ein Fluch für uns, sein Raum kann Vorstellungen des Wahns in uns wecken. Schweig also, Menschenratte Reik Regenbach!«
Wieder öffneten sich die knarrenden Türen, und die Ritter in den Bronzerüstungen erschienen, nahmen Glasäuglein und Reik in ihre Mitte und verließen mit ihnen den düsteren Ort. Und wieder durchschritten sie lange Korridore, kamen vorüber an verstaubten Kallas und geknickten Rosen, an imitierten Familiengrüften und einem Relief der Pyramiden, an dem Grabmal des Maussolos und dem Tadsch Mahal. Aber von diesen Imitaten ging weder Erhabenheit noch Schönheit aus. Nur bedrückend und verloren wirkte alles.
Sie erreichten eine doppelte Metalltür, vor der klein und hilflos Anja Winterlicht stand und theatralisch die Arme weit geöffnet hatte. »Reik«, jubelte sie, lief die Tür nach oben und saß an der Decke des Korridors, »wie wunderschön, dich wiederzusehen.«
Reik wusste, dass das nicht Anja, sondern Treponas war. Dichter rückte er an das Glasäuglein heran. Inzwischen klopften die beiden Ritter gegen das Tor. Hohl klang ihr Klopfen. Von innen wurde geöffnet, und vor den Freunden lag ein riesiger, düsterer Raum. An den Wänden standen gepanzerte Krieger, Armbrüste und Schwerter, Lanzen und Schilde in den Händen haltend. Sie alle trugen die Visiere heruntergeklappt und erinnerten an Rüstungen, die in Museen standen.
In der Mitte des Raumes erhob sich eine Gruppe mächtiger Truhen, und an der fernsten Wand war ein ungeheures Bett aufgebaut, in dem sich etwas zuckend bewegte.
»Was ist das?«, fragte Reik das Glasäuglein flüsternd.
Das hob die Schultern. Und wie es so neben Reik stand, da sah der Junge, dass sich sein Freund verändert hatte. Der reichte ihm jetzt bis zur Schulter. Auch der vorgestülpte Mund war verschwunden. Die Arme und Beine wirkten kräftiger, dafür war der Bauch zusammengesunken. Achsoklein erinnerte nun an einen freundlichen Affen, der zu allerlei Späßen aufgelegt war. Und obwohl der Hofnarr eine neue Vorstellung bot, hatte Reik Zeit, seinem Freund zuzulächeln.
Treponas, in der Gestalt eines menschenköpfigen Schwans, flog durch den Raum und setzte sich auf das untere Ende des Bettes. »Der Armseligste«, jammerte er, und Tränenströme entquollen seinen großen Augen, »der arme König, unser aller Majestät Strepton Pyrogenum leidet. Wieder einmal erfinden sie etwas jenseits der Düsternis. Sie wollen unseren gnädigsten König töten, ermorden und aus dem Turm des Palastes schleudern, wie sie es mit einigen seiner Brüder getan haben. Lasst es nicht zu. Und bleibt nicht so hölzern in der Tür stehen. Kommt näher, meine Täubchen. Komm, lieber Reik, komm, süßes Glasäugelein. Näher! Näher!«
In dem Bett lag der König. Er setzte sich auf, suchte mit fahrigen Bewegungen seine Krone, die er unter einem Kopfkißen vorzog und sich auf den Kopf stülpte. Auch er vertrieb Treponas mit einer Handbewegung und winkte Reik und Glasäuglein heran. Und während die Freunde schweigend den Saal durchschritten, strich sich Seine Majestät den Bart glatt, klatschte sich gegen seine eingefallenen Wangen und wischte sich Schweiß und Schmutz von der Stirn. Dazu benutzte er seinen brüchigen Hermelinmantel.
»Mir ist ein wenig flau im Kopf«, begrüßte der König die Ankömmlinge, »das gibt es schon. Kalt ist mir, und meine Augen sind trübe. Ihr aber, ihr werdet mir helfen, ich sehe es euch an. Wie eure Herzen schlagen, wie warm euer Blut ist: Kommt, meine Kinder, komm, mein lieber Schwiegersohn, lass dich umarmen.«
Reik fühlte, wie Treponas ihn sanft vorwärtsschob. »Geh, mein kleiner Bratapfel«, zischte er hinter Reiks Rücken, »geh schon, Seine Majestät haben einen Wunsch geäußert. Da säumt man nicht.«
Reik fuhr herum und starrte Treponas an, der vor seinem Blick zurückwich und sich auf die Truhen hockte, dabei wie ein Kind weinend.
»Nein«, hörte Reik da Glasäugleins klare Stimme, »wir werden uns hüten, Euch zu berühren. Wir sind Eurer Tochter zugeordnet. Lasst uns also abziehen, Majestät.«
»Meuterei, Aufruhr, Revolution«, brüllte Strepton Pyrogenum, »potz Resistenz und Pestilenz – welche Reden vor meinem Angesicht!«
Die Krieger an den Wänden schlugen ihre Waffen dreimal gegeneinander. »Aber zum Zeichen meiner königlichen Huld«, fuhr Seine Majestät fort zu reden, »will ich euch ein Gastgeschenk machen. Treponas, öffne die Truhen und lass sie wählen!«
Wieder hatte der Hofnarr das Aussehen Anja Winterlichts angenommen. Er öffnete mit sanfter Hand die Deckel und erstarrte in einem tiefen Hofknicks.
Reik trat an die Truhen heran. Sie waren bis obenhin mit Gold und Silber und den wunderbarsten Schmuckstücken gefüllt, die der Junge je gesehen hatte. Ringe und Ketten, Broschen und Gemmen lagen da. Rötlich schimmerndes Dukatengold lag neben hellen, gleißenden Edelsteinen. Ganz besonders eine Kette mit einem herzförmigen Anhänger hatte es Reik angetan. Die Kette wirkte schwer, die Brillanten in dem goldenen Herz funkelten wie kleine Sonnen.
»Dieses Stück«, Reik sah Anjas Hände, die die Kette fassten, und hörte ihre leise, lockende Stimme, »ist deiner würdig, mein stolzer Ritter. Leg sie sogleich an, und mein Gefühl für dich wird grenzenlos sein.« Reik vergaß den düsteren Raum und das schaurige Schloss. Es schien ihm, als sei er allein mit Anja in einer Schatzkammer jenseits der Zeit. Die Finger des Mädchens näherten sich seinem Hals. Eine heiße, nie erlebte Woge überrann Reik.
»Nein«, durchzuckte da Glasäugleins flehentliche Stimme die Vision, »nicht, Reik! Die Kette wird dich erdrosseln, denn sie stammt aus dem Grab eines toten Mädchens!«
Reik riss die Arme hoch und stieß Anja von sich. Sie stürzte, und die Kette zerfiel zu Staub. Doch statt Anja erhob sich ein Wesen, dessen stachlige Haut von Geschwüren bedeckt war. Es stieß schrille Töne aus und hinkte aus dem Saal.
»Packt es!«, schrie da der König und wies auf Glasäuglein. Drei Krieger ergriffen Reiks Gefährten und verschwanden mit ihm durch eine Seitentür.
»Majestät«, Reik fühlte, wie Verzweiflung in ihm hochkam, »bitte, gebt mir meinen Freund zurück.«
Der König erhob sich und stand nun auf seinem Bett. Sein Arm deutete zur Tür. »Geh schon, Menschenwicht«, stieß er matt hervor, »geh zu meiner Gattin, der teuren Königin. Sie will dich sehen. Sie will alle sehen, die um die Hand ihrer Tochter anhalten. Aber verliebe dich nicht in sie. Sie ist ein heißblütiges und verführerisches Weib.« Er lachte knurrend, schleuderte die Krone in eine Saalecke und ließ sich aufstöhnend in die Kissen fallen.
Wieder erschienen die beiden bronzenen Ritter, nahmen Reik zwischen sich und verließen den Saal. Reik fühlte das Fehlen des Freundes. Jetzt spürte er die Kälte in den Gängen, roch den Moder und die Fäulnis, sah deutlicher als vorher die hässlichen Imitationen an den Wänden.
Die Tür, vor der sie nun anhielten und gegen die die Ritter pochten, war aus weißem, schwarz geädertem Marmor. Auf das Klopfen hin glitten die beiden Türflügel in die Wände. Zweimal fünf Feuer erhellten den Saal und ließen die Schatten auf und nieder tanzen. Alles verwob sich miteinander. Inmitten der Feuer aber stand ein Gerüst aus stachligen Ästen, und darauf saß ein dürrer Mann mit einem riesigen Kopf und einem Bart, der hinab zu den Flammen reichte.
Die Krieger an den Wänden waren in weiße Leinentücher gekleidet, die nur die noch weißeren Hände und einen Spalt für die Augen frei ließen. Der auf dem Gerüst hob nun ein fremdartiges Musikinstrument, dem er wehmütige Klänge entlockte. »Tritt ein«, sang er, seine glühenden Augen auf Reik gerichtet, »und falle vor ihr, der Einzigartigen, der Herrin und Königin auf die Knie.«
Reik machte die ersten Schritte in den Raum hinein. Er gewahrte den erhöhten Thron, zu dessen Füßen zwei dunkle Tiere saßen, deren dolchartige Zähne im Licht des Feuers unheildrohend schimmerten. Der Thron mündete in zwei goldene Stangen, die in einer goldenen Kugel endeten. Und auf diesen Kugeln hockten Vögel, die, vierhälsig und vierköpfig, alles sahen, was im Thronsaal vor sich ging.
Der Musiker schlug erneut sein Instrument, und all die weißbehangenen Gestalten fielen in die Melodie ein. Reik fühlte, wie ihm schwindlig wurde.
»Herbei«, riefen die Vögel achtschnäblig, »herbei, du Sohn der Sonne. Die Königin bebt vor Ungeduld. Eile!«
Reik ging an den Feuern vorüber und ließ keinen Blick von dem Thron, auf dem niemand saß. Er betrat die erste Stufe, da zitterte die Luft vor dem Thron und gerann. Nun sah er sie, die Königin. Zugleich wurden die Töne voller und dramatischer, brachen sich an den Wänden, ihr Echo mischte sich mit dem Gesang.
Die Königin war hochgewachsen und gertenschlank. Ihre Lippen schmal und streng, die Nase dünn und gerade. Sie sah Reik unverwandt an. Kein Lächeln verschönte ihre Züge. Sie stieß ihren Arm nach vom, und ihr Daumen wies zu Boden. »Auf die Knie«, rief sie mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete.
Die beiden Vögel spreizten die Schwingen und schufen so einen Federbaldachin über dem Thron und über Reik. Das hungrige Winseln der beiden Vierfüßer im Rücken, ging Reik noch eine Stufe nach oben.
»Ich bin Eurer Tochter zugeteilt«, brachte er stockend hervor, verunsichert von dem dumpfen Gesang. Er versuchte dem Blick der Königin standzuhalten, musste aber nach wenigen Sekunden wegsehen, denn er begann sich zu fürchten. »Mein Freund ist weg«, fuhr er fort, »der König hat ihn wegschaffen lassen. Ich glaube niemandem mehr. Wenn ich ihn zurückbekäme, dann vielleicht. Ich bin so einsam ohne ihn.«
»Einsam«, Königin Lyssa-Albina lachte hellauf, »einsam fühlst du dich also. Ich sitze hier seit Jahrtausenden. Ich sitze hier, seit der erste warme Atemzug sichtbar gegen den kalten Nordwind floss. Habe ich einen Freund? Schau dir meine Untertanen an. Sie singen, dass es einem graust. Sie singen, weil sie sich noch jener Zeit erinnern, da sie unter der heißen Sonne wandelten und sich auch da schon einsam fühlten, nicht ahnend, wie es hier sein wird. Und siehe, seit sie hier sind, lassen sie mich allein. Du aber, mein kleiner Liebling, sollst mir ein Sohn sein, der auf meinem Schoß seine freundlichen Spiele spielt, der seine Arme um mich legt und mich erwärmt, wenn die Kälte der Hallen und Korridore heraufkriecht zu mir. Ich will dir Anthracis schenken...« Sie deutete auf einen der beiden Vögel, die heftig die Flügel bewegten, sodass ein kühler Wind Reik umfloss. »Und auch Perfringens, meinen süßen Schatz.« Eines der beiden vierbeinigen Tiere winselte hinter Reiks Rücken. Zorn und Wut lagen in diesem Winseln. »Komm zu mir«, vollendete die Königin ihre Rede.
Reik machte einen Schritt zurück, schüttelte entschlossen den Kopf und umklammerte seine Tasche. »Es ist alles Lüge«, schrie er, und die Musik brach ab, die Tiere vom Fuß der Treppe krochen knurrend näher, und die beiden Vögel erhoben sich in die Luft und kreisten drohend über dem Thron. »Ja, alles ist Lüge! Ich wurde über eure Marmorstraße getragen. Und Glasäuglein sagte, diese Straße soll länger und länger werden. Kein anderes Ziel kennt ihr. Ich will mein Glasäuglein wiedersehen.«
»Packt ihn«, befahl die Königin mit schneidender Stimme, und die beiden Raubtiere gingen zum Angriff über.
Da fasste Reik sein Schwert, das dunkel glänzend in seiner Hand lag, und er nahm seinen Schild und hielt ihn vor sich. Die Tiere wichen knurrend, aber mit eingezogenen Schwänzen zurück, drückten sich am Mauerwerk entlang und entschwanden Reiks Blicken. Auch die Verhüllten, die lautlos bis zur Treppe vorgedrungen waren, flüchteten stöhnend und ächzend auf ihre angestammten Plätze zurück. Die Königin lachte, als sie all das sah. Sie lachte derart, dass sie sich an ihrem Thron festkrallen musste, um nicht vornüberzufallen.
Das Rauschen lederhäutiger Flügel warnte Reik. Er riss den Schild nach oben, hieb mit dem Schwert um sich. Er konnte seine Gegner nicht sehen, und so war es für einen der beiden Vögel ein leichtes, ihm den Schild zu entreißen. Reik packte das Schwert mit beiden Händen und verdoppelte seine Anstrengungen. Doch die Krallen der Vögel wuchsen sich auch zu Schwertern aus, und die Angreifer waren zu zweit.
Reik wich zu einer Säule zurück, stellte sich mit dem Rücken dagegen. Zu spät merkte er, dass dort ein weißes Leinentuch hing. Dünne fleischlose Hände drangen daraus hervor und packten ihn am Hals. Reik warf sich herum. »Gerstfeld«, schrie er, »hilf mir doch!«
Da sprang eine mächtige Quelle, eine riesenhafte Fontäne zwischen den Feuern empor, warf das Gestell des Musikers um, spritzte nach allen Seiten. Alles hastete und floh hinaus, die Vögel, gerade noch im Siegestaumel, zerbröckelten dort, wo das Wasser sie traf.
»Das Tränenfließ«, rief Reik und schleuderte das zerfallende Leinentuch von sich, »Menschen trauern um Menschen.« Er wandte sich mit dem Schwert um, wollte gegen die Königin vorgehen, aber nichts als eine zitternde Luftschicht war von ihr geblieben. Reik durchquerte den Saal der verlöschenden Feuer und stieß im Gang auf die beiden Bronzeritter, die ihre Schwerter herausrissen, als sie Reik bewaffnet sahen. Doch der Junge steckte das seine ein. »Bringt mich schon zu ihr«, stieß er angewidert aus, »eher werde ich kaum von hier fortkönnen.« Der Weg war diesmal länger. Sie verließen das Hauptgebäude, kamen über lichtlose Höfe und durch staubige Gärten. Dann erhob sich vor ihnen ein zweites, wenn auch sehr kleines Schloss. Am Eingang standen zwei bewaffnete Frauen, die Reik übernahmen und in das Gebäude brachten. Es ging eine lange, steile Treppe nach oben. Die Tür, durch die er treten sollte, war schon offen. Und in dem Raum hing eine Schaukel, auf der die Prinzessin saß und hin- und herschwang.
»Du möchtest auch schaukeln, stimmt’s«, rief sie lachend und schwenkte übermütig die Beine vor und zurück.
Das Zimmer war angefüllt mit dem schönsten Spielzeug, das Reik je gesehen hatte. Farbenfrohe Tapeten, die Wiesen, Wälder, Seen und Flüsse zeigten, bedeckten die Wände. Und es sah aus, als bewegten sich die Bäume ganz leicht, als flösse das Wasser der Ströme murmelnd dahin, als schwankten die Schilfstängel, als nickten die Blumen. An der Decke des Raumes hingen Hunderte von kristallenen Leuchtern, in denen Tausende von Kerzen brannten. Taghell war dieser Raum erleuchtet.
»Wenn du mich anhältst«, rief die Prinzessin, »darfst du schaukeln, und außerdem verrate ich dir ein Geheimnis.«
»Warum nicht«, Reik legte den Gürtel mit dem Schwert ab, kroch aus der Enge der Rüstung.
»Falls du Mut hast«, fuhr Vibriana Valpurga fort, »nimmst du mich mit, wenn du gehst, denn ich wollte schon immer aus diesem Schloss fliehen. Ich kann dir eine treue Begleiterin sein.«
»Du bist anders als deine Eltern«, stellte Reik fest, »du scheinst mir die einzig fühlende Person hier zu sein. Es ist schon gut, wenn einer von hier fort will. Aber was ist das für ein Geheimnis?«
Vibriana Valpurga deutete auf einen Haufen Plüschtiere. Die obersten Tiere bewegten die Köpfe, fielen zur Seite, und Glasäugleins Kopf erschien zwischen ihnen.
»Eine angenehme Überraschung?«, fragte Vibriana Valpurga.
Da stellte sich Reik ihr in den Weg und fing die Schaukel ab, wie sie es gewünscht hatte. Die Prinzessin lachte glücklich und schlang ihre Arme um seinen Hals. »Ich komme mit«, rief sie, während eine tiefe Röte ihre Wangen einfärbte, »wir fliehen aus diesem finsteren Schloss.«
Er hob die Prinzessin, die ihm gewichtslos vorkam, von der Schaukel und stellte sie auf den Boden, aber sie ließ ihn nicht los und drückte sich an ihn und küsste ihn wieder und wieder. Endlich gab sie ihn frei und ging ungeduldig im Zimmer auf und ab. »Wann fliehen wir?«, wollte sie wissen. »Bald, bitte bald!«
Reik setzte sich auf die Schaukel, umso Glasäuglein zu empfangen, der sich aus dem Plüschtierhaufen befreite. Die Schaukel riss aus der Decke, und Reik stürzte zu Boden, lag auf dem weichen Teppich, der den ganzen Saal bedeckte.
Vibriana Valpurga kicherte und winkte dann ab. »Wenn wir erst einmal im Wald sind«, erklärte sie, »baust du mir eine Riesenschaukel auf einem Riesenbaum. Bitte, bitte!«
Reik wollte aufspringen, aber seine Arme und Beine waren wie Blei. Abwechselnd war ihm heiß und eiskalt, und sein Gesicht wurde blass, dunkle Ringe bildeten sich um seine Augen, während Vibriana Valpurga immer frischer und gesünder aussah. Glasäuglein schob derweil ein Bett zu Reik, packte ihn und legte ihn darauf. Reik hatte Durst. Sein Kopf war leer und dröhnte.
»Leg doch bloß die dumme Umhängetasche ab«, schlug die Prinzessin vor und betrachtete ihn besorgt: Neben ihrem Kopf erschien ein zweiter Mädchenkopf. Anja Winterlicht stand da. Jetzt erkannte Reik sie, erblickte das Sommerkleid, das er schon einmal gesehen hatte. Doch wo das gewesen war, wusste er nicht mehr.
»Reik«, flüsterte Anja, »mein lieber Reik. Ich bin den ganzen Weg zu dir gelaufen. Von Rüdersdorf bis hierher. Ich sehne mich nach dir.«
»Du... du bist nicht Glasäuglein«, murmelte Reik kaum hörbar, »und... und du hier auch nicht Anja... Ich muss... ich müsste dich kennen. Du bist etwas Gemeines, Böses, etwas Widerwärtiges.« Vibriana Valpurga setzte sich jetzt ebenfalls und legte Reik ihre kühle Hand auf die Stirn. »Ich bleibe bei dir«, flüsterte sie.
»Sieh dir den Tisch an«, bat Anja und fasste Reiks Hände, »überall liegen Schokolade und Bonbons, gibt es Torten und wunderbar gekochte Speisen. Iss sie und stärke dich! Iss, mein Lieber.«
»Du bist nicht Anja«, Reik versuchte seine Gedanken zu sammeln, »aber vielleicht sollte ich etwas essen. Mir ist so schlecht...«
»Iss«, rief Anja und kicherte leise, »niemand sonst braucht dieses Zeug. Eltern haben es Kindern mitgebracht. Aber die Kinder brauchen es nicht mehr. Nichts mehr brauchen sie. Aber nichts bringt man nicht mit, stimmt’s?«
»Was soll das heißen?« Reik setzte sich mühevoll auf, befreite seine Hände aus den heißen Händen Anjas, stieß Vibrianas Hände von seinem Kopf fort.
»Das heißt«, Anja unterdrückte mühsam ein Lachen, »dass besorgte Eltern ihren Kindern das Zeug ins Krankenhaus mitnahmen und nicht wussten, dass ihre Kinder es nicht mehr brauchen. Erst brachten sie die Kinder und dann die Schokolade. Sehr komisch, was?« Und nun konnte Anja nicht mehr an sich halten. Sie lachte, bis ihr die Tränen kamen.
Reiks Augen verloren den trüben Ausdruck, wurden klar. Es war der Hass, der ihn hochriss. Er stand neben dem Bett, blickte voll Abscheu auf die lachende Anja nieder. »Ich weiß jetzt, wer du bist«, stieß er hastig aus, »du bist Treponas, dieser abscheuliche Hofnarr. Du hast mir das Glasäuglein vorgespielt und jetzt die Anja. Und ich weiß, dass Vibriana Valpurga ebenfalls abscheulich ist. Niederträchtig nutzt sie die scheinbar freundliche Stimmung in ihren Sälen, um zu betrügen und zu vergiften.« Reik zog das Schwert und ging zwei Schritte zurück. »Und ich weiß auch, wessen Spielzeug hier liegt«, fuhr er unbarmherzig fort, »und wessen Kerzen hier brennen. Die Kristallleuchter, jedes einzelne Kristall hat die Form einer Träne... Ihr Verfluchten!«
Da wich Treponas zurück zur Tür. Aber noch im Gehen stand er in hellen Flammen, und als die Flammen erloschen, war ein anderer Treponas dort. Er reichte hinauf bis zur Decke des Saales. Arme und Beine waren behaart, und er sah weißlich aus wie Morgennebel auf den Feldern. Er starrte aus leeren Augenhöhlen um sich, und in seinem weit aufgerissenen Maul schimmerten gelb und faulig riesige, angespitzte Zähne. Er glitt rücklings aus dem Saal, mit seinem massigen Schädel gegen die Kronleuchter stoßend, die leise klingelten. Ein Korridor erloschener Kerzen zeichnete seinen Weg nach. Draußen angekommen, stürzte er bäuchlings die lange Treppe hinab, während sich die Saaltüren hinter ihm lautlos schlossen.
»Dieser Betrüger«, empörte sich Vibriana und presste die Hände gegen ihren Mund, »oh, wie ich ihn hasse! Du aber, mein getreuer Ritter, mein strahlender Retter – gewachsen ist meine Liebe zu dir. Doch füllt mich Trauer, wenn ich aus deinem Munde höre, dass ich für dich nicht anders bin als er... Ich bitte dich, nimm es zurück. Oder willst du mich sterben sehen? Ein Leben ohne dich ist mir unvorstellbar...«
»Verräterin!« Reiks Ruf ließ sie innehalten, »ich bin nicht mehr der dumme Junge, den dein Vater mit seiner vertrottelt wirkenden Heimtücke, deine Mutter mit ihrer kalten Härte und du mit dem, was du für Liebe ausgibst, einfangen kann. Ich muss hier raus!« Das letzte schrie er.
Der Raum veränderte sich zwischen zwei Augenaufschlägen. Statt der freundlichen Tapete schimmerte eine dicke Schimmelschicht auf dem putzlosen Mauerwerk, die Fenster waren glanzlos und vergittert. Vibrianas Bett hatte sich in ein altersschwaches Gestell verwandelt, auf dem schmutzige Lumpen ausgebreitet waren. Reiks Rüstung lang verrostet und verrottet am Boden, und ungezählte Spinnen hatten ihre Netze in ihr gewebt.
Wie lange, dachte der Junge, wie lange nur bin ich hier gewesen? Erschrocken sah er, dass auch sein Schwert zu bröckeln begann. Er hatte nur noch den Griff in der Hand.
Vibriana machte einen tänzelnden Schritt auf ihn zu. Sie sah blass und kränklich aus, und auch das Rot ihrer Wangen war vergangen, dafür blitzte eine wilde Entschlossenheit in ihren Augen auf.
»Bleib stehen!«, schrie Reik, und sie hielt einen Augenblick inne, die Spitzen ihrer Fingernägel ins eigene Fleisch grabend.
Reik stürmte gegen die Tür. »Glasäuglein«, rief er laut, um sich Mut zu machen. »Gerstfeld! Ich komme! Sie halten mich nicht mehr auf.«
Krachend stürzten die Türen nieder, und Reik fiel, überschlug sich mehrmals auf der langen Treppe und kam schließlich auf die Füße. Er sah sich von einem Ring weißgekleideter Ritter umgeben, die ihre Lanzen gegen ihn richteten.
»Ich komme!«, wiederholte er noch einmal die Formel, ehe er, waffenlos, mit fest geschlossenen Augen gegen die drohenden Lanzen anrannte. Es klapperte und knirschte ringsum, und als Reik die Augen mehr probeweise denn überzeugt öffnete, stand er in einem der fauligen Gärten vor dem Prinzessinnenpalais. Er stürmte den Weg entlang, den man ihn vorher geführt hatte, und betrat das Schloss der Königin. In der riesenhaften Halle brannte nur noch ein schwaches Feuer, zwei Reihen niedergesunkener und fast verwitterter Grabsteine lehnten sich gegen das Mauerwerk, und ein räudiger Fuchs strich mit eingeklemmtem Schwanz herum. Er jaulte leise, aber unangenehm schrill. Die beiden Vögel hockten unbeweglich auf zwei steinernen Gedenktafeln.
Reik hielt sich nicht auf. Er lief weiter, immer wieder einmal sein »Ich komme!« ausstoßend. Auch der Königssaal war verlassen und schrecklich verändert. Statt des königlichen Bettes gurgelte und schmatzte das faulige Wasser eines schwarzen Moorlochs, statt der Truhen lehnten Grabsteine aneinander.
Da wandte sich Reik ab und lief weiter. Unerwartet gab der Boden unter ihm nach, und er stürzte in einen Kellergang. Ein von den Wänden ausgehendes phosphoreszierendes Licht ließ ihn die Dinge, wenn auch undeutlich und schemenhaft, erkennen. Zwei Türreihen befanden sich rechts und links. Jede Tür besaß einen stark vergitterten Durchbruch. Nur kurz blieb Reik stehen, doch was er sah, ließ ihn erschauern. Da waren Wesen, weitaus schrecklicher als Treponas und eisiger als Vibriana. Sie wogten und glitten durch die Räume, stiegen auf und zerflatterten wie Rauch hinter Dampflokomotiven. Aber mit ihnen waren andere in den Räumen, und die erschienen ihm wie Menschen, wie weißgekleidete Menschen. Und es waren die Menschengestaltigen, die die Ungeheuer fütterten und sie hätschelten und streichelten.
Reik lief weiter, mit keuchenden Lungen und stieren, entsetzten Augen. Und dann, als er meinte, keinen Schritt mehr gehen zu können, erreichte er einen finsteren Saal. Nur ein einziger Lichtstrahl drang durch ein Loch in der Decke, und in dem Lichtstrahl stand klein und krank, mit matten Augen, die, halbgeschlossen, den trostlosen Anblick verstärkten, Glasäuglein.
»Achsoklein«, jammerte Reik, »was haben sie mit dir gemacht? Mein lieber Freund.« Und er lief auf das Kleine zu, hob es hoch, drückte es an sich und küsste dessen feuchte weiße Wangen.
Da öffnete Glasäuglein die Augen. Es sah Reik glücklich an. »Reik«, antwortete es flüsternd und kuschelte sich an den Freund, »Reik... ich bin so glücklich, dass du mich gefunden hast.«
»Wir müssen fort«, drängte der Junge, »mir ist die ganze Zeit über, als beobachteten mich ungezählte Augen. Ich denke immer: Da sammeln sich Ungeheuer. Sie kommen alle auf einmal. Sie wollen uns verderben.«
»Das fühle ich auch«, stimmte Achsoklein zu, »aber alle Türen hinter dir sind zu, wie sie auch hinter mir zuschlugen. Und dort oben, kommst du da hinauf?« Glasäugleins dünne Fingerchen deuteten nach oben. Da war, vielleicht fünf, aber möglicherweise auch zehn Meter über ihnen, ein quadratisches Loch in der Decke, durch das Tageslicht hereindrang.
»Da kommt etwas«, piepste Achsoklein ängstlich.
Reik wandte den Kopf. Durch die Schwärze des Ganges näherte sich tatsächlich etwas, was einen schwachen Lichtschimmer verbreitete.
Es war eine Spinne, nicht kleiner als Glasäuglein. Sie musterte die beiden Gefangenen mit ihren acht Augen. Tastend kam sie näher. Reik schob das Glasäuglein hinter sich, und er ballte die Hände zu Fäusten. Eine Waffe hatte er nicht.
»Ach ihr«, sagte die Spinne und hob vier ihrer acht Beine in die Höhe, »was habt ihr nur?«
»Ich habe nichts als meinen Freund Achsoklein«, antwortete Reik leise, aber entschlossen, »und ich lasse mich nie mehr von ihm trennen. Ich bin bereit, um ihn zu kämpfen.«
»Angst hast du«, fuhr die Spinne fort, »Angst, weil ich anders aussehe als ihr. Acht Beine, acht Augen und weben können ohne eure plumpen Maschinen. Ich bin übrigens Arachna, die Königin der Spinnen. Ein schwieriges Amt, mein Lieber. Immer wieder kommen arme geschundene Untertanen zu mir und berichten, wie sie mit Scheuerlappen und Besen gejagt wurden, wie Menschen schrill aufschrien, nur weil sie eine meines Geschlechts sahen. Und dabei sind wir es, die diese Aasfliegen und Mücken, die Bremsen und Moskitos dezimieren, die euch sonst aussaugen und quälen würden. Manchmal wünsche ich mir, als Wellensittich oder Schoßhündchen geboren zu sein... Lassen wir das. Du willst hier raus. Ich weiß. Ich werde dir helfen. Aber eine Bedingung: Wenn du dich wehrst, wenn deine Angst größer ist als dein Vertrauen zu mir, dann beiße ich dich. Hast du das verstanden?«
»Was soll ich also tun?«, fragte Reik.
»Stillhalten«, erklärte Arachna und kam lautlos näher, »was auch immer geschieht, du darfst nicht zappeln oder gar um dich schlagen. Mein Biss kann tödlich sein.«
»So sei es denn«, gab Reik seine Zustimmung, nahm das Glasäuglein auf den Arm, das sich sanft an ihn schmiegte.
Arachna hob ihre Vorderbeine. Aus der Deckenöffnung regnete es Spinnen. Eine schwarze krabbelnde Wolke senkte sich auf Reik und seinen Freund herab. Der Junge schloss die Augen, sah aber das Krabbeln und Hasten, sah die Millionen Leiber durch die geschlossenen Lider. Er presste die Lippen zusammen.
Reik und Glasäuglein wurden eingesponnen. Dichter und dichter wurde das Netz, der schreckliche Keller verschwand hinter weißen, glitzernden Fäden. Als das Werk der Spinnen beendet war, trat Arachna an den Kokon heran. Ihre Augen schimmerten wie dunkle Glaskugeln durch das Netz, und wie zwei riesige Dolche glänzten ihre Beißzangen.
Reik kämpfte gegen den Gedanken, in eine Falle getappt zu sein. Das war nicht leicht. Nur Glasäugleins ruhiger Atem und seine Wärme beruhigten den Jungen ein wenig.
Wieder hob Arachna die Vorderbeine, und die Freunde lösten sich vom Boden, schwebten sacht nach oben. Es ging durch das Loch, und freundliches Licht drang durch den Fadenvorhang.
Arachna erschien erneut und biss den Fadenkokon auf. »Bitte«, sagte sie währenddessen, »mehr kann ich nicht für euch tun.«
Reik, noch immer das Glasäuglein an sich drückend, stieg aus. Sie waren auf dem Schlosshof.
»Hab Dank«, Reik verneigte sich vor Arachna, während Glasäuglein auf den Boden hüpfte und sich ebenfalls verbeugte, »für deine Freundlichkeit. Ich werde das nie vergessen.«
»Vielleicht«, gab ihm Arachna zur Antwort, »wirst du einmal an einem Sommerabend eine aus meinem Geschlecht sehen, die dort sitzt, wo es dir nicht passt. Dann sage ihr, was du mir gerade sagen wolltest. Zu viele von ihnen werden grundlos getötet. Zieh hin in Frieden, du Mensch.« Nach diesen Worten verschwand sie wie ein Schatten im Keller.
Die beiden Freunde waren nur wenige Schritte gegangen, als donnernd und krachend einer der Schlosstürme in sich zusammenstürzte und mooriges Wasser meterhoch aufspritzte. Risse entstanden im Mauerwerk der Gebäude. Fenster barsten, und im Innern tobte eine Feuersbrunst.
Reik und Glasäuglein hasteten zur Zugbrücke, deren Mittelteil in die Tiefe polterte. Sie drehten sich um, sahen den Prinzessinnenpalast niederstürzen, blickten fassungslos auf die Zinnen und Türme, die schwankten und schließlich krachend auf das Hauptgebäude niedergingen.
»Ich komme!«, stieß Reik noch einmal jenen Ruf aus, der ihn durch das Schloss begleitet hatte, fasste Glasäugleins Hand, und sie rannten auf die Brücke zu, sprangen ab. Unter ihnen reckten sich quallige Arme nach oben, langschnäuzige Kalmare streckten sich neben spindeldürren, stieläugigen Kraken, wollten die Springenden hinabreißen in die schimmligen Tiefen des Schlossgrabens.
Sicher landeten Reik und Glasäuglein auf der anderen Seite der Brücke, stürmten über sie hin und standen auf festem Boden.
Ein furchtbarer Wirbelsturm packte das Schloss, riss die schimmligen Gärten aus dem Untergrund, begann ein Werk restloser Vernichtung. Allmählich wurde er schwächer, und alles sank als Staub nieder. Die Wolkendecke riss auf. Erste Stücke blauen Himmels zeigten sich. Ein Geruch von guter schwarzer Erde, von regennassen Pflanzen und zarten Blüten stieg Reik in die Nase.
»Da«, sagte Reik, und seine Stimme war die eines erstaunten kleinen Jungen, »Achsoklein, sieh doch nur!«
Vor ihnen dehnte sich eine Wiese, auf der Weidenbäume standen, sich ein Flüsschen seinen Weg bahnte. Nichts von einem toten Wald, nichts von Virulon und seinen wandernden Algenstämmen. Schilfgürtel rauschten dort, wo vordem die toten Lachen gewesen waren.
Sie schritten kräftig aus, entfernten sich weiter und weiter von dem einstigen Schloss.
»Wir haben es geschafft«, murmelte Reik und schüttelte den Kopf, »wir haben es geschafft!«
Glasäuglein blieb stehen und bückte sich. Da stand eine einzelne Blüte. Sie war so schön und leuchtete so intensiv, dass sich auch Reik niederbeugte.
Glasäuglein streichelte sie sanft. »Es ist unsere Blume«, flüsterte es und sah Reik gerade in die Augen.
Dem Jungen wurde merkwürdig zumute. Er nahm die Hände seines kleinen Freundes, hielt sie in den seinen. »Mein Glasäuglein«, sagte er nachdenklich, »weißt du, man würde mich auslachen, zu Hause bei mir, wenn ich den anderen sagte, wie ich dich mag. Denn du siehst nicht wie ein Mensch aus. Aber wenn du mich ansiehst, dann ist es mir, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll: Es ist schön, wenn du mich ansiehst.«
»Vergiss aber nicht«, Glasäuglein lachte froh, »dass du mir noch ein Schlaflied schuldig bist.« Nach diesen Worten lief es los, sprang über Wasserlöcher, turnte übermütig in den Weiden herum, sodass Reik alle Mühe hatte zu folgen.
Das Land stieg sanft an, die Wolkenlöcher wurden größer, bis ein makelloser blauer Himmel sich über ihren Köpfen dehnte. Freundlich beschien die tiefstehende Sonne ferne Wälder und die Wiesen. Als die beiden den höchsten Punkt erreicht hatten, blickten sie hinab in ein kreisrundes Tal.
Drei Flüsse, in der Abendsonne wie getriebenes Kupfer blinkend, durchschnitten das Tal und vereinten sich zu einem ovalen See, an dessen Ufer die ersten Abendnebel aufstiegen. Aus den hellgrünen Baumkronen ragten an zwei Stellen Felsen, die ihre blauen Schatten über die Bäume warfen. Ungezählte Vögel sangen, Spechte hämmerten, und Insekten summten. Tief unten im Tal brannte ein einzelnes Feuer, und an diesem Feuer saß Gerstfeld. Es schien den beiden Freunden, als habe Gerstfeld einen Dackel bei sich, aber dann war der Gefährte wieder allein dort, kochte etwas über dem Feuer.
Reik und Glasäuglein fassten sich bei den Händen und liefen lachend, so schnell sie ihre Beine trugen, den sanften Hang hinunter.
Gerstfeld war aufgestanden, kam ihnen ein paar Schritte entgegen und schloss Reik in die Arme. »Mein Junge«, rief der große Mann, »du hast es geschafft. Es ist wunderbar. Es ist großartig. Sie haben mir nie geglaubt, dass du es schaffen könntest, und ich habe ihnen gesagt: Ja, er wird es überwinden. Und nun hast du es vollbracht. Setzt euch, meine Gefährten, und trinkt meinen Waldwiesentee. Stärkt euch an Pilzen und gebratenem Fisch, an selbstgebackenem Brot und wildem Honig. So setzt euch.«
Drittes Kapitel: Das Tal der flimmernden Träume
Während Reik und Glasäuglein Hunger und Durst stillten, betrachtete Gerstfeld sie mit Wohlwollen. »Es war ein schlimmer Augenblick für mich«, begann er plötzlich leise zu erzählen, »als dich die Pflanzen fingen und ich weitergehen musste. Ich musste weitergehen. Die ASGEDAN-Runde hatte es verfügt. Fast hätte ich mich mit der verwaltenden Vernunft überworfen. Und als ich hörte, welchen Zeitraum sie dir gaben, die Fähigkeiten zu erlangen, die man braucht für diesen Weg, wurde ich erneut zornig. Gebt ihm die dreifache Zeit, signalisierte ich ihnen, oder wenigstens die doppelte, denn er ist ein Mensch, und er muss sich befreien aus dem Gespinst der falschen Reden, der geschickten, aber verlogenen Sprüche. Nein, die ASGEDAN-Runde ließ sich auf nichts ein. Sechs Wochen, sagten sie, entweder er kommt, oder du » holst ihn, bringst ihn zurück und wählst einen anderen aus. Kein Tag mehr.«
»Sechs Wochen«, Reik lachte, »einen Tag hat es gedauert. Was ist an sechs Wochen denn kurz?«
Glasäuglein verschluckte sich an seinem Tee und setzte die Schale ab. Es betrachtete Reik durchdringend. Der fühlte wohl, dass etwas nicht stimmte.
Sein Lachen brach ab, und er blickte nachdenklich von einem zum anderen.
»Fünf Wochen«, hob Achsoklein mit seiner zarten, klaren Stimme an zu sprechen, »fünf Wochen warst du bei Vibriana. Und an der sechsten Woche fehlte dir nur eine einzige Nacht – diese jetzt gerade hereinbrechende. Wärst du morgen früh gekommen, sie hätten hier deine Reise enden lassen.«
»Ist das wahr?« Reik schaute ungläubig drein. »So lange war ich dort in jener Düsternis... Und mir schien es nicht
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Hans Bach/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Karl Fischer/Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Karl Fischer/Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Korrektorat: Mina Dörge.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 20.06.2022
ISBN: 978-3-7554-1595-4
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