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Leseprobe

 

 

 

 

F. R. LOCKRIDGE

 

 

Ein Webfehler im Alibi

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

EIN WEBFEHLER IM ALIBI 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

Als Professor Walter Brinkley nach einem Festessen in der New Yorker Dyckman-Universität zu seinem Wagen kommt, entdeckt er einen sonderbaren Fahrgast auf dem Rücksitz: General Philip Armstrong, den vielgehassten Vorsitzenden im Verwaltungsrat der Uni. Vor dem Gesicht trägt der General eine Schweinskopfmaske und in seinem Schädel klafft eine tiefe Wunde...

 

Der Roman Ein Webfehler im Alibi von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1970; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1971.  

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME. 

  EIN WEBFEHLER IM ALIBI

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Walter Brinkley suchte nach einem passenden Wort und fand es auch: dicklich. Das war ohne Zweifel der richtige Ausdruck und eine Tatsache, mit der er sich abfinden musste. Schließlich war er den größten Teil seines Lebens Professor für Englisch gewesen. Dass er jetzt emeritierter Professor war, befreite ihn nicht von seinen Verpflichtungen der Sprache gegenüber. An diesem Ausdruck konnte er nicht vorbei; dieses Wort war unvermeidbar, wenn er ehrlich sein wollte.

Sein Anzug ließ ihn dicklich erscheinen. Mit dem Anzug war irgendetwas nicht in Ordnung, obwohl Harry Washington ihm versichert hatte, er sehe darin blendend aus. Er hätte sich für diesen Anlass einen neuen kaufen sollen, denn was für den Alltag in North Wellwood genügte, reichte für den Empfang, der ihm zu Ehren im Faculty-Club der Dyckman University gegeben wurde, bestimmt nicht mehr aus. Natürlich würden einige der jüngeren Kollegen - falls überhaupt Gäste kamen - leger gekleidet erscheinen, aber von einem emeritierten Professor wurde ein gewisses Maß an Förmlichkeit erwartet, da immerhin die Möglichkeit bestand, dass ein Mitglied des Verwaltungsrats zu dem Empfang kam.

Ein weißhaariger Siebziger mit rosigem Teint, der in einem neuen Pontiac nach New York fuhr und einen Zweireiher trug, in dem er dicklich wirkte. Brinkley war intelligent genug, um zu erkennen, dass man sich mit manchen Dingen abfinden musste. Dazu gehörte auch die Tatsache, dass sein MG, der noch älter als der Zweireiher war, endgültig ausgedient hatte. Ein schwarzer Pontiac war für einen Professor zweifelsohne besser geeignet. Daran ist eben nichts zu ändern, dachte Walter Brinkley und fuhr mit über hundert Stundenkilometern die Schnellstraße am Saw Mill River entlang. Durch einen gelegentlichen Blick in den Rückspiegel überzeugte er sich, dass kein Streifenwagen hinter seinem Pontiac auftauchte.

Er brauchte sich nicht sonderlich zu beeilen, denn der Empfang war für sechs Uhr angesetzt, und die Gäste würden wahrscheinlich etwas später kommen - falls überhaupt welche kamen.

Wer ging schon in den Faculty-Club, um das Erscheinen eines Buchs mit dem Titel Regionale Verschiedenheiten in der Aussprache des Amerikanischen zu feiern? Außerdem waren die Drinks dort bekannt schlecht - besonders die Martinis schmeckten schauderhaft.

Um halb sechs bog er von der Hudson Bridge ab und befand sich wieder auf dem einst so vertrauten Weg zur Dyckman University. Er näherte sich schon dem ersten Gebäude, als er ein lautes Stimmengewirr hörte; er fuhr langsam weiter und musste vor Absperrungen halten, vor denen Polizei aufmarschiert war. Jenseits dieser Barrikade war die Straße voller lärmender junger Menschen. Auf einem Podest stand ein schwarzbärtiger Mann, der sich mit Hilfe eines Handlautsprechers verständlich zu machen suchte. »...bis unsere Forderungen erfüllt werden!«, verstand Brinkley gerade noch.

Dann sah er, dass ein junger Mann in einer der vordersten Reihen ein lebendes Ferkel hochhielt, was die Demonstranten zu dem Sprechchor Schweine! Schweine! Schweine! animierte.

Brinkley hatte von den Studentenunruhen an amerikanischen Universitäten gelesen. Er hatte die Demonstrationen in Berkeley und Columbia und Harvard im Fernsehen verfolgt, aber die Wirklichkeit unterschied sich doch sehr von dem, was er auf dem Bildschirm gesehen hatte. Er war überrascht darüber, dass man mit dieser Realität so unerwartet konfrontiert werden konnte, und er war besorgt, weil die Straße, die er benutzen musste, gesperrt war. Er hielt und kurbelte das Fenster herunter. Milde Frühlingsluft strömte herein.

Einer der Polizisten trat an den Wagen. Er war keineswegs mild gestimmt. Er fragte Brinkley: »Wohin wollen Sie, Mister?«

»In den Faculty-Club«, antwortete Walter Brinkley dem Beamten. »Er liegt auf der anderen Seite des Universitätsgeländes.«

»Bleiben Sie lieber hier«, riet ihm der Uniformierte. »Kein Mensch weiß, was diesem Gesindel als nächstes einfällt. Sind Sie hier Professor?«

»Nicht mehr«, erwiderte Brinkley. »Ich bin... ich lebe im Ruhestand.«

»Da haben Sie Glück, Mister!«, meinte der andere. »Die jungen Leute sind alle übergeschnappt. Vielleicht besetzen sie noch Ihren Faculty-Club. Gesindel, sage ich Ihnen! Warum müssen Sie dorthin? Haben Sie einen bestimmten Grund?«

»Ja«, antwortete Brinkley nur.

»Das Verwaltungsgebäude, die Bibliothek und die Jefferson Hall sind besetzt worden - und wir müssen hier herumstehen und uns beschimpfen lassen. Ein Mann wie Sie kennt die Ausdrücke, die sie uns an den Kopf werfen, bestimmt nicht einmal.«

Dicklich, dachte Brinkley wieder. Harmlos, alt und dazu noch dicklich. Ein alter Mann, der nicht weiß, welche Schimpfworte Leute sich an den Kopf werfen.

»Wie komme ich von hier aus zum Faculty-Club?«, erkundigte Brinkley sich.

»An Ihrer Stelle würde ich hierbleiben. Dort vorn sind schon etliche Autos umgekippt worden. Am besten fahren Sie nach Hause und...«

Fahr nach Hause, Alter, setz dich an den Kamin und  trink deine warme Milch!, dachte Brinkley erbost. Das hat er nur nicht ausgesprochen.

»Ich möchte zum Faculty-Club«, stellte er energisch fest.

»Okay, wenn Sie unbedingt wollen, Mister«, antwortete der Polizist resigniert. »Fahren Sie drei, vier Straßen weit nach links und versuchen Sie’s dort noch einmal. Aber wenn Sie Pech haben, bildet sich gerade ein Demonstrationszug, von dem kein Mensch weiß, wohin er unterwegs ist.«

»Gut, dann versuche ich es dort«, entschied Brinkley.

»Das ist Ihre Sache«, meinte der andere und richtete sich auf. Er ging zu seinen Kollegen zurück, winkte sie zur Seite und ließ Brinkley nach links in eine Seitenstraße einbiegen.

»Schweine, Schweine! Zündet das Pentagon an!« hörte Brinkley die Studenten schreien. Dann ertönte wieder die Stimme des jungen Mannes mit dem Handlautsprecher: »Unsere Forderungen sind unabdingbar. Das R. O. T. C. muss aus der Universität verschwinden. Wir werden niemals...«

In der Nebenstraße war es ruhiger. Brinkley fuhr an endlosen Reihen parkender Wagen vorbei. Der Lärm verhallte. Er durfte erst an der vierten Kreuzung nach rechts abbiegen, fuhr dann fünf Straßen weiter und bog wieder nach rechts ab. Je näher er dem Universitätsgelände kam, desto lauter wurde erneut das Geschrei. Brinkley musste vor der nächsten Kreuzung halten, um die Demonstranten vorbeizulassen, die sich zu einem langen Zug formiert hatten.

Die Studenten marschierten im Gleichschritt und sangen dabei: We Shall Overcome. Zwei von ihnen trugen einen improvisierten Galgen, an dem eine Strohpuppe baumelte. Jemand hatte ihr eine Schweinemaske aufgesetzt, und auf ihrer Brust verkündete ein Schild: »Dow Chemical«.

Die Marschierer ignorierten den Pontiac und zogen weiter in Richtung Bibliothek, vor der die Bronzestatue des Reverend Isaac Dyckman stand. Brinkley wartete, bis die Kreuzung wieder frei war, fuhr dann langsam weiter und suchte eine Parklücke. Er sah einige, in die sein MG leicht gepasst hätte. Er fuhr kreuz und quer durch die umliegenden Straßen, entfernte sich weit vom Faculty-Club, kam dann wieder zurück und fand noch immer keinen Parkplatz. Er würde sich sehr verspäten. Er würde...

Ein weißer Sportwagen mit offenem Verdeck machte vor ihm eine Parklücke frei. Der Wagen war kein MG, aber Brinkley warf ihm trotzdem einen traurigen Blick nach, bevor er den Pontiac einparkte. Ein junger Mann in einem offenen Sportwagen... ein weißhaariger Alter in einer schwarzen Limousine... Brinkley stellte fest, dass er vor dem Haus einer Studentenverbindung parkte, und hatte unwillkürlich ein schlechtes Gewissen, weil er diesen Parkplatz belegte.

Es war schon nach sechs, als Brinkley den Pontiac abschloss und sich auf den Weg zum Faculty-Club machte. Für einen Aprilabend war es ziemlich warm, aber das mochte daran liegen, dass der Anzug nicht nur ein Zweireiher, sondern auch dick und schwer war. Ein dicklicher alter Mann, der sich mit einiger Verspätung zu einem Empfang schleppte, der wahrscheinlich eher die Bezeichnung Totenwache verdiente. Es wäre besser gewesen, wenn die Dyckman University Press das Erscheinen des Buches verschwiegen hätte, da Brinkleys Werk ohnehin bald in Vergessenheit geraten würde.

Vor dem Faculty-Club stieß er wieder auf die eine Gruppe von Demonstranten. Die Strohpuppe baumelte noch immer am Galgen. Brinkley blieb vor dem Eingang stehen, um einige der mitgeführten Plakate zu lesen. Weg mit dem R. O. T. C.! wurde auf einem verlangt. Fort mit den Pentagon-Schweinen! forderte ein anderes, dessen Träger noch darunter gekritzelt hatte: Und mit den Kinderverbrennern der Dow Chemical! Walter Brinkley nickte verständnisvoll, aber das nächste Plakat verblüffte ihn doch, weil es behauptete: General Armstrong ist ein Rassist.

Brinkley empfand keine besondere Vorliebe für General a. D. Philip Armstrong, der Vorsitzender des Verwaltungsrats der Dyckman University war. Er hatte sich sogar in einem Leserbrief an die Times kritisch zu einem Interview mit Armstrong geäußert. Aber es war bestimmt ungerecht, ihm Rassenvorurteile vorzuwerfen. Armstrong trat für Recht und Ordnung ein - notfalls sollten sie mit dem Schlagstock erzwungen werden aber er war kein Mann, der die eine Rasse mehr als andere geprügelt sehen wollte.

Eigentlich merkwürdig, dass ausgerechnet hier gegen General Armstrong demonstriert wird, überlegte Brinkley sich. Der General gehörte dem Faculty-Club nicht an, und obwohl er bestimmt eine Einladung bekommen hatte, war nicht zu erwarten, dass er sich veranlasst sehen würde, das Erscheinen eines 515 Seiten starken Buchs zu feiern, das ein emeritierter Professor geschrieben hatte. Brinkleys Buch würde Armstrong nicht interessieren, und ein Mann wie er, der sich einen luxuriösen Lebensstil leisten konnte, würde sich nicht von den Drinks und Canapés des Faculty-Clubs in die akademische Wildnis locken lassen.

Walter Brinkley dachte sehnsüchtig an die Martinis zurück, die Harry Washington ihm zu Hause mixte, und durchquerte das leere Foyer, um in das vermutlich ebenso leere Kaminzimmer zu gelangen. Aber zu seiner Überraschung war der Raum keineswegs leer. Myron Bracken war da. Als Werbeleiter der Dyckman University Press musste er unbedingt da sein. Auch Professor Symes hockte in einer Sofaecke. Sein Bart war weißer, als Brinkley ihn in Erinnerung hatte. Wirklich nett von dem alten Knaben, sich diese Mühe zu machen, dachte Brinkley, und stellte erst dann zu seinem Erstaunen fest, dass Symes nur ein Jahr vor ihm in den Ruhestand getreten war. Außer diesen beb den waren etwa zwanzig Männer anwesend, die Brinkley größtenteils unbekannt waren.

Bracken kam quer durch den Raum auf Brinkley zu, nahm sein Glas in die linke Hand und streckte ihm die Rechte entgegen.

»Endlich geschafft!«, rief er triumphierend, ohne zu erwähnen, dass es jetzt Viertel nach sechs war und dass Professor Walter Brinkley als Ehrengast zu spät erschienen war.

»Tut mir leid«, entschuldigte Brinkley sich, »aber ich habe lange keinen Parkplatz gefunden.«

»Überall diese Demonstranten«, meinte Bracken mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Nur bei schlechtem Wetter lässt sich keiner blicken. Manche Leute kommen extra hierher, um sie anzugaffen. Manche Leute werden dabei verprügelt, und andere amüsieren sich als Zuschauer.« Bracken sah sich um. »Ich bestelle Ihnen gleich einen Drink.«

Ein Mann in weißer Jacke schlurfte heran. Er ist auch schon vierzig oder fünfzig Jahre hier, dachte Brinkley.

»Hallo, John«, sagte er lächelnd.

»Guten Abend, Professor Brinkley«, erwiderte der Angesprochene. »Was darf ich Ihnen bringen?«

»Einen sehr trockenen Martini ohne Olive«, bestellte Brinkley. Der andere nickte und schlurfte davon.

»Da!«, sagte Bracken triumphierend und zeigte auf den großen Tisch in der Mitte des Raums, auf dem ein Dutzend dicke Bücher lagen. Brinkley staunte wieder einmal darüber, wie umfangreich sein Buch doch war.

»Mr. Carlbridge ist hier«, fuhr Bracken fort, bevor der Ehrengast sich danach erkundigen konnte, warum niemand

die Bücher in die Hand nahm. »J. Arthur Carlbridge, wissen Sie.«

»Ein Mitglied des Verwaltungsrats«, sagte Brinkley, um zu beweisen, dass er wusste, um wen es sich handelte. Mit so hohem Besuch hatte er nicht gerechnet.

»Er möchte Sie kennenlernen«, fuhr Bracken fort. »Ich habe den ganzen Verwaltungsrat eingeladen, aber Carlbridge ist als einziger gekommen. Er war pünktlich um sechs Uhr hier. Aber er hat sich auch von seinem Chauffeur bringen lassen.«

»Sehr praktisch«, murmelte Brinkley. »Haben Sie den Vorsitzenden auch eingeladen?«

»Natürlich! Er musste allerdings absagen...«

»Das sollte man den Demonstranten mitteilen«, meinte Brinkley. »Sie scheinen ihn zu erwarten.«

»Meinen Sie das Plakat dort draußen? Solche sind überall zu sehen. Der General hat sich als bequeme symbolische Gestalt erwiesen.«

»Eine unglückliche Wahl«, sagte Brinkley. »Ich... danke, John.« Er nahm seinen Martini entgegen, in dem eine Olive schwamm.

»Ich habe Ihren Leserbrief in der Times gesehen«, erwiderte Bracken. »Er wahrscheinlich auch. Aber er hätte ohnehin keine Zeit gehabt. Darf ich Sie jetzt mit Mr. Carlbridge bekannt machen?«

»Gern«, stimmte Brinkley zu und folgte Bracken durch den Raum zu J. Arthur Carlbridge, der mit etwas über 60 Jahren der Benjamin im Verwaltungsrat der Dyckman University war. Carlbridge, ein untersetzter jovialer Mann, begrüßte Professor Brinkley und versicherte ihm, die ganze Universität sei stolz auf sein Buch. Brinkley stellte fest, dass Carlbridge aus Illinois stammte - aus Southern Illinois, aber nicht so weit südlich, dass er wie jemand aus Kentucky sprach.

Nach einem kurzen Gespräch mit Carlbridge war Brinkley wieder sich selbst überlassen. Er sah sich suchend nach Bracken um, der bereits wieder zur Tür eilte, um Dr. James Decker, den Präsidenten der Dyckman University, zu empfangen. Decker war groß, hager und grauhaarig; unter seinem linken Auge zuckte ein Muskel. An seiner Stelle würde ich am ganzen Leib zucken, dachte Brinkley mitfühlend. Er ging auf Dr. Decker zu, der ihm die Hand entgegenstreckte. »Walter, alter Junge!«, sagte Decker und fügte mit einem Blick in Brinkleys Glas hinzu: »Die Martinis sind wohl noch nicht besser geworden, was?«

»Leider nicht, Jim«, gab Brinkley zu.

»Der Club müsste einmal gründlich umgekrempelt werden«, stellte Decker fest. »Wir müssten auf der Straße demonstrieren: Der Barkeeper im Faculty-Club ist ein Rassistenschwein!« Er lachte kurz und wandte sich an John, der neben ihm wartete. »Bitte einen trockenen Martini - aber ohne Olive!«

»Sofort, Sir«, versicherte John ihm.

»Ein ausgezeichnetes Buch«, sagte James Decker zu Brinkley. »Wahrscheinlich sogar definitiv.«

»Jedenfalls ist es dick, Jim«, antwortete Brinkley lächelnd. »Haben Sie schon hineingesehen?«

»Vierhundertacht Seiten«, erwiderte Decker. »Kommen Sie, wir suchen uns eine ruhige Ecke.« Als sie es sich auf einem Sofa gemütlich gemacht hatten, servierte John den Martini - mit einer Olive. Decker trank seufzend einen Schluck. Der Muskel unter seinem Auge zuckte. »Seien Sie froh, dass Sie nicht mehr hier sind, Walter«, sagte er plötzlich. »In ein paar Jahren habe ich auch alles hinter mir. Vielleicht sogar schon früher. Der General findet, dass ich nicht energisch genug durchgreife. Ich soll die Nationalgarde alarmieren. Oder am liebsten gleich die Army.«

»Ich habe gelesen, was der General für richtig hält.«

»Und Sie haben ihm in der Times geantwortet«, erwiderte Decker. »Das war ein guter Brief, Walter. Sie haben Milton zitiert, der sich schon zu seiner Zeit gegen das Establishment aufgelehnt hat und deshalb beinahe als Ketzer verurteilt worden wäre. Hätte es damals schon Rote gegeben, hätten die Bischöfe ihn bestimmt als Roten bezeichnet. Das ist übrigens ein Lieblingswort des Generals... Sie wohnen jetzt ziemlich auf dem Land, nicht wahr?«

»Ungefähr fünfzig Meilen von hier in North Wellwood«, antwortete Brinkley. »Ein kleiner ruhiger Ort, sofern es heutzutage überhaupt noch welche gibt.«

»Nur etwas weit von den Bibliotheken entfernt, was?«, murmelte Decker und sah auf seine Uhr.

»Die dortige Bücherei ist klein, aber erstaunlich gut, und ich bekomme alle gewünschten Bücher im Leihverkehr. Das dauert einige Zeit - aber die habe ich jetzt reichlich. Ich habe einen Neger im Haus, der mich versorgt. Wir reden viel miteinander.«

»Ein friedliches Leben«, meinte James Decker und sah zum zweiten Mal auf die Uhr. Dann richtete er sich auf. »In einer halben Stunde komme ich mit sogenannten Afro-Amerikanern zusammen, die mir ihre Forderungen vortragen wollen. Sie verlangen beispielsweise Schlafsäle nur für Schwarze, nachdem wir jahrelang für die Segregation gekämpft haben! Und Farbige sollen ohne Prüfung zum Studium zugelassen werden. Und...« Er schüttelte den Kopf und stand auf.

Brinkley erhob sich ebenfalls. »Diese Leute haben Jahrhunderte aufzuholen, Jim. Das wissen Sie so gut wie jeder andere.«

»Natürlich«, stimmte Decker zu, »aber wie soll ich alles Unrecht in einer einstündigen Konferenz gutmachen? Seien Sie froh, dass Sie Ihre Ruhe haben und gute Bücher schreiben können, mein Freund. Ich wollte, ich hätte es  geschrieben.« Er ging zwei Schritte weg, drehte sich um und fügte hinzu: »Und nachdem ich mit den Afro-Amerikanern verhandelt habe, muss ich einem Assistenten erklären, dass wir seinen Vertrag leider nicht verlängern können. Er ist ein guter Mann, Walter; er ist Anfang dreißig und Familienvater. Ich würde ihn gern behalten, aber er hat vor dem SDS eine Rede gehalten, die unserem Verwaltungsrat nicht gefallen hat. Besonders General Armstrong war darüber empört.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich wünsche Ihnen viel Erfolg für Ihr Buch, Walter. Hoffentlich verkauft es sich gut.«

»Die Bibliotheken müssten es kaufen«, meinte Brinkley, »aber zehn Dollars ist natürlich für die meisten sehr viel.«

»Jedenfalls ist das Buch gut«, bestätigte Decker. Er nickte Brinkley zu. »Gute Nacht, Walter.« Dann ging er, um mit den Afro-Amerikanern zusammenzutreffen.

Als Brinkley sich abwandte, sah er Bracken mit einem kleinen Mann herankommen, der einen schwarzen Spitzbart trug. »Kennen Sie Professor Timken?«

Brinkley schüttelte den Kopf.

»Er wird Ihr Buch für die Times besprechen«, erklärte ihm Bracken.

Jetzt erinnerte Brinkley sich plötzlich daran, dass er diesen Namen kannte. Professor Timken war eine Kapazität auf dem Gebiet der Phonetik. Er hatte selbst ein Buch darüber geschrieben. »Hoffentlich halten Sie meinen Versuch nicht für allzu laienhaft, Professor«, sagte Brinkley unbehaglich.

»Hm«, brummte der Spitzbärtige nur.

 

Kurz nach elf verließ Walter Brinkley den Faculty-Club. Die Demonstranten waren bereits nach Hause gegangen. Es war jetzt kühler, so dass der schwere Zweireiher endlich angebracht war. Brinkley ging zu seinem Wagen und dachte  unterwegs über den Empfang nach. Ob Myron Bracken damit zufrieden war? 

Der Empfang war nach Brinkleys Meinung ein Erfolg gewesen. Immerhin hatten sich etwa dreißig Gäste dazu eingefunden. Einer war sogar an den Tisch getreten, um ein Exemplar von Brinkleys Buch in die Hand zu nehmen. Er hatte es jedoch nicht geöffnet.

Auf der Straße war es ruhig, als Walter Brinkley zu seinem Wagen ging. Vor der Bibliothek und dem Standbild des Reverend Isaac Dyckman hielten zwei Polizisten Wache, aber die Absperrungen waren beseitigt worden. In der Nähe hielt ein Streifenwagen mit laufendem Motor.

Als Brinkley nur noch wenige Meter von seinem Pontiac entfernt war, blieb er verblüfft stehen. Von der nächsten Straßenlaterne fiel Licht in seinen Wagen und beleuchtete etwas, das wie eine Gestalt auf dem Rücksitz aussah. Eine optische Täuschung, dachte Brinkley. Oder vielleicht ist das gar nicht mein Wagen. Schwarze Limousinen sehen sich nachts sehr ähnlich. Der MG wäre unverkennbar gewesen; den MG hätte er nie verwechselt.

Er trat an den Wagen, der ihm vielleicht nicht gehörte, obwohl ihm die Nummer bekannt vorkam, und sah hinein. Er hatte sich nicht getäuscht. Auf dem Rücksitz saß unbeweglich ein Mann mit abgewandtem Gesicht.

Selbst als Brinkley die Tür öffnete, bewegte sich der Unbekannte nicht. »He!«, rief Brinkley, erhielt jedoch keine Antwort. Er streckte die Hand aus, um den Mann an der Schulter zu rütteln.

Der Mann kippte langsam zur Seite. Er trug eine Schweinemaske. Als sein Kopf auf die Sitzfläche aufschlug, fiel die Maske ab, und Brinkley erkannte, dass der Hinterkopf des Mannes deformiert und der Rücksitz seines Wagens voller Blut war. Walter Brinkley ahnte, dass die Verletzung tödlich war.

Er warf die Tür ins Schloss und lief die Straße entlang zu dem geparkten Streifenwagen. Der Fahrer kurbelte sein Fenster herunter, als Brinkley neben ihm auftauchte. »Was ist los?«, fragte er.

»Jemand hat einen Toten in meinen Wagen gesetzt«, erklärte Brinkley ihm.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Das Theaterstück, das sie gesehen hatten, war nicht sonderlich interessant oder anregend gewesen. Es lohnte nicht, darüber zu sprechen, deshalb begnügte sich Bernie Simmons damit, Nora Curran schweigend in ihrem Apartment gegenüberzusitzen, einen Drink in der Hand zu halten und Noras hübsches Gesicht zu betrachten. Wir passen eigentlich gut zusammen, dachte er dabei. Sie hat braune Haare, ich bin rothaarig; sie ist für eine Frau ziemlich groß, ich bin über einsneunzig; sie...

»Es ist schon spät, Bernie«, stellte Nora Curran fest. »Du musst nach Hause, damit ich morgen ausgeschlafen ins Büro komme.«

»Was ist mit morgen?«

»Morgen soll ich...«, begann Nora. Dann nickte sie lächelnd. »Gut, morgen Abend, Bernie.«

Er stand auf, trat an ihren Sessel und zog sie zu sich hoch. Als ihre Lippen sich eben berührten, schrillte das Telefon. Es riss ein Loch in den Abend.

»Wer kann das um diese Zeit sein?«, meinte Nora verwundert. Sie hob ab. »Ja?« Dann fuhr sie fort: »Oh. Ja, er ist hier, Lieutenant.« Sie winkte Staatsanwalt Bernard Simmons, den stellvertretenden Leiter der Mordkommission, zu sich heran. »Verdammt noch mal!«, knurrte Bernie, nahm ihr den Hörer aus der Hand und sagte: »Ja, John?

Schon gut, John. Ihnen tut es leid. Mir tut es leid. Worum geht es also, John?«

Bernie hörte aufmerksam zu. »Ausgerechnet General Armstrong!«, murmelte er dann. »Wie heißt er gleich wieder?«, wollte er etwas später wissen. »Anfang siebzig? Weißhaarig?« Er hörte wieder zu. »Hm. Nein, John, ich komme lieber selbst. Ich weiß, welches Polizeirevier Sie meinen.« Eine kurze Pause. »Okay, das spart Zeit«, meinte er und legte auf.

»Es handelt sich um den Vorsitzenden des Verwaltungsrats der Dyckman University«, erklärte er Nora Curran. »Er war bei den Demonstranten, und jemand hat demonstriert, dass man selbst einen alten Dickschädel einschlagen kann.«

»Schrecklich!«, rief Nora aus. »Studenten?«

»Keine Ahnung«, gab er zu. »Das müssen wir erst herausbekommen. Jemand hat den Toten in einen geparkten Wagen gesetzt. Dieser Wagen gehört einem ehemaligen Professor für Englisch, den ich selbst noch als Lehrer erlebt habe. Ich würde ihm den Mord an General Armstrong nicht zutrauen. Soviel ich mich erinnere, war bei ihm selbst Milton interessant.«

»Musst du unbedingt hin, Bernie?«

»Ja«, antwortete er. »Ich werde abgeholt.« Er trat ans Fenster und sah auf die Straße hinunter. »Ah, der Wagen ist schon hier.« Er drehte sich um und streckte die Arme nach Nora aus und küsste sie flüchtig.

Er ist in Gedanken bereits unterwegs, dachte Nora.

 

Die schwarze Limousine hielt am Randstein. Ein uniformierter Polizist saß am Steuer. Der Zivilist auf dem Rücksitzt öffnete Bernie Simmons die Tür. »Morgen, Paul«, sagte Simmons zu Sergeant Paul Lane von der Mordkommission Nord.

»Guten Morgen, Counselor«, antwortete Lane.

»Sie haben nicht lange gebraucht«, stellte Bernie fest, als der Wagen anfuhr. »Anscheinend waren Sie ganz in der Nähe, was? Und Stein muss sich seiner Sache verdammt sicher gewesen sein, wenn er einen Wagen losschickt, bevor er weiß, ob ich mitkommen will.«

»Das war anzunehmen, Counselor«, erwiderte Lane gelassen. »Dieser Armstrong war schließlich jemand. Und die Sache mit der Maske... Hat der Lieutenant Ihnen davon erzählt?«

»Welche Maske meinen Sie?«

»Eine Schweinemaske«, erklärte Lane ihm. »Für die Demonstranten sind alle Polizisten Schweine, wissen Sie. Heute hatten sie sogar ein lebendes Ferkel bei sich und haben es hochgehoben. Die jungen Leute sind einfach verrückt, Counselor.«

»General Armstrong war für sie bestimmt ein Schwein«, meinte Bernie nachdenklich. »Was hatte er in der Universität zu suchen, Paul?«

»Keine

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Richard Orson Lockridge/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Wulf Bergner und Christian Dörge (OT: Twice Retired).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 28.04.2022
ISBN: 978-3-7554-1269-4

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