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Leseprobe

 

 

 

 

HENRY CALVIN

 

 

Das Labor des Dr. M.

 

Roman

 

 

 

 

APEX CRIME CHEFAUSWAHL, BAND 6

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

DAS LABOR DES DR. M. 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

Es beginnt mit einem Einbruch im Labor von Dr. Monteverdi, dem bekannten Wissenschaftler. Seine Forschungen an einem Geheimprojekt sind für die Regierung von größter Bedeutung.

Dieser scheinbar harmlose Einbruch versetzt die Spionage-Abwehr in Alarmzustand: Bill Timmins wird von London beauftragt, sich um Dr. Monteverdi und sein Labor zu kümmern. Doch die Lösung aller Rätsel ist schließlich voll merkwürdiger und seltsamer Überraschungen...

 

Der Roman Das Labor des Dr. M. des britischen Schriftstellers Henry Calvin (eigtl. Clifford Hanley - * 28. Oktober 1922; † 9. August 1999) erschien erstmals im Jahr 1967; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im Jahr 1968.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME CHEFAUSWAHL.

  DAS LABOR DES DR. M.

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Auf den ersten Blick wirkte die Zerstörung endgültig. Gläser und Retorten waren von den Regalen gefegt und verschiedene Glastüren eingeschlagen. Der Constable machte ein besorgtes Gesicht.

»Ist es nicht gefährlich, da reinzugehen, Sir?«, fragte er Monteverdi, der kopfschüttelnd und mit geschürzten Lippen auf das Chaos starrte.

»Ja, womöglich«, sagte Monteverdi. »Harrison soll erst mal alles unter Wasser setzen. Wirklich schauderhaft.«

»Da ist doch nichts Radioaktives, Sir?«, fragte der Constable, und Monteverdi hätte beinahe gelächelt.

»Nein, alles altmodisches organisches Zeug. Trotzdem sollte man nicht mit zerschnittenen Fingern darin herumwühlen.«

Mendip, der Hausmeister, schloss die Laboratoriums-Tür und drehte mit betonter Gründlichkeit den Schlüssel um. »Ich spreche mit Doktor Harrison, sobald er kommt, Doktor«, sagte er gewichtig. Der Polizeibeamte folgte Monteverdi in einen anderen Raum, wo sich letzterer auf einen Stuhl setzte und sekundenlang schweigend aus dem Fenster sah. Der Beamte, der spürte, dass er einer Tragödie beiwohnte, achtete dieses Schweigen.

»Es ist vielleicht ganz gut«, sagte Monteverdi schließlich, »wenn die Opfer in solchen Fällen nicht vor Gericht erscheinen. Wahrscheinlich würden wir nach dem Henker schreien. Diese böswillige Zerstörungswut entsetzt einen so.«

»Sie tragen es mit Fassung, Doktor.«

»Ich trage es verdammt schlecht. Wenn ich mich gehenließe, würde ich Rache! brüllen und mit einer Axt durch die Straßen rennen.«

»Ja, das ist nur natürlich, Doktor. Ist in dem Laboratorium etwas, was wert wäre, gestohlen zu werden?«

»Sieht das nach Diebstahl aus?«

»Na ja - manchmal...« Der Polizist überlegte. »Manchmal schlagen sie zur Täuschung alles zusammen. Ich glaube, es ist zu früh, Diebstahl auszuschalten.«

Monteverdi lächelte. In Anbetracht der Situation, dachte der Polizist, hatte er ein nettes Lächeln.

»Was sollten sie stehlen? Das Nervengas, von dem ein Teelöffel voll ganz London umbringt?«

»Arbeiten Sie daran?« Der Polizist fuhr wie elektrisiert auf; und diesmal lachte Monteverdi laut und schüttelte hilflos den Kopf. Nicht viele Männer hätten die Sache so leichtgenommen, dachte der Polizist.

 

Zwei Kilometer entfernt erwachte Simon Manderson in seinen Kleidern. Sein Mund fühlte sich an wie ein ruhender Vulkan, und seine Augen wollten sich nicht öffnen, doch er musste aufstehen. Das erste Merkwürdige, was ihm auffiel, waren feine Glassplitter, die in seinem rechten Jackenärmel steckten. Er erhob sich sehr vorsichtig aus dem Bett und betrachtete sie. Weitere Splitter lagen am Boden. Er konnte sich nicht entsinnen, wo, um Himmels willen, sie herkamen. Doch hatte er eine verschwommene, traumartige Erinnerung an ein gewaltiges Krachen.

»Is die Sauferei, Symie-Boy«, murmelte er. »Hast wieder einen gehoben, muss aufhören, Symie-Boy, oder nächse Mal landeste aufer Polizei.« Nicht sehr hoffnungsvoll griff er in seine Taschen, um festzustellen, ob an dem Ort, wo er das Glas zerschmettert hatte, auch Geld gewesen war. Nichts! Das war gefährlich, stellte er erschreckt fest. Wenn er irgendwo einbrach, zu betrunken, um zu wissen wo, und dabei nicht mal einen Shilling eingenommen hatte, konnte er für sieben Jahre oder mehr in Sicherheitsverwahrung kommen, ohne überhaupt zu ahnen, was er getan hatte. Mit der Hand, die immer noch in einem schwarzen Lederhandschuh steckte, zupfte er die Glassplitter vorsichtig von seinem Ärmel. Ein Glück, das mit den Handschuhen, dachte er. Die alten Vorsichtsmaßregeln befolgte er nach wie vor, selbst wenn sein Gehirn aussetzte.

 

In einem Zimmer in Whitehall saß Bill Timmins vor einem einfachen Schreibtisch und erwartete die Befehle von Colonel Tukes. Der Colonel begann gern mit konzentriertem Schweigen, in dem er seine Gedanken ordnete und seine Ideen entwickelte und wobei er nicht gestört sein wollte. Er war ein ausgemachter Schuft, dachte Bill voller Zuneigung und Ehrfurcht. Ein ganzer Mann. Das blonde Haar begann sich an der Stirn leicht zu lichten, was Tukes bei seiner lederbraunen Haut gut stand. Die Haut schien etwas zu eng für seine starken Knochen und war straff über sein Gesicht gespannt. Er hätte gut einen herausfordernden Zahnbürstenschnurrbart tragen können, hatte aber keinen. Alles an ihm war auf das Wesentliche reduziert.

»Im Grund wissen wir überhaupt nichts«, sagte Tukes schließlich, »außer dass im Labor dieses Monteverdi eingebrochen worden ist. Vielleicht hat es gar nichts zu bedeuten.« Bill machte lediglich ein aufmerksames und intelligentes Gesicht und sagte nichts. Er war gut geschult.

»Was wir wissen«, sagte Tukes in schärferem Ton, »ist folgendes: Monteverdi arbeitet an etwas: Genetik, Vererbung. Ich kenne die Einzelheiten nicht.«

»Künstlich herbeigeführte Veränderung im DNA«, sagte Bill. »Der genetische Grundstoff.« Letzteres fügte er beiläufig hinzu, um zu erklären, was er meinte, ohne den Eindruck zu erwecken, Tukes belehren zu wollen. Er hatte den richtigen Ton getroffen. Tukes nickte anerkennend.

»Sie haben Ihre Hausaufgabe gelernt. Glauben Sie, dass uns die Sache was angeht?«

»Möglich.« Bill sagte nichts weiter. Tukes hasste breit ausgeführte Vermutungen.

»Verdammt möglich. Dieser Monteverdi«, er schlug auf eine Akte auf dem Schreibtisch, »benutzt einen Haufen Briefmarken. Zum Beispiel für Briefe an einen Knaben namens Hoenniger in Zürich. Kann harmlos sein.«

»Natürlich.« Bills Stimmung hob sich momentan bei dem Gedanken, dass er vielleicht nach Zürich geschickt würde, doch verscheuchte er diese Idee und die daraus entspringende Freude als zu romantisch und amateurhaft.

»Diese Burschen fallen mir auf die Nerven«, sagte der Colonel. »Sie quasseln über alles, selbst wenn sie sich nicht von einer anderen Nation haben kaufen lassen. Akademische Freiheit nennen sie das. Verfluchter nationaler Selbstmord.«

Bill schwieg, und der Colonel lachte kurz auf. »Ich habe Wissenschaftler noch nie leiden können.«

»Ich weiß.« Auch Bill lachte.

»Aber es ist nicht unsere Aufgabe, sie zu mögen oder nicht zu mögen«, fuhr der Colonel im Ton der Selbstkritik fort. »Sie kommen von der Universität Leeds, um das Genetische Institut zu studieren und Anregungen für ein neu zu eröffnendes in Leeds zu bekommen. Das gibt Ihnen die Berechtigung, sich mit allen zu unterhalten.«

Bill nickte zweifelnd.

»Wird Monteverdi das glauben?«, fragte er.

»Dieser verdammte Monteverdi soll wissen, wer Sie sind. Das ist der beste Weg«, kam er Bills Einwand zuvor. »Dann brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, dass er es herauskriegt. Falls er gekauft ist, riecht er den Braten sofort. Sie können ihm nichts vormachen, aber in jedem Fall Angst einjagen. Solange Sie da sind, ist er beunruhigt. Und das soll er auch sein. Um o leichter sind die Burschen zu fangen,«

»Sie halten ihn für gekauft?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Misstrauen gehört bei uns zum Geschäft. Irgendwelche Fragen?«

»Nein, Sir.«

Es gab einen Haufen Fragen, doch Bills Aufgabe war, die Antworten zu finden. Er verließ das Büro etwas besorgt, doch war es eine Beunruhigung, die an Lampenfieber grenzte, also eher eine aufputschende nervöse Erregung. Wichtig war, wie immer, sich nicht in Vorurteile zu verstricken; aber es war schwer, zu sagen, wo Planung aufhörte und Vorurteile begannen. Gegen seinen Willen sah er bereits Größe und Einrichtung des Labors vor sich, die schattenhafte Gestalt Dr. Monteverdis, eine langsame, geduldige Untersuchung, die Entdeckung, die Entlarvung. Keine körperlichen Gewalttaten, das kam in diesem Fall wohl nicht in Frage. Er hätte nichts gegen Gewaltanwendung gehabt, aber in erster Linie kam es darauf an, die Sache zu klären, den Brandherd zu finden, wie sich der Colonel oft ausdrückte, und ihn gründlich zu löschen. Trotzdem, es war ein Jammer, dass es sich um Ellerton und nicht um Zürich handelte.

Er war jung genug, um den Drang nach rascher körperlicher Aktion zu verspüren; doch zwang er sich zu Ruhe und Langsamkeit. Er trug Monteverdis Akte zurück in den Raum, den er mit drei anderen Leuten teilte, und las sie methodisch durch. Es stand nicht viel darin. Wirklich erschöpfende Berichte über sämtliche nur möglichen Leute zu besitzen, würde bedeuten, dass das Amt um das Zehnfache vergrößert und zu einer Art Volksbücherei degradiert würde. Die Zusammenfassung im Who’s Who war fast verdächtig nichtssagend. Es lagen ein paar Ausschnitte aus Fachzeitschriften bei, von denen aber keine Artikel Aufregendes zu berichten hatten, wenn sie auch erstaunlich lesbar waren. Doch auch dies war wertvoll, um sich ein Bild von Monteverdi zu machen. Bill sah ihn nicht länger als weichlichen Professor, sondern als einen klaren, womöglich genialen Mann. Verräter gab es in allen Größen und Schattierungen. Er warnte sich selbst, Monteverdi von vornherein für einen Verräter zu halten, entschuldigte sich dann aber selbst mit dem oft ausgesprochenen Grundsatz des Colonels, dass Misstrauen zu ihrem Geschäft gehöre.

Viel war nicht vorhanden, woraus er sich hätte instruieren können, doch zwang er sich als selbst auferlegte Disziplinübung, eine halbe Stunde lang stillzusitzen und nachzudenken; und dabei fiel ihm eine Sache ein. Er ging in Bridies Büro, versuchte, sie zum Lächeln zu bringen, was nicht gelang, und bat sie, in anderen Abteilungen nach Material über Dr. Harry Monteverdi und Professor Karl Hoenniger aus Zürich zu fragen.

»Und wann habe ich die Zeit für dieses kleine Vergnügen?«, fragte Bridie. »Haben Sie vergessen, wie man ein Telefon benutzt?«

»Ich arbeite an einem Fall«, sagte Bill. Er hatte wie fast alle anderen Angst vor Bridie. »Es ist für den Colonel.«

»Wirklich für den Colonel?«

»Würde ich Sie je belügen, Bridie?«

»Muss ich das beantworten?«

»Sie wissen, dass ich Sie anbete.«

»Raus! Schreiben Sie erst die Namen auf, dann aber raus.«

Er schrieb die Namen auf einen Zettel und ging hinaus. Bridie würde wohl kaum etwas herauskriegen. Dazu hatte sie nie Zeit. Aber wenigstens hatte er diese Möglichkeit nicht unversucht gelassen. Er hatte einen gepackten Koffer in seinem Büro, aber da es nicht so eilig war, fuhr er nach Hause und packte einen anderen mit passenderen Sachen für eine Woche in einer Universitätsstadt. Abgesehen von einer Westentaschenkamera und einem guten Fernglas - normale Utensilien für einen Touristen - und ein paar Kleinigkeiten war nichts Romantisches an dieser Packerei. Einen Augenblick lang zögerte er, ob er einen Revolver mitnehmen sollte, weil irgendjemand lästig werden konnte. Schließlich packte er ihn aus der üblichen Überlegung ein, dass Argwohn immer das Sicherste sei.

Seine Tante Ethel schrubbte unten im Flur den Holzfußboden und bereitete eindeutig alles auf die nächste Anstreichorgie vor, weshalb er froh war, abzureisen. Vom Geruch frischer Farbe bekam er immer Halsschmerzen.

»Du fährst doch nicht schon wieder weg?«, jammerte sie. »Für ein paar Tage, Ethel. So ist nun mal das Vertreterdasein.«

»Ich habe Ted und Gladys eingeladen. Und Teds Schwester. Sie wollte dich immer schon kennenlernen.«

»Warum?«

»Deswegen brauchst du nicht so schnippisch zu werden. Sie ist ein sehr nettes Mädchen. Auch gebildet.«

»Ist das die, von der Onkel John sagt, sie sähe aus wie ein abgestandenes Hors d'Oeuvre?«

»Dein Onkel John redet viel Unsinn«, fauchte Ethel. »Sie ist ein sehr hübsches Mädchen und auch keine Spur altmodisch.

Ich weiß, dir ist es egal, aber es ist nicht sehr nett, meine Verabredungen über den Haufen zu werfen.«

Er zwang sich zu einem entschuldigenden Blick, da sie es gut meinte.

»Ehrlich, es tut mir leid, Tante Ethel. Vielleicht kann ich sie treffen, wenn ich wiederkomme.«

»Und wann ist das? Diese Gebrüder Harlow denken wohl, du hättest überhaupt kein Privatleben? Wenn du mich fragst, sie nutzen dich aus.«

»Na ja, sie zahlen.«

»Und ich habe so einen schönen Lammbraten gekauft.«

Er schloss den Koffer ab, brachte ihn hinunter, legte ihn in den Kofferraum des Anglia, stieg ein und startete zu der langen Reise nach Nordwesten. Der Anglia war fast die einzige Konzession an die Romantik, die er in sich zu unterdrücken suchte. Er hatte eine 1500-Kubikzentimeter- Maschine mit zwei Vergasern und einer speziellen Radaufhängung; und auf einer durchschnittlich gewundenen Straße konnte er es mit einem doppelt so großen Wagen aufnehmen. Fahren machte ihm Spaß.

Teds Schwester. Tante Ethel mochte in diesem Fall recht haben, aber in ihrer ewigen Hoffnung, ihn wie Onkel John an die Kette zu legen, hatte sie schon ein paar ausgesprochene Nieten angeschleppt. Trotzdem wäre es vielleicht nett gewesen, das Mädchen kennenzulernen und etwas mit ihr anzufangen. Ihm fehlten derartige Vergnügungen, und es war schon lange Zeit her, dass ihm etwas dergleichen untergekommen war. Im Amt gab es keine entsprechenden weiblichen Wesen, und es war seltsam, wie schwer man Mädchen kennenlernte, wenn man sich nicht in einer festen Gesellschaft mit gleichbleibenden Gewohnheiten bewegte. Aber, zum Teufel, Teds Schwester war bestimmt wie alle anderen Mädchen, die nichts im Kopf hatten, als unter die Haube zu kommen, trotz angeblicher Konzessionen an ein freies Leben, und Heiraten war unmöglich. Dem Colonel würde das gar nicht passen, und ihm selbst im Grunde auch nicht. Es wäre ein Gedanke, bei Ethel auszuziehen und eine eigene Wohnung zu suchen. Es wäre auch schön, ein paar Auslandsaufträge zu bekommen. Andererseits konnte es auch reizvoll sein, in Ellerton zwischen einer Horde unmoralischer Studentinnen zu leben. Vielleicht. Er beschloss, nichts zu erwarten.

Er war noch jung für die Aufgabe. Er sonnte sich nicht in seiner Jugend, sondern beneidete die solide Position mancher älterer Herren im Amt, und vor allem den Colonel, der voller Erfahrung, ganz beherrscht, phantasielos und unfähig zu irgendwelchen Zweifeln an sich selbst war. Bill ahmte gesammelten, harten Ausdruck des Colonels nach; trotzdem spürte er die zitternde Erregung der Jagd. Er merkte, dass er vor sich hin pfiff.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Er kam in Ellerton an, als die Geschäfte noch geöffnet waren, meldete sich aber nicht bei Monteverdi. Selbst wenn Monteverdi wusste, wer er war, bedurfte die Sache einiger Vorbereitungen, ehe er sich zeigte. Es handelte sich um sehr langweilige Vorbereitungen. Er entdeckte eine Buchhandlung in der Nähe der Universität und kaufte drei Bücher über Genetik, von denen er hoffte, dass sie ihm einen Überblick gäben, nahm ein Zimmer im Bahnhofshotel und verbrachte dort lesend den Abend. Es lag ein gewisser Stolz darin, nicht völlig ahnungslos zu sein, und wahrscheinlich hatte ihn der Colonel ausgewählt, weil er in dem Ruf stand, an Wissenschaften interessiert zu sein. Den Männern im Smoking und Frauen in Abendkleidern nach zu urteilen, die in die Halle kamen, fand im Hotel eine Hochzeit oder sonst ein Fest statt. Er kam sich ziemlich vereinsamt vor, konzentrierte sich jedoch aufs Leben und versuchte, wenigstens die einfachsten Dinge in sich aufzunehmen.

Am nächsten Morgen war nichts mehr von der Zerstörung im Labor zu sehen, von der er gehört hatte. Monteverdi saß an einem Experimentiertisch, schrieb eine Liste und wühlte in Notizzetteln, die auf dem Tisch verstreut lagen. Ein blondes Mädchen im Straßenkleid stand neben ihm und redete, doch als Bill näher trat, murmelte sie etwas und ging, wobei sie Bill mit einem beiläufigen, desinteressierten Blick streifte. Eine Nervensäge, dachte Bill.

»Ich bin Timmins«, sagte er, »aus Leeds.«

Monteverdi sah zu ihm auf, offenbar noch an die Notizen auf dem Tisch denkend.

»Ach ja«, sagte er. »Leeds.« Er schüttelte matt den Kopf. »Kommen Sie besser in mein Zimmer. Deirdre!«, rief er einem Mädchen in weißem Kittel zu und hob zwei Finger, während er auf stand und Bill in ein kleines Büro führte; das Mädchen folgte fast sofort mit zwei Tassen Tee. Monteverdi setzte sich; Bill nahm ihm gegenüber Platz und schwieg, bis das Mädchen verschwunden war. Auch dann sagte er noch nichts. Eine der besten Geschichten des Colonels war, wie er und ein anderer Mann einen der Spionage Verdächtigen in einem Nachtzug von Inverness nach London gebracht und acht Stunden lang kein Wort gesagt hatten. Am Schluss der Reise hatte der Verdächtige plötzlich sein Geständnis herausgeschrien, Bill nippte an seinem Tee und starrte in die Tasse.

Als er aufschaute, saß Monteverdi zurückgelehnt und entspannt auf seinem Drehstuhl und lächelte ihn amüsiert an. Bill betrachtete ihn ruhig, worauf Monteverdi seine Tasse ergriff, trank, sie abstellte und weiterlächelte. Dieser Mann war nicht der Typ, der ein Geständnis von sich gab, nur um ein Schweigen auszufüllen - selbst wenn er tatsächlich ein Geständnis von sich zu geben hatte.

»Sie wissen, warum ich hier bin?«, sagte Bill.

»Der Grund für Ihr Hiersein übersteigt meine Vorstellungskraft, mein Sohn, aber ich dachte, Sie würden es mir erklären, wenn Sie die Schweigefolter leid sind.«

»War das so offensichtlich?«

Monteverdi sah ihn an, immer noch amüsiert, immer noch entspannt, immer noch mit einem weisen und wissenden Ausdruck. Nach einer längeren Pause sagte er: »Ich habe immer den Verdacht gehabt, dass Leute wie Sie dafür bezahlt werden, ein kleines privates Spiel zu betreiben. Es macht mir Spaß, einen von Ihnen aus der Nähe dabei beobachten zu können. Sind Sie gut?«

»Nicht schlecht.«

»Sie scheinen fit zu sein.«

»Sie nehmen die Sache also nicht ernst, Sir.« Es war nicht nur eine gute Taktik, sondern schien selbstverständlich, das »Sir« hinzuzufügen. Ob Monteverdi gekauft war oder nicht, er war ein beeindruckender Mann; stämmig, mit viereckigem Gesicht und Glatze, die ihm gut stand. Vielleicht fünfundvierzig, vielleicht fünfundfünfzig. Nein, entsann sich Bill, genau einundfünfzig.

»Ich weiß nicht, was ich ernst nehmen soll. Ich habe die Arbeit von drei Monaten verloren. Das ist ernst genug. Wir hatten ein entsetzliches Durcheinander aufzuräumen. Nichts Radioaktives«, fügte er grinsend hinzu. »Das scheint die Leute immer zu enttäuschen.«

»Ist was gestohlen worden?«

»Ach, die Pläne von ein paar Bombenzielgeräten, einige Aufnahmen von Polaris-U-Booten, die Formel für einen Strahlenschutz - die üblichen Sachen. Wissen Sie eigentlich, wo Sie sind?«

»In einem Institut für Genetik.« Bill ließ sich nicht irritieren. Ein Mann, der Witze machte, verriet sich auch manchmal mit einem: »Sehr richtig.« Monteverdi zeigte Erstaunen über so viel Einsicht. »Wir haben ein paar Chromosomen in den Ausguss geschüttet. Und Nährböden.«

»Sie scheinen sich darüber nicht sehr aufzuregen, Sir.«

»Gestern hat jemand das gleiche zu mir gesagt. Aber ich gehe nicht in die Luft, wenn ich mich aufrege, dazu bin ich zu dick. Und wenn Sie meine Meinung wissen wollen, wer im Labor eingebrochen hat, dann sage ich, ein Betrunkener - oder vielleicht ein paar Kinder.«

»Sie können recht haben.«

»Was haben Sie denn für eine Theorie?«

»Kann ich jetzt schon eine haben?«

»Nein, wohl nicht. Na ja, Sie tun Ihre Arbeit, welcher Art sie, in Gottes Namen, auch sein mag. Was wollen Sie?«

»Ich möchte nicht lästig fallen.«

»Ach, das tun Sie nicht, solange Sie nicht unfreundlich zu unserem Personal oder den Studenten sind. Das dulde ich nicht.«

»Nein. Im Grunde weiß ich nicht, was ich will. Wenn ich nur einfach hierbleiben und mich umschauen darf.«

»Schauen Sie sich um, soviel Sie wollen. Es gibt nicht viel zu sehen.«

»Sind Papiere vorhanden?«

»Was für Papiere?«

»Ach, Notizen über Experimente und solche Sachen, Sir.«

»Würden Sie sie verstehen?«

»Wahrscheinlich nicht. Ich habe ein paar von Ihren Veröffentlichungen gelesen.«

Monteverdis Interesse wuchs spontan.

»Machen Sie Witze? Heraus damit, was haben Sie im Sinn?«

»Offen gestanden, ich weiß es nicht, Sir. Bei uns im Amt sind wir ganz einfach misstrauisch.«

»Ach so! Wissen Sie, ich könnte Schwierigkeiten machen und Sie nach Ihrem Ausweis oder Abzeichen, oder was Sie so mit sich herumschleppen, fragen. Wenn ich irgendetwas hier hätte, was die Regierung interessiert, könnten Sie ein russischer Spion sein. Ich habe keine Ahnung, vielleicht haben Sie den richtigen Timmins ermordet und seine Kleider gestohlen. Aber bitte, ich nehme das Risiko auf mich. Falls Sie ein russischer Spion sind und etwas Wichtiges finden, lassen Sie es mich bitte trotzdem wissen.«

»Das werde ich tun, Sir.« Bill quittierte den Witz mit einem Lächeln. Falls Monteverdi ein schlechtes Gewissen hatte, benahm er sich wahrhaftig geschickt. Er hatte etwas physisch Beruhigendes an sich, etwas gleichzeitig Bestimmtes und Sanftes. Wahrscheinlich war er ein guter Lehrer, falls Genetik etwas mit Lehren zu tun hatte.

»Von mir aus können Sie jetzt im Haus herumstöbern«, sagte Monteverdi. »Sie wollen doch wohl kaum, dass ich mich an Ihre Fersen hefte. Wenn Sie mich brauchen, ich bin in dem kleinen Labor, wo Sie mich gefunden haben.« Damit war Bill freundlich entlassen.

Offenbar hatte man ihn an einen typisch sinnlosen Fall angesetzt, der sich als reine Seifenblase entpuppte. Kein Mensch konnte Monteverdi wegen irgendetwas verdächtigen, außer wegen eines leicht schottischen Akzents und seines Sinns für Humor. Er jedenfalls konnte nichts gegen ihn Vorbringen, wollte aber die Augen offenhalten.

Ja, es war alles recht vage, und die Hinweise bei diesem seinem ersten Alleingang schienen reichlich dünn und unbefriedigend. Zweifellos hatte Monteverdi an DNA gearbeitet, dieser genetischen Substanz, die Augenfarbe, Größe, Missbildungen, Intelligenz und so weiter bestimmte; aber das war für jeden Genetiker eine Routineangelegenheit. Er hatte sich auf die Fehlleistungen der DNA spezialisiert, vor allem Mongolismus. Damit wurde es schon interessanter. Das Studium von Fehlern konnte einen schöpferischen Menschen dazu bringen, diese Fehler zu rekonstruieren. Vielleicht gab es eine Möglichkeit - die Artikel, die Bill gelesen hatte, schienen das anzudeuten -, an der Erbmasse herumzudoktern, um Übermenschen oder Riesenhühner zu züchten.

Wenn das der Fall war und Monteverdi darauf zusteuerte, dann musste seine Arbeit andere Leute interessieren: Hühnerzüchter zum Beispiel. Russische Hühnerzüchter? Bill schüttelte den Kopf. Das erinnerte ihn an irgendetwas. Nach ein, zwei Minuten fiel es ihm ein: Er hatte von der synthetischen Aufzucht von Wesen mit drei Beinen und saftigem Fleisch, die kaum Futter brauchten, gelesen. Der Colonel würde über solche Phantasien die Nase rümpfen - nein, im Gegenteil. Der Colonel hielt alles für möglich.

Er war erstaunt, wie klein das Institut war. Es hatte nur ein großes Labor, in dem ungefähr zwanzig Leute ihrer mysteriösen Arbeit mit den üblichen Gegenständen wie Mikroskopen, Glasbechern, Bunsenbrennern und Reagenzgläsern nachgingen; außerdem zwei kleine Labors, vier oder fünf Räume, wo in einem eine große Tiefkühlanlage stand und in den anderen Ersatzteile und Vorräte gelagert waren; und außerdem gab es drei kleine Büros. Alles zusammen nahm das Erdgeschoss des alten Hauses ein. Im Stockwerk darüber hauste erstaunlicherweise das Institut für mittelalterliche Geschichte.

Es war eine kleine Universität mit ungefähr zwei- oder dreitausend Studenten. Das Genetische Institut und die anderen Hauptgebäude oben auf dem Hügel stammten aus dem vorigen Jahrhundert; ringsum hatte man nach dem Krieg unschöne Betonkästen gebaut. Das Genetische Institut besaß nicht das moderne klinische Aussehen, das er von einer Stätte der Wissenschaft erwartet hatte. Auf den Böden lag Linoleum über alten Holzdielen, und der Rest war meistens dunkelgestrichenes Holz.

Er kam sich dumm und überflüssig vor, während er durch das Institut ging, ohne zu wissen, was er suchte, und wahrscheinlich unfähig, es zu erkennen, falls er etwas fand. Aber auch das gehörte nun mal zu seiner Aufgabe, alles in sich aufzunehmen und kennenzulernen, jedes unbedeutende Detail zu registrieren, in der Hoffnung, dass etwas davon plötzlich eine Bedeutung bekommen konnte. Der Hausmeister, der in einem gemütlichen kleinen Kabuff nahe dem Eingang saß und den Sportteil einer Zeitung las, wünschte ihm in einem gepflegten Akzent guten Morgen, was Bill sofort auffiel und erstaunlich fand.

Zunächst fühlte er sich befangen, als er zwischen den Studenten oder Laboranten oder was sie nun waren herumschlich, bis er merkte, dass sie sich nicht für ihn interessierten. Im großen Labor entdeckte er einen leeren Schreibtisch, an den er sich setzte; er zog ein Notizbuch heraus und schrieb alles auf, was ihm in den Kopf kam. Eine augenfällige Tatsache waren die katastrophalen Sicherheitsmaßnahmen. Wie sich erwies, konnte ein völlig Fremder hier herumlaufen, wie es ihm passte, ohne gefragt zu werden. Den Leuten war es ganz einfach egal.

Das konnte ein gutes, aber auch schlechtes Zeichen sein. Schlecht, wenn es hier etwas Stehlenswertes gab. Gut, wenn es bedeutete, dass Sicherheitsmaßnahmen überflüssig waren, weil es nichts zu stehlen gab. Monteverdi, schrieb er. Er überlegte, warum man Monteverdi überhaupt verdächtigen sollte. Und dann fiel ihm ein, dass einmal der Colonel alle Wissenschaftler verdächtigte, und das mit gutem Grund, wenn man bedachte, wie viele schon übergewechselt waren; und andererseits konnte ein Wissenschaftler, der etwas nach Draußen

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Henry Calvin/Apex-Verlag/Successor of Henry Calvin.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx (Model: Victoria Borodinova).
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Luise Däbritz und Christian Dörge (OT: The DNA Business).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 25.04.2022
ISBN: 978-3-7554-1258-8

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