F. R. LOCKRIDGE
Lautlos wie ein Pfeil
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
LAUTLOS WIE EIN PFEIL
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Das Buch
Zu verkaufen: Brautkleid, ungebraucht. Mit journalistischem Spürsinn vermutet der Herausgeber des Citizen eine menschliche Tragödie hinter der unscheinbaren Annonce. Und Inspektor Heimrich, der den plötzlichen Tod der Braut näher beleuchtet, tippt sogar auf Mord...
Der Roman Lautlos wie ein Pfeil von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1969; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1979.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
LAUTLOS WIE EIN PFEIL
Erstes Kapitel
Einer der Männer in hellroter Jacke sagte, er mache sich Sorgen um Grandpa. Er behauptete, ohne den alten Knaben sei alles nur eine halbe Sache. »Er hat sich den ganzen Sommer lang nicht mehr blicken lassen«, erklärte er kopfschüttelnd einem anderen Manu, der eine Tweedjacke mit Lederflecken auf den Ellbogen trug.
»Er war eben nicht mehr der Jüngste«, meinte der Mann in der Tweedjacke. »Und in letzter Zeit gehen viele an Räude ein. Rote und graue. »Er trank aus seinem Whiskyglas.
»Möglich«, stimmte Rotrock zu. »Ich habe den alten Knaben immer für immun gehalten, aber vielleicht ist er doch an der Räude eingegangen. Erinnern Sie sich noch, wie er jedes Mal auf seinem Felsen gestanden und uns richtig ausgelacht hat, als hätte er ein Spiel gewonnen?«
»Ja, das hat er getan«, antwortete Tweedjacke. »Grandpa hat es richtig Spaß gemacht, die Hunde zu überlisten, glaube ich. Ohne den alten Knaben ist alles nur eine halbe Sache.«
»Andererseits wird hier in der Gegend ziemlich viel gebaut«, stellte Rotrock fest. »Vielleicht hat er sich deshalb in Richtung Brewster verzogen. Ah, guten Morgen, Miss Mercer. Harry und ich haben eben über Grandpa gesprochen. Er hat sich seit drei, vier Monaten nicht mehr blicken lassen. Harry glaubt, es könnte die Räude sein...«
Lyle Mercer trug keine Reitkleidung, sondern ein hellbraunes Kleid - etwas heller als ihre braunen Augen, und ihr dunkelbraunes Haar: »Grandpa, Mr. James?«, fragte sie. »Ja, ich weiß! Das ist doch der Fuchs, den samstags alle jagen?«
»Stimmt«, gab Marvin James zu. »Bis vor vier Monaten. Seitdem ist er spurlos verschwunden. Heute haben wir nur einen kümmerlichen Rotfuchs gesehen.«
»Haben Sie ihn erlegt?«
»Nein. Wollten wir damit anfangen, solange die Räude umgeht, hätten wir bald nichts mehr zu jagen. Dieser eine hat sich in seinem Bau verkrochen. Darüber wäre Grandpa erhaben gewesen.«
»Vater hat mir von ihm erzählt«, sagte Lyle. »Er muss ein richtiger Schlaufuchs gewesen sein.«
»Grandpa hat die Jagd erst spannend gemacht«, antwortete James. »Sind Ihre Eltern auch hier, Lyle?«
»Sie spielen Golf«, erwiderte Lyle. »Der arme alte Timothy kann sich nicht daran gewöhnen. Er sieht ihnen immer traurig nach, wenn sie wegfahren.«
»Ein gutes Pferd«, stellte James fest. »Will Ihr Vater es nicht verkaufen?«
»Nein, davon hat er nichts gesagt. Wahrscheinlich will er Timothy behalten, um eine Erinnerung an die Van-Brunt-Jagd zu haben.«
Lyle Mercer sah sich im überfüllten Gastraum des Old Stone Inn um, in dem an diesem Oktobermittag ein Jagdfrühstück stattfand. Sie kannte viele der Männer und Frauen, die in kleinen Gruppen über Pferde, Hunde und Füchse sprachen - und von dem armen Roger Spence, der wieder einmal vom Pferd gefallen war. Aber Spence schien sich nicht viel daraus zu machen, denn er rief Lyle grinsend zu: »Schreiben Sie ja nichts Falsches! Ich bin nicht vom Pferd gefallen. Das Pferd ist unter mir gestürzt, auch wenn die anderen das Gegenteil behaupten.«
»Ja, ich weiß, Ihr Pferd ist gefallen, Mr. Spence«, antwortete Lyle laut, um das Stimmengewirr zu übertönen. Aber Roger Spence würde nicht in die Zeitung kommen; sein Sturz war nicht interessant genug, um in Lyles Artikel erwähnt zu werden.
»Notieren Sie sich vor allem die Namen, Kleine«, hatte Bob Wallis ihr aufgetragen. »Die Leute sehen ihren Namen gern in der Zeitung. Und falls jemand an die Bar reiten sollte, können Sie das Pferd interviewen.«
Lyle Mercer hatte in den vier Monaten ihres Reporterdaseins die Erfahrung gemacht, dass die Leute ihren Namen wirklich gern in der Zeitung lasen. Jetzt sah sie sich in dem großen Raum mit der niedrigen Balkendecke um. Dreißig Gäste? Nein, eher vierzig. Harold, der Barkeeper, hatte zwei Helfer und brauchte sie auch. Mrs. Oliphant blutete wahrscheinlich das Herz, weil der Jagdclub das Old Stone Inn ausgerechnet an diesem Tag mittags für sich beanspruchte - am Kolumbustag, dem zwölften Oktober. An diesem Samstag waren die Straßen überfüllt, da ganze Horden unterwegs waren, um das bunte Herbstlaub zu bewundern. Aber das Old Stone Inn lebte natürlich von Ortsansässigen, nicht von Ausflüglern, und besonders von Leuten, die sich ein Pferd leisten konnten.
Lyle merkte sich Namen, während sie sich zur Bar vorarbeitete - die meisten Gäste kannte sie seit ihrer Kindheit -, und überlegte sich bereits einige Formulierungen, die sie später vielleicht verwenden würde. In gewisser Beziehung war das Frühstück der Leichenschmaus für einen grauen Fuchs namens Grandpa, dem der Jagdclub seit Jahren vergeblich nachgestellt hat. Nein, das würde sie nicht schreiben. Namen. Und die Zusammenstellung des kalten Büfetts. Und dass einige Clubmitglieder ihre Wochenendgäste mitgebracht hatten. Und vielleicht auch, dass die meisten Männer Tweed-Jacken den roten Jagdröcken vorzogen. Aber bestimmt nicht, dass die Reithosen vieler Frauen zu gut ausgefüllt waren.
»Eine wunderbare Party, nicht wahr?«, sagte sie zu Mrs. Bracken, die ihr graues Haar kurz trug und dafür bekannt war, dass sie ihr Pferd oft über Hindernisse außerhalb der Fährte springen ließ, weil sie eben da waren.
»Wo stecken Ihre Eltern, meine Liebe?«, erkundigte Mrs. Bracken sich fast streng. Als sie hörte, dass Grace und Lytton Mercer vermutlich bereits am neunten Grün angelangt waren, sagte Mrs. Bracken: »Die Armen! Wirklich schade!« Dann fügte sie hinzu: »Ich habe gehört, dass Sie für den Citizen arbeiten.« Ihr Tonfall verriet, dass sie hoffte, sich geirrt zu haben.
»Ich bin dort Reporterin«, erklärte Lyle ihr lächelnd. »Ist Ihr Mann auch hier?«
»Er war hier«, antwortete Ruth Bracken. »Aber ich habe schon lange nicht mehr unter die Tische gesehen. Wo ist Ihr Drink, meine Liebe?«
»Ich wollte mir eben einen holen.« Lyle ging in Richtung Bar weiter. Zu den Gästen gehörten Mr. und Mrs. Arnold Bracken, Mr. und Mrs. Marvin James und ihre Tochter Estelle, Dr. und Mrs. Frederic - ohne k! - Sinclair, Charles...
»Ja, Miss Mercer?«, fragte Harold, der Barkeeper.
»Bitte einen Gin Tonic, Harold«, antwortete Lyle. Sie bekam ihren Drink und trat von der Bar zurück, um anderen Platz zu machen. Dann merkte sie sich wieder Namen. Mr. und Mrs. Philip Curtis, Mrs. Helen Shephard - mit a, nicht mit e -, Miss Helen Finley, Inspektor Heimrich und Frau als Gäste von Mr. und Mrs. John Alden - der Inspektor war Marian Aldens Onkel -, Mr. und Mrs. -
»Du kennst doch unseren Gastgeber, Lyle?«, fragte jemand hinter ihr. Sie drehte sich um und sah zu Sam Jackson auf, dem besten Freund ihres Vaters. Zu Jackson musste man wirklich aufsehen - er war fast zwei Meter groß.
»Hallo, Sam«, sagte Lyle. »Gastgeber?«
Jackson und der Mann neben ihm waren fast gleich groß und gleich schlank. Dieser trug Reithosen und im Gegensatz zu Jackson eine Tweedjacke.
»Paul Wainright«, erklärte Jackson Lyle. »Dies ist seine Party. Ein großzügiger Gastgeber, nicht wahr?«
Das war ungewöhnlich. Bisher waren die Kosten des gemeinsamen Frühstücks auf die Teilnehmer umgelegt worden. Mrs. Oliphant hatte einen Pauschalpreis festgesetzt, und die Jäger hatten ihren Anteil bezahlt, ganz gleich, ob sie viel oder wenig aßen und tranken.
»Ihre Party?«, fragte Lyle den Mann namens Wainright, der ein sonnengebräuntes Gesicht, blaue Augen und graue Schläfen hatte. Er gehörte zu den wenigen Anwesenden, die sie nicht kannte. Aber sie wusste, dass ein Ehepaar Wainright vor etwa einem Jahr das alte Kynes-Haus an der Long Hill Road gekauft hatte.
»Das ist sozusagen mein Einstand«, erklärte Wainright ihr. »Ich bin nicht etwa dazu aufgefordert worden. Aber es macht mir einfach Spaß, Miss...« Er wartete auf ihren Namen.
»Lyle Mercer«, warf Jackson ein. »Sie ist Reporterin für unsere neue Zeitung. Ihr Vater ist Clubmitglied, aber er reitet nicht mehr oft. Golf ist ihm jetzt lieber.«
Wainright schüttelte Lyle die Hand und lächelte dabei freundlich. »Sie schreiben also über uns?«
»Im Lokalteil«, antwortete sie. »Paul Wainright und... ist Ihre Frau auch hier?«
»Namen für die Zeitung«, meinte Wainright. »Nein, sie ist nicht hier. Sie hat ihre Migräne. Dabei hat sie sich so auf die Jagd gefreut! Was übrigens Ihren Artikel betrifft, Miss Mercer - Sie brauchen doch nicht zu schreiben, dass ich die Party gegeben habe?«
»Wenn ich das lieber nicht erwähnen soll...«
»Unsinn!«, warf Sam Jackson ein. »Das wissen doch alle! Und alle erkennen es dankbar an.«
»Aber ich möchte trotzdem vermeiden, dass der Eindruck entsteht, meine Frau und ich wollten mit Geld...«
»Blödsinn!«, unterbrach Jackson ihn unwillig.
Paul Wainright zuckte lächelnd mit den Schultern. Lyle fand sein Lächeln sympathisch. »Schreiben Sie, was Sie für richtig halten«, sagte er zu ihr. »Ich bin für die Pressefreiheit.« Er wechselte das Thema. »Das Büfett sieht gut aus, nicht wahr?«
Er hatte recht. Auf einem langen Tisch standen Schüsseln und Platten mit Salaten, Roastbeef, Truthahn, Hors d’Oeuvres, Sandwiches, Krabben in Mayonnaise und anderen Delikatessen. Die Gäste drängten sich um dem Mann mit der hohen, weißen Kochmütze. Auch für dieses Wochenende aus der Stadt importiert, dachte Lyle.
»Soll ich Ihnen etwas mitbringen?«, fragte Wainright. Sie schüttelte den Kopf und hob ihr halbvolles Glas hoch. Wainright sah zu Sam Jackson hinüber, der ebenfalls ablehnte. »Man soll nichts umkommen lassen«, meinte Wainright und ging selbst ans Büfett.
»Er hat im Frühjahr das Kynes-Haus gekauft«, stellte Jackson fest. »Er scheint ganz nett zu sein und reitet gut. Seine Frau übrigens auch. Und...«
Lyle ging mit ihrem Glas in der Hand weiter, lächelte, nickte und merkte sich weitere Namen. Sie erklärte noch mehrmals, dass ihre Eltern auf dem Golfplatz seien, und versicherte Roger Spence zum zweiten Mal, seinen Sturz vom Pferd nicht erwähnen zu wollen. »Hallo, Susan«, sagte sie dann zu Mrs. Heimrich. »Ich wusste gar nicht, dass Sie und Ihr Mann jagen.«
»Wir sind nur Mitläufer«, erklärte Susan Heimrich ihr. »Die Aldens haben uns mitgenommen. Und Merton macht mir schon Zeichen, dass er wieder gehen will.«
Kurz vor zwei stellte Lyle Mercer ihr leeres Glas auf einem Tisch am Nebenausgang ab und ging auf den Parkplatz hinaus. Jemand hatte seinen Lincoln mit New Yorker Nummer so schräg geparkt, dass sie mit ihrem Volkswagen kaum noch aus der Parklücke herauskam. Lyle fuhr auf die Van Brunt Avenue hinaus, folgte ihr in dichtem Verkehr, überquerte die Elm Street und hielt vor dem niedrigen weißen Verlagshaus des Citizen. Das Gebäude war so neu wie die Zeitung selbst. Bis vor zwei Jahren hatten die Einwohner von Van Brunt mit den News aus Cold Harbor und der New York Times auskommen müssen.
Die Redaktionsräume waren leer, was Lyle Mercer keineswegs überraschte, weil am Wochenende nichts anderes zu erwarten war. Aber die Tür von Robert Wallis’ Büro stand offen, und Wallis saß an seinem Schreibtisch. Er sah nicht von der letzten Ausgabe des Citizen auf, die er vor sich liegen hatte. Aber er schlug plötzlich mit der Faust auf den Tisch und sagte laut: »Verdammt noch mal!«
Er hat wieder einen gefunden, dachte Lyle und ging an der offenen Tür vorbei in den größeren Raum, in dem sie ihren Schreibtisch hatte. Sie war samstags selten in der Redaktion, aber sie wusste, dass Robert Wallis, der Chefredakteur und Verleger, immer hier war. Andere Männer spielten Golf oder Tennis und ritten Fuchsjagden; Robert Wallis suchte nach Druckfehlern in der donnerstags erschienenen Ausgabe. Er fand welche, schlug mit der Faust auf den Schreibtisch und knirschte mit den Zähnen. Samstags büßte Robert Wallis für Druckfehler, die nicht wiedergutzumachen waren.
Zweites Kapitel
Lyle spannte ein Blatt Papier in die Schreibmaschine, wollte zu schreiben beginnen und ließ die Hände wieder sinken, weil sie nicht an das Jagdfrühstück, sondern an Robert Wallis dachte. Ein seltsamer Mann. Draußen schien die Sonne, und die Hügel um Van Brunt, das im Putnam County am Hudson lag, leuchteten goldgelb und rot. Und Wallis hockte in seinem Büro am Schreibtisch und suchte Druckfehler, an denen ohnehin nichts mehr zu ändern war.
Sie wusste-nicht viel von ihm. Robert Wallis war vor zwei Jahren von irgendwoher nach Van Brunt gekommen und hatte James Purvis das Gebäude abgekauft, in dem jetzt der Citizen erschien. Er war kein junger Mann mehr - Lyle schätzte ihn auf Mitte Dreißig -, hatte ein scharfgeschnittenes Gesicht mit durchdringenden grauen Augen und war nie ordentlich gekämmt. Oder raufte er sich nur die Haare? Er war jedenfalls ein sportlicher Typ, der wie ein guter Tennisspieler aussah. Aber er spielte nicht Tennis, obwohl er dem Country-Club angehörte.
Lyle erinnerte sich an einige Tatsachen aus dem Leben des Mannes, der in Van Brunt eine Zeitung gegründet und zum Erfolg gebracht hatte. Er war Lokalredakteur einer New Yorker Abendzeitung gewesen, die ihr Erscheinen wegen finanzieller Schwierigkeiten hatte einstellen müssen. Er war verheiratet gewesen, aber seine Frau war seit drei Jahren tot. Das hatte er jedem erzählt, der es wissen wollte. Er war Mitglied des Lion-Club, schickte aber meistens einen Reporter zu den Clubveranstaltungen. Und er konnte Druckfehler nicht ausstehen.
Lyle Mercer wusste nicht sonderlich viel von ihrem Chef, obwohl sie schon seit Ende Juni für ihn arbeitete.
Die Idee, als Reporterin des Citizen zu arbeiten, war ihr erst nach Abschluss ihres Studiums am Radcliffe College gekommen. Sie hatte ursprünglich nicht gleich eine Stellung annehmen wollen, aber nach einer Woche Tennis, Golf und Schwimmen war ihr dieses Leben langweilig geworden. Sie hatte ihren Eltern ihren Entschluss mitgeteilt.
»Ich möchte versuchen, beim Citizen als Reporterin anzukommen«, hatte sie ihnen erklärt.
»Was hältst du davon, Lytton?« hatte Grace zweifelnd gefragt.
»Das muss sie selbst entscheiden«, hatte Lytton Mercer geantwortet, der erster Vize-Präsident einer New Yorker Bank war. »Ich halte es für besser, wenn sie hier und nicht in der Stadt arbeitet - falls sie überhaupt arbeiten will. Dort ist die Luft zu schlecht. Außerdem ist es für Mädchen zu unsicher.«
Lyle hatte ihren Entschluss an einem Samstag gefasst; am nächsten Montag war sie vom Haus ihrer Eltern an der High Road nach Van Brunt gefahren. Das Verlagsgebäude des Citizen hatte zwei Eingänge: Einer führte in die Redaktion, der andere zur Anzeigenannahme, die auch für Druckaufträge und Abonnements zuständig war. Lyle hatte die falsche Tür geöffnet und war von einer freundlichen Frau in mittleren Jahren gefragt worden, was sie wünsche.
»Ich suche einen Job«, sagte Lyle einfach. »Als Reporterin. Im College habe ich an einer Studentenzeitung mitgearbeitet.«
»Hmmm, ich weiß nicht recht«, meinte die Frau. »Damit müssten Sie zu Mr. Wallis gehen. Aber er ist bestimmt sehr beschäftigt.«
»Ich kann später wiederkommen«, schlug Lyle vor. »Um welche Zeit?«
»Er ist eigentlich immer beschäftigt, aber... Gut, ich rufe ihn an - oder ich gehe am besten gleich zu ihm.« Sie kam hinter der Theke hervor, ging durch eine Tür und blieb einige Minuten fort. »Er hat jetzt Zeit für Sie«, erklärte sie Lyle nach ihrer Rückkehr. »Dort entlang.« Lyle ging durch die gleiche Tür und stand in einem großen Raum mit mehreren Schreibtischen. An einem der Tische saß ein blonder junger Mann, der mit zwei Fingern tippte. »Hallo, Reggie«, sagte Lyle zu Reginald Peterson, der mit ihr in die Schule gegangen war. »Wo ist Mr. Wallis?«
Reggie zeigte auf eine Tür. Lyle blieb davor stehen und klopfte an. »Herein!«, antwortete eine raue Männerstimme. Lyle betrat den Raum und sah sich einem großen, schwarzhaarigen Mann gegenüber, der jetzt aufstand. »Wozu wollen Sie einen Job?«, erkundigte er sich.
»Ich möchte arbeiten«, stellte Lyle fest.
»Oder versprechen Sie sich davon ein aufregendes Leben?«, fragte der Mann drohend. »Oder träumen Sie davon, Schriftstellerin zu werden? Sehen Sie diese Arbeit nur als Sprungbrett zum Erfolg?«
»Ich komme eben aus dem College«, erklärte Lyle ihm. »Ich suche nur einen Job, Mr. Wallis.«
»Wie heißen Sie?«
Lyle nannte ihren Namen.
»Lytton Mercers Tochter?«
»Ja.«
»Dann brauchen Sie keinen Job«, stellte Wallis fest und setzte sich, als sei damit alles gesagt. Aber er deutete ungeduldig auf einen Stuhl. »Setzen Sie sich doch!«
»Sie haben recht - ich brauche nicht unbedingt einen Job«, gab Lyle zu.
»Sie brauchen nur einen Zeitvertreib, was?«, fragte Wallis finster.
Er kann mich auf den ersten Blick nicht ausstehen, dachte Lyle entmutigt. Warum hat er mir überhaupt einen Platz angeboten?
»Können Sie zufällig Schreibmaschine schreiben?«, erkundigte Wallis sich. Sein Tonfall zeigte, dass er nicht damit rechnete.
»Ja«, antwortete Lyle. »Ich habe es in der Schule gelernt. In Van Brunt machen fast alle Schüler den Maschinenschreibkurs, Mr. Wallis.«
»Harry Petersons Junge hat es nicht getan«, warf Wallis ein. »Für jemand, der Reginald heißt, ist er ganz in Ordnung. Aber er kann nicht tippen.«
»Maschinenschreiben war ein Wahlfach«, erklärte Lyle ihm, weil sie das Gefühl hatte, Reggie Peterson, die Schule und ganz Van Brunt verteidigen zu müssen.
»Schon gut«, wehrte Wallis ab. Er lächelte plötzlich, als wolle er den ersten ungünstigen Eindruck verwischen. »Sie können also wirklich tippen?«
»Bestimmt!«, versicherte Lyle ihm.
»Dann versuchen wir’s also mit Ihnen«, entschied Wallis. »Sie bekommen sechzig Dollar pro Woche - auch wenn Sie das Geld nicht brauchen. Gehen Sie jetzt hinaus, rufen Sie die hiesigen Beerdigungsinstitute an - hier gibt es zwei, falls Sie das nicht wissen - und telefonieren Sie mit denen in Cold Harbor und Yorktown. Lassen Sie sich die Namen neuer Kunden sagen, rufen Sie die Hinterbliebenen an, um persönliche Informationen zu bekommen, und sehen Sie für alle Fälle im Who’s who nach. Man kann nie wissen! Und schlagen Sie die richtige Schreibweise der Namen im Telefonbuch nach!«
»Jetzt?«, fragte Lyle.
»Natürlich«, antwortete Wallis. »Sie wollten doch einen Job? Jetzt haben Sie einen. Los, an die Arbeit!« -
Lyle stand auf und ging zur Tür.
»Können Sie übrigens auch fotografieren?«, fragte Wallis. »Unsere Reporter fotografieren meist selbst.«
»Ich habe eine Kamera, aber ich mache nicht sehr gute Bilder.«
»Bringen Sie sie morgen mit. Wir fangen um acht an und arbeiten, solange es Arbeit gibt. Hier setzt keine Gewerkschaft die Arbeitszeiten fest.«
Lyle Mercer ging in den großen Raum zurück, in dem Reggie Peterson inzwischen Gesellschaft bekommen hatte. Ein kahlköpfiger Mann von etwa fünfzig Jahren hämmerte geradezu wütend auf seiner Schreibmaschine an einem der anderen Tische. Lyle rief die Beerdigungsinstitute an und erfuhr, dass es diesmal nur wenige neue Kunden gab. Dann sah sie in den früheren Nummern des Citizen nach, wie Nachrufe geschrieben werden sollten, und rief die Hinterbliebenen an, um ihnen mit leicht zitternder Stimme Fragen zu stellen.
Nach einer Woche, in der ihre Stimme sich das Zittern abgewöhnt hatte, war der Kahlköpfige, der Oliver Fermer hieß und über wichtige Lokalereignisse berichtete, aus Wallis’ Büro an ihren Schreibtisch gekommen.
»Ein gewisser Brownley hat das Atcheson-Haus gemietet«, erklärte er ihr. »Ein ziemlich bekannter Maler. Bob möchte, dass Sie ihn interviewen. Wissen Sie, wo das Atcheson-Haus liegt?«
»Ja, natürlich.«
»Vergessen Sie Ihre Kamera nicht.«
Sie hatte Max Brownley interviewt und fotografiert - selbstverständlich in seinem Atelier. Ihre Story erschien sehr gekürzt, aber unter der Überschrift stand: von Lyle Mercer.
Das hatte sich in den vergangenen vier Monaten nicht oft wiederholt, und sie rechnete auch nicht damit, dass der Bericht über das Frühstück des Jagdclubs besonders hervorgehoben werden würde. Lyle gab sich einen Ruck und begann zu schreiben. Über vierzig Mitglieder und Gäste des Jagdclubs versammelten sich am Samstag im Old Stone Inn zu dem traditionellen Frühstück. Diesmal...
Robert Wallis kam mit vorgestrecktem Kinn aus seinem Büro, durchquerte den Raum, ohne Lyle zu sehen, und verschwand in der Anzeigenannahme. Lyle schrieb ruhig weiter. Kurze Zeit später kam Wallis zurück. Diesmal nahm er sie wahr und blieb an ihrem Schreibtisch stehen.
»Na, ist jemand hoch zu Roß an die Bar geritten?«, erkundigte er sich.
»Nein. Aber die Jäger haben von einem alten Graufuchs namens Grandpa gesprochen. Sie scheinen zu fürchten, er könnte an Räude eingegangen sein.«
»Ein Leichenschmaus für einen Fuchs«, murmelte Wallis vor sich hin. »Wollen Sie darauf hinaus?«
»Nein«, antwortete Lyle. »Wäre das besser?«
»Wahrscheinlich nicht«, gab Wallis zu. »Sie würden sonst denken, wir wollten sie auf den Arm nehmen. Die meisten von ihnen verstehen keinen Spaß, wenn es um sie, ihre Pferde und ihre Füchse geht. Noch etwas Besonderes?«
»Roger Spence ist wieder vom Pferd gefallen.«
»Das ist nichts Besonderes.« Wallis schüttelte den Kopf. »Kommen Sie bitte in mein Büro, wenn Sie fertig sind. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
Lyle las das Geschriebene sorgfältig durch, stellte fest, dass sie Shephard doch mit e geschrieben hatte, und verbesserte diesen Fehler. Dann ging sie in Wallis’ Büro.
»Setzen Sie sich, Kind«, forderte ihr Chef sie auf. »Hier, sehen Sie sich das an.« Er schob ihr eine Anzeigenseite der letzten Ausgabe des Citizen über den Schreibtisch. »Was ich angestrichen habe.«
Die erste Anzeige unter Verschiedenes lautete:
Zu verkaufen: Brauner Hengst. Gut zugeritten.
Preiswert. Außerdem Winchester-Gewehr Kaliber
25 mit Zielfernrohr. Chiffre 375
Lyle sah auf und schüttelte den Kopf. »Lesen Sie die zweite«, forderte Wallis sie auf.
Zu verkaufen: Brautkleid Größe 36. Ungebraucht.
Chiffre 376
Sie las diese Anzeige zweimal. Als sie aufsah, schüttelte sie nicht wieder den Kopf. Stattdessen sagte sie: »Oh...«
»Ganz recht«, stimmte Wallis zu. »Das macht einen nachdenklich, nicht wahr?«
»Man kann sich alles genau vorstellen«, sagte Lyle deprimiert. »Ich sehe das Mädchen vor mir. Größe sechsunddreißig. Ein kleines, schlankes Mädchen. Noch sehr jung - aber schon hoffnungslos verzweifelt.«
»Danke, das genügt«, knurrte Wallis. »Ich fange gleich zu weinen an, Kind.«
»Eigentlich merkwürdig, dass das Mädchen das Kleid verkaufen will«, fuhr Lyle fort. »Man sollte doch annehmen, dass sie ihr Brautkleid aufhebt, nicht wahr?«
»Richtig, das sollte man annehmen«, stimmte Wallis zu. »Kennen Sie die Wainrights, Kind?«
»Ich habe Mr. Wainright beim Frühstück kennengelernt. Er hat übrigens alles bezahlt. Die Wainrights haben das alte Kynes-Haus an der Long Hill Road gekauft. Warum fragen Sie danach, Mr. Wallis?«
»Das weiß ich alles«, antwortete Wallis. »Schließlich haben wir einen Artikel gebracht - bekannter Architekt und Stadtplaner zieht nach Van Brunt<. Aber es ist doch unwahrscheinlich, dass diese Leute ein Brautkleid zu verkaufen haben, nicht wahr? Größe sechsunddreißig, ungebraucht.«
Lyle schüttelte den Kopf.
»Mir sind die Anzeigen erst vor einer halben Stunde aufgefallen, sonst hätte ich sie schon früher überprüft«, fuhr Wallis fort. »Mrs. Allsmith hat keinen Verdacht geschöpft. Sie weiß noch, wie die Anzeigen auf gegeben worden sind...«
Am Montag waren zwei Briefe für die Anzeigenabteilung des Citizen angekommen - beide ohne Absenderangabe. Sie enthielten jeweils einen Bogen Schreibmaschinenpapier mit dem Anzeigentext und mehrere Dollarscheine, die reichlich genügten, um die Kosten des Inserats zu decken. Die weiteren Anweisungen waren ebenfalls mit der Maschine geschrieben. Soviel Mrs. Allsmith sich erinnerte, lauteten sie: Nur für die Ausgabe vom 10. Oktober. Bitte Chiffre angeben. Und darunter war getippt: Paul Wainright, Long Hill Road, Van Brunt, New York.
»Das Kynes-Haus ist riesig«, murmelte Lyle Mercer vor sich hin. »Und das Grundstück hat mindestens zwanzig Hektar. Es muss...«
»Ja, es muss Wainright einen Haufen Geld gekostet haben«, stimmte Wallis zu. »Und die heutige Party. Mrs. Oliphant verschenkt nichts.«
»Mindestens tausend Dollar«, meinte Lyle. »Vermutlich mehr.«
»Und diese Leute sollen ein ungebrauchtes Brautkleid verkaufen wollen! Das passt einfach nicht zusammen.«
Lyle nickte schweigend.
»Wissen Sie, wo das Kynes-Haus steht?«
»Natürlich.«
»Dann schlage ich vor, dass Sie heute Nachmittag hinausfahren und die Wainrights fragen, warum sie ein ungebrauchtes Hochzeitskleid verkaufen wollen. Sagen Sie einfach, wir... nun, dass wir das Gefühl haben, wir hätten uns erst vergewissern müssen, ob diese Anzeige wirklich erscheinen sollte.«
»Wahrscheinlich werden sie mir erklären, das ginge uns nichts an«, meinte Lyle und stand auf.
»Was in meiner Zeitung erscheint, geht mich schon etwas an«, antwortete Wallis. »Falls wir getäuscht worden sind - falls jemand den Wainrights einen Streich gespielt hat geht uns das etwas an. Diese Sache kommt mir irgendwie seltsam vor, Lyle.«
Drittes Kapitel
Lyle fuhr die Long Hill Road hinauf, hielt am Straßenrand gegenüber der Einfahrt, die durch ein parkähnliches Grundstück zu Wainrights Haus führte, und bewunderte die bunte Herbstfärbung der Hügel bis hinab zum Hudson, der in der Sonne glitzerte. Die Aussicht war wirklich bewundernswert. An diesem Wochenende waren manche Leute meilenweit gefahren, um Hügel. zu sehen, die nicht halb so schön waren. Aber Lyle Mercer war sich darüber im Klaren, dass sie nicht nur wegen der schönen Aussicht gehalten hatte. Sie überlegte noch immer, was sie die Wainrights fragen sollte. Ob sie eine Tochter hatten, die Größe 36 trug und kurz vor der Hochzeit sitzengelassen worden war? Oder hatte sie sich die Sache anders überlegt und ihrerseits auf die Trauung verzichtet?
Lyle wusste, dass es zwecklos war, sich noch länger mit solchen Überlegungen abzugeben. Sie ließ den Motor ihres Volkswagens wieder an, bog in die Einfahrt ab und fuhr zu dem weißen Haus hinauf. Sie hielt auf der kiesbestreuten Fläche vor dem Eingang, stieg aus und klingelte.
Nach einiger Zeit wurde die Tür geöffnet. Ein hübsches Negermädchen in blauer Uniform sagte: »Ja, Ma’am?« Sie sah dabei auf Lyles Hände herab. Diese Vorsicht war verständlich, denn manchmal klingelten Leute, um für wohltätige Zwecke zu sammeln oder einem Vorträge über die Bibel zu halten.
»Ich möchte Mrs. Wainright sprechen«, erklärte Lyle dem Dienstmädchen. »Oder Mr. Wainright, wenn er zu Hause ist. Ich komme vom Citizen.«
»Von der Zeitung?«
»Ja.«
»Mr. Wainright ist nicht zu Hause«, sagte das Mädchen. »Ich weiß nicht, ob Mrs. Wainright jemanden empfangen will.«
»Ich möchte ihr nur...«
Lyle wurde unterbrochen. Eine blonde Frau - eine etwas mollige Blondine - erschien hinter dem Mädchen in der Diele. Sie trug einen gelb und schwarz gemusterten Morgenrock aus Seide. »Sie dürfen die Leute nicht einfach wegschicken, Lucy«, sagte sie vorwurfsvoll. »Das ist nicht gastfreundlich.« Sie wandte sich an Lyle Mercer. »Kommen Sie doch herein, meine Liebe.«
Ihr Tonfall verriet, dass sie aus den Südstaaten stammte. Aber Lyle fiel auf, dass sie dazu neigte, undeutlich zu sprechen. Die Blondine schwankte kaum merklich und stützte sich auf die Lehne eines Stuhls in der Diele.
»Mrs. Wainright?«, fragte Lyle.
»Natürlich, meine Liebe«, antwortete Mrs. Wainright. »Sie kommen also von der Zeitung? Tut mir leid, aber ich glaube, dass wir sie schon beziehen. Haben wir diese Zeitung, Lucy?«
»Ja, Ma’am, wir beziehen sie«, erwiderte das Mädchen.
»Tut mir wirklich leid, meine Liebe«, fuhr Mrs. Wainright fort. »Wir haben Ihre Zeitung schon.«
»Mit Ihren Kopfschmerzen dürften Sie gar nicht aufstehen, Mrs. Wainright«, sagte Lucy. »Sie müssten wenigstens sitzen.«
»Kopfschmerzen?«, fragte Mrs. Wainright. »Ich habe keine Kopfschmerzen, Lucy. Und diese hübsche junge Dame ist hergekommen, um für ihre Zeitung zu werben, und ich bin davon überzeugt, dass sie an einem so heißen Tag eine kleine Erfrischung brauchen kann.« Mrs. Wainright setzte sich in Bewegung, blieb noch einmal stehen und sagte zu Lyle: »Kommen Sie nur, meine Liebe. Ich bin den ganzen Tag allein gewesen.« Dann verschwand sie in dem Raum, aus dem sie gekommen war.
Lyle sah zu dem Dienstmädchen hinüber. Lucy zuckte mit den Schultern. »Das ist ihr Ernst, Miss. Sie ist manchmal ein bisschen komisch, wenn Mr. Wainright nicht da ist.«
Lyle Mercer folgte der Blondine in den großen Wohnraum des Hauses, der von einem Innenarchitekten ohne Rücksicht auf die Kosten eingerichtet worden war. Zwei
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Richard Orson Lockridge/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Wulf Bergner und Christian Dörge (OT: A Risky Way To Kill).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 07.06.2022
ISBN: 978-3-7554-1542-8
Alle Rechte vorbehalten