Cover

Leseprobe

 

 

 

 

VICTOR GUNN/BILL KNOX/

F. R. LOCKRIDGE/CHRISTIAN DÖRGE

 

 

Krimi-Sommer 2022

 

Vier Romane in einem Band

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

1. DAS WIRTSHAUS VON DARTMOOR von Victor Gunn 

2. DER HEXENFELS von Bill Knox 

3. AUGEN, GRÜN WIE EINE KATZE von F. R. Lockridge 

4. ERINNERUNGEN AN DAS REICH TSCHAIKOWSKIS von Christian Dörge 

Das Buch

 

Sommer - Urlaubszeit! 

Sommer - Lesezeit!

Dieses Buch enthält vier spannende und ausgewählte Top-Krimis aus den Krimi-Reihen des Apex-Verlags, geschrieben von internationalen Bestseller-Autoren - perfekter Lesestoff für den Strand, für das ruhige Plätzchen in der Natur, für die Reise: Das Wirtshaus von Dartmoor von Victor Gunn, Der Hexenfels von Bill Knox, Augen, grün wie eine Katze von F. R. Lockridge und Erinnerungen an das Reich Tschaikowskis von Christian Dörge. 

Nervenkitzel und Unterhaltung pur! 

  1. DAS WIRTSHAUS VON DARTMOOR von Victor Gunn

(OT: The Painted Dog)

 

 

 

 

 

Erstes Kapitel

 

 

In schäbigen Sporthosen und. hochgeschlossenem Sweater ging Reginald Howard Laker im Schein der Abendsonne den Feldweg entlang, der sich durch rotes Heidekraut und herbstlich bunte Brombeersträucher schlängelte. Er stieg auf einen kleinen Hügel und blieb oben einen Augenblick stehen, da sein Künstlerauge die Wirkung von Licht und Schatten genoss. Nach Norden zu erstreckte sich die melancholische Weite des Ödlandes von Dartmoor, die erst in weiter Entfernung von aufragenden Felsmassen und Hügeln abgeschlossen wurde.

Für Reggie war dieses Bild in höchstem Maße anziehend. Er bedauerte nur, dass er seine Malsachen nicht mitgebracht hatte, denn die Lichtreflexe waren ganz ungewöhnlich: Die Sonne, die unter einer niedrigen, dunklen Wolkenbank hervorleuchtete, ließ mit ihren goldenen Strahlen den gegenüberliegenden Hang des Hügels feurig aufleuchten. Reggie war, wenn auch nur in bescheidenem Maße, Landschaftsmaler; in seinen Ferien, die er zeltend auf dem Moor verbrachte, hatte er schon verschiedene Skizzen angefertigt, die er später zu vollenden und zu verkaufen hoffte.

Er war froh, dass die Sonne schon nach ganz kurzer Zeit von Wolken verdeckt wurde und der Charakter der Landschaft sich wieder veränderte. Er hätte also sowieso keine Zeit gehabt, den magischen Schimmer des Sonnenuntergangs einzufangen. Auch sah er gerade in seiner Vorstellung ein ganz anderes Bild - das hübsche, ovale Gesicht eines Mädchens, dessen rosige Lippen keinen Lippenstift brauchten und dessen lustige, lebhafte Augen so blau waren wie die Kornblumen.

Aber leider war es schwierig, sie auch nur einen Augenblick allein zu sprechen, Sie hatte ihn gern, das wusste er; aber es war nicht eben leicht, die ungeteilte Aufmerksamkeit eines Mädchens auf sich zu lenken, das in einem Landgasthaus die Gäste bediente. Und dann war da noch dieser verdammte Tony...

Reggie zog die Stirn kraus, als er von dem Weg auf eine breite Straße einbog - auf die Hauptstraße, die von Tavistock nach Moreton Abbott führte. Von hier aus war ein graues, verfallenes, altes Haus zu sehen, das ein Stückchen abseits vom Wege an der Wegkreuzung stand. Es war das Wirtshaus Zum Bunten Hund - einst berühmt als Haltepunkt für die vorbeirollenden Kutschen, das einzige Gasthaus weit und breit. Eigentlich wirkte das Haus selbst jetzt in der Septembersonne ziemlich einsam und düster. Kein Haus, keine Hütte stand in der Nähe. Auf Kilometer im Umkreis waren ein paar einsame Bauernhöfe und die Arbeiterhäuschen am Südrand des Moores die einzigen Gebäude in dieser Gegend.

»Verdammt noch mal!«, murmelte Reggie ärgerlich.

Von Tavistock her kamen zwei Gestalten näher, die mit wohlgefüllten Rucksäcken die Straße entlanggingen. Vielleicht waren es Ferienreisende oder Wanderer, und bestimmt würden sie im Gasthof einkehren, ein Glas Bier trinken und vielleicht auch etwas essen. Reggie war der Gedanke keineswegs lieb, dass gerade jetzt fremde Leute hier einkehren und sich auch an Judys Lächeln freuen würden.

In diesem Augenblick prallte ein langhaariges schwarzweißes Etwas mit großer Wucht gegen seine Brust, gegen das er sich mit aller Kraft und Geschicklichkeit wehren musste. Dabei schwebte er keineswegs in Gefahr, denn der Angriff jenes Geschöpfes, das die Straße entlanggeschossen und ihm gegen die Brust gesprungen war, geschah aus reiner Liebe. Nobby, der ein Jahr alte Collie des Wirtshauses, war zu allen Menschen, denen er seine Liebe beweisen wollte, nicht nur stürmisch, sondern fast gewalttätig. Wild mit dem buschigen Schwanz wedelnd, sprang er an Reggie empor, und seine lange, feuchte Zunge fuhr kreuz und quer über Reggies Gesicht.

»Gib endlich Ruhe!«, rief Reggie lachend, griff nach den Pfoten des Hundes und hielt ihn von sich ab. »Du brauchst mir das Gesicht nicht zu waschen!«

Als Antwort bellte Nobby nur, aber seine Augen leuchteten.

»Ja, ja - ich weiß!«, sagte Reggie. »Du möchtest es gern noch einmal machen, was? Benimm dich, du Tollpatsch. Ein stürmischer Empfang ist ganz schön, aber auch da gibt es Grenzen!«

Nobby wedelte zustimmend mit dem Schwanz; nachdem der junge Mann seine Pfoten losgelassen hatte, sprang der Hund nur noch um ihn herum und zeigte ihm damit seine Freude, während Reggie seinen Weg zum Gasthof fortsetzte. Inzwischen waren auch die beiden Wanderer näher gekommen; Nobby, der sie erst jetzt bemerkte, blieb stocksteif stehen. Sein Schwanz richtete sich steil auf, und er spitzte die Ohren; dann lief er den beiden langsam entgegen. Da sie den Absichten des Hundes nicht trauten, blieben die beiden Männer ebenfalls stehen. Nobbys Rückenhaare sträubten sich und seine Nase zuckte, als er ihnen noch ein paar Schritte entgegenging. Seine Oberlippe schob sich zurück und zeigte ein Gebiss mit starken, weißen Zähnen.

Reggie sah es sich ruhig mit an - es gefiel ihm sogar, denn auch er hatte für die beiden Männer nicht viel übrig. Der eine war schlank, hatte ein rotes Gesicht und war offensichtlich ein Engländer. Der andere, ein vierschrötiger Bursche mit einem flachen, slawischen Gesicht, war bestimmt ein Ausländer.

»Weg!«, sagte der Schlanke nervös. »Verdammtes Hundevieh! Bei diesen Biestern weiß man nie Bescheid!«

»Dieses Tier...«, sagte der andere und sah Reggie an. »Er sein gefährlich?«

Reggie lachte.

»Er ist nur jung und verspielt. Wenn er merkt, dass Sie Angst haben, schnappt er vielleicht nach Ihren Beinen - aber auch das nur im Spiel. Hierher, Nobby! Setzen!«

Gehorsam setzte sich Nobby, und die beiden Wanderer betraten erleichtert das Wirtshaus durch den Vordereingang. Von nahem gefielen sie Reggie noch weniger als aus der Entfernung. Offensichtlich enttäuscht, blickte Nobby seinen Freund vorwurfsvoll an.

»Ja, mein Lieber, ich kann dich schon verstehen, aber Mrs. Ferris sieht es nicht gern, wenn man ihre Gäste in die Beine beißt«, sagte Reggie, beugte sich über den Hund und streichelte ihn. »Im Übrigen bin ich ganz deiner Meinung. Hoffentlich trinken sie nur ein Bier und machen dann, dass sie weiterkommen!«

Reggie, der schon zwei Wochen lang im Gasthof Stammgast war, betrat das Haus durch eine Seitentür und stand in der halbdunklen, mit Fliesen ausgelegten großen Diele. In diesem Augenblick kam eine füllige Frau mittleren Alters an ihm vorbei. Sie blieb stehen und sah Reggie freundlich an.

»Sie kommen heute ein bisschen früh, Mr. Laker«, meinte sie. »Das Essen ist erst in einer halben Stunde fertig.«

»Das macht nichts, Mrs. Ferris«, antwortete er. »Ich setze mich solange in das Wohnzimmer. Vielleicht kann Judy mir ein Glas Bier dorthin bringen.«

»Aber gewiss«, antwortete Mrs. Ferris.

Mit ihrer Tochter zusammen bewirtschaftete sie das Gasthaus praktisch allein, denn der alte Charley Widden, dem das Lokal gehörte, ließ sich kaum mehr sehen und blieb lieber in seinem Zimmer im ersten Stock. Mrs. Ferris war sich noch immer nicht klar, was sie von Reggie eigentlich halten sollte. Sie wusste zwar, dass er Judy sehr gern hatte, aber sie wusste auch, dass er Künstler war – und Künstler waren ihrer Ansicht nach zweifelhafte Gesellen. Unwillkürlich musste sie dann immer an die Ateliers in Chelsea und an weibliche Aktmodelle denken. Das traf jedoch bei Reggie nicht zu, denn weder hatte er bisher ein Atelier in Chelsea noch jemals einen weiblichen Akt gemalt. Er malte nur Landschaften - und auch die nicht besonders gut. Mrs. Ferris hatte sich etwas beruhigt, nachdem er ihr eins seiner Bilder gezeigt hatte, aber sie kam trotzdem nicht ganz von dem Gedanken los, dass in seinem Londoner Leben nackte Mädchen eine große Rolle spielen müssten.

Reggie hatte es nicht bedauert, in seinen Ferien nach Dartmoor gekommen zu sein, in einem Zelt zu wohnen und Landschaftsskizzen zu machen. Jeden Morgen kam er ins Wirtshaus und holte sich seine Milch, seine Post und seine Zeitung. Dann erschien er erst wieder zum Abendessen. Er war ein lustiger, netter, junger Mann! stellte Mrs. Ferris schließlich fest. Aber er benahm sich Judy gegenüber doch ein bisschen zu betont freundschaftlich...

Judy kam mit dem Bier in das Wohnzimmer, kurz nachdem Reggie sich dort hingesetzt hatte. Zögernd blieb sie an der Schwelle stehen und begrüßte ihn mit einem leisen Lächeln. Sie war klein und schlank, und niemand konnte behaupten, dass sie von der Natur stiefmütterlich bedacht worden wäre. Ihr Gesicht war nicht nur hübsch, sondern verriet auch Charakter. Der scharfe Wind von Dartmoor hatte ihr einen Teint verliehen, der keiner kosmetischen Tricks bedurfte, und ihr weiches braunes Haar war schon von Natur gewellt. Trotzdem täuschte der Eindruck ländlicher Einfachheit, den man im ersten Augenblick von ihr hatte. Sie kleidete sich geschmackvoll und konnte es in dieser Hinsicht mit einer Londonerin durchaus aufnehmen. Gegenwärtig trug sie ein buntes, modernes Nylonkleid, das ihre schlanke Taille und die hübschen Linien ihrer Figur gut zur Geltung brachte.

»Ihr Bier, Sir«, sagte sie zurückhaltend.

»Was soll denn das!«, protestierte Reggie und sprang auf. »Warum reden Sie mich auf einmal mit Sir an? Mein Gott, sind Sie heute wieder hübsch, Judy! In diesem Kleid habe ich Sie noch nie gesehen! Neben Ihnen komme ich mir direkt wie ein Vagabund vor!«

Sie lachte, als er ihr das Glas abnahm.

»Ach, Unsinn, Mr. Laker«, sagte sie und schlug ihre Augen vor seinem bewundernden Blick nieder. »Ganz bestimmt laufen Sie zu Haus noch viel eleganter herum - in London, meine ich. Aber wenn die Leute auf Urlaub hierherkommen, tragen sie immer nur ihre alten Sachen...«

»Sagen Sie doch nicht immer Mr. Laker zu mir«, unterbrach er sie und setzte sein Bier unangerührt auf den Tisch, um sie ungestört anschauen zu können. »Wird es nicht langsam Zeit, dass Sie Reggie zu mir sagen? Sie haben doch nichts gegen mich, oder?«

»Natürlich nicht!«, erwiderte sie offen und wandte sich zur Tür. »Das Essen wird auch bald fertig sein...«

»Ach, zum Teufel mit dem Essen! Können Sie nicht lieber hierbleiben und mich ein bisschen unterhalten?«

»Um diese Zeit? Gerade jetzt habe ich doch hunderterlei zu tun...«

»Das kann alles warten...«, sagte Reggie, griff nach ihrem Arm und zog sie ins Zimmer zurück. »Nur weil ich male, scheint Ihre Mutter mich mit gemischten Gefühlen zu betrachten. Sie hat wohl von Malern sonderbare Vorstellungen. Aber das ist doch Unsinn - schon weil ich gar kein richtiger Maler bin. Ich arbeite doch in einem Versicherungsbüro und male nur nebenbei - zum Vergnügen. Aber ich habe nie ganz begriffen, was Sie hier eigentlich tun«, fuhr er nachdenklich fort. »Das Lokal gehört doch Mr. Widden, nicht wahr?«

»Ja. Aber Mama führt es, und ich helfe ihr«, sagte Judy. »Mr. Widden überlässt uns alles.«

»Wozu aber die Geheimniskrämerei?«, fragte Reggie. »Ich habe Mr. Widden noch nicht einmal zu Gesicht bekommen! Ist er denn ein Krüppel oder krank? Die Leute aus der Gegend nennen ihn, wenn sie beim Bier hier sitzen, immer nur den alten Charley Widden. Aber sie flüstern nur, wenn sie von ihm sprechen.«

Das Mädchen lachte.

»Lächerlich!«, sagte sie fast ungeduldig. »Bei uns gibt es keine Geheimnisse! Mr. Widden ist ein netter, alter Mann, der am liebsten allein ist. Er kommt zwar manchmal herunter, aber am liebsten bleibt er in seinem Zimmer. Mama ist hier schon seit Jahren tätig.«

»Man behauptet, der alte Charley sei ein Geizkragen und hätte sein Zimmer wie eine Festung eingerichtet«, sagte Reggie. »Jedenfalls sind seine Fenster dicht vergittert, und als ich einmal oben war, sah ich die schwere Tür vor seinem Zimmer. Das Schlüsselloch der Tür erinnerte mich irgendwie an die Bastille.«

Diesmal lachte Judy laut auf.

»Ich muss über Sie wirklich staunen - Reggie«, sagte sie, und ihre Augen blitzten vergnügt. »Wie kann man nur solchen Unsinn glauben? Warum soll Mr. Widden denn ein Geizkragen sein? Glauben Sie mir: Allzu viel wirft dieses Gasthaus nicht ab...«

»Verdammt noch mal!«, murmelte Reggie ärgerlich, als sie verstummte.

Die Tür hatte sich gerade geöffnet, und ein großer, wettergebräunter und muskulöser junger Mann in Reithosen und Tweedjackett trat ein. Aber noch mehr ärgerte sich Reggie, als er sah, dass Judys Augen beim Anblick dieses Menschen aufleuchteten.

»Ach, Tony!«, sagte sie herzlich. »Guten Tag! Sie haben aber nichts davon gesagt, dass Sie heute Abend kommen wollten!«

»Das hat auch seinen bestimmten Grund, Kindchen!«

Der Neuankömmling hatte eine laute Stimme. Er umfasste Judys Schultern und drückte ihr einen Kuss auf das Haar. »Ich erkläre es Ihnen später. - Hallo, Laker...« fügte er mit einem Seitenblick auf Reggie hinzu. »Sie treiben sich auch noch immer in der Gegend herum, wie? Was macht die Kunst?«

In der Frage lag schlecht verborgener Hohn, der Reggie das Blut ins Gesicht trieb. Tony Bellamy war ihm vom ersten Augenblick an unsympathisch gewesen, und nun, da er hatte Zusehen müssen, wie dieser Mensch Judy einen Kuss aufs Haar gegeben hatte, war er ihm noch unsympathischer geworden. So eine Frechheit von dem Lümmel - Judy zu behandeln, als hätte er ein Anrecht auf sie!

»Na, na, na...«, sagte Judy leichthin, »ihr werdet doch nicht wieder anfangen zu streiten? Kann ich Ihnen etwas bringen, Tony?«

»Lassen Sie - das kann ich auch allein«, antwortete der andere. »Aber Ihr Kleid ist wirklich reizend! Geradezu großartig. Es bringt Ihre Vorzüge deutlich zur Geltung.«

Judys hübsches Gesicht wurde rot, und Reggie fluchte innerlich. Weil dieser Kerl der Sohn von Sir Richard Bellamy, dem Gutsherrn von Moreton Abbott war, glaubte er, sich solche Frechheiten herausnehmen und damit durchkommen zu können! Diese Muskelprotze blieben sich immer gleich; der Bursche war früher in der Rugbymannschaft von Oxford gewesen, und jetzt interessierte er sich nur noch für Pferde und fürs Saufen. Leute dieser Art konnten doch gar keine anständigen Absichten haben, wenn es sich um die Tochter eines Gastwirts handelte! Innerlich schnaubte Reggie geradezu vor Wut, als er den herzlichen Ausdruck auf Judys Gesicht bemerkte, während sie sich von Tony zur Tür führen ließ.

Reggies Stimmung wurde selbstverständlich nicht gerade besser, als sich Tony an der Tür umwandte und ihm triumphierend zublinzelte. Ein Jammer, dass er ihm nicht handgreiflich ein besseres Benehmen beibringen konnte! Aber dazu war ihm Tony körperlich viel zu überlegen. Reggie hasste die wettergebräunte, gesunde Gesichtsfarbe dieses Mannes; er hasste seinen roten Haarschopf und die Arroganz seines herrischen Benehmens.

»Ach, Judy, nur eine Sekunde.« Mrs. Ferris’ Stimme ließ sich von der Halle her hören. »Hier sind zwei Herren, die die Nacht über bleiben wollen. Mr. Hurst und Mr. Brunoff. Zeige ihnen doch schnell ihre Zimmer. Du weißt doch, was noch frei ist, nicht?«

»Ja, Mama.«

Reggie kam aus dem Wohnzimmer.

»Nehmen Sie sich in acht, Judy!«, sagte er. »Vor diesen beiden Touristen, meine ich! Nobby hatte vorhin keine gute Meinung von ihnen - und auf sein Urteil kann man sich verlassen!«

»Dieser dämliche Köter?«, sagte Tony Bellamy verächtlich. »Das Vieh ist so dumm, dass es sogar mir die Zähne zeigt! Aber wenn ich ihn streicheln will und mich hinunterbeuge, wedelt er wild mit dem Schwanz und versucht, mir das Gesicht zu lecken! Das Vieh ist vollkommen blödsinnig!«

»Unterstehen Sie sich, etwas gegen meine Nobby zu sagen!«, fuhr Judy ihn böse an. »Er ist der netteste Hund auf der Welt! - Ich gehe schon, Mama«, fügte sie hinzu, da Mrs. Ferris langsam ungeduldig wurde, »ich gehe schon!«

Sie lief fort. Tony begleitete Mrs. Ferris in die Küche, und Reggie kehrte düster und unglücklich ins Wohnzimmer zurück und trank sein Bier.

Als Judy die Gäste in die Zimmer im ersten Stock führte, war sie eigentlich ganz Nobbys Meinung: Die Fremden starrten sie geradezu unverschämt an. Judy war froh, als sie die beiden allein lassen konnte.

»Na ja«, sagte sie sich, als sie die Treppen hinabging, »wir haben eben im Sommer alle möglichen Gäste. Vielleicht sind Sie doch ganz ordentlich!«

Als sie wieder in der Diele war, hörte sie, dass ein Auto vor dem Eingang vorfuhr. Neue Gäste! Sie lief zur Vordertür, zog aber ärgerlich die Stirn kraus, als sie den Wagen erkannte. Es war ein alter Austin, dem ein hagerer, unsympathisch wirkender Mann, ungefähr Mitte Vierzig entstieg. Judy wartete nicht, um ihn zu begrüßen, sondern wandte sich um und lief ins Haus zurück zu ihrer Mutter.

»Dieser eklige Mr. Pickering«, sagte sie atemlos.

»Oh, mein Gott«, meinte Mrs. Ferris entsetzt. Sie ging durch die Diele, und ihre Lippen pressten sich zusammen, als sie dem Neuankömmling gegenüberstand. »Sie sind schon wieder da?«, fragte sie ärgerlich.

»Nennt man das ein herzliches Willkommen?«, fragte Pickering mit einem Grinsen. »Sie sehen mich wohl nicht sehr gern, Mrs. Ferris, wie? Das tut mir aber schrecklich leid. Ich bin auch nur gekommen, um mit dem alten Herrn zu sprechen. Oder haben Sie etwas dagegen?«

Sie presste die Lippen noch fester aufeinander und ging wortlos davon; krachend fiel die Tür hinter ihr ins Schloss. In der großen Diele stieß sie auf Judy.

»Wie mir dieser Mensch verhasst ist!«, sagte Mrs. Ferris. »Geh bitte hinauf und sag Mr. Widden, dass Pickering hier sei. Ich habe keine Zeit - das Essen brennt mir sonst an! Matt bedient in der Schankstube.«

Judy eilte wortlos die Treppe hinauf, wobei sie an Pickering vorüberkam. Der Mann blickte ihr genießerisch nach, als ihr weiter Rock auf der Treppe ihre schönen, nylonbestrumpften Beine sehen ließ. Sie rannte fast in die zwei Touristen hinein, die sich inzwischen gewaschen hatten und jetzt die Treppe herunterkamen, um an der Theke ein Glas Bier zu trinken.

Geschickt vermied sie noch in letzter Sekunde einen Zusammenstoß und bog vom Treppenabsatz in einen Gang ein, der in den hinteren Teil des Hauses führte. Auf diesen Gang führte nur eine einzige Tür, und zwar ganz am Ende. Diese solide, massive Eichentür war offenbar nachträglich eingebaut worden; sie sah aus, als stammte sie aus einem alten Schloss. Das Schlüsselloch war fünf Zentimeter tief und von einer feinziselierten Eisenplatte umgeben. Judy hämmerte mit der Faust gegen das Holz, aber trotzdem klang ihr Klopfen gedämpft - ein Beweis für die Dicke der Tür.

»Mr. Widden!«, rief sie laut. »Ich bin es!«

Sie wartete und blickte auf eine fünfzehn Zentimeter breite Klappe im oberen Teil der Tür. Plötzlich hob sich diese Klappe, und Judy sah in ein bärtiges Gesicht - in ein so behaartes Gesicht, dass man kaum mehr als eine Wildnis grauweißer, von Tabak teilweise braungefärbter Barthaare erkennen konnte.

»Was ist denn, mein Kind?« knurrte eine brummige, aber freundliche Stimme.

»Mama hat mich heraufgeschickt, Mr. Widden«, sagte Judy. »Sie haben Besuch - Mr. Pickering.«

Ein tiefes Brummen ertönte durch die Klappe.

»Ich will ihn nicht sehen!«, sagte der alte Charley Widden; seine Stimme klang jetzt rau und böse. »So eine Frechheit; er kommt dieses Jahr schon zum dritten Male. Sag ihm...«

»Ja, Mr. Widden?«, fragte Judy, als der alte Mann eine Pause machte.

»Sag ihm, er soll heraufkommen«, brummte es hinter der Eichentür. »Das beste ist, ich spreche mit dem Kerl, damit es endlich einmal erledigt ist.« Die Klappe fiel wieder herunter.

Judy wandte sich um und lief ängstlich die Treppe hinab. Sie empfand immer ein unbestimmtes Furchtgefühl, wenn sie mit dem exzentrischen Besitzer des Bunten Hunds einige Worte sprach.

Unten in der Halle wartete Fred Pickering auf sie; sein Gesicht verzog sich zu einem tückischen Grinsen..

»Wissen Sie, Judy, Sie sollten keine weiten Röcke tragen«, sagte er höhnisch. »Ich hatte wirklich einen interessanten Anblick... Sie haben schöne Beine, mein Kind!«

»Jedenfalls werden Sie sie nicht ein zweites Mal zu sehen bekommen«, sagte Judy böse. »Gehen Sie nur vor mir die Treppe hinauf! Mr. Widden lässt ausrichten, dass er Sie sprechen will. Manche Leute haben eben einen eigenartigen Geschmack!«

Pickering lachte nur und stieg die Treppe hinauf. Judy folgte ihm - um sich zu vergewissern, dass er auch in das richtige Zimmer ging. Vom Gang aus beobachtete sie, wie er an die schwere Eichentür klopfte. Die Tür wurde sofort aufgemacht, und in der Türöffnung erschien ein großer, kräftiger Mann von über siebzig Jahren, der einen abgetragenen braunen Anzug anhatte. Sein ungepflegtes graues Haar, das noch immer sehr voll war, hatte die gleiche Farbe wie sein Bart.

»Aha, Fred; kommen Sie herein«, sagte er brummig. »Ich erwartete gar nicht, Sie so rasch wiederzusehen. Und ich muss Ihnen von vornherein sagen, dass ich mir keinen Unsinn...«

Die Tür fiel zu, und es drang kein Laut mehr aus dem Zimmer heraus. Judy lief ärgerlich die Treppe wieder hinab und ging sofort zu ihrer Mutter in die Küche.

»Warum wohl der alte Charley sich herbeilässt, mit diesem ekligen Kerl zu sprechen, sooft er kommt? Sonst lässt er doch niemanden in sein Zimmer - nicht einmal mich!«

»Woher soll ich denn das wissen?«, antwortete Mrs. Ferris und zog eine riesige Pastete aus dem Backofen. »Hast du wirklich nichts Besseres zu tun, als dumme Fragen zu stellen? Und ich habe dir doch schon so oft verboten, von Mr. Widden als dem alten Charley zu sprechen! Das ist höchst respektlos!«

»Entschuldige, Mama - aber hier nennt ihn doch jeder so!«, sagte Judy. »Sogar die Arbeiter auf den Höfen! Die ganze Gegend nennt ihn so!«

»Was du nur für Unsinn redest...«, sagte Mrs. Ferris ärgerlich. »Was Mr. Widden tut und wen er empfängt, ist ausschließlich seine Sache. Wenn du sonst nichts zu tun hast, geh zum Ausschank. Matt ist dort sowieso nicht viel nütze. Sag ihm, dass ich ihn hier brauche.«

Judy war auf Fred Pickering recht böse, als sie hinter den Schanktisch trat. Wenn er auf tauchte, war ihre Mutter immer so schlecht gelaunt und reizbar und verlor ihre sonstige Ausgeglichenheit und gute Laune. Judy konnte sich noch an den bösen Blick in den Augen des alten Charley Widden erinnern, als er seinen Besuch aufforderte, bei ihm einzutreten.

Während der nächsten halben Stunde war sie so beschäftigt, dass sie keine Zeit zum Nachdenken fand. Der Schankraum war heute ganz ungewöhnlich voll, denn außer Reggie Laker, Tony Bellamy und den beiden Touristen waren auch noch mehrere Leute aus dem Ort erschienen, die hier ihren Dämmerschoppen tranken. So hatte Judy wirklich alle Hände voll zu tun.

Mrs. Ferris machte in der Küche das Abendbrot fertig - kein großes Essen, denn an ihm nahmen außer den Familienmitgliedern nur Reggie Laker und die beiden Touristen teil. Das Wirtshaus hatte keine große Speisenauswahl, und besondere Gerichte musste man im Voraus bestellen.

In der großen mit Fliesen ausgelegten Küche wurde Mrs. Ferris nur von Matt Wills, dem alten Faktotum, unterstützt, der schon seit vielen Jahren im Wirtshaus arbeitete. Er war ein verhutzelter Mann mit krummen Beinen und einem ledernen, runzligen Gesicht, das beinahe völlig ausdruckslos war. Man erzählte sich im Ort, er sei nicht ganz normal; dabei war er nur sehr unkompliziert - und zwar in der verschlagenen, schlauen Art, die manchmal fast genauso zum Ziel führt wie berechnende Intelligenz. Wenn man wusste, wie er zu behandeln war, machte er seine Arbeit auch tadellos, und Mrs. Ferris wusste ihn zu behandeln.

Während Mrs. Ferris das Essen im Speiseraum auftrug, ging Matt durch das ganze Haus und zündete die Karbidlampen an, denn langsam wurde es dunkel. Als Mrs. Ferris in die Küche zurückkehrte, fand sie dort Fred Pickering vor, der mürrisch und ärgerlich dreinschaute.

»Ich bleibe über Nacht hier«, sagte er kurz. »Machen Sie mir etwas zu essen, und geben Sie mir ein Zimmer.«

Die Wirtin sah ihn kalt an.

»Hat Ihnen Mr. Widden erlaubt, hierzubleiben?«

»Das habe ich mir selbst erlaubt!«, fauchte Pickering. »Ich werde dem alten Satan schon zeigen, dass er mich nicht so leicht loswerden kann! Ich möchte jetzt mein Essen haben!« Damit verließ er die Küche.

Tony Bellamy war noch im Schankraum, wo er ein Glas nach dem andern trank, so dass er in streitsüchtiger Stimmung war, als Reggie nach dem Essen zusammen mit den beiden Touristen Hurst und Brunoff, an die Theke kam. Seine Stimmung wurde nicht gerade besser, als er sah, dass Reggie von Judy begleitet wurde, die gerade vergnügt über einen Witz lachte, den er ihr erzählt hatte.

»Ist es nicht höchste Zeit, dass Sie in Ihr verdammtes Zelt zurückkehren?«, sagte er gepresst und sah Reggie böse an. »Sie gehören nicht zu uns, mein Junge! Und wir Leute vom Moor haben für Fremde nicht viel übrig!«

»Aber Mr. Bellamy!« ermahnte ihn Mrs. Ferris scharf. »Sie haben doch keine Veranlassung, andere Gäste zu beleidigen!«

Tony Bellamy brüllte vor Lachen.

»Gut gesagt, Mutter Ferris!«, rief er. »Immer bereit, den unartigen Jungen zurechtzuweisen, wie? Das schreit geradezu nach einer Lage! Was wollen Sie denn haben?«

»Nichts - vielen Dank, Mr. Bellamy.«

»Unsinn! Eine Runde für die ganze Gesellschaft hier!«, schrie Tony mit einer großartigen Handbewegung. »Eine Runde für alle - mit Ausnahme von Laker!«

»Das ist mir sehr recht«, sagte Reggie und wurde rot. In diesem Augenblick betrat Fred Pickering den Schankraum, und so ging der Auftritt ohne weitere Peinlichkeiten vorüber. Aber Mrs. Ferris widerte es an, wie Tony sein Glas hinunterstürzte, und sie bemerkte auch, dass Judy den Sohn des Gutsherrn mit wachsender Unruhe beobachtete. Mehr als einmal ging das Mädchen zu ihm hin und flüsterte ihm etwas zu - vermutlich bat sie ihn, nach Hause zu gehen. Aber er achtete auf nichts. Auch Reggie Laker war noch geblieben, obgleich er sonst um diese Zeit schon zu seinem Zelt zurückgekehrt war; seine Augen leuchteten jedes Mal feindselig auf, wenn Judy sich Tony auch nur näherte.

So war Mrs. Ferris herzlich froh, als endlich Polizeistunde war. Die Einheimischen - meist Landarbeiter - verließen geräuschvoll den Schankraum. Ihnen folgten ein paar Leute aus Tavistock, die sich zum Dämmerschoppen eingefunden hatten. Bald war, außer den Hausbewohnern, niemand mehr da - nur Reggie und Tony. Widerwillig schickte sich Reggie an, ebenfalls fortzugehen.

»Nun, Judy, mein Kindchen«, sagte Tony Bellamy, keineswegs mehr nüchtern, »jetzt werde ich Ihnen sagen, aus welchem besonderen Grund ich heute Abend hergekommen bin. Ich habe nämlich heute Geburtstag!«

»Oh, Tony, warum haben Sie mir das nicht eher gesagt?«, fragte Judy. »Ich hätte Ihnen bestimmt etwas geschenkt. Aber trotzdem: meine herzlichsten Glückwünsche!«

Reggie schäumte vor Wut. Sie hätte ihm also etwas geschenkt! Er wurde ganz blass, und die Adern an seinen Schläfen traten hervor, als er sehen musste, wie Tony ihm einen triumphierenden Blick zuwarf.

»Jedenfalls ist das ein Grund zum Trinken«, fuhr Tony fort. »Ich werde jetzt einen Spezialpunsch brauen - einen Punsch, den mein alter Herr vor vielen Jahren erfunden hat. Das ist ein wirklich steifes Zeug! Ich brauche kochendes Wasser, Zucker, Zitronen und Whisky.« Er hielt inne. da er bemerkte, dass Reggie immer noch da war. »Aber Sie, Mr. Laker, Sie sind nicht eingeladen!«

»Mr. Bellamy!«, sagte Mrs. Ferris ängstlich. »Aber vielleicht sollten Sie wirklich lieber gehen, Mr. Laker...«

»Ich gehe schon«, brummte Reggie böse.

»Und Sie sollten auch gehen, junger Mann!«, sagte Mrs. Ferris und warf Tony einen scharfen Blick zu. »Wir wollen Ihren Punsch gar nicht trinken, und es ist für Sie höchste Zeit, nach Hause zu gehen!«

»Unsinn!«, grölte Tony. »Los, Judy! Kommen Sie mit in die Küche! Sie müssen mir zeigen, wo alles zu finden ist! Und sagen Sie mir nur nicht, dass Sie keine Zitronen hätten, denn Zitronen brauche ich unbedingt - und auch Nelken.«

Er ging hinaus und zog Judy hinter sich her. Der alte Matt, der in der Küche neben dem Herd vor sich hin döste, sah erschrocken auf, als die beiden hereinkamen. Aus verschlafenen Augen beobachtete er, wie Tony anfing, den Punsch zu brauen. Bald kochte das Wasser, und dann wurden die verschiedenen Ingredienzien in eine große Punschterrine geschüttet, während Tony dabeistand und den Dampf einschnupperte.

»Alles in Ordnung!«, sagte er grinsend. »Das wird euch schon aufmöbeln! Und was ist mit diesem Burschen, dem Laker? Ist er weg?«

»Noch nicht«, sagte Judy nach einem Blick in den Schankraum. »Tony, bitte - lassen Sie Reggie doch in Ruhe!«

Aber er kümmerte sich nicht um sie und ging schwankend von der Küche in den Schankraum hinüber.

»He! Sie da!«, grölte er und wies mit dem Finger auf Reggie. »Hinaus mit Ihnen!«

Das war zu viel...

»Ich werde Weggehen, wann es mir passt, verdammt noch mal!«, sagte Reggie zähneknirschend. »Für wen halten Sie sich eigentlich, dass Sie glauben, mich herumkommandieren zu können?« Da er sah, dass ihn Judy mit einer Mischung von Überraschung und Bewunderung ansah, stieg sein Mut zur Tollkühnheit. »Sie sind besoffen. Bellamy! Total besoffen!« Er blieb ruhig stehen, auch als Tony Miene machte, sich auf ihn zu stürzen. »Also gut - wenn Sie sich durchaus schlagen wollen...«

»Hört doch endlich auf damit!«, rief Mrs. Ferris und stellte sich zwischen die Kampfhähne. »Ich muss mich Ihretwegen direkt schämen, Mr. Bellamy! So haben Sie sich bisher noch nie auf geführt!« Sie wandte sich entschuldigend an Reggie. »Es tut mir furchtbar leid, Mr. Laker...«

»Schon gut, Mrs. Ferris«, unterbrach er sie. »Es ist Ihnen wohl lieber, wenn ich fortgehe - das verstehe ich schon.«

Er ging in die Halle hinaus - und nach kurzem Zögern lief Judy ihm nach. Sie fasste ihn bei der Hand, die sie fest drückte.

»Vielen Dank, Reggie!«, flüsterte sie. »Ich finde Tony auch abscheulich...«

Als er ins Freie trat, war sein Zorn verraucht. Er lächelte sogar vergnügt vor sich hin, als er hörte, wie Tony zur Tür stolperte und den großen Riegel von innen vorschob. Judy hatte ihm unmissverständlich angedeutet, wer von ihnen beiden ihr lieber sei...

Tony verriegelte wütend die Tür. Sein Gesicht war unnatürlich gerötet, als er in den Schankraum zurückkam. Fred Pickering, der an seinem Glas nippte, betrachtete ihn amüsiert, und die beiden Touristen, William Hurst und Zennan Brunoff, wunderten sich, in was für ein Haus sie geraten waren. Sie fühlten sich erleichtert, als der wütende Ausdruck langsam aus Tonys Gesicht verschwand; er begann schallend zu lachen.

»Ist doch alles Unsinn!«, sagte er schwankend. »Der Punsch - natürlich! Beinahe hätte ich ihn vergessen - ihr müsst alle auf meine Gesundheit trinken!«

»Ich glaube, wir denken lieber nicht an den Punsch, Mr. Bellamy«, unterbrach ihn Mrs. Ferris kurz. »Sie sind heute nicht ganz beieinander, sonst würde ich Ihr Benehmen nicht so einfach hinnehmen. Mr. Laker ist ein Gast von uns, und Sie hatten kein Recht, ihn aus dem Haus zu weisen.«

»Reden wir nicht mehr von ihm«, sagte Tony und ging in die Küche. »Er ist weg, und jetzt können wir ungestört feiern. Warten Sie nur, bis Sie meinen Punsch probiert haben...«

Die Küche war leer. Die Hintertür, die in den Hof führte, stand weit offen. Offenbar war Matt Wills noch einmal in den Hof gegangen. Tony tauchte den Kochlöffel in den Punsch und kostete das Gebräu. Er leckte sich genießerisch die Lippen. Dann trug er die dampfende Terrine in den Schankraum und bestand darauf, dass jeder der Anwesenden ein großes Glas bekam. Mrs. Ferris hielt es für klug, ihn nicht unnötig zu reizen, und so nahm sie ihr Glas ohne Widerrede entgegen.

»Oh - der ist aber stark!«, sagte Judy und musste husten.

»Austrinken, meine Liebe - alles!« mahnte Tony und schwenkte den Kochlöffel. »Heute ist mein Geburtstag, und ihr...« er blickte mit glasigen Augen auf die andern, »seid ihr fertig? Ich habe noch mehr von dem Zeug!«

Hurst und Brunoff - zuerst überrascht, als Fremde zu der Geburtstagsfeier aufgefordert zu werden - wurden bald recht vergnügt. Auch Fred Pickering verlor viel von seiner üblen Laune. Auch Fred Pickering verlor viel von nicht gerade schön, dafür aber umso lauter. Er bestand darauf, dass auch Judy mitsang, und schließlich stimmten, unter der Wirkung des Alkohols, auch die andern Männer in den Gesang ein. Selbst Mrs. Ferris konnte nicht mehr widerstehen und fiel mit ihrem hellen Sopran in den Chor der anderen ein.

Was schließlich dem allgemeinen Frohsinn ein Ende machte, war das plötzliche Auftauchen des alten Charley Widden. Mit ausgetretenen Pantoffeln an den Füßen und in einen alten, schäbigen Schlafrock gehüllt, stand er im Türrahmen. Sein Gesicht war rot vor Wut, und seine Augen funkelten, als er die Szene überschaute.

»Aufhören!«, donnerte er. »Mein Gott, was ist denn über Sie gekommen, Annie?« Er starrte Mrs. Ferris wütend an. »Ich verbitte mir diesen Krach in meinem Hause! Wer hat mit dem Spektakel angefangen?«

Die ganze Runde schwieg bestürzt.

»Sie sicherlich!«, fuhr der alte Mann fort und wies auf Tony Bellamy. »Sie sind bestimmt für diese Unverschämtheit verantwortlich! Raus mit Ihnen! Und lassen Sie sich in diesem Hause nicht mehr sehen! Nie wieder!«

Tony - der Schreck hatte ihn plötzlich ernüchtert - war unfähig, sich dem energischen alten Mann zu widersetzen. Seine laute Fröhlichkeit war restlos verflogen. Wortlos schlich er zur Tür, zog den Riegel zurück und ging stumm in die Nacht hinaus.

Die andern warteten eingeschüchtert, bis sich der alte Charley Widden nach einem letzten wütenden Blick umgewandt hatte und wieder die Treppe hinaufstieg. Ein betretenes Schweigen lag über dem einsamen alten Wirtshaus und seinen Bewohnern.

 

 

 

Zweites Kapitel

 

 

Die Morgensonne schien mit sommerlicher Wärme, und die Hügellandschaft von Dartmoor sah fast freundlich aus, als Reggie Laker am nächsten Morgen zu dem alten Gasthof kam, um seine Milch, die Zeitung und etwa eingegangene Post abzuholen.

Schon von weitem sah er Tom Trehearn, den Postboten, auf seinem Fahrrad herankommen. Aber er wunderte sich über Nobbys ungewöhnliches Verhalten. Anstatt Reggie wie sonst entgegen zu rasen, schlich er mit eingekniffenem Schwanz und zurückgelegten Ohren verstört um das Haus herum. Selbst auf Reggies Pfeifen kam er nur zögernd.

»Guten Morgen, Sir«, sagte der Postbote und stieg vom Rad. »Ein warmer Tag heute, für September. Aber was ist denn mit Nobby los? Er sieht ziemlich miesepetrig aus! Und was hat er denn da Grünes auf der Brust?«

»Das habe ich mich auch schon gefragt«, sagte Reggie mit verwunderter Stimme.

Nur mit Schwierigkeit konnten sie den Hund dazu bringen, sich ruhig hinzusetzen. Seine sonst schneeweißen Brusthaare waren von halb eingetrockneter grüner Farbe verklebt - dieselbe Farbe, mit der der alte Matt Wills die Türen der Garage im Hinterhof angestrichen hatte.

»Das ist doch toll!«, lachte Tom Trehearn. »Irgendjemand hat den Hund angemalt, damit er zum Haus passt! Im Wirtshaus Zum Bunten Hund muss natürlich auch der Hund bunt sein!«

Aber Reggie fand diesen Witz nicht besonders komisch.

»Wenn ich herausbekomme, wer das gemacht hat - dem werde ich gehörig die Meinung sagen«, meinte er böse. »Das dauert Wochen, bis die Farbe wieder abgeht.«

»Der Hund ist auch so merkwürdig, finden Sie nicht?«, meinte der Postbote. »Irgendwie verängstigt! Glauben Sie, dass er sich zufällig beschmiert haben könnte?«

»Das glaube ich kaum«, sagte Reggie. »Nein, das ist Absicht gewesen. Und Matt hat die Garagentüren auch schon vor zwei Tagen gestrichen, so dass sie jetzt bestimmt schon trocken sind.«

Aber Tom Trehearn hatte ihm gar nicht zugehört. »Drüben steht noch die Milchkanne«, sagte er und wies mit dem Finger hinüber. »Und die Zeitungen liegen auch noch da! Wenn ich sonst komme, sind Milch und Zeitungen schon längst hereingeholt. Die Hintertür steht auch nicht offen wie sonst! Und aus dem Küchenschornstein kommt kein Rauch - merkwürdig. Das Haus sieht geradezu wie ausgestorben aus!«

»Wirklich, Sie haben Recht«, sagte Reggie. »Es ist mir noch gar nicht auf gefallen.« Plötzlich hellte sich seine Miene auf, und er grinste. »Mir fällt übrigens ein, dass die Leute letzte Nacht gefeiert haben - den Geburtstag des jungen Bellamy! Als ich fortging, machten sie sich gerade über Tonys Spezialpunsch her. Anscheinend war das Zeug ziemlich stark!«

Der Postbote schüttelte den Kopf.

»Dass der junge Bellamy sich einen antrinkt, will ich noch glauben, Sir - aber Mrs. Ferris doch nicht«, meinte er unsicher. »Sie ist im Allgemeinen als erste auf und macht sich dann gleich im Haus zu schaffen, sie und der alte Matt. Mir will das gar nicht gefallen, Sir.«

Da der Vordereingang von innen verriegelt war, gingen sie um das Haus herum. Die Küchentür war zwar geschlossen, aber nicht abgesperrt. Reggie betrat die Küche, während Tom Trehearn aus seiner Posttasche ein Päckchen für Judy heraussuchte. Plötzlich hörte er Reggies erschrockenen Ruf.

Als er in die Küche kam, sah er, wie Reggie sich über Matt Wills beugte. Matt Wills saß schlafend auf seinem Stuhl am Tisch; sein Kopf lag auf den Armen.

»Ich kann ihn nicht wach bekommen«, sagte Reggie beunruhigt. »Aber sehen Sie mal - die Lampe brennt noch! Ich bekomme ihn einfach nicht wach!«

»Er ist doch nicht etwa - tot?«, flüsterte der Postbote aufgeregt.

»Tot? Ach wo! Hören Sie denn nicht, dass er atmet?«, meinte Reggie. »Aber betäubt wird er sein! Was, zum Kuckuck, kann nur passiert sein?«

Während er sprach, schüttelte er Matt wieder kräftig an der Schulter, aber ohne jeden Erfolg. Plötzlich schien ihm jedoch etwas eingefallen zu sein, denn er lief durch die Küche in den Schankraum...

»Tom!«, rief er plötzlich.

Der Postbote rannte hinterher. Im Schankraum brannten auch noch die beiden starken Karbidlampen. Zwei Männer lagen in tiefem Schlaf lang ausgestreckt auf dem Boden. Es waren die beiden Touristen, die Reggie gestern Abend kennengelernt hatte. Sie rührten sich nicht, obgleich Reggie sie mehrmals mit dem Fuß anstieß. Dann beugte er sich über die breite Theke und starrte in den schmalen dahinterliegenden Raum. Tom Trehearn folgte ihm; und hier fanden sie Mrs. Ferris, den Arm unnatürlich verbogen und den Kopf auf einer leeren Bierflasche.

»Mein Gott!«, stieß Tom Trehearn hervor; er war ganz blass geworden.

Sowohl er wie Reggie waren ziemlich aufgeregt. Das konnte doch unmöglich die Wirkung eines auch noch so starken Punsches sein. Etwas viel Schlimmeres musste sich im Haus abgespielt haben. Im ersten Augenblick glaubte selbst Reggie, dass Mrs. Ferris tot wäre. Aber nach einer kurzen Untersuchung richtete er sich mit einem Seufzer der Erleichterung auf.

»Sie schläft nur - genau wie der alte Matt«, sagte er heiser. »Betäubt! Sie muss wohl betäubt sein, denn eine andere Erklärung gibt es nicht. Helfen Sie mir doch!«

Vorsichtig hoben sie die Wirtin auf und trugen sie in die große Diele. Sie gab kein Lebenszeichen von sich, sondern sank schlaff zurück, als die beiden sie dort auf ein Sofa legten. Auch Hurst und Brunoff waren für ihre Umwelt nicht zu sprechen. Reggie schüttelte Hurst an der Schulter, aber der Mann rührte sich nicht. Er hob Hursts Augenlid hoch, sein Auge war starr, die Pupille zeigte keine Reaktion.

»Ich verstehe zwar nicht viel von diesen Dingen, aber mir scheint, dass die Pupille vergrößert ist«, meinte er. »Das ist wohl die Wirkung des Betäubungsmittels - großer Gott, Judy! Wo ist denn Judy?« Wieder rannte er, gefolgt von Trehearn, in die Diele. Auch hier brannte noch die Karbidlampe.

»Judy!«, rief Reggie.

Es wurde ihm klar, dass sein Rufen sinnlos war. Deshalb stürmte er die Treppe hinauf - und stürzte beinahe über den Körper von Fred Pickering, der auf dem Treppenabsatz lag.

»Ganz wie die anderen!«, sagte Reggie nach kurzer Untersuchung. »So etwas habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen! Er hat sich wahrscheinlich unwohl gefühlt und versuchte noch sein Zimmer zu erreichen. Aber er kam nur bis hierher. Wo ist nur Judy geblieben?«

Reggie brach der Schweiß aus, als er den Gang entlanglief und die Tür öffnete, die, wie er glaubte, in Judys Zimmer führte. Er hatte sich nicht geirrt: Judy lag quer über dem Bett. Wie alle anderen, war sie zwar bewusstlos, atmete aber ganz normal.

Reggie sah sich im Zimmer um. Sonnenschein fiel durch das Fenster, aber die altmodische Petroleumlampe brannte noch auf dem Kaminsims. Tom Trehearn kam aufgeregt in das Zimmer.

»Auch ohnmächtig?«, flüsterte Tom.

Ja...«

»Sollen wir nicht lieber Doktor Jeffries anrufen, Sir?«, fragte der Postbote. »Wir können ihren Zustand doch nicht beurteilen; vielleicht sind sie in Lebensgefahr. Wenn ich so sehe, wie alle wie die Leichen daliegen, läuft mir ein Schauder über den Rücken.«

»Sagen Sie doch so etwas nicht!«, herrschte Reggie ihn an und sah besorgt auf Judys blasses Gesicht. »Gott sei Dank scheint es nichts Ernsthaftes zu sein. Aber wie Sie sagen: mit Sicherheit wissen wir es nicht. Natürlich rufen wir einen Arzt an! Wie, sagten Sie, heißt er? Jeffries? Wissen Sie seine Telefonnummer?«

»Moreton Abbott 6«, sagte der Postbote, als sie das Zimmer verließen. »Und Phil Burton könnten wir auch gleich anrufen, Sir.«

»Wer ist denn Phil Burton?«

»Der Polizeisergeant in Moreton Abbott. Er ist übrigens mein Schwager.«

»Hm - ich weiß nicht recht«, meinte Reggie zweifelnd. »Das sieht doch nicht wie ein Fall für die Polizei aus, und Mrs. Ferris wird es vielleicht nicht recht sein, wenn wir die Polizei hinzuziehen. Dem alten Charley wohl auch nicht. Ich hörte, dass er überhaupt ein bisschen exzentrisch sei.« Reggie hielt inne. »Was ist überhaupt mit dem alten Charley? Wir müssen ihm wohl Bescheid sagen? Ich weiß, wo sein Zimmer liegt.«

Er brach ab und lief durch den Gang zu der Eichentür. Die Tür war wie üblich verschlossen; auf Reggies zögerndes, leises Klopfen rührte sich nichts. Kurz darauf stand auch Tom Trehearn schweratmend vor der Tür.

»Klopfen Sie doch lauter, Sir!«

Reggie tat es.

»Mein Gott - der alte Mann wird wohl auch betäubt sein«, sagte er aufgeregt. »Aber ich verstehe gar nicht...«

Er brach ab. »Mir ist das alles unheimlich. Der alte Charley wird doch nicht auch unten gewesen sein und mitgesoffen haben.«

»Sie meinen - den Punsch, von dem Sie vorhin sprachen?«

»Natürlich. Irgendetwas muss sie doch eingeschläfert haben!« Reggie wandte sich um. »Ich werde doch Ihren Schwager anrufen, Tom!«, sagte er schließlich. »Langsam glaube ich auch, dass wir es hier mit einem Fall für die Polizei zu tun haben.«

Er rief denn auch sofort an. Sergeant Burton, der gerade beim Frühstück saß, hörte sich Reggies unzusammenhängenden, stockenden Bericht ungläubig an.

»Alle bewusstlos?«, fragte er misstrauisch. »Sind Sie sicher, dass sie nicht nur ein bisschen beschwipst sind? Sie redeten doch von einem Spezialpunsch, den Mr. Tony braute...«

»Aber ist doch Unsinn, Mann«, unterbrach ihn Reggie ungeduldig. »Könnten die Leute denn noch am hellen Morgen bloß von Alkohol so berauscht sein? Das muss doch eine andere Ursache haben, wahrscheinlich ein Betäubungsmittel. Sagen Sie dem Arzt Bescheid, oder soll ich ihn anrufen?«

»Schon gut, Sir. Ich werde den Arzt holen«, antwortete Burton. »Die Geschichte ist wirklich sehr merkwürdig, das muss ich schon sagen. Der Doktor wird mich wohl in seinem Wagen mitnehmen, so dass wir in zwanzig Minuten bei Ihnen sein können.«

»Gut«, sagte Reggie erleichtert. »Je eher, desto besser.«

Er hängte ab. Tom Trehearn sah fassungslos auf die bewusstlosen Gestalten am Boden.

»Die sind ziemlich k.o.«, sagte er und glaubte flüstern zu müssen. »Aber mehr kann ich hier wohl nicht tun. Ich mache mich lieber wieder auf meinen Weg.«

»Nein! Bitte gehen Sie nicht, bevor der Arzt kommt«, sagte Reggie ängstlich. »Ich möchte hier um keinen Preis allein bleiben. Es ist doch ziemlich unheimlich! Können wir denn nichts tun, bis der Arzt kommt?«

Sie versuchten, Mrs. Ferris wieder zum Bewusstsein zu bringen, aber ohne Erfolg. Nachdem sie sich ebenso erfolglos um die beiden Touristen bemüht hatten, ging Reggie zu der Punschterrine und warf einen Blick auf die kalte, bräunliche Flüssigkeit, die noch den Boden bedeckte.

»Eigenartig, wie widerwärtig so ein würziger Punsch aussieht, wenn er kalt geworden ist«, sagte er und verzog das Gesicht. »Dieses Zeug ist doch richtig unappetitlich. Aber sehen Sie nur, Tom, fast die ganze Terrine haben sie ausgetrunken. Ein Glück, dass noch ein Rest übrig ist. Der Arzt kann so wenigstens feststellen, was in dem Gebräu da drin ist.« Er warf dem Postboten einen hilflosen Blick zu. »Ich kann es einfach nicht verstehen. Diesen Punsch hat Tony Bellamy gebraut. Aber man kann doch unmöglich annehmen, dass er absichtlich ein Betäubungsmittel hineingeschüttet hat...« Er brach unvermittelt ab. »Hören Sie! Kommt da nicht ein Wagen?«

Tatsächlich fuhr ein Wagen vor: die Limousine von Dr. Alan Jeffries. Ihr entstiegen der Arzt - ein großer, breitschultriger Mann Mitte Vierzig - und der noch größere Sergeant Burton, dessen rundes, glänzendes Gesicht von der Sonne und dem scharfen Wind, der stets über dem Moor wehte, gebräunt war. Reggie Laker und der Postbote gingen den beiden entgegen.

»Sie sind also auch hier, Tom!«, sagte der Arzt, nachdem er Reggie zugenickt hatte. »Was ist das für eine merkwürdige Geschichte, die mir Phil erzählte. Die Leute hier sollen alle bewusstlos sein?«

»Das stimmt auch, Sir«, antwortete der Postbote. »Ich und dieser Herr hier fanden alle besinnungslos: Mrs. Ferris und ihre Tochter, den alten Matt und noch einige andere, offenbar Gäste. Alle liegen wie die Leichen da, bloß mit dem Unterschied, dass sie atmen. Und im ganzen Hause brannten die Lampen.«

»Sehen Sie sich das doch einmal an, Sir«, sagte der Sergeant.

Sie gingen zusammen wieder ins Haus zurück, und Dr. Jeffries untersuchte zunächst Mrs. Ferris eingehend. Die andern standen schweigend dabei, während er ihr den Puls fühlte, das Herz abhorchte und ihre Augenlider anhob, um sich die Pupillen anzusehen.

»Glücklicherweise ist es nichts Ernsthaftes«, meinte der Arzt schließlich. »Sie muss wohl ein starkes Schlafmittel eingenommen haben. Aber wir können nichts tun, bevor sie wieder zu sich kommt. Dann werden wir ihr einen starken Kaffee zu trinken geben.«

»Könnten Sie nicht auch in den ersten Stock gehen und sich Judy ansehen?«, fragte ihn Reggie ängstlich. »Sie liegt oben in ihrem Schlafzimmer...«

Der Arzt blickte ihn freundlich an.

»Sie sind doch der junge Mann, der auf dem Moor malt?«, fragte er. »Ich habe Sie schon ein- oder zweimal im Vorbeifahren gesehen. Sie nennen das Mädel also Judy? Sie kennen die junge Dame wohl recht gut?«

»Nicht so gut, wie ich gern möchte«, antwortete Reggie ganz offen und lächelte. »Aber hier in der Gegend nennt man sich doch gleich beim Vornamen. Ich bin allerdings nur auf Ferien hier. - Könnten Sie nicht doch hinaufgehen und sie sich ansehen?«

Der Arzt hatte inzwischen William Hurst und Zennan Brunoff kurz untersucht.

»Ja - genau dasselbe«, sagte er und steckte sein Hörrohr ein. »Ich kann noch nicht genau sagen, womit sie betäubt wurden.«

»Das Zeug muss jedenfalls in dem Punsch gewesen sein, den sie getrunken haben«, unterbrach ihn Reggie und wies auf die Punschterrine. »Hier ist noch etwas von dem Punsch übrig...«

»Schön, das erleichtert jedenfalls die Untersuchung«, sagte Jeffries. »Aber wer ist denn so verrückt gewesen, ein ganzes Haus voll Menschen einzuschläfern? Und warum? Aus welchem Grunde? Ist vielleicht die Kasse aufgebrochen oder sonst etwas gestohlen worden?«

»Genau das gleiche wollte ich auch schon fragen«, nickte der Sergeant.

»Mein Gott! Daran haben wir noch gar nicht gedacht«, sagte Reggie und schlug sich mit der Hand vor den Kopf. »Aber, verdammt noch mal, den Punsch hat doch Tony Bellamy gebraut. Wollen Sie etwa andeuten, dass Bellamy...?«

»Die Kasse ist in Ordnung«, unterbrach ihn der Sergeant, der inzwischen die altmodische Registrierkasse untersucht hatte. »Münzen sind noch da, und auch eine ganze Menge Banknoten. Es sieht so aus, als ob nichts fehlt.«

»Und was ist mit Mr. Widden?«, fragte Jeffries plötzlich. »Den hätte ich beinahe vergessen. Ist er in demselben Zustand wie die andern?«

»Das wissen wir auch nicht. Deshalb habe ich doch die Polizei angerufen«, sagte Reggie. »Ich weiß zwar nicht, wie es mit ihm steht; aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er heruntergekommen ist und mitgezecht hat.«

»Ich auch nicht«, sagte der Arzt und schüttelte den Kopf. »Ich behandle den alten Charley schon seit Jahren, wenn ihm wirklich mal was fehlt, denn er hat eine Pferdenatur. Aber ich weiß, dass er außer Whisky nichts trinkt. Über heißen Punsch würde er nur die Nase rümpfen. Haben Sie versucht, in sein Zimmer zu gelangen?«

»Mr. Laker und ich klopften an die Tür, aber er gab keine Antwort«, sagte der Postbote. »Das war es gerade, was uns Angst machte. Ich glaube, Phil, du solltest sofort zu ihm hinauf gehen.«

Sie gingen in den ersten Stock hinauf. Während der Polizeisergeant mit beiden Fäusten gegen die Tür von Charley Widdens Zimmer hämmerte, ging Dr. Jeff ries mit Reggie in Judys Schlafzimmer und untersuchte das Mädchen flüchtig.

»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, junger Mann«, sagte er schließlich. »Es sieht sogar so aus, als ob sie als erste wieder aufwachen wird. Wahrscheinlich hat sie weniger getrunken als die andern und dann hat sie eine sehr gute Konstitution.« Nach dieser Untersuchung ging er mit Reggie zu Sergeant Burton, der noch vor der Tür von Mr. Widdens Zimmer stand.

»Der alte Mann rührt sich nicht, Sir«, sagte der Polizist kopfschüttelnd. »Was sollen wir tun? Er wird wohl auch betäubt sein, wie die andern. Merkwürdig! Wenn er, wie Sie meinen, von dem Punsch nichts getrunken hat - warum gibt er dann keine Antwort? Aber diese Tür kann ich nicht aufbekommen. Sie ist verschlossen. Der Schlüssel wird wohl von innen stecken.«

»Nein«, sagte der Arzt, der sich niedergebückt hatte und durch das Schlüsselloch spähte. »Aus irgendeinem Grunde zog Widden den Schlüssel immer ab.«

»Das stimmt«, fiel Reggie rasch ein. »Dasselbe hat man mir auch gesagt. Sobald er in seinem Zimmer ist, schließt er ab und legt den Schlüssel auf den Tisch. Können Sie denn nichts sehen?«

»Dazu ist es zu dunkel«, murmelte der Arzt, dessen Nasenflügel bebten. »Ich kann nichts sehen, aber - riechen. Sergeant«, fügte er ernst hinzu, als er sich aufrichtete, »versuchen Sie die Tür aufzubrechen.«

Der Sergeant, der sich vergeblich bemüht hatte, die kleine Klappe im Oberteil der Tür zu heben, starrte ihn verwundert an.

»Aufbrechen?«, wiederholte er. »Unmöglich, Sir!« Seine Stimme klang ganz entsetzt. »Der alte Charley würde mir bei lebendigem Leibe die Haut abziehen, wenn ich seine kostbare Tür aufbräche! Sie haben keine Ahnung, wie stolz er darauf ist! Vor Jahren ließ er sie aus einem alten Schloss heranschaffen, und Tim Huggins und seine Leute brauchten drei volle Tage, um den alten Türrahmen herauszubrechen und einen neuen einzusetzen, der stark genug war, um diese Tür zu tragen. Das ist dickes, solides Eichenholz!«

»Mir ist es völlig egal, ob Mr. Widden etwas dagegen einzuwenden hat oder nicht - ich verlange, dass die Tür geöffnet wird!«, sagte Jeffries scharf. »Mit einem Vorschlaghammer und einem Brecheisen sollte das möglich sein. Stehen Sie doch nicht herum und starren mich an! Tun Sie lieber, was ich Ihnen sage!«

»Aber warum denn, Doktor«, sagte Reggie, als Burton zögernd weggegangen war. »Ist es denn so eilig? Sie sagten vorhin, Sie würden etwas riechen...«

»Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf!«, sagte der Arzt und zog die Stirn kraus. »Vielleicht habe ich mich auch geirrt. Mein Gott, was veranlasste den alten Widden nur, sich hinter einer derartig massiven Tür zu verschanzen? Ich habe ihn mehr als einmal deswegen ausgelacht, aber er antwortete immer nur, ich solle mich lieber um meine eigenen Sachen kümmern.«

Während sie auf Burton warteten, hoben sie Fred Pickering auf, trugen ihn in ein nahe gelegenes Zimmer und legten ihn dort auf ein Bett.

»Schlagen Sie möglichst am Schloss gegen die Tür«, sagte Jeffries, als der Sergeant schließlich mit einem riesigen Vorschlaghammer und einem verrosteten Stemmeisen wiederkam. »Und versuchen Sie, das gebogene Ende des Stemmeisens so zwischen Tür und Angel zu bringen, dass wir es als Hebel benutzen können.«

Das erwies sich jedoch als unmöglich, weil der Spalt zwischen Tür und Angel nicht groß genug war; deshalb bearbeitete Burton die Tür mit dem Hammer. Die andern standen daneben, während der Sergeant mit dem schweren Hammer mehrmals gegen das Holz in der Nähe des Schlosses schlug. Im ganzen Haus hallten die Schläge dumpf wider, aber in dem Zimmer rührte sich nichts.

»So kommen wir nicht weiter, Sir«, stöhnte der Sergeant und machte eine Pause.

»Doch!«, sagte Jeffries, als er die Tür untersucht hatte. »Hier klafft schon ein ziemlich breiter Spalt zwischen Tür und dem Pfosten. Jetzt können wir wenigstens das Stemmeisen ansetzen.«

Das Stemmeisen wurde hineingeschlagen; Reggie hielt es fest, während der Sergeant es mit dem Hammer tiefer in den Spalt hineintrieb. Dann stemmten sich alle drei zusammen gegen das schwere Eisen, und mit einem plötzlichen Krachen sprang die Tür, deren schwerer Riegel durch den Druck abgerissen war, nach innen auf.

Als erster betrat Jeffries das Zimmer, in das kein Tageslicht drang, weil das Fenster durch schwere hölzerne Läden verschlossen war. Eine brennende Petroleumlampe erleuchtete nur den großen Tisch, der in der Mitte des Zimmers stand. Sonst lag das Zimmer im Dunkeln.

»Er ist gar nicht hier«, murmelte Reggie verwundert.

In der Tat schien niemand in dem Zimmer zu sein. Plötzlich blieb Jeffries, der zögernd weitergegangen war, hinter dem Tisch stehen.

»Großer Gott!«, murmelte er entsetzt.

Charles Widden lag, den Kopf in einer großen, fast schon getrockneten Blutlache, auf dem Teppich: Er war aus geringer Entfernung durch einen Schuss in die linke Schläfe getötet worden, wie die Pulverspuren auf seiner Haut bewiesen. Die rechte Kopfseite war völlig zerschmettert worden. Seine Hand krampfte sich noch um einen alten Armeerevolver.

»Hier haben Sie des Rätsels Lösung«, sagte der Arzt erschüttert. »Der alte Herr hat alle im Hause betäubt und sich anschließend erschossen.«

Drittes Kapitel

 

 

»Er war eben verrückt«, sagte Sergeant Burton, als er auf den toten Mann hinabblickte. »Er war nie ganz richtig im Kopf, wenn Sie mich fragen. Wie lange wird er denn schon tot sein?«

Jeffries, der die Hand auf die Stirn des Toten gelegt hatte, erhob sich wieder.

»Seit mehreren Stunden«, antwortete er. »Er muss sich gestern Abend, kurz nach der Sauferei, erschossen haben.«

»Wie entsetzlich!«, murmelte Reggie und warf einen raschen Blick auf den Toten. »Warum mag sich der Alte das Leben genommen haben?« Er wandte sich ab, als könnte er den Anblick nicht länger ertragen. »Aber, mein Gott, Sie haben doch etwas geahnt, Doktor! Warum ließen Sie sonst die Tür aufbrechen?«

»Ich wusste es auch nicht bestimmt«, brummte der Arzt. »Aber als ich versuchte, durch das Schlüsselloch zu sehen, nahm ich einen schwachen Pulvergeruch wahr. Eine schlimme Sache ist das! Sie werden sich wohl mit Ihrem Vorgesetzten in Tavistock in Verbindung setzen müssen, Phil - und zwar je eher, desto besser.«

»Gewiss, Sir«, sagte der Sergeant und sah sich unsicher im Zimmer um. »Ich möchte nur darum bitten, dass niemand etwas anfasst, denn Inspektor Holbrook achtet immer genau darauf, dass die Vorschriften befolgt werden.«

Er lief zum Telefon, während Dr. Jeffries und Reggie zu Tom Trehearn hinausgingen, der im Gang vor dem Zimmer gewartet hatte. Der Postbote sah ernst aus.

»Er hat sich also umgebracht?«, fragte er leise. »So etwas habe ich mir schon gedacht, Sir.«

»Er muss gewusst haben, dass ein Punsch gebraut wurde, und in einem Augenblick, wo er sich nicht beobachtet fühlte, wird er das Schlafmittel in die Terrine geschüttet haben«, sagte der Arzt. »Es ist nicht schwer sich irgendein Brompräparat zu verschaffen - und in einem Punsch, der heiß und gewürzt ist, schmeckt man es nicht. Als alle betäubt waren, ging er dann in sein Zimmer hinauf, riegelte die Tür ab und erschoss sich.«

Als Inspektor Holbrook von Tavistock ankam, schien Mrs. Ferris langsam wieder zur Besinnung zu kommen. Judy hatte sogar schon die Augen geöffnet, als der Arzt wieder zu ihr ins Zimmer trat; aber sie war noch immer völlig benommen.

Inspektor Holbrook, ein großer, schlanker Mann, war in einem schnellen Wagen von Tavistock herübergekommen. Er redete nur wenig - ganz im Gegensatz zu dem Sergeanten, der nur langsam und umständlich denken konnte. Wortlos - wenn auch ungeduldig - hörte sich Inspektor Holbrook Burtons stockenden Bericht an. Dann stieg er in den ersten Stock hinauf.

»Klarer Fall von Selbstmord!«, sagte er, nachdem er die Leiche flüchtig untersucht hatte. »In einem so hermetisch abgeschlossenen Zimmer kommt etwas anderes überhaupt nicht in Frage.«

»Das glaube ich auch. Die Tür war fest verschlossen - und hier auf dem Tisch liegt noch der Schlüssel«, sagte der Arzt und wies auf einen riesigen, antiken Bronzeschlüssel. »Hinter den Fensterläden befinden sich starke Eisengitter, und die Läden selbst sind, wie Sie sehen, von innen festgehakt.«

»Öffnen wir sie doch - und das Fenster auch«, sagte Holbrook. »Die Luft hier drinnen ist schauderhaft. Wissen Sie, ob sich gestern Abend etwas Besonderes ereignete, was den Alten zu seinem Schritt getrieben haben könnte?« Sein Blick heftete sich auf Reggie, der an der Tür stand »Sie waren doch, wie mir gesagt wurde, gestern auch hier, nicht wahr?«

»Ja, ich war hier«, antwortete Reggie und zuckte mit den Schultern. »Aber ich bin ein Fremder - ein Gast. Schlafen tue ich in einem Zelt auf dem Moor, und nur abends komme ich zum Essen und auf ein Glas Bier hierher.«

»Das hat mir der Sergeant bereits erzählt«, meinte Holbrook. »Wissen Sie aber über diese Zecherei von gestern Abend noch mehr? Sie nahmen doch daran teil, nicht wahr?«

»Nein. Tony Bellamy hatte alle eingeladen - weil er gestern Geburtstag hatte, wie er sagte; ich war jedoch nicht eingeladen, denn Tony kann mich nicht leiden. Bevor der Punsch hereingetragen wurde, verließ ich das Haus. Sie müssen sich also schon bei jemand anders danach erkundigen...« Reggie brach nachdenklich ab. »Ob der Alte einen besonderen Grund gehabt hat. Ich weiß es nicht - und es geht mich ja auch nichts an.«

»Wenn Sie irgendetwas wissen, Sir, sind Sie verpflichtet, mich davon zu unterrichten.«

»Bestimmt ist es nicht wichtig«, sagte Reggie zögernd. »Aber dieser Pickering - der Mann, der bewusstlos oben auf der Treppe lag, Doktor -, also dieser Mann ging gestern Abend zu Mr. Widden hinauf, und als er wieder herunterkam, schien er ziemlich wütend zu sein.«

»Sie meinen, er hatte eine Auseinandersetzung mit Mr. Widden?«

»Das habe ich nicht gesagt. Ich sagte nur, dass er wütend zu sein schien, als er wieder herunterkam. Sie müssen ihn schon selbst fragen, was oben losgewesen ist.«

»Eigenartig, dass alle betäubt wurden«, sagte der Inspektor und zog die Stirn kraus. »Wenn der alte Widden den Punsch selbst gebraut hätte, könnte ich es noch verstehen. Aber das Ganze war doch wohl ein Einfall vom jungen Mr. Bellamy! Hm - Sir Richard wird nicht gerade entzückt sein. Er ist sowieso sehr leicht gereizt, und wenn sein Sohn jetzt wegen einer Sauferei in diese Sache hineingezogen wird...«

»Großer Gott! Tony habe ich ja ganz vergessen«, unterbrach Reggie ihn aufgeregt. »Ich sprach gerade mit Tom Trehearn darüber, als ich Ihren Wagen kommen hörte, Doktor. Und nachher habe ich es ganz vergessen.«

»Was haben Sie vergessen?«, fragte Holbrook.

»Die Sache mit Tony.«

»Was ist denn mit ihm los?«

»Das war so: Tony wurde gestern Nacht ziemlich ausfallend. Er schrie mich an, dass ich mich hinausscheren solle - eigentlich kann ich Ihnen gleich den Grund verraten«, sagte Reggie entschlossen. »Tony hat auf Judy - die Tochter von Mrs. Ferris - ein Auge geworfen; und niemand kann mir einreden, dass er dabei ehrliche Absichten verfolgt. Leute seiner Art flirten nicht mit einer Gastwirtstochter, wenn sie nicht hoffen, ein bestimmtes Ziel damit zu erreichen. Aber ich habe Judy wirklich gern, und deshalb nahm ich diesem Burschen übel, wie er sich auf führte.«

Der Inspektor lächelte.

»Ich glaube, ich kann Sie verstehen, Sir«, sagte er trocken. »Sie sind also - sagen wir einmal: Rivalen, wie? Und darum lud Mr. Bellamy Sie auch nicht zu seiner Gesellschaft ein.«

»Er war alles andere als nüchtern, als er den Punsch braute«, sagte Reggie. »Ich merkte deutlich, dass Mrs. Ferris sich Sorgen machte, und da ich keine Schlägerei anfangen wollte...«

»Daraus kann man Ihnen keinen Vorwurf machen, junger Mann«, unterbrach ihn der Arzt. »Sie sind wohl Tony auch kaum gewachsen. Sie kennen ihn doch auch, Inspektor? Ein großer, bärenstarker junger Mann.«

»Ja, ich kenne ihn«, sagte Holbrook und nickte. »Mehr als einmal hat er in Tavistock Klamauk gemacht. Er ist ein ziemlicher Radaubruder, der junge Bellamy, und es war manchmal nicht leicht für mich, mit ihm fertig zu werden - denn sein Vater hat in der Gegend sehr viel Einfluss«, fügte er leise zu dem Arzt gewandt, hinzu. »Er gehört nicht nur zum alten Landadel, sondern ist auch Friedensrichter.«

»Und deshalb müssen Sie Tony mit Samthandschuhen anfassen, was?«, fiel Reggie ein und schnaufte verächtlich. »Jedenfalls wollte ich mich gestern Abend nicht von ihm zusammenschlagen lassen, und deshalb wehrte ich mich auch nicht, als er mich mit Gewalt zur Tür hinausstieß. Aber wütend war ich trotzdem, als ich in mein Zelt zurückkehrte.«

»Durchaus verständlich«, stimmte der Inspektor zu. »Ist das alles, was Sie mir zu berichten haben?«

»Nein - die Hauptsache kommt erst. Tom Trehearn wunderte sich schon, warum Tony nicht wie die anderen bewusstlos hier liegengeblieben ist«, sagte Reggie. »Ich glaube, ich kann es erklären, denn ich weiß, was mit ihm geschah.«

»Kommen Sie doch endlich zur Sache, Sir«, sagte Holbrook ungeduldig.

»Kurz nachdem ich in meinem Zelt angekommen war, hörte ich auf der Straße nach Morlton Abbott ein Auto«, sagte Reggie. »Und als ich hinübersah, konnte ich im Dunst die Scheinwerfer des Wagens erkennen. Ich dachte an gar nichts, bis mir auffiel, dass der Wagen anscheinend im Zickzack fuhr und dass das Motorengeräusch so klang, als hätte der Fahrer Schwierigkeiten beim Schalten. Plötzlich blieb das Auto stehen, und der Motor verstummte, während die Scheinwerfer nach oben leuchteten. Nanu, dachte ich, da ist sicher etwas passiert! Es sah aus, als wäre das Auto in den Graben gefahren. Vielleicht braucht jemand Hilfe, dachte ich, und lief über das Moor zu der Unglücksstelle. Es war Tonys Wagen, der in den Straßengraben gerutscht war, und Tony selbst klemmte sternhagelblau hinter dem Lenkrad. Anscheinend war er nicht nur betrunken - aber das konnte ich gestern noch nicht wissen.«

»Was taten Sie daraufhin?«

»Der Wagen war unbeschädigt - er stand nur mit den Hinterrädern im Graben -, und ich konnte doch den Fahrer nicht gut seinem Schicksal überlassen«, antwortete Reggie und zuckte die Schultern. »Ich rief ihn an und rüttelte ihn, aber ohne Erfolg. Das einzige, was mir übrigblieb, war also, ihn nach Hause zu bringen - und so zog ich ihn hinter dem Lenkrad hervor, fuhr den Wagen aus dem Graben heraus und brachte ihn zum Gutshaus. Dort gelang es mir, Tony aus dem Auto herauszubekommen, obwohl er so blau war, dass er mich gar nicht erkannte. Er zog seinen Schlüssel heraus, ich schloss die Haustür auf und schob ihn hinein. Mehr konnte ich für ihn nicht tun.«

»Bei dem angespannten Verhältnis zwischen Ihnen beiden war das sehr anständig von Ihnen«, sagte der Arzt freundlich. »Natürlich litt Tony bereits unter der Wirkung des Schlafmittels. Wahrscheinlich hat der Alkohol, den er schon vor dem Punsch getrunken hatte, die Wirkung des Schlafmittels so lange hinausgezögert!«

»Ja. Sir, das glaube ich auch«, nickte der Inspektor. »Alle tranken von seinem Punsch, aber nur Mr. Bellamy war noch in der Lage, das Haus zu verlassen. Er fühlte sich wohl schwer benebelt und wollte nach Hause, solange es noch ging. Als er jedoch im Wagen saß, fing das Mittel an zu wirken - darum fuhr der Wagen auch im Zickzack und schließlich in den Graben. Ich werde mir den jungen Bellamy wohl vorknöpfen müssen, wenn ich hier fertig bin.«

Holbrook wollte möglichst schnell in sein Büro nach Tavistock zurück. Der Tod von Charley Widden war ein klarer Fall von Selbstmord und erforderte kaum weitere polizeiliche Nachforschungen. Nur das Schlafmittel in Tony Bellamys Punsch passte nicht ganz in diese unglückliche Geschichte - aber für den Inspektor bestand kaum ein Zweifel, dass der alte Charley erst den Entschluss zum Selbstmord gefasst und dann selbst das Brompräparat - oder was es sonst war - in die Terrine geschüttet hatte, um nicht gestört zu werden. Es war nichts anderes als der sonderbare Einfall eines Mannes, dessen Geist schon gestört war.

Die Betäubten schienen sich inzwischen alle zu erholen. Dr. Jeffries kümmerte sich hauptsächlich um Mrs. Ferris, der er gut zuredete, möglichst viel von dem starken Kaffee zu trinken - und so heiß, wie sie ihn nur herunterbekommen konnte. Daraufhin kam sie tatsächlich rasch wieder völlig zum Bewusstsein.

»Mein Kopf!«, stöhnte sie nur. »Er tut so furchtbar weh. Ich weiß gar nicht...« Sie brach ab, als sie an sich heruntersah. »Warum habe ich denn dieses Kleid an? Und das am hellen Vormittag!« Verwundert blickte sie in das Sonnenlicht, das durch das Fenster hereinfiel, und schrak dann zusammen. »Ich weiß gar nicht...« flüsterte sie. »Bin ich denn krank? Wahrscheinlich, denn sonst würden Sie wohl nicht hier sein, Doktor.«

»Aber nein, Mrs. Ferris«, beruhigte der Arzt sie. »Sie werden in ganz kurzer Zeit wieder restlos auf dem Damm sein. Sie brauchen gar keine Angst zu haben! Aber in dem Punsch, den Sie gestern Abend getrunken habe war irgendetwas...«

»Gestern Abend?«, fiel sie ihm ins Wort und versuchte sich aufzusetzen. »Mir ist alles so wirr - was macht er denn hier?« Sie wies mit zitterndem Finger auf Holbrook. »Warum ist denn die Polizei hier?«

Der Inspektor versuchte zuerst, sie zu beruhigen; dann entschloss er sich jedoch, ihr die ungeschminkte Wahrheit zu sagen. Es hatte keinen Zweck, die Dinge noch zu beschönigen.

»Ich habe Ihnen leider eine traurige Nachricht mitzuteilen«, sagte er brummig. »Mr. Widden ist tot.«

Ihr eben noch rotes Gesicht wurde ganz blass, und sie bemühte sich verzweifelt, aufzustehen.

»Nein!«, stöhnte sie. »Das kann ich nicht glauben - Mr. Widden tot! Er war doch so kräftig und gesund.« Die Tränen traten ihr in die Augen und liefen ihr über die Wangen. »Tot...«, flüsterte sie. »Wollen Sie - wollen Sie damit sagen, dass ein Unglück passiert ist?«

»Ja, Mrs. Ferris, eine Art Unfall«, sagte der Arzt ruhig. »Ich weiß, dass es für Sie ein schwerer Schlag ist, aber Sie sind doch eine ruhige und tapfere Frau; und deshalb ist es besser, dass Sie von vornherein die Wahrheit erfahren.«

»Sie verheimlichen mir noch etwas«, antwortete Mrs. Ferris gepresst. »Warum sprechen Sie in Rätseln? Was meinen Sie denn mit eine Art Unfall?«

»Der alte Mr. Widden hat sich das Leben genommen«, sagte der Inspektor zögernd.

Selbst der Arzt war erschreckt über die Reaktion, die diese Nachricht bei Mrs Ferris auslöste. Einige Sekunden lang starrte sie die Männer ungläubig an; dann brach sie in ein wildes, hysterisches Lachen aus.

»Das ist nicht wahr!«, rief sie und zitterte an allen Gliedern. »Der alte Charley - und Selbstmord? Nie - nie - nie! Das glaube ich nicht! Das ist eine Lüge - eine elende, gemeine Lüge!«

Ihr Ausbruch endete so plötzlich, wie er begonnen hatte, und schluchzend sank sie wieder zurück. Holbrook, der sich noch unbehaglicher fühlte als vorher, wartete, bis sie sich beruhigt hatte.

»Ich hätte es Ihnen doch nicht gesagt, Mr. Ferris, wenn es nicht wahr wäre«, brummte er. »Aber leider hat sich Mr. Widden tatsächlich das Leben genommen. Es gibt gar keine andere Erklärung.«

»Das hätte er nie getan - nie!«, murmelte sie und warf sich hin und her. »Machen Sie mir doch nichts vor.«

»Seine Tür war von innen abgeschlossen, Mr. Ferris, und der große Schlüssel lag auf dem Tisch«, sagte Holbrook. »Wir mussten die Tür aufbrechen, um in das Zimmer hineinkommen zu können. Und die Fensterläden waren auch von innen geschlossen. Mr. Widden hat sich erschossen - nachdem er alle Menschen im Haus betäubt hatte.«

»Er hat sich erschossen?«, stieß sie hervor. »Aber das ist doch nicht möglich! Wie hätte er sich denn erschießen können?« Plötzlich richtete sie sich auf, ihre Augen weiteten sich vor Angst.

»Ihnen fiel wohl gerade ein, Mrs. Ferris, dass Mr. Widden einen geladenen Revolver in seinem Zimmer hatte, nicht wahr?«, fragte der Inspektor.

»Ja«, flüsterte sie. »Aber trotzdem kann ich es nicht glauben! Und was soll das heißen: alle im Hause wären betäubt worden?«

»Von dem Punsch, den Tony Bellamy gestern Abend braute. Mrs. Ferris«, erklärte der Arzt. »Dieser Punsch enthielt ein starkes Schlafmittel. Wissen Sie, ob jemand unbemerkt an den fertigen Punsch herankonnte - wenn auch nur für ein paar Minuten? Tony braute den Punsch doch wohl in der Küche?«

Sie dachte nach.

»Ja, als er fertig war, brachte er ihn herein«, sagte sie schließlich. »Das war im gleichen Augenblick, als ich mich ärgerte, dass er Mr. Laker aus dem Hause wies. Matt war um diese Zeit immer in der Küche, aber es ist auch möglich, dass er nicht in der Küche, sondern auf dem Hof war.«

»Es ist also nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich, dass sich ein paar Minuten lang niemand in der Küche aufhielt, während der Punsch auf dem Tisch stand«, sagte der Inspektor. »Und noch etwas, Mrs. Ferris: Konnte Mr. Widden die Küche ungesehen betreten?«

Sie öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder.

»Nun?«

»Warum reden Sie eigentlich die ganze Zeit nur über den Punsch?«, fragte sie und stand unsicher auf. »Natürlich kann man auch über die Hintertreppe in die Küche kommen«, sagte sie trotzig. »Aber glauben Sie denn etwa, dass Mr. Widden etwas so Idiotisches getan hätte? Warum wäre er denn dann wohl im Schlafrock heruntergekommen und hätte um Ruhe gebeten, als Mr. Bellamy anfing zu singen?«

Die Männer, die ihr zuhörten, waren vollkommen verblüfft.

»Mein Gott - tatsächlich?«, fragte der Arzt scharf. »Er ist also hier unten gewesen?«

»Das kam nur vom Punsch. Wir hatten davon getrunken - Mr. Tony zwang mich sogar dazu«, unterbrach sie ihn. »Plötzlich erschien Mr. Widden in höchstem Zorn und wies Mr. Tony aus dem Haus. Hätte er das etwa getan, wenn er ein Schlafmittel in den Punsch geschüttet hätte?«

»Diese Frage können wir nicht beantworten, Mrs. Ferris«, sagte der Inspektor und warf Jeffries einen fragenden Blick zu. »Aber natürlich sieht jetzt alles anders aus. Was geschah denn, nachdem Mr. Widden wieder in sein Zimmer gegangen war?«

»Daran kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Ich sagte nur zu Mr. Tony, er sollte lieber fortgehen, und ich glaube, er tat es dann auch. Ja - er ging dann fort; jetzt erinnere ich mich genau, denn ich schloss hinter ihm die

Tür ab. Als ich wieder zurückkehrte, fühlte ich mich nicht wohl. Ich wollte noch aufräumen, und ging hinter die Theke...« Sie brach mit einem hilflosen Blick ab. »Was dann geschah, weiß ich nicht mehr.«

»Sie brachen hinter der Theke zusammen«, sagte der Arzt ruhig. »Dort fanden wir Sie vorhin.«

»Bestimmt haben Sie aber irgendetwas übersehen«, sagte sie beharrlich. »Mr. Widden hat sich bestimmt nicht das Leben genommen. Bitte führen Sie mich zu ihm.«

»Lieber nicht, Mrs. Ferris«, sagte der Inspektor.

»Aber ich bestehe darauf! Seit dreizehn Jahren ist er mein Arbeitgeber, und wenn er auch manchmal etwas eigenartig war - mir gegenüber benahm er sich stets freundlich und großzügig. Ich habe ein Recht darauf, ihn zu sehen!«

Reggie, der inzwischen kein Wort gesagt hatte, glaubte jetzt eingreifen zu müssen.

»Seien Sie doch vernünftig, Mrs. Ferris«, sagte er und kam näher. »Sie sind noch nicht ganz beieinander. Mr. Widden liegt außerdem noch genauso da, wie wir ihn fanden. Sie werden nur einen neuen Schock bekommen, wenn Sie ihn sehen. Sie können sich nicht vorstellen, wie entsetzlich...« Er brach unvermittelt ab. »Sie können doch nichts mehr für ihn tun.«

»Ich danke Ihnen, Mr. Laker. Bestimmt meinen Sie es gut«, antwortete Mrs. Ferris. »Aber ich möchte Mr. Widden sehen - so, wie er jetzt ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich das Leben genommen hat; und nichts kann mich dazu bringen, meine Ansicht zu ändern.«

Jetzt verlor Inspektor Holbrook die Geduld.

»Also gut, Mrs. Ferris«, sagte er nur. »Ich werde Sie jetzt hinbringen. - Nein, Mr. Laker«, fügte er hinzu, als Reggie noch etwas sagen wollte, »bitte, mischen Sie sich nicht ein. Wir haben Mrs. Ferris gewarnt, und sie weiß, was sie tut.«

Er warf dem Arzt einen Blick zu, den Jeffries sofort verstand. Der Inspektor schien zu glauben, dass man Dr. Jeffries’ Hilfe bald brauchen werde.

Holbrook voran, gingen sie die Treppe hinauf. Vor der schweren Eichentür trat der Inspektor beiseite. Mrs. Ferris gab sich einen Ruck, bevor sie das Zimmer betrat.

»Ich werde schon nicht ohnmächtig«, sagte sie fest.

Aber sie schwankte doch und musste sich am Tisch festhalten, als sie den zerschmetterten Kopf des toten Charley Widden sah, der jetzt im hellen Tageslicht noch grauenhafter wirkte als zuvor. Einen Augenblick blieb sie unbeweglich und mit geschlossenen Augen stehen; dann raffte sie ihren ganzen Willen zusammen und sah wieder hin.

»Der arme Mann«, flüsterte sie. »Wie entsetzlich! Ja, das ist sein alter Revolver. Müssen Sie ihn denn so liegenlassen? Können wir ihn denn nicht wenigstens auf sein Bett legen?«

»Sie haben jetzt wohl genug gesehen, Mrs. Ferris«, brummte Holbrook. »Die Lage des Toten dürfen wir nicht verändern, bevor der Leichenbeschauer ihn gesehen hat. Bitte, fassen Sie nichts an.«

»Der Revolver!«, sagte sie plötzlich, und ihre Stimme zitterte vor Erregung. »Sehen Sie sich doch einmal den Revolver an!«

»Was denn?«

»Er hat den Revolver in der linken Hand!«

»Gewiss«, sagte der Inspektor verwundert. »Er schoss sich in die linke Schläfe, und deshalb musste er den Revolver auch mit der linken Hand halten.«

»Aber das ist doch ganz unmöglich!«, rief Mrs. Ferris.

»Warum? Anscheinend wissen Sie nicht, was Sie sagen.«

»Natürlich weiß ich es!«, rief sie erregt. »Ich wusste doch, dass er nicht Selbstmord begangen hat! Er konnte sich gar nicht selbst umbringen!«

»Passen Sie einmal auf, Mrs. Ferris...«

»Aber das ist doch unmöglich!«, rief sie. »Seine linke Hand war von der Gicht so verkrüppelt, dass er die Finger kaum bewegen konnte. Also konnte er mit dieser Hand auch nicht abdrücken!«

 

 

 

Viertes Kapitel

 

 

Dr. Jeffries sah ernst aus.

»Sie sind sich doch darüber klar, was Ihre Worte bedeuten, Mrs. Ferris?«, meinte er. »Wenn Widden nicht selbst abgedrückt hat, muss es ein anderer getan haben - und das bedeutet Mord!«

»Mr. Widden hat auch nicht abdrücken können - nicht mit der linken Hand!« behauptete Mrs. Ferris nach wie vor. »Sehen Sie sich doch seine Hand einmal an, Doktor!«

Jeffries beugte sich zu dem Toten, während Inspektor Holbrook ihn besorgt betrachtete. Er war überzeugt, dass Mrs. Ferris sich irrte. Sie war sehr erregt und glaubte daher wohl nicht, dass der alte Widden Selbstmord verübt hätte. Ihre Reaktion war verständlich.

»Nun?«, fragte Mrs. Ferris, als der Arzt wieder aufstand.

»Seine linke Hand ist zwar von der Gicht ziemlich verkrümmt, aber trotzdem glaube ich, dass er sie benutzen konnte«, meinte Jeffries vorsichtig. »Als ich ihn zum letzten Male sah, klagte er nicht über Gichtschmerzen.«

»Das war doch vor vielen Monaten«, unterbrach ihn Mrs. Ferris. »Damals hatte er auch noch keine Beschwerden. Erst vor ein oder zwei Monaten bekam er die Gicht, und zwar so stark, dass er mit der linken Hand nicht einmal mehr die Pfeife halten konnte.«

»Leider muss ich Ihre Illusionen zerstören, Mrs. Ferris. Mr. Widden kann gar nicht ermordet worden sein«, sagte Holbrook brummig. »Wir mussten nämlich erst die Tür aufbrechen, bevor wir das Zimmer betreten konnten.

Sollte Mr. Widden also ermordet worden sein, hätte der Mörder gar keine Möglichkeit gehabt, das Zimmer zu verlassen.«

»Und er muss mit der linken Hand abgedrückt haben«, fügte der Arzt hinzu, »denn mit der rechten hätte er den schweren Revolver nicht so halten können, dass er sich in die linke Schläfe schießen konnte. Ein Mann in höchster Erregung - und Mr. Widden ist im kritischen Augenblick zweifellos sehr erregt gewesen - ist eben einer Anstrengung fähig, die für ihn normalerweise unmöglich wäre.«

Ein verstockter Ausdruck lag auf dem Gesicht von Mrs. Ferris.

»Es ist trotzdem nicht wahr!«, sagte sie mit verkniffenen Lippen. »Mr. Widden hat sich nicht umgebracht! Ich kenne ihn seit vielen Jahren und ich bin bereit zu beschwören, dass er keinen Selbstmord begangen hat. Sie sagten, dass irgendetwas in den Punsch geschüttet wurde - waren denn alle anderen auch betäubt? Wo ist denn meine Tochter?«

»Ihrer Tochter geht es schon besser, Mrs. Ferris«, sagte der Arzt und führte sie aus dem Zimmer. »Ich werde Sie jetzt zu ihr bringen. Als Mr. Laker und der Postbote heute früh herkamen, waren alle Leute hier im Hause betäubt.«

»Da haben Sie es - verstehen Sie denn nicht?«, unterbrach sie ihn aufgeregt. »Jemand kam her, tötete Mr. Widden und richtete es so ein, dass jedermann hilflos war. Haben Sie denn das Zimmer nicht durchsucht? Ich habe keine Ahnung, was in seinem Geldschrank war - er tat immer sehr geheimnisvoll -, aber er hat vielleicht viel Geld gehabt.«

Inzwischen hatten sie Judys Zimmer erreicht. Das Mädchen hatte sich schon wieder erholt, aber sie war noch immer verwirrt und verängstigt.

»Mama - was ist denn geschehen?«, fragte sie und lief ihrer Mutter entgegen. »Ich habe grässliche Kopfschmerzen und auch mein Magen ist nicht ganz in Ordnung...«

»Nur keine Angst«, unterbrach sie der Arzt. »Sie werden bald wieder frisch und munter sein. Ihre Mutter wird Ihnen erklären, was geschehen ist.«

»Sagen Sie mir nur eins, Miss Ferris«, fiel Inspektor Holbrook unvermittelt ein. »Was ist mit Mr. Widdens linker Hand?«

Er gebrauchte absichtlich das Wort ist und nicht war, da Judith von dem Tod des alten Widden noch nichts wusste und er nicht wollte, dass sie den Grund seiner Frage erriete.

»Seine Hand?«, sagte Judy verwundert. »Mr. Widdens linke Hand? Er hat sie in den letzten fünf oder sechs Tagen überhaupt nicht mehr gebrauchen können!«

»Wissen Sie das genau?«

»Aber ja!«, sagte das Mädchen noch erstaunter. »Wir mussten ihm doch sogar das Fleisch schneiden, weil er Messer und Gabel nicht mehr halten konnte. Mama wollte schon den Arzt rufen, aber er erlaubte es nicht. Er sagte, es würde sicher schon von allein wieder besser.«

»Danke schön«, sagte der Inspektor brummig.

Er machte Jeffries ein Zeichen; beide verließen das Zimmer.

»Das ist allerdings sehr merkwürdig, Doktor«, sagte Holbrook im Flur zu dem Arzt. »Das Mädchen war auf meine Frage völlig unvorbereitet, und gerade darum ist das, was sie von der linken Hand des Toten sagt, so bedeutsam. Wenn Widden beim Essen nicht einmal eine Gabel halten konnte, dürfte er auch den Abzug nicht durchgezogen haben. Ich möchte meinem Vorgesetzten Bericht erstatten und glaube sicher, dass er den Bericht an die Polizeidirektion weiterleiten wird. Vielleicht liegt dieser Fall doch nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick schien.«

Während der Inspektor telefonierte, ging der Arzt in die Diele, in der Reggie nervös auf und ab wanderte.

»Sie ist immer noch nicht heruntergekommen - ich meine Judy.«

»Sie wird bald wieder soweit sein, junger Mann«, unterbrach ihn Jeffries und warf einen Blick auf seine Uhr. »Großer Gott! Meine Sprechstunde hat bereits angefangen. Ich muss zurück. Sie haben wohl nicht viel von dem Alten zu sehen bekommen, Mr. Laker?«

»Nicht viel? Ich habe ihn überhaupt nicht gesehen«, sagte Reggie. »Ich hörte nur, dass er ziemlich exzentrisch wäre, und die Leute meinten, er wäre wohl nicht ganz richtig im Kopf und ein Geizkragen dazu.« Er zuckte die Schultern. »Das ist sicher nur dummes Geschwätz! Aber warum fragen Sie?«

»Ich dachte, Sie wüssten vielleicht etwas von der Gicht in seiner linken Hand«, erwiderte der Arzt. »Mrs. Ferris schwört, dass der Alte den Revolver nicht selbst abgedrückt haben kann - und darüber zerbricht sich Holbrook natürlich den Kopf; denn wenn Widden den Revolver nicht abgedrückt hat, wer dann?«

Reggie machte ein ungläubiges Gesicht.

»Aber das ist doch Unsinn«, wandte er ein. »Der Alte hat ein Schlafmittel in den Punsch getan und sich dann erschossen. Sonst wäre es ja Mord!«

»Gewiss.«

»Aber ein Mord ist doch vollkommen ausgeschlossen«, fuhr Reggie fort. »Ich möchte den sehen, der diese mächtige Tür von innen verschließen, den Schlüssel auf den Tisch legen und dann den Raum verlassen kann.«

»Aber wenn nun ein zweiter Schlüssel existiert«, murmelte der Arzt. »Vielleicht ist das des Rätsels Lösung, und Holbrook ist nur noch nicht auf diesen Gedanken gekommen!«

»Ach, Inspektor«, sagte er, als Holbrook wieder erschien, »mir ist eben etwas eingefallen. Diese Sache mit dem hermetisch verschlossenen Zimmer ist vielleicht nur eine Täuschung. Wenn zu diesem Zimmer nun ein zweiter Schlüssel existierte...«

»Hm - das ist nicht gerade wahrscheinlich, aber immerhin möglich«, stimmte der Inspektor zu und runzelte die Stirn. »Ich werde mich bei Mrs. Ferris erkundigen.« Er war ärgerlich, dass ihm dieser Gedanke nicht selbst gekommen war. »Der Oberinspektor sagte mir, dass er die Mordkommission herschickt. Anscheinend hält er es für notwendig.«

»Ihr Oberinspektor ist also nicht davon überzeugt, dass es sich um Selbstmord handelt?«, fragte Dr. Jeffries.

Die Gelegenheit, Mrs. Ferris nach dem zweiten Schlüssel zu fragen, ergab sich gleich darauf; denn inzwischen hatte sie Judy erzählt, was alles geschehen war, und kam gerade - ruhig und wieder gefasst - die Treppe herunter. Obgleich nun die Existenz eines zweiten Schlüssels ihre Ansicht, dass der alte Widden ermordet worden wäre, gestützt hätte, wies sie eine solche Möglichkeit nachdrücklich zurück

»Nein, es gibt nur den einen Schlüssel«, erklärte sie mit Bestimmtheit. »Ich bin schon dreizehn Jahre hier, and wenn es einen zweiten Schlüssel gäbe, müsste ich ihn doch gesehen haben. Aber Mr. Widden hätte nie einen zweiten anfertigen lassen.«

»Und wenn von dem vorhandenen Schlüssel ein Wachsabdruck gemacht worden wäre?«

»Ein Wachsabdruck? Das ist völlig ausgeschlossen!«, sagte Mrs. Ferris. »Wenn Mr. Widden sein Zimmer verließ, steckte er den Türschlüssel immer in die Tasche.«

Als praktische Geschäftsfrau ließ sich Mrs. Ferris weder durch ihr nächtliches Erlebnis noch durch den tragischen Tod ihres Arbeitgebers von ihren täglichen Pflichten abhalten. Mit Hilfe Judys machte sie sich wieder an die Arbeit.

Inzwischen hatten sich auch der alte Matt Wills, Fred Pickering und die beiden Touristen wieder erholt. Natürlich waren sie ziemlich erschrocken, als sie auf ihre Fragen hin erfuhren, was geschehen war. Aber bald darauf hatten sie auch das überwunden, und nachdem Mrs. Ferris ihnen einen starken Kaffee vorgesetzt hatte, fühlten sie sich wohler.

Auch der Arzt war inzwischen fortgefahren, und langsam lief alles wieder im alten Gleis. Nur Reggie trieb sich noch immer im Hause herum; er konnte sich einfach noch nicht wieder an seine Staffelei setzen. Vielleicht spürte er auch, dass bald eine dramatische Wendung eintreten würde, die er nicht verpassen wollte.

Nach einem weiteren Gespräch mit Mrs. Ferris wollte Holbrook gerade Fred Pickering aufsuchen, der im Garten spazieren ging. Aber vor der Tür stieß der Inspektor auf Reggie, der sich dort mit Nobby beschäftigte. Der Hund war wieder bester Laune und versuchte Reggie das Gesicht zu lecken.

»Was ist denn mit dem Hund los?«, fragte Holbrook.

»Woher kommt denn die grüne Farbe an seiner Brust?«

»Ein Rätsel, das noch zu den übrigen dieser Nacht hinzukommt«, antwortete Reggie grinsend. »Wer beschmierte das Tier mit Farbe? Und warum? Die Antwort könnte recht interessant sein, weil im ganzen Hause keine Farbe herumsteht. Der alte Matt sagte mir, dass er den Farbtopf im Schuppen eingeschlossen hat. Zufällig kann Nobby also nicht an die Farbe herangekommen sein. Aber wo hat er sich sonst vollgeschmiert?«

Der Inspektor betrachtete Reggie verdrossen.

»Haben Sie denn wirklich nichts Besseres zu tun, als sich über solchen Unsinn den Kopf zu zerbrechen, junger Mann?«, fragte er ihn grob. »Der Teufel soll den Köter holen!«

Damit ging er in den Garten.

Holbrook traf Fred Pickering, der mürrisch im Garten auf und ab ging.

»Mr. Pickering?«, fragte der Inspektor kurz. »Mein Name ist Holbrook. leb hörte von Mrs. Ferris, dass Sie gestern Abend bei Mr. Widden waren und eine Auseinandersetzung mit ihm hatten. Stimmt das?«

»Und wenn schon!«

»Mir wurde außerdem gesagt, dass Sie sehr ärgerlich gewesen wären, als Sie wieder herunterkamen.«

»Ist das vielleicht ein Verbrechen?«, antwortete Pickering unwirsch. »Ich kann doch wohl ein wütendes Gesicht machen, wann es mir passt!«

»Aber Charley Widden kam in der letzten Nacht ums Leben - und wir sind nicht restlos davon überzeugt, dass es sich um Selbstmord handelt.«

»Ja, das hörte ich schon. Es ist natürlich eine blödsinnige Annahme, dass der Alte sich nicht selbst erschossen hat; wer denn sonst? Sein Zimmer war doch von innen verschlossen.«

»Das wissen wir selbst!«, unterbrach ihn der Inspektor. »Sagen Sie mir lieber, was sich gestern Abend zwischen Ihnen und Mr. Widden abspielte. Sie waren hinterher ärgerlich und aufgeregt. Hatten Sie etwa Streit mit ihm?«

»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Pickering beunruhigt. »Worauf, zum Teufel, wollen Sie denn hinaus?'

»Auf gar nichts, Mr. Pickering. Ich frage Sie nur, ob Sie Streit mit Mr. Widden hatten.«

»Nein, das nicht«, erwiderte Pickering zögernd. »Ich bat ihn nur, mir Geld zu leihen, und er wollte nicht. Das war alles. Natürlich habe ich mich darüber geärgert.«

»Wieso glaubten Sie, dass Mr. Widden Ihnen Geld leihen werde?«

»Möchten Sie sich nicht lieber um Ihre eigenen Angelegenheiten kümmern?«, entgegnete Pickering grob. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, warum sich der Alte erschoss, aber ich weiß, dass Sie kein Recht haben, mir solche Fragen zu stellen.«

»Sie benehmen sich nicht gerade sehr entgegenkommend, Mr. Pickering!«, herrschte ihn der Inspektor an. »Sie waren immerhin der letzte, der Mr. Widden lebend gesehen hat, und Sie verließen das Zimmer in verärgerter Stimmung. Ich tue nur meine Pflicht und möchte Ihnen raten, mir nichts zu verheimlichen.«

»Ich habe Ihnen gesagt, was ich weiß.«

»Dieser Ansicht bin ich nicht. Sind Sie mit ihm verwandt?«

»Mit dem alten Widden? Natürlich nicht!«

»Sie waren in den letzten Jahren ziemlich oft hier«, sagte Holbrook. »Kamen Sie immer nur, um sich von Mr. Widden Geld zu borgen?«

»Ich denke gar nicht daran, Ihnen darauf zu antworten«, sagte Pickering ärgerlich. »Ich habe Ihnen schon gesagt, dass er mir gestern Abend meine Bitte abschlug. Glauben Sie etwa, dass ich mich noch in der Nacht in sein Zimmer schlich, nachdem ich von dem verdammten Punsch betäubt war? Und dann soll ich ihm wohl eine Kugel durch den Kopf geschossen und mich anschließend durch das kleine Guckloch in der Tür davongemacht haben, was?«

»Sie haben nicht die geringste Veranlassung, sarkastisch zu werden«, sagte der Inspektor scharf, drehte sich um und ging fort.

Pickerings Verhalten missfiel ihm sehr, und er beschloss, den Mann im Auge zu behalten. Im gleichen Moment wurde er jedoch durch das Brummen eines Autos abgelenkt, das sich dem Gasthof näherte.

Wie er erwartet hatte, waren es seine Kollegen aus Tavistock: sie kamen zusammen mit Oberinspektor Parks, seinem unmittelbaren Vorgesetzten. Während Holbrook dem Oberinspektor Bericht erstattete, gingen die Beamten der Mordkommission in Widdens Zimmer. Parks hatte ihnen gesagt, sie sollten sich gleich an die Arbeit machen.

Bevor sie jedoch fertig waren, erschien Dr. Jeffries wieder. Er hatte seine Sprechstunde vorzeitig beendigt und machte bereits Krankenbesuche. Als er den großen Polizeiwagen vor dem Bunten Hund stehen sah, hatte er angehalten und war hereingekommen.

Parks wurde ihm vorgestellt; der Oberinspektor war besonders an der Meinung des Arztes interessiert, wie weit Widden seine linke Hand hatte gebrauchen können. Der Polizeiarzt aus Tavistock war ebenfalls gekommen, und die beiden Ärzte sollten nun diesen Punkt gemeinsam zu klären versuchen.

»Gehen Sie doch bitte noch einmal hinauf, Doktor«, bat ihn der Oberinspektor. »Sobald meine Leute fertig sind, kann die Leiche auf das Sofa oder das Bett gelegt werden, damit Sie sie genau untersuchen können.«

Nachdem Dr. Jeffries gegangen war, sagte Holbrook achselzuckend: »Eine genaue Feststellung wird jetzt wohl kaum möglich sein. Ich bin überzeugt, dass Selbstmord vorliegt und dass wir nur unsere Zeit verschwenden.«

»Aber wir müssen Klarheit schaffen«, meinte Parks. »Ich sprach vor ein paar Minuten mit Mrs. Ferris, und dabei stellte sie eine interessante Frage. Ihre Theorie, Mr. Holbrook. ist doch, dass der alte Widden irgendwie an den Punsch herankam und ein Schlafmittel hineinschüttete, um bei seinem Selbstmord nicht gestört zu werden? Mrs. Ferris sagte mir jedoch, dass der junge Bellamy sich erst nach der Polizeistunde daran machte, den Punsch zu brauen. Wie konnte also Widden überhaupt etwas von dem Punsch wissen? Und wenn er sich tatsächlich in die Küche schlich und das Schlafmittel in die Terrine schüttete - warum kam er dann später noch einmal herunter und befahl wütend, mit dem Lärm aufzuhören? Das ist doch sehr merkwürdig! Es gibt einige Punkte, die sich nicht miteinander in Einklang bringen lassen.«

Sie unterhielten sich in dem kleinen Schankraum, und bald gesellten sich Dr. Jeffries, Dr. Bates - der Polizeiarzt - und der Schusswaffensachverständige zu ihnen. Dieser schien besonders aufgeregt zu sein.

»Hier stimmt etwas nicht, Sir«, wandte er sich an den Oberinspektor. »Das hier ist der alte Armeerevolver, aus dem der tödliche Schuss abgefeuert wurde.« Er zeigte den anderen die schwere Waffe vor. »Das Ding ist von Reynolds schon untersucht worden - auf Fingerabdrücke. Reynolds hat auch welche gefunden und sie fotografiert. Es sind natürlich die des alten Widden.«

»Und was sollte nicht in Ordnung sein?«, fragte Parks. »Jede Kammer des Revolvers war geladen - nur ein Schuss wurde abgegeben«, antwortete Crossley, der Sachverständige. »Aber nehmen Sie die Waffe einmal in die Hand, Sir - ich habe sie entladen. So - und nun versuchen Sie abzudrücken!«

Verwundert kam der Oberinspektor dieser Bitte nach. Er war ein großer, kräftiger Mann. Aber erst nach einer ziemlichen Kraftanstrengung hörte man das leise Knacken, mit dem der Bolzen vorschnellte.

»Verdammt! Das ging aber schwer!«, sagte Parks. »Wie kommt denn das, Crossley?«

»Dieser Revolver ist so alt und ungepflegt, dass alle Teile eingerostet sind«, antwortete Crossley. »Sie mussten selbst alle Kraft aufwenden, um den Abzug durchzuziehen. Ich bezweifle, dass ein alter Mann wie Widden das hätte tun können, noch dazu, wenn er den Revolver an die Schläfe setzen musste. Mit gichtigen Fingern wäre es absolut unmöglich gewesen.«

»Teufel noch mal!«, rief Holbrook aus. »Sind Sie Ihrer Sache absolut sicher, Crossley?«

Der Sachverständige nickte.

»Übrigens wies mich Dr. Bates noch auf etwas anderes hin«, sagte nun Dr. Jeffries. »Auf der rechten Kopfseite - unter seinem Haar verborgen - hat der alte Mann eine ziemlich erhebliche Beule. Er muss also einen heftigen Schlag bekommen haben.«

»Es besteht auch kein Zweifel«, fügte der Polizeiarzt hinzu, »dass diese Beule vor seinem Tode entstand. Mit anderen Worten: Er bekam, kurz bevor ihm der Schuss den Schädel zerschmetterte, noch einen Schlag auf den Kopf. Es ist also ziemlich sicher, dass wir es mit einem Mord zu tun haben.«

»Das ist richtig; denn der Alte wird sich wohl kaum selbst einen Schlag an den Kopf versetzt haben, bevor er Selbstmord beging«, meinte Holbrook ganz niedergeschlagen. »Außerdem beweist der Zustand des Revolvers eindeutig, dass er gar nicht dazu in der Lage war, den Abzug durchzuziehen. Aber wie, zum Teufel, gelang es dem Mörder, nach der Tat das Zimmer zu verlassen?«

Der Oberinspektor antwortete nicht, sondern stand schweigend auf, ging zum Telefon und rief die Polizeidirektion an, um Bericht zu erstatten.

Der Polizeidirektor entschied sofort: »Lassen Sie alles so, wie es ist, Parks. Mir sieht das nach einem raffiniert geplanten Mord aus. Ohne Ihr Talent in Zweifel ziehen zu wollen, möchte ich diese Sache doch Scotland Yard übergeben. Überlassen wir lieber dem Yard die Verantwortung...«

Mit dem Nachmittagsschnellzug traf ein langer, hagerer, schlecht angezogener Mann in Tavistock ein. Er wurde von Inspektor Holbrook mit einem Polizeiwagen abgeholt und sofort zum Bunten Hund gefahren.

Der Inspektor war von seinem Kollegen aus der Hauptstadt nicht gerade sehr beeindruckt; mit mürrischem Gesichtsausdruck hatte dieser während der Fahrt schweigend neben ihm gesessen. Er hatte sich zwar als Chefinspektor William Cromwell vorgestellt und damit dem Beamten aus Devonshire geradezu einen Schock versetzt, dem der Name natürlich bekannt war. Cromwell war beinahe eine Berühmtheit, aber er entsprach so gar nicht der Vorstellung, die Holbrook sich von ihm gemacht hatte.

»Ich hatte Sie eigentlich nicht allein erwartet, Mr. Cromwell«, sagte Holbrook nach einem langen, peinlichen Schweigen.

»Mein Assistent, Sergeant Lister, kommt im Wagen nach, und zwar in seinem eigenen«, brummte der Chefinspektor. »Er wird wohl heute Abend hier sein. Aber mein Chef wollte, dass ich so schnell wie möglich herkomme. Es handelt sich wohl wieder um so eine Geschichte mit einem hermetisch verschlossenen Zimmer? Aber warum muss man gerade mich herschicken?«

Inspektor Holbrook wusste es auch nicht. Er konnte sich kaum einen Menschen vorstellen, der ungeeigneter erschien, einen Mörder zu überführen und festzunehmen. Mit dieser Ansicht stand Holbrook übrigens nicht allein da. Der erste Eindruck, den der berühmte Ironsides machte, war für alle beinahe eine Enttäuschung.

»Mich hierher, sozusagen ans Ende der Welt, zu schicken«, brummte der Chefinspektor, als er missmutig über die melancholische Moorlandschaft blickte, die im Schein der Abendsonne lag. »Eine gottverdammte Wildnis ist das! Hoffentlich kann man wenigstens in Moreton Abbott anständig Unterkommen.«

»Viel los ist dort nicht, Sir. Aber wir können Sie in Tavistock in einem guten Hotel unterbringen«, antwortete Holbrook. »Übrigens haben wir ein paar merkwürdige Dinge festgestellt.«

»Erzählen Sie mir das alles später«, unterbrach ihn Ironsides unwirsch. »Ich rede nicht gern, solange ich im Auto sitze.«

Im Gasthaus angekommen, machte es sich der Chefinspektor erst einmal im Wohnzimmer bequem, in dem ihm Mrs. Ferris, die von seinem Kommen verständigt worden war, ein Essen auftrug, das sie als kleinen Imbiss bezeichnete. Cromwell sah misstrauisch auf den Schinken, rümpfte über den Tee die Nase, tat aber dann dem Essen alle Ehre an.

Als seine Pfeife endlich brannte, lehnte er sich gemütlich zurück und ließ sich von Holbrook die Einzelheiten des Falles berichten. Der Inspektor hatte jedoch kaum begonnen, als sie draußen das tiefe Brummen eines Wagens hörten. Cromwell fluchte.

»Verdammt! Das ist Johnny!«, sagte er, als er das Brummen erkannte. »Der verfluchte Idiot muss wie ein Irrer gefahren sein, dass er jetzt schon hier ist!«

Von draußen hörte man Stimmen und Schritte; dann öffnete Mrs. Ferris die Tür und ließ einen hochgewachsenen, schlanken und eleganten jungen Mann eintreten, dessen hervorstechendster Zug sein vergnügter Gesichtsausdruck war.

»Entschuldige, dass ich mich ein bisschen verspätet habe, Old Iron«, meinte er, »aber ich glaubte, es hätte keine Eile, und deshalb ließ ich mir Zeit.« Er warf einen Blick auf den Tisch und nickte. »Aha - Mittagessen! Zumindestens das, was übriggeblieben ist.«

Cromwell warf ihm einen unheilvollen Blick zu.

»Gott sei Dank, dass ich nicht in deinem Wagen sitzen musste!«, brummte er. »Ich wette, du hast durchschnittlich hundertzwanzig drauf gehabt.« Er nickte dem Beamten aus Tavistock zu. »Inspektor Holbrook, dieser junge Mann ist mein Assistent Lister.«

Während Johnny sich über das Essen hermachte, das Mrs. Ferris von Judy auftragen ließ, setzte Holbrook seinen Bericht fort. Cromwell hockte auf seinem Stuhl, sog verdrossen an seiner Pfeife und hörte anscheinend kaum zu.

»Das ist also alles, was?«, fragte Ironsides schließlich. »Jawohl, Sir.«

»Also alle betäubt, nachdem sie von dem Punsch getrunken hatten, in dem ein Schlafmittel war; und inzwischen erschießt ein Unbekannter den Alten und verlässt das Zimmer, das von innen abgeschlossen ist«, meinte der Chefinspektor und richtete sich auf. »Hm - so, wie Sie es mir darstellen, könnte jeder der Anwesenden das Zeug in den Punsch geschüttet haben. Sie glaubten wohl zuerst, dass es sich um einen Selbstmord handelt, was?«

»Alles deutete doch auf einen Selbstmord hin, Sir.«

»Das war es wohl auch, was der Mörder beabsichtigte«, nickte Ironsides. »Wir müssen natürlich von der Annahme ausgehen, dass tatsächlich Mord vorliegt, und die Dinge von diesem Gesichtspunkt aus betrachten. Es liegt nahe, dass der Mörder mit Sicherheit erwartete, man würde Selbstmord annehmen. Daraus ergibt sich wiederum, dass der Mord selbst nicht mit Vorsatz verübt wurde.«

»Nicht mit Vorsatz, Sir?«, fragte Holbrook überrascht. »Selbstverständlich nicht. Aus den Tatsachen, die Sie mir mitteilten, geht doch hervor, dass Widden durch einen Schlag auf den Kopf das Bewusstsein verlor - wahrscheinlich ein Raubüberfall«, sagte Cromwell. »Aber darauf kommen wir später noch zurück. Begleiten Sie mich jetzt nach oben und zeigen Sie mir das Zimmer.«

»Wenn du mich fragst«, sagte Johnny Lister nachdenklich, »so scheint mir dieser Reggie Laker am verdächtigsten; denn er ist der einzige, der nicht betäubt wurde. Ist das nicht eine durchdachte Überlegung, Old Iron?«

Da Cromwell schon an die vorschnellen Überlegungen Johnnys gewöhnt war, antwortete er erst gar nicht. Holbrook hingegen, der die Art, in der sich die beiden miteinander unterhielten, nicht kannte, betrachtete Johnny ganz offen als minderbegabten Trottel.

Aber trotz seines ersten ungünstigen Eindrucks von Ironsides musste sich der Inspektor eingestehen, dass die Durchsuchung des Zimmers durch den Beamten von Scotland Yard die gründlichste Durchsuchung war, die er je erlebt hatte. Länger als eine Stunde kroch Cromwell schweigend im Raum herum, betrachtete hier etwas durch eine Lupe und tastete dort mit der Hand unter ein Möbelstück. Besonderes Interesse zeigte er für den schweren Bronzeschlüssel; auch den Inhalt des altmodischen Geldschranks untersuchte er gründlich.

»Ich kann mir nicht helfen, Mr. Cromwell, aber ich werde einfach den Gedanken nicht los, dass der Mechanismus des Revolvers erst nach dem Abfeuern des Schusses nicht mehr funktionierte«, meinte Holbrook. »Vielleicht hat sich durch den heftigen Rückstoß irgendetwas verbogen, so dass der Abzug jetzt klemmt. Und wenn das stimmt, könnte es sich durchaus um Selbstmord handeln. Beide Ärzte sagen allerdings, dass er sich die Beule an der rechten Kopfseite vor seinem Tode zuzog. Aber auch Ärzte können sich irren. Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass sich der Alte diese Beule holte, als er zu Boden stürzte?«

Aber Cromwell knurrte nur, ohne zu antworten.

»Es existiert nur ein Schlüssel zu dieser Tür - und dieser Schlüssel lag auf dem Tisch, während die Tür abgeschlossen war«, fuhr der Inspektor fort. »Wie könnte also etwas anderes als Selbstmord in Frage kommen? Sie haben doch auch das Fenster gesehen, Mr. Cromwell. Die Läden waren geschlossen, und außerdem befindet sich vor dem Fenster ein eisernes Gitter. Also konnte der Mörder das Zimmer nur durch die Tür verlassen - aber wie soll ein Mann die Tür von außen abschließen und dann den Schlüssel auf den Tisch legen - wenn er nicht gerade den Schlüssel durch das Guckloch hineinwarf, dessen Klappe jedoch fest geschlossen war. Selbst wenn das Guckloch offenstand, halte ich es für vollkommen unmöglich, dass man den Schlüssel genau auf den Tisch werfen kann - und wenn der Schlüssel dabei auf den Boden gefallen wäre, hätte der Unbekannte sich verraten.«

»Sind Sie mit Ihrer Rede zu Ende?«, fragte Ironsides mürrisch.

»Ich wollte damit nur sagen...«

»...dass es eben doch Selbstmord war«, brummte Cromwell. »Da wir aber von der Annahme ausgehen wollen, dass es sich um einen Mord handelt, Inspektor, verschwenden Sie nur Ihre Worte. Fehlt übrigens etwas? Weiß Mrs. Ferris, ob der Alte hier oben etwas Wertvolles versteckt hatte?«

»Das ist ja das Schlimme, Sir - sie weiß fast nichts«, antwortete Holbrook. »Der Alte war ein großer Geheimniskrämer und ist in der ganzen Gegend als komischer Kauz bekannt. Aber nur wenige haben ihn je gesehen. Man erzählt sich, dass er das Gitter am Fenster anbringen und die schwere Tür einsetzen ließ, weil er hier Schätze verbarg. Aber Mrs. Ferris meint, dass dies Unfug ist. Er hätte ihr nie etwas davon gesagt, dass er etwas Wertvolles besäße - und außerdem entstehen immer solche Gerüchte, wenn sich ein Mensch dauernd in einem abgeschlossenen Zimmer aufhält.«

»Wenn er nichts Wertvolles hier hatte - wozu dann der Geldschrank?«, fragte Cromwell. »Er ist zwar ziemlich alt und unmodern, aber noch einigermaßen stabil. Weiß Mrs. Ferris nicht, ob er dort etwas Wertvolles aufhob?«

»Sie sagt, der Schrank stand schon hier, als sie einzog - und sie wohnt jetzt schon dreizehn Jahre im Haus.«

»Der Mörder könnte den Schrank mit Widdens eigenem Schlüssel geöffnet haben, den er ihm aus der Tasche zog«, meinte Ironsides. Seine buschigen Augenbrauen zogen sich nachdenklich zusammen. »Wenn der Schrank etwas Wertvolles enthielt, hat der Mörder es gestohlen. Aber irgendetwas in diesem Zimmer ist nicht in Ordnung, Inspektor. Haben Sie das denn nicht bemerkt?«

»Nicht in Ordnung?«, wiederholte Holbrook. »Ich wüsste nicht...«

»Es ist zu aufgeräumt - auffallend aufgeräumt!«

»Ja, aber...«

»Hoffentlich ist das Zimmer nicht saubergemacht worden, nachdem die Leiche gefunden wurde?«

»Natürlich nicht, Sir; darauf habe ich natürlich geachtet.«

»Und trotzdem finden sich massenhaft Anzeichen, dass das Zimmer genau durchsucht worden ist«, fuhr Ironsides fort. »Ist Ihnen denn das nicht aufgefallen? Vielleicht habe ich mehr Erfahrung. Auch einen Kampf hat es gegeben - einen kurzen, aber heftigen Kampf.«

»Ich konnte nichts feststellen, was darauf hinweist.«

»Hier: die Kratzer auf dem Fußboden und auf der Tischplatte«, knurrte Ironsides. »Alle ganz frisch! Sie sind entstanden, als der Alte den Schlag auf den Kopf bekam. Er wurde bewusstlos geschlagen, und danach durchsuchte der Mörder das Zimmer. Warum? Was suchte er?«

»Das wirst du uns sicherlich auch sagen können«, meinte Johnny freundlich.

»Es gibt doch nur einen ausreichenden Grund«, fuhr Cromwell fort. »Das, was der Mörder suchte, fand sich nicht im Geldschrank!« Ironsides drehte eine starke Stecknadel mit einem grünen Glaskopf zwischen Zeigefinger und Daumen. »Sonst hätte er es nämlich mitgenommen und wäre so schnell wie möglich verschwunden. Die Tatsache, dass er jedes Möbelstück untersuchte, beweist, dass der Geldschrank nicht das enthielt, was er suchte.«

Er schwieg und blickte nachdenklich auf die Nadel. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er sich bemühte, verschiedene Dinge in einen Zusammenhang zu bringen. Dann beugte er sich plötzlich über den Tisch und untersuchte sorgfältig die Platte. Es war ein fester, solider Eichentisch, dessen Platte einmal poliert gewesen, jetzt aber matt war. Auf dem Tisch lag keine Decke, sondern nur der massive Schlüssel.

»Wenn Ihre Selbstmordtheorie hieb- und stichfest sein soll, Holbrook, müssten Sie mir erklären können, warum der Alte den Schlüssel abzog, statt ihn steckenzulassen«, sagte Ironsides. »Wissen Sie eine Erklärung?«

»Nur die, dass der Alte eben sehr eigenartig war.«

»Das kann ich nicht unterschreiben. Vielmehr ist die Tatsache, dass der Schlüssel auf dem Tisch liegt, ein klarer Beweis, dass wir es mit einem Mord zu tun haben. Johnny, leuchte einmal mit deiner Taschenlampe hierher! Es wird schon wieder dunkel.«

Johnny Lister knipste die Taschenlampe an.

»Ja, Donnerwetter...«, sagte Cromwell, und seine Augen blitzten. »Sehen Sie sich das einmal an!« Er wies auf ein kleines Loch im Holz, in das er die Spitze der Stecknadel einführte. Die Spitze ging tief hinein und passte genau.

»Ich verstehe Sie nicht, Sir«, sagte Holbrook verwundert. ».Hermetisch verschlossenes’ Zimmer!«, höhnte Ironsides. »Ich dachte mir schon, dass es sich ganz einfach erklären ließe. Ich fand diese Stecknadel auf dem Fußboden. Hat der Mörder sie mitgebracht? Hier haben Sie die Antwort!«

»Offen gesagt, Mr. Cromwell - ich verstehe nicht ganz.«

»Warten Sie nur einen Augenblick.«

Ironsides zog ein Stück zusammengerollte dünne Schnur aus der Tasche. Das eine Ende der Schnur befestigte er an der Stecknadel; dann bohrte er die Spitze an einer anderen Stelle in die Tischplatte. Schließlich nahm er den Schlüssel, ging zur Tür und öffnete die schwere Holzklappe des Gucklochs, so dass sie klemmte und offenblieb; die Schnur führte er durch das Guckloch hindurch, trat auf den Gang hinaus und schloss die Tür. Weil sie beschädigt war, ließ sie sich zwar nicht ganz schließen, aber das war für diesen Versuch auch unwichtig. Inspektor Holbrook und Johnny beobachteten ihn gespannt.

»Und jetzt, passen Sie auf«, sagte Ironsides.

Er führte die Schnur durch den Kopf des Schlüssels, zog sie vorsichtig straff und gab dem Schlüssel einen Stoß. Der Schlüssel glitt an der Schnur entlang durch das Guckloch der Tür bis zur Tischplatte, auf der er liegenblieb. Dann ruckte der Chefinspektor an der Schnur, und die Nadel flog aus der Tischplatte heraus. Cromwell konnte sie an der Schnur durch das Guckloch herausziehen. Schließlich schlug er kräftig gegen die Tür, so dass die Holzklappe wieder herunterfiel und das Guckloch verdeckte.

»So einfach ist das, Inspektor«, sagte der hagere Mann von Scotland Yard. »Natürlich schloss der Mörder die Tür von außen ab und ließ den Schlüssel so, wie ich es Ihnen eben vorgemacht habe, ins Zimmer zurückrutschen. Aber er hatte Pech - die Nadel löste sich nämlich von der Schnur und fiel auf den Fußboden.«

»Ist das möglich...?«, sagte Inspektor Holbrook verblüfft.

 

 

 

Fünftes Kapitel

 

 

Die elegante Art, in der Bill Cromwell das Problem des hermetisch verschlossenen Zimmers gelöst hatte, ließ Holbrooks Augen bewundernd aufleuchten. Aber gleichzeitig fühlte er sich niedergeschlagen. Es war so einfach gewesen - und doch war er nicht auf diesen Gedanken gekommen.

»Der Mann, der Widden ermordete, hat zu viele Kriminalromane gelesen und hoffte, es noch schlauer anzufangen, als jene Leute, die diese Geschichten schreiben«, sagte Ironsides und schnaufte verächtlich. »Er kam in dieses Zimmer, als alle schon bewusstlos herumlagen. Er wusste genau, dass er die ganze Nacht Zeit hatte und dass er keine Störung von Seiten der anderen Hausbewohner zu befürchten brauchte.«

»Sie meinen also, dass dieser Mann nicht bei dem Gelage dabei war, Sir?«, fragte Holbrook.

»Ich glaube eher, dass er doch mitmachte«, antwortete Cromwell. »Aber er wusste ja, dass der Punsch ein Schlafmittel enthielt und hütete sich daher, allzu viel davon zu trinken - obgleich er so getan haben mag, als wäre er Gott weiß wie betrunken. Und wahrscheinlich hat er auch die anderen aufgefordert, das Zeug zu trinken. Er wartete nur, bis sie umkippten. Dann war es für ihn kinderleicht, nach oben zu gehen und sich unter irgendeinem Vorwand Einlass zu verschaffen. Wahrscheinlich schwindelte er dem Alten vor, Mrs. Ferris - oder auch ihrer Tochter - wäre etwas zugestoßen. Jedenfalls wurde er eingelassen und konnte den Alten niederschlagen. Rufe oder lautes Schreien störten ihn nicht - außer dem Hund hätte niemand etwas gehört.«

»Auch der Hund war nicht im Hause«, sagte Holbrook. »Er lungerte heute Morgen vor dem Haus herum, und seine weiße Brust war ganz mit grüner Farbe beschmiert.«

»So? Davon weiß ich noch gar nichts!«, sagte Ironsides und merkte auf.

»Mit dem Mord selbst wird es wohl auch nicht Zusammenhängen«, sagte der Inspektor, dem es schon leid tat, diese Sache erwähnt zu haben. »Mr. Laker und der Postbote glauben, dass irgendein Lausejunge den Hund nachts mit Farbe beschmiert hat. Die Farbe war heute früh schon fast getrocknet.«

»Warum hat man mir das noch nicht gesagt?«, herrschte ihn der Chefinspektor an. »Ich will den Hund sehen. Hat man ihn etwa schon gesäubert?«

»Die Farbe ist kaum abzubekommen.«

»Stand irgendwo ein Topf mit grüner Farbe herum?«

»Nein; das ist das Merkwürdige«, sagte Holbrook. »Der alte Matt Wills - er ist hier eine Art Mädchen für alles - hat zwar vor ein paar Tagen die Garagentüren angestrichen, aber der Färb topf steht schon seit zwei Tagen in einem verschlossenen Schuppen.«

»Der mit Farbe beschmierte Hund!«, sagte Johnny Lister leichthin. »Eine der kleinen, verrückten Sachen, die bedeutungslos scheinen - jedenfalls auf den ersten Blick.«

»Alles hat seinen Grund, mein Sohn; und es wird auch einen Grund gegeben haben, den Hund mit Farbe zu beschmieren«, knurrte Ironsides. »Aber darauf kommen wir später noch.«

Mit nachdenklich gerunzelter Stirn ging er im Zimmer auf und ab. Schließlich blieb er stehen und starrte den Blutfleck auf dem Teppich an. Die Leiche war bereits fortgeschafft und lag in einem anderen Zimmer auf dem Bett.

»Die Beule am Kopf des Alten deutet darauf hin, dass der Mörder den alten Widden eigentlich gar nicht ermorden wollte«, fuhr Cromwell fort, zog seine Pfeife aus der Tasche und stopfte sie neu. »Er wollte nur rauben; darum versetzte er dem alten Widden einen Schlag auf den Kopf, der ihm das Bewusstsein nahm, dann zog er ihm die Schlüssel aus der Tasche und öffnete den Geldschrank, er konnte jedoch das, was er suchte, dort nicht finden. Wo fanden sich übrigens Widdens Geldschrankschlüssel?«

»In seiner Tasche, Sir.«

»Der Mörder hat sie ihm also wieder hineingesteckt - nachdem er beschlossen hatte, seine Tat als Selbstmord zu vertuschen«, sagte Ironsides nachdenklich. »Er hatte auch viel Zeit! Dann durchsuchte er das ganze Zimmer, und dabei kann er das Gesuchte gefunden haben - oder auch nicht. Ich glaube eher, dass er es nicht fand; denn wenn Widden etwas Wertvolles in diesem Zimmer aufhob, hätte er es wohl im Geldschrank verwahrt und nicht in einem dieser alten Möbel versteckt, deren Schubladen gar keine Schlösser haben. Wenn er es jedoch aus irgendeinem Grund doch nicht im Geldschrank auf hob - wo dann?«

Er fuhr mit der Hand durch die Luft. »Irgendwo - unter dem Fußboden, in einer Mauerhöhlung, im Bücherregal oder in dieser Kommode? Haben Sie die Möbelstücke schon durchsucht?«

»Eigentlich nicht«, gab Holbrook kleinlaut zu.

»Früher oder später werden wir alles haargenau durchsuchen und - wenn nötig - auseinandernehmen«, sagte Cromwell entschlossen. »Aber versuchen wir zunächst einmal zu rekonstruieren, was geschah, als der Eindringling dieses Zimmer absuchte. Er war so beschäftigt, dass er gar nicht merkte, dass der Alte wieder zur Besinnung kam und es fertigbrachte, seinen Revolver aus der Schublade herauszuholen. Sie sagten doch, dass der Revolver ihm gehörte, nicht wahr?«

»Jawohl, Sir. Widden hatte ihn immer in der Schreibtischschublade.«

»Wahrscheinlich versuchte Widden gerade abzudrücken, als der Eindringling merkte, dass der Alte wieder zu sich gekommen war. Daraufhin griff er ihn zum zweiten Male an, entwand ihm die Waffe und jagte ihm eine Kugel durch den Kopf. Dann überkam den Mörder vielleicht das Entsetzen über seine Tat - er wusste jedoch auch, dass der Schuss von niemandem gehört worden war. Kopflos über die Erfolglosigkeit seiner Suche und aus Furcht vor den Folgen, die seine Tat haben konnte, machte er sich daran, einen Selbstmord vorzutäuschen. Soweit ist alles klar. Jetzt erhebt sich nur die Frage, zu deren Beantwortung wir hier sind - wer war es?«

Holbrook zweifelte schon lange nicht mehr an Bill Cromwells durchdringendem Verstand. Die meisterhafte Rekonstruktion des Verbrechens durch den Chefinspektor erfüllte ihn geradezu mit Bewunderung.

»Ich verstehe jetzt, was Sie meinen, Sir. Der Mann, der das Schlafpulver in den Punsch schüttete, ist also auch der Mörder. Aber das hätte jeder Anwesende tun können.«

»Sie haben natürlich alle verhört?«

»Ja.«

»Aber ohne Erfolg, was?«

»Alle behaupten, bewusstlos gewesen zu sein.«

»Wie steht es denn mit diesem jungen Rowdy, diesem Tony Bellamy? Er war doch, wie Sie sagten, nachts gar nicht hier und konnte allerdings nur mit Lakers Hilfe, noch nach Hause fahren. Haben Sie mit ihm gesprochen?«

»Ich war heute Morgen schon im Gutshaus; er war jedoch noch so benommen, dass er nicht sprechen konnte«, erwiderte Holbrook unsicher. »Sie irren sich jedoch, Mr. Cromwell, wenn Sie den jungen Bellamy als Rowdy bezeichnen. Er ist zwar stark und kräftig, hat sogar in Oxford Rugby gespielt, trinkt auch gern einmal einen über den Durst und spielt dann den wilden Mann.«

»Aber trotzdem soll er kein Rowdy sein?«

»Immerhin ist er der Sohn Sir Richard Bellamys«, meinte der Inspektor verlegen. »Sir Richard ist in dieser Gegend eine einflussreiche Persönlichkeit und dazu sehr temperamentvoll.«

»Mir ist es völlig egal, wer oder was er ist«, erwiderte Cromwell mürrisch. »Dieser junge Bellamy hat den Punsch gebraut, und außerdem ist es verdächtig, dass er den Gasthof verließ und nach Hause fuhr. Ich werde ihn mir einmal vornehmen müssen.«

»Ich kenne den Jungen schon seit Jahren, Sir; und wenn er manchmal auch ein bisschen zu weit geht, ist er doch im Grunde ein anständiger Kerl«, meinte Holbrook. »Ein Verbrechen, und dazu noch ein so dreckiges wie einen Mord, traue ich ihm nicht zu.«

»Sie vergessen, dass dieses Verbrechen gar nicht geplant war«, erwiderte Ironsides. »Der Mord wurde in äußerster Verzweiflung verübt - als der Mörder in die Mündung eines Revolvers blickte. Eine solche Situation kann wohl einen Menschen schon zu einer Verzweiflungstat treiben.«

»Möglich«, sagte Holbrook zurückhaltend; »Sie sagten jedoch vorhin, dass der Mann, der hier eindrang, Mr. Widden eigentlich gar nicht ermorden wollte. Wäre es aber Tony Bellamy gewesen, dann hätte Mr. Widden ihn unbedingt erkennen müssen. Wäre Mr. Widden wieder zu sich gekommen, hätte er doch bestimmt die Polizei angerufen und uns gesagt, wer ihn überfallen hatte.«

Bill Cromwell schüttelte nur ungeduldig den Kopf.

»Das ist nicht gesagt«, sagte er scharf. »Der Eindringling - ob nun Bellamy oder ein anderer - trug wahrscheinlich eine Maske, so dass er nicht zu erkennen war. Ein Schal vor dem Gesicht hätte schon genügt. Als er dann den Alten niedergeschossen hatte, führte er seinen Plan weiter aus.«

»Und worin bestand dieser Plan?«, fragte Johnny.

»Nachdem alle Bewohner des Gasthofs schon seit Stunden betäubt waren, trank er vermutlich ebenfalls eine erhebliche Menge von dem Punsch und wurde also auch bewusstlos; und deshalb wurde er im gleichen Zustand wie die anderen aufgefunden«, sagte Ironsides. »Wir müssen entweder dieser Theorie folgen oder nach einem bisher völlig Unbeteiligten suchen - nach einem Menschen, der das Haus wie ein Geist betrat und wie ein Geist wieder verschwand. Aber an eine solche Möglichkeit glaube ich nicht. Wie steht es denn mit den Fingerabdrücken?«

»Die Abdrücke auf dem Revolver stammen von Widden«, erwiderte Holbrook. »Weitere Abdrücke fanden wir auf dem Tisch, am Geldschrank und auf anderen Möbelstücken. Vorsorglich habe ich allen Anwesenden die Fingerabdrücke abnehmen lassen - natürlich mit entsprechender Rücksicht. Ich sagte, dass es vollkommen freiwillig wäre und nur in ihrem eigenen Interesse geschähe. Aber andererseits war meine Aufforderung so gehalten, dass niemand sich weigern konnte. Der Oberinspektor versprach mir, Vergrößerungen aller Abdrücke Scotland Yard zu schicken. Wir hoffen, morgen früh schon Näheres zu wissen.«

»Dann ist das wenigstens erledigt«, knurrte Cromwell. »Was ist mit dem Schlafmittel, das in den Punsch geschüttet wurde? Wurde der Rest in der Terrine schon analysiert?«

»Sowohl der Polizeiarzt als auch der Arzt aus Moreton Abbott sind davon überzeugt, dass es sich um ein Bromkali-Präparat handelt«, antwortete der Inspektor. »Nur ein Mittel dieser Art könnte die Wirkung gehabt haben, die wir beobachtet haben. Allerdings hätte viel davon abgehangen, wieviel jeder einzelne trank.«

»Diese Tatsache weist doch wieder darauf hin, dass der saubere Herr, von dem das Mittel stammt, auch darauf achten musste, dass jeder eine ordentliche Portion erhielt und auch austrank«, sagte Ironsides und runzelte die Stirn. »Immerhin ging er damit ein erhebliches Risiko ein. Und wer schenkte den Punsch aus? Wieder dieser Tony Bellamy?«

»Ja, er hatte Geburtstag, und die Idee mit dem Punsch stammte von ihm«, meinte Johnny nachdenklich. »Der einzige Fehler in der Rechnung ist nur, dass Bellamy das Haus ziemlich früh verließ und - anscheinend total betrunken - von diesem Maler aufgefunden wurde, der auf dem Moor zeltet.«

»Wer konnte sonst noch an den Punsch heran?«, fragte Cromwell und sah den Inspektor an. »Ich meine, wer hatte noch Gelegenheit, das Brompräparat hineinzuschütten?«

»Mein Gott, Mr. Cromwell - wahrscheinlich doch jeder, der gerade im Hause war«, antwortete Holbrook. »Also Mrs. Ferris, ihre Tochter, dieser Mr. Pickering, sogar der alte Matt. Also alle, ausgenommen vielleicht die beiden Touristen, die hier übernachten wollten.«

»Sind diese beiden übrigens noch hier?«

»Jawohl, Sir. Sie wollten schon weiter, aber ich sagte ihnen, dass sie mindestens bis morgen hierbleiben müssten«, erwiderte der Inspektor. »Ich dachte mir schon, dass Sie sie sprechen wollten. Übrigens ist der eine ein Ausländer - ein ziemlich übel aussehendes Individuum.«

»Der typische Mörder, wie?«, sagte Johnny grinsend. »Um noch einmal auf den Punsch zurückzukommen«, meinte Ironsides, der diese Bemerkung absichtlich überhörte, »sagten Sie nicht, dass jeder an die Terrine herankonnte, Inspektor? Wieso?«

»Nachdem der Punsch fertig war, soll er einige Minuten auf dem Küchentisch gestanden haben, und von diesen paar Minuten wissen wir bisher noch nichts. Vielleicht war der alte Matt während dieser Zeit in der Küche; vielleicht war er jedoch gerade im Hof, um alles abzuschließen und so weiter. In diesem Fall wäre die Küche jedenfalls minutenlang leer gewesen.«

»Hm...«, brummte Cromwell.

»Auch das belastet Tony!«, sagte Johnny. »Als die anderen eingenickt waren, brauchte er nur die Treppe zu dem Alten hinaufzugehen. Nachher trank er ebenfalls von dem Punsch, fuhr mit seinem Wagen fort und versuchte, sich so ein Alibi zu verschaffen. So wird es vermutlich gewesen sein. Er fuhr den Wagen absichtlich in den Graben, da er genau wusste, dass sein Rivale in der Nähe zeltete.«

»Was du da sagst, ist nicht einmal so falsch, Johnny«, meinte Ironsides nachdenklich. »Nur mit der Zeit kommt es nicht hin.«

»Wie meinst du das?«

»Oder vielleicht doch?«, fuhr der Chefinspektor fort und zog seine buschigen Augenbrauen zusammen. »Es muss doch ziemlich lange gedauert haben, erst den Alten niederzuschlagen und dann das Zimmer genau zu durchsuchen.

Und nach Ihrer Darstellung, Inspektor, fuhr Bellamy das Auto, kurz nachdem der junge Laker sein Zelt erreicht hatte, in den Graben.«

»Das stimmt«, antwortete Holbrook erleichtert. »Bellamy hätte also für die Tat gar nicht genügend Zeit gehabt. Wenn Tony länger hiergeblieben wäre, hätte Laker schon im Zelt gelegen und geschlafen.«

»Vorausgesetzt«, sagte Cromwell mit Nachdruck, »dass Bellamy nicht vor dem Überfall auf den alten Widden nach Hause fuhr.«

»Vor dem Überfall?«, wiederholte Holbrook verwundert. »Sie meinen, ein anderer muss also...?«

»Nein, nein - ich spreche immer noch von Bellamy«, unterbrach ihn Cromwell. »Nehmen wir einmal an, er wäre ein sehr verschlagener Kerl und wollte sich ein wirklich stichhaltiges Alibi beschaffen: Dann hätte er kaum etwas von dem Punsch getrunken und hätte seinen Wagen nur in den Graben gefahren, um die Aufmerksamkeit Lakers auf sich zu lenken. Er stellte sich sinnlos betrunken, und damit gelang es ihm auch, Laker zu täuschen, der ihn nach Hause brachte und ins Haus hineinschob. Was aber, wenn das alles nur gespielt war? Wie leicht wäre es für Bellamy gewesen, sich eine Stunde später wieder in das Gasthaus zu schleichen, in dem alle, wie er genau wusste, bewusstlos waren. Und erst bei diesem, seinem zweiten Besuch, überfiel er den Alten, schoss ihn nieder, wenn er es auch ursprünglich nicht beabsichtigte, und fuhr dann wieder nach Hause. Auf diese Weise hatte er für die Tat genügend Zeit - mehrere Stunden, in denen ihn niemand störte. Und zu Hause schlief auch alles.«

Aber Holbrook war damit nicht einverstanden.

»Meiner Meinung nach irren Sie sich aber doch, Mr. Cromwell«, sagte er eifrig. »Ich sprach den jungen Mann heute Morgen, und da stand er ganz entschieden noch unter dem Einfluss eines Schlafmittels.«

»Natürlich«, stimmte Ironsides zu. »Selbstverständlich hat er etwas von dem Punsch mit nach Hause genommen und das Zeug getrunken, bevor er zu Bett ging. - Ich will damit allerdings nicht sagen, dass Bellamy unbedingt der Mörder sein muss. Aber er hat schließlich den Punsch gebraut; er hatte Zeit und Gelegenheit zu der Tat, und die Ereignisse könnten sich sehr leicht so abgespielt haben, wie ich es eben beschrieb.«

»Hoffentlich nehmen Sie mich nicht mit, wenn Sie zum Gutshaus gehen«, sagte der Inspektor und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Sie werden es mit Sir Richard nicht leicht haben. Es stimmt, dass der junge Mann sich mit seinem Vater nicht gut steht - er ist ein bisschen wild, Geld hat er auch nie, und man sagt, dass er ein Auge auf Judy geworfen hätte. Das ist die Tochter von Mrs. Ferris - Sie werden sie wohl schon gesehen haben.«

»Ja, ein hübsches Mädel«, stimmte Cromwell zu. »Er hat also ein Auge auf sie geworfen? Und dabei nie Geld? Und der alte Widden soll eine Art von Geizkragen gewesen sein?«

»Ich kann mir vorstellen, was Sie jetzt denken, Mr. Cromwell, aber das ist wohl doch etwas zu konstruiert!«, protestierte Holbrook. »Ich glaube auch, dass Sir Richard Krach schlagen würde, wenn er erführe, dass sein Sohn der Tochter einer Gastwirtin den Hof macht. Ich weiß auch nicht, ob es dem jungen Bellamy mit diesem Mädchen wirklich ernst ist.«

Johnny begann ein etwas zweideutiges Lied zu singen.

»Halt den Mund!«, fauchte ihn Ironsides an. »Wir brauchen jetzt keine dreckigen Witze!« Er wandte sich unvermittelt zur Tür. »Jedenfalls suchte der Mann, der den alten Widden ermordete, etwas ganz Bestimmtes. Ich möchte doch noch einmal Mrs. Ferris sprechen.«

Als sie zusammen hinuntergingen, stießen sie in der Diele auf Reggie Laker, der früher als gewöhnlich zum

Abendbrot gekommen war. Reggie konnte es gar nicht erwarten, den berühmten Mann von Scotland Yard kennenzulernen. Aber auch sein erster Eindruck war enttäuschend. War dieser fast schäbig gekleidete, unauffällige Mann wirklich der berühmte Ironsides, jener Mann, der schon so viele komplizierte Fälle schließlich doch noch gelöst hatte?

»Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Mr. Laker«, sagte Cromwell kurz, als ihm der junge Mann vorgestellt wurde. »Ich werde Sie später vielleicht noch sprechen müssen. Bleiben Sie länger hier?«

»Bestimmt bis zur Polizeistunde«, sagte Reggie. »Was machen Ihre Nachforschungen? Sind Sie weitergekommen?«

»Immer mit der Ruhe, junger Mann, immer mit der Ruhe. Ich bin ja noch kaum angekommen.«

Cromwell nickte ihm zu und ging in das kleine Gästezimmer. Reggie blieb nichts anderes übrig, als in das Esszimmer zu gehen. Ein paar Minuten später war Mrs. Ferris bei Cromwell.

»Sie wissen, warum ich hier bin, Mrs. Ferris«, sagte Ironsides. Seine Stimme klang freundlich, und sein Gesichtsausdruck war beinahe wohlwollend. »Sie machen jetzt natürlich eine schwere Zeit durch, und ich will mich bemühen, Sie so wenig wie möglich zu behelligen. Aber ich muss Ihnen doch noch einige Fragen vorlegen, die Sie mir hoffentlich beantworten können.«

Holbrook war über die Art Cromwells ganz erstaunt. Bis jetzt hatte er ihn nur brummig und übelgelaunt gesehen. Jetzt war der Chefinspektor völlig verändert, und zwar - Holbrooks Meinung nach - zum Besseren.

»Ich werde Ihre Fragen beantworten, so gut ich kann, Mr...«

»Cromwell, Mrs. Ferris«, sagte Ironsides. »Mr. Widden war, wie mir gesagt wurde, der alleinige Besitzer des Gasthofes?«

»Jawohl, Sir.«

»Wissen Sie zufällig, ob er Verwandte hatte, mit denen wir uns in Verbindung setzen könnten?«

»Danach hat mich heute Morgen schon der Oberinspektor gefragt, Sir. Aber ich kenne niemanden«, antwortete Mrs. Ferris und schüttelte den Kopf. »Mr. Widden war ziemlich zurückhaltend und sprach nie von seinen Verwandten.«

»Sie sind schon länger hier?«

»Ja, ich kam 1942, während des Krieges, hierher.«

»Das ist eine lange Zeit«, stimmte Cromwell zu. »Haben Sie in diesen Jahren vielleicht jemanden kennengelernt, der Mr. Widden - hasste?«

»Nein - niemanden«, erwiderte sie rasch. »Mr. Widden lebte sehr zurückgezogen; kein Mensch hätte ein ruhigeres Leben führen können. Nachdem ich einen Monat oder zwei hier war, überließ er mir ganz die Leitung der Gastwirtschaft.«

Ihr sonst ruhiges, jetzt aber angespanntes und blasses Gesicht wirkte beinahe ängstlich, als sie unruhig zur Tür blickte.

»Haben Sie etwas auf dem Herzen, Mrs. Ferris?«

»Entschuldigen Sie bitte, aber mein Essen steht auf dem Feuer, und ich weiß nicht, ob Matt auch aufpasst«, sagte Mrs. Ferris ganz verstört. »Judy hat in der Stube zu tun. Heute sind noch mehr Gäste da als sonst.«

»Wenn Sie sich nur wegen des Essens Sorge machen, dem können wir abhelfen«, meinte Cromwell freundlich. »In der Küche können wir uns sicher genauso gut unter halten wie hier!«

Sie gingen also in die Küche, in der Ironsides geduldig wartete, während Mrs. Ferris am Herd mit dampfenden Töpfen hantierte. Inzwischen konnte Cromwell den alten, krummbeinigen Mann beobachten, der auf einem Seitentisch die Lampen zurechtmachte. Ein paarmal warf Matt Wills einen verstohlenen Blick auf die Fremden, aber sonst war sein zerfurchtes braunes Gesicht mehr oder weniger ausdruckslos.

»Sie sagten, dass Mr. Widden Ihnen die Führung des Gasthofs überließ«, begann Cromwell, als Mrs. Ferris sich vom Herd abwandte und sich die Hände an einem Handtuch abwischte. »Meinen Sie damit, dass er selbst nichts tat? Gar nichts?«

»Er sah die Rechnungen durch«, sagte sie, »und gab mir hin und wieder einen Rat wegen der Bestellungen. Obgleich er am liebsten allein war, war Mr. Widden doch ein guter Geschäftsmann. Er war auch stark und gesund und hätte noch mindestens zehn Jahre leben können.« Tränen traten ihr in die Augen. »Es ist entsetzlich, dass er so plötzlich sterben musste.«

»Gewiss, Mrs. Ferris«, sagte Ironsides mitfühlend. »Ich verstehe Sie vollkommen und werde mir die größte Mühe geben, den Mörder zu fassen. Aber bis jetzt konnten Sie mir dabei nicht viel helfen. Hatte er denn gar keine Feinde? Und keine Verwandten? Und haben Sie keine Ahnung, wer seinen Besitz erbt?«

Sie schüttelte wortlos den Kopf.

»Ist das Gasthaus rentabel?«, fragte Cromwell unvermittelt. »Wie steht es mit seinem Bankkonto? Widden hatte doch wohl eins, nicht wahr?«

»Ja, Sir, in Tavistock. Ich habe die Bankauszüge schon dem Oberinspektor gezeigt«, erwiderte Mrs. Ferris. »Es war alles in Ordnung. Auf dem Konto steht ein Guthaben von dreihundertsiebzig Pfund.«

»Das ist das Geld auf der Bank. Wissen Sie vielleicht, ob er auch noch Geld bei sich, in seinem Zimmer, hatte?«

»Das Bargeld aus den täglichen Einnahmen verwalte ich, da ich auch alle Einkäufe mache«, antwortete sie. »Wenn Sie etwa glauben, dass Mr. Widden einen geheimen Schatz in seinem Zimmer verbarg, irren Sie sich«, fügte sie unwillig hinzu. »Das ist nur dummes Gerede.

Mr. Widden - ein Geizkragen? Das ist einfach lächerlich.«

»Sie sagten, Sie zogen im Jahre 1942 hierher?«, fragte Cromwell. »Wie kam das? Kannten Sie Mr. Widden schon von früher?«

»Nein, Sir. Ich schrieb auf ein Inserat. Ich war damals gerade Witwe geworden. Judy war erst sieben, und wir lebten in London - es war die Zeit der schweren Luftangriffe. Mein Mann war in Burma gefallen, und kurz nach seinem Tod las ich zufällig Mr. Widdens Inserat. Ich fuhr hierher, sprach mit ihm und bekam sofort die Stelle. Dann holte ich Judy - und seitdem leben wir hier.«

Cromwell gefiel das gerade, offene Benehmen der Frau. Offensichtlich sagte sie die Wahrheit. Ehrlichkeit sprach aus ihrem Gesicht - und im Übrigen waren ihre Angaben leicht nachprüfbar. Trotzdem fragte er weiter, denn er hatte den Eindruck, dass sie ihm noch mehr sagen konnte.

»Ich verstehe«, meinte er langsam. »Also all diese Jahre hindurch überließ Mr. Widden Ihnen die Geschäftsführung völlig allein?«

»Ja.«

»Bekam er nie Besuch?«

»Das will ich nicht sagen, Sir«, antwortete sie. »Ein paarmal sprach er mit dem Vertreter der Brauerei, und von Zeit zu Zeit kam der Arzt oder Mr. Monks aus Tavistock; das ist sein Anwalt.«

»Wissen Sie, aus welchem Grund Mr. Monks herkam?«

»Nein. Mr. Widden war sehr verschlossen und erzählte mir nichts. Er hielt sich meist in seinem Zimmer auf, in das er außer mir niemanden einließ - und auch ich ging nur einmal in der Woche zu ihm hinauf und räumte auf. Zu den Mahlzeiten kam er, wenn der Gasthof geschlossen war, in das Esszimmer - aber selbst das nicht immer.«

»Wie war das mit den Besuchern, von denen Sie sprachen - mit dem Vertreter der Brauerei, dem Arzt und dem Anwalt?«, fragte Ironsides. »Wo sprach er denn mit diesen Leuten, wenn er außer Ihnen niemanden in sein Zimmer ließ?«

»Das dürfen Sie nicht so wörtlich nehmen«, antwortete Mrs. Ferris rasch. »Wenn Dr. Jeffries oder Mr. Monks kamen, führte ich sie zu ihm hinauf. Aber das kam so selten vor, dass es kaum zählt.«

»Ich verstehe. Und sonst besuchte ihn niemand?«

Mrs. Ferris zögerte und sah sich in der Küche um, als wollte sie sich vergewissern, dass sie allein wären. Das krummbeinige Faktotum Wills war vor einigen Minuten fortgegangen.

»Nein, Sir, niemand«, sagte sie leise.

Bill Cromwell seufzte. Diese Antwort war eine offensichtliche und dabei überflüssige Lüge. Plötzlich ertönte von der Hintertür her eine hohe schnarrende Stimme.

»Das ist nicht wahr, Mister, und das weiß sie ganz genau«, sagte Matt Wills, der plötzlich in der Tür stand. »Fragen Sie sie doch, warum dieser verdammte Fred Pickering hinaufgehen und den alten Charley sprechen durfte, sooft er herkam! Warum gerade dieser Kerl und sonst niemand?«

 

 

 

Sechstes Kapitel

 

 

Mrs. Ferris sah Cromwell ängstlich von der Seite an und wandte sich dann Matt zu.

»Niemand hat gesagt, dass du dich einmischen sollst, Matt«, sagte sie ärgerlich. »Hast du schon die Lampen geputzt? Nein? Und da kommst du her und redest ungefragt dazwischen? Marsch, hinaus mit dir!«

Einen Augenblick blieb Matt noch mit halbgeschlossenen Augen stehen. Dann wandte er sich wortlos um und ging in den Hof.

»Sie dürfen ihn nicht ernst nehmen, Mr. Cromwell«, sagte Mrs. Ferris. »Er ist nicht ganz richtig im Kopf. Man kann ihn in der Wirtschaft auch nur brauchen, wenn man ihm jeden Handgriff Vormacht.«

»Immerhin scheint mir das, was er sagte, nicht unwichtig zu sein«, knurrte Ironsides. »Ich wollte Sie gerade das gleiche fragen. Warum durfte dieser Pickering zu Mr. Widden gehen, sooft er herkam? Ich weiß bereits, dass er gestern Abend mit Mr. Widden sprach, so dass es von Ihnen ziemlich dumm war, gerade das verheimlichen zu wollen.«

»Ach, mein Gott!«, sagte Mrs. Ferris niedergeschlagen. »Bitte verzeihen Sie mir, Sir. Ich wollte doch gar nicht - der Teufel soll den Kerl holen!« Ihre Stimme klang fast bösartig. »Er ist ein unverschämter und gemeiner Mensch, und ich sehe ihn nicht gern im Hause. Sein Onkel war vor vielen Jahren mit Mr. Widden befreundet, und das nutzt er jetzt eben aus.«

»Ich werde mich wohl ernsthaft mit diesem Mr. Pickering unterhalten müssen«, meinte Cromwell grimmig. »Es muss doch einen Grund haben, dass er als einziger, sooft es ihm gefiel, Mr. Widdens Zimmer betreten durfte.«

»Matt hätte sich nicht einmischen sollen«, sagte Mrs. Ferris. »Nehmen Sie bitte keine Notiz von ihm, Sir. Er weiß meist gar nicht, was er spricht.«

Als wollte sie ihre Verwirrung verbergen, ging sie zum Herd und hantierte dort ziemlich laut mit Töpfen und Pfannen herum. Cromwell warf Johnny einen Blick zu und ging mit ihm hinaus; Inspektor Holbrook, der sich ziemlich überflüssig fühlte, folgte ihnen nach kurzer Zeit. Aber als er in die Diele kam, war von den beiden Beamten von Scotland Yard nichts mehr zu sehen.

Sie gingen vor dem Gasthof auf und ab. Cromwell war mit Johnny hinausgegangen, um sich mit ihm - ohne unliebsame Zuhörer - offen aussprechen zu können.

»Gegenüber diesen Halbidioten bin ich immer etwas argwöhnisch, Johnny«, sagte der Chefinspektor leise. »Ich habe verschiedentlich festgestellt, dass sie in ihrer Art oft viel schlauer sind als normale Menschen. Warum hat er wohl den Verdacht auf Pickering gelenkt?«

»Glaubst du etwa, dass Matt der Mann ist, den wir suchen?«

»Warum nicht? Ebenso gut wie einer der anderen«, sagte Cromwell. »Vergiss doch nicht, dass er allein in der Küche war - dass er der einzige ist, von dem wir mit Sicherheit wissen, dass er sich unbemerkt an die Punschterrine machen konnte. Jeder der anderen hätte natürlich auch das Zeug hineinschütten können, aber bei denen ist es nur eine Vermutung.«

»Der alte Kerl ist doch hier nur Dienstbote«, wandte Johnny ein. »Was für ein Motiv könnte er also gehabt haben?«

»Das Beste von allen - er wollte Geld. Er ist schon seit Jahren hier - und weiß vielleicht besser als jeder andere, ob Widden Geld versteckt hatte oder nicht. Was wissen wir denn schon von den Beziehungen, die zwischen den verschiedenen Bewohnern des Gasthofes bestanden? Warum soll sich dieser angebliche Halbidiot nicht mit Widden gestritten haben. Er wirkt zwar niedergeschlagen, und der Tod seines Arbeitgebers scheint ihm tatsächlich nahezugehen, aber das kann auch nur Theater sein. Das alles werden wir erst noch herausfinden müssen. Und jetzt werde ich mir mal diesen Pickering vornehmen.«

Sie kehrten in das Gasthaus zurück; ohne

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Authors/Apex-Verlag/Signum-Verlag.
Bildmaterialien: Giorgio Bettin/Apex-Graphixx.
Cover: Giorgio Bettin (Model: Chiara Kia Giustiniani).
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Ruth Kempner/Christine Frauendorf/Gertraud Nothhelfer/Christian Dörge.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 19.06.2022
ISBN: 978-3-7554-1590-9

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