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Leseprobe

 

 

 

 

CAROLA SALISBURY

 

 

Die Reise ins Vergessen

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

DIE REISE INS VERGESSEN 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

Sie hat den furchtbaren Verdacht, eine Mörderin zu sein. Aber ihre Reise ins Vergessen wird zu einer Flucht vor der Angst. Irgendjemand ist hinter ihr her - um sie einzusperren, oder zum Schweigen zu bringen. Und da sind diese unheimlichen Zwischenfälle, für die es keine Erklärung gibt. Oder hat sie sich alles nur eingebildet? Vielleicht treibt ihr gequälter Geist immer schneller der Grenze zu, hinter der es nur noch eines gibt: den Wahnsinn...

 

Carola Salisbury (* 10. Januar 1964 in Nottingham) ist eine britische Kriminal-Schriftstellerin.

Der Grusel-Krimi Die Reise ins Vergessen erscheint in der Reihe APEX CRIME. 

   DIE REISE INS VERGESSEN

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Als sie die Augen öffnete, lag sie auf dem Fußboden, am Rande des Teppichs. Wenn sie genau hinschaute, sah sie den Staub in den Dielenritzen. Sie lag ganz still. Sie wagte nicht, sich zu bewegen, aus Angst, die dichte Hülle zu zerreißen, die sie zu umgeben schien und alles Schmerzende von ihr fernhielt.

Sie erblickte den beigefarbenen Teppich und einzelne Sonnenflecken an der gegenüberliegenden Wand, wo eine Corniche-Landschaft in einem schweren Rahmen hing, dessen Profil harte Schatten warf. Das Gemälde löste bei ihr gewisse Assoziationen aus. Sie schloss die Augen und lauschte.

Es war wichtig, dass sie ihre Wahrnehmungen bedächtig machte. Sie musste behutsam vorgehen. Es war, als führe sie einen Wagen ohne Bremsen; in jeder Kurve konnte sie über die Straße hinausgeraten und ins Verderben stürzen.

Sie lag in der Nähe eines offenen Fensters. In einem Baum zwitscherten Vögel. Sie konnte ihren Flügelschlag hören, wenn sie aufflogen. In den Blättern raschelte leise der Wind. In der Ferne hörte sie Verkehrslärm. Dort drohte keine Gefahr.

Sie öffnete die Augen und konzentrierte sich auf das Bild. Es zeigte ein graues Haus und eine Hafenmauer. Ein blaues Fischerboot war auf den Strand gezogen, und über das Heck gebeugt, mit dem Rücken zum Betrachter, stand ein Mann. Sie lag da, wie sie schon oft dagelegen hatte, und versuchte herauszubekommen, ob es ein junger Mann war oder ein alter.

Und dann stürzte sie ab, und es gab kein Halten mehr, keine Umkehr.

Ihre eigene Stimme: »Mehr weiß ich nicht. Ich kann mich nicht erinnern. Es ist alles schon so lange her. Können wir nicht von etwas anderem reden?«

Eine andere Stimme - eine Stimme, die sie liebte und gleichzeitig verabscheute: »Reden Sie, worüber Sie wollen. Es ist ganz einerlei... Was Ihnen gerade in den Sinn kommt.«

Schluchzend stand sie auf. Ihr Fuß knickte um, und sie taumelte.

Sie hielt sich an der Fensterbank fest und starrte auf die sonnengesprenkelten Blatter der Platane. Sie versuchte, allen Mut zusammenzunehmen und fortzulaufen - irgendwohin, nur um nicht hinunterblicken zu müssen.

Aber dann blickte sie doch hinunter.

Dr. Maher lag immer noch am Fuß der Platane; ihr Gesicht war nach oben gerichtet, ihre Arme waren ausgebreitet und ihre Finger zu Krallen erstarrt, als ob sie sich in den Plattenfugen des Hofes hätten festhalten wollen, Ihr Tweedrock war hochgerutscht und zeigte bläulich-weiße Oberschenkel, die über die zu engen Strümpfe quollen.

Das war Wirklichkeit. Nichts hatte sich geändert - nur der karmesinrote Fleck am Fuß des Baumes hatte sich zu einer Lache verbreitert, und ein Kohlweißling flatterte über den graumelierten Haaren von Dr. Maher.

Da schrie Sally Baxter auf.

Am nächsten Morgen kamen sie in die in einem ruhigen Viertel von London gelegene Klinik, in die man Sally gebracht hatte. Eine unwirsche Oberin führte sie über leere Korridore zum Sprechzimmer des Direktors. Der junge Burton lächelte verschämt einer hübschen Krankenschwester in weißer und malvenfarbener Tracht zu, die ihn jedoch nicht beachtete.

»Die Herren von der Polizei, Dr. Heymans«, sagte die Oberin und ließ die beiden missbilligend eintreten.

Der Direktor sprang auf: eine stämmige Gestalt in einem blauen Anzug, aus dessen Jackentasche ein weißes seidenes Tuch kokett hervorlugte. Phillips erkannte ihn sofort, wie er ihn vom Fernsehen und von den Schutzumschlägen diverser Sachbücher über Populärpsychologie in Erinnerung hatte; das gleiche koboldhafte Gesicht, die gleichen wieselhaften Knopfaugen. Er stellte sich und Burton vor.

»Guten Morgen, meine Herren«, sagte Dr. Heymans. »Wollen Sie sich nicht setzen?« Und mit einem boshaften Grinsen: »Mutter Oberin, würden Sie die Güte haben, unsere kleine Schwester Summers mit Kaffee herzuschicken?«

Die Oberin rümpfte die Nase und ging. Dr. Heymans rieb sich fröhlich die Hände und setzte sich.

»Eine Tasse Kaffee und der Anblick dieses herzigen kleinen Häschens wird uns für unsere Konferenz in die rechte Stimmung versetzen.« Jetzt sah er Burton an und kicherte. »Ich scheine unseren jungen Freund schockiert zu haben.«

Burton grinste dümmlich und errötete.

»Wie geht es Miss Baxter?«, fragte Phillips.

Dr. Heymans legte eine andere Maske an, wechselte von Komödie zu Tragödie. »Nicht gut«, sagte er ernst und schürzte die Lippen. »Gar nicht gut. Das arme Mädchen. Hoffentlich haben Sie nicht die Absicht, sie sehen zu wollen.«

»Wäre das unmöglich, Doktor?«

»Oh, es würde mir gar nicht behagen«, sagte Heymans und zeigte es, indem er - Hände in den Hosentaschen und verdrossen dreinblickend - tief in seinen Sessel rutschte. »Sie wurde im Zustand eines akuten Schocks hier eingeliefert, wissen Sie.«

»Die Untersuchung ist für Freitag angesetzt, und bis dahin brauche ich eine Aussage von ihr. Sie wird also wohl nicht anwesend sein können?«

Heymans blickte an die Decke, »Unter gar keinen Umständen«, sagte er. »Ganz entschieden: nein.« Er ließ das Kinn auf die Brust sinken und blickte den Inspektor finster an. »Nächste Frage.«

Phillips grinste. »Ich komme auf mein Ersuchen zurück, die Patientin sehen zu dürfen. Könnten Sie mich inzwischen etwas über den Hintergrund von Miss Baxters Zustand aufklären? Ich meine, in medizinischer - in psychiatrischer Hinsicht?«

Heymans blickte betroffen drein. »Mein lieber, guter Mann«, sagte er, »das Mädchen ist erst gestern eingeliefert worden. Ich hatte noch keine Möglichkeit, mir eine Meinung zu bilden.«

Er spielt mit mir, dachte Phillips. »Wie ich höre, stehen Sie mit ihrem Arzt in Verbindung, Doktor. Konnte er Ihnen nicht erklären, weshalb sie bei Dr. Maher in Behandlung war?«

Heymans zog seine Bügelfalten hoch und legte seine in Krokodillederschuhen steckenden Füße auf die Kante des Schreibtisches.

»Ihre Methode gefällt mir«, sagte er. »Sie ist so angenehm indirekt. Vielleicht kann ich Sie doch für einen kurzen Augen

blick zu meiner Patientin lassen. Ja, ich habe mich telefonisch ein wenig mit ihrem Arzt unterhalten.«

»Und?«

»Vor sechs Monaten hat sie einen Suizidversuch gemacht.«

»War's ein echter, Doktor?«

»Nein«, sagte Heymans. »Die meisten sind es nicht, wie Sie wohl wissen werden. In Miss Baxters Fall war es - wie in so vielen anderen Fällen - ein Hilferuf.«

»Haben Sie irgendeine Vorstellung, wodurch er hervorgerufen gewesen sein könnte, Doktor?«

»Es lag eine spezifische emotionelle Störung vor«, sagte Heymans. »Eine in die Brüche gegangene Liebesgeschichte. Möglicherweise entsprach die Reaktion der Patientin ihrem psychischen oder neurotischen Gesamtbild. Sie wurde abgewiesen - vernichtet. Also wies sie von sich aus das Leben zurück, symbolisch gemeint, und rief um Hilfe.«

Burton schrieb in sein Notizbuch. Phillips wartete. Dann fragte er weiter: »Diese Neurose, Doktor - könnten Sie sich da etwas präziser ausdrücken?«

»Nein«, sagte Heymans. »Nicht, ohne die Patientin untersucht zu haben. Ihr Arzt scheint von der Allgemeinpraxis einiges zu verstehen, aber er bildet sich beileibe nicht ein, Psychiater zu sein. Er hat die Gefahrensignale erkannt und Miss Baxter sofort zu einem Spezialisten geschickt.«

»Und das war Dr. Maher?«

»So ist es.«

»Und Dr. Maher hat dem behandelnden Arzt geschrieben, nachdem sie die Patientin gesehen hatte?«

»Ja«, sagte Heymans. »Sie diagnostizierte Depressionen, die weit zurückreichten und vermutlich familiären Ursprungs waren. Sie stellte die Behandlung daraufhin ab.«

»Das war also die Neurose?«

»Nein. Die Depressionen waren nur die Hälfte der Geschichte. Der Patientin lag noch etwas anderes auf der Seele, doch Dr. Maher wollte sich in diesem Stadium noch auf keine Diagnose festlegen. Sie gab Miss Baxter den Rat, zweimal wöchentlich zur therapeutischen Behandlung zu ihr zu kommen. Und das ist während der vergangenen sechs Monate geschehen. Bis gestern - bis zum Tode von Dr. Maher.«

»Und Dr. Maher hat dem behandelnden Arzt keine Mitteilung über etwaige Fortschritte gemacht?«

Heymans kicherte. »Sie haben in ihrer Wohnung rumgeschnüffelt, wie mir scheint. Sie sind mit Ihren Messbändern und Ihrem Fingerabdruckpulver und Ihrem anderen Klimbim aufgekreuzt. Sie werden sich wohl eine eigene Ansicht von den Gewohnheiten der armen Frau gebildet haben. Nun ja.«

»Ich hatte eine unverheiratete Tante, die fast in demselben Chaos lebte«, sagte Phillips. »Aber die war halb blind, und außerdem strichen da noch sechs Katzen rum. Zurück zu Dr. Maher: Wir haben eine ganze Wagenladung Papiere abgefahren, alle in ihrer kritzeligen Handschrift und gänzlich ungeordnet. Ich muss schon sagen, ich war einigermaßen erstaunt. Und das bei einem Psychiater...«

Heymans lachte schallend, brach aber schnell ab und blickte wieder düster drein.

»Berthe Maher war eine rührende Frau«, sagte er, »und ein verdammt guter Psychiater. Aber der unmethodischste Mensch, der mir je begegnet ist. Obendrein unordentlich und dazu noch wollene Strümpfe und monströse Unterhosen! Nein, sie ist nie dazu gekommen, sich noch einmal mit dem behandelnden Arzt der Patientin in Verbindung zu setzen. Was immer sie von der Patientin während der Therapie in Erfahrung brachte, ist mit ihr gestorben. Was nicht besagen will, dass Sie keine entsprechenden Aufzeichnungen finden werden - wenn Sie eifrig genug wühlen.«

Phillips dachte an den Inhalt von Dr. Mahers »Registratur: Schulhefte mit Eselsohren, die mit nachlässigem Bleistift-Gekrakel vollgeschrieben waren, teilweise in deutscher Sprache, und dazwischen lagen überall verstreut leere Sherry-Flaschen.

Er seufzte und sagte dann: »Sie meinen also, Doktor, wenn Miss Baxter geisteskrank ist, dann müsste Dr. Maher das zur Zeit ihres Todes gewusst haben?«

Heymans zog seine Mundwinkel geringschätzig herab. »Es behagt mir nicht, wenn man mit einem Wort wie »geisteskrank« leichtfertig umspringt«, sagte er, »aber wir wollen es einmal dabei belassen. Berthe Maher - tja, für einen komischen alten Kauz wie mich war sie reichlich unorthodox. Hypnose, Lysergsäure - ganz einerlei, sie hat alles ausprobiert. Aber ein ganz ausgezeichneter Psychiater, ohne Zweifel. Wenn Sie mich fragen, ob sie auf dem besten Wege war, hinter das Wesen und die Natur des Problems ihrer Patientin zu kommen, dann würde ich sagen: ich glaube, ja.«

Phillips wartete noch eine gute halbe Minute, nachdem Burton aufgehört hatte zu schreiben, ehe er sich räusperte, um fortzufahren. Doch Heymans kam ihm zuvor.

»Sie gefallen mir, Inspektor«, sagte er, »und ich erspare Ihnen die Verlegenheit, mir die entscheidende Frage zu stellen, die Sie bedrückt. Ja, es ist möglich, dass Miss Baxter Dr. Maher einen Stoß gegeben hat - aber nur aus dem Grund, den Sie als Polizeibeamter anerkennen werden: dass sie in jenem Zimmer mit dem offenen Fenster zu der Zeit körperlich, aber nicht geistig anwesend war. Doch ich weiß einfach nicht genug von ihrem Geisteszustand, um sagen zu können, ob sie zu so etwas fähig wäre.«

Auf dem Korridor verkündete das Klicken von hohen Absätzen Schwester Summers mit dem Kaffee. Sie war in derselben Tracht gekleidet wie das Mädchen, das Burton angelächelt hatte, und sie war noch hübscher. Dr. Heymans schaltete blitzschnell auf seine komische Maske um. Er machte kleine Scherze, und als sie das Tablett auf seinem Schreibtisch abstellte, tat er, als wolle er ihr einen Klaps aufs Hinterteil geben. Dann begegnete er Burtons Blick und blinzelte ihm zu. Burton errötete und kam sich vor wie ein Voyeur.

 

Das Zeug, das sie ihr gegeben hatten, stumpfte die scharfen Kanten der Dinge ab, die sie schmerzten. Sie war in der Lage, an David zu denken; nur an David, nicht an die anderen Dinge - und an David nur in jenen Tagen, da sie beisammen gewesen waren...

Sie stand neben David an seinem großen Schreibtisch, den er das Flugdeck eines Flugzeugträgers nannte. Sie beobachtete sein ausdrucksvolles, hageres Gesicht mit den flinken dunklen Augen, neben dem alles andere wie tot aussah. Sie stellte Betrachtungen über die Hände an, die nervös über den Umbruch fuhren.

»Kapiert, Puppe? Da machen wir was draus, dass die Leutchen mit den Ohren schlackern.«

Sie überließ sich seinem Enthusiasmus. Sie ließ sich von den Wogen tragen, von der Flut der Ideen, die seiner nimmermüden Phantasie entsprangen.

Sie liebte ihn...

»Wir beide zusammen, Puppe - wir machen aus der Zeitschrift ein Ding mit Pfiff...«

Sie beide zusammen. Ihr erster Posten als Redakteurin - und unter David Wildernesse, dem verrücktesten Burschen der Zeitschriftenbranche. Diese Aussicht hatte ihr Angst eingejagt, als man ihr die Neuigkeit überbrachte. Er war ihr als geschäftsführender Redakteur vorgesetzt worden. Irgendjemand sagte, sie hätten ihn von der Theke des El Vino weg kidnappen müssen. Wildernesse hatte zwei Jahre lang nicht gearbeitet. Er sollte die Auflage der Zeitschrift hochtreiben, bevor man resignierte und ihr Erscheinen einstellte. Wildernesse und das unerprobte Mädchen - auf sechs Monate zusammengespannt, und wenn's nicht klappte: Rausschmiss.

An jenem Morgen hatte sie in ihrem neuen Büro gewartet - eingeschüchtert von der hochnäsigen Sekretärin, die man ihr zugeteilt hatte, und von den vielen farbigen Telefonen am Ende ihres eleganten Schreibtisches - darauf gewartet, dass er sie zu sich rufen würde.

Aber er rief sie nicht. Er kam zu ihr. In Hemdsärmeln, die Jacke über der Schulter. Mit dem Ellbogen schob er sich zur Tür herein und sah sich verwundert in dem eleganten Büro um, das durch die Moosrosen und die Parfümflacons, mit denen die Werbeleute sie überhäuft hatten, mehr einem Boudoir glich.

Er hatte gegrinst, wobei er eine Gesichtshälfte in Falten zog. »Alle Achtung, Puppe. Macht was her, der Laden. Und jetzt wollen wir den verdammten Karren mal in Schwung bringen!«

Die Stimme der Oberin drängte die Erinnerung zurück: »Besuch für Sie, Miss Baxter.«

Schemenhaft standen sie in dem abgedunkelten Zimmer. Sie hatten ihre Hüte in der Hand und blickten auf sie herab wie Leidtragende bei einer Beerdigung. Der Jüngere starrte auf ihre nackten Schultern. Die Oberin wandte sich zum Gehen, und Sally unterdrückte den heftigen Impuls, sie zurückzurufen.

»Miss Baxter, wir sind von der Polizei«, sagte Phillips sanft. »Aber machen Sie sich nur keine Sorgen...«

Sie gingen schonend mit ihr um. Aber all ihre Behutsamkeit trug nicht dazu bei, ihr Entsetzen und ihren Schreck zu besänftigen. In Tweed-Anzügen und mit schweren Stiefeln saßen sie an ihrem Bett. Der jüngere Mann schrieb in ein Notizbuch, das auf seinen Knien lag. Phillips lenkte sie hilfreich, während sie ihre Aussage machte, und ließ sie nicht aus den Augen.

Ein paar einführende Fragen, und dann: »Sie sind zweimal wöchentlich zu Dr. Maher gegangen, dienstags und donnerstags von zehn bis Viertel vor elf. Das muss für Sie als Berufstätige doch sehr schwierig gewesen sein, Miss Baxter.«

Himmel, wollten die ihr eine Falle stellen? Hielten die sie für eine Gemüsefrau? Hatten die keine Ahnung von den Freiheiten einer Zeitschriften-Redakteurin: drei Stunden Mittagspause, ganze Vormittage beim Friseur? Wie sollte sie anfangen, ihnen das zu erklären?

»Nein - nein, eigentlich nicht«, sagte sie. »Ich brauche keine Uhr zu stechen oder so etwas. Es kommt nur darauf an, dass die Sachen termingerecht in Satz gehen.«

»Sie haben doch mit Ihren Arbeitgebern eine Absprache getroffen, nicht wahr? Und man hat Sie zweimal wöchentlich zur Behandlung gehen lassen?«

»Nein.«

»Hat nicht einmal Ihr unmittelbarer Vorgesetzter gewusst, dass Sie bei Dr. Maher in Behandlung waren?«

Ihr unmittelbarer Vorgesetzter - David. Das wäre eine groteske Szene gewesen: er in Hemdsärmeln, fragend von seinem gewaltigen Schreibtisch aufblickend, spöttisch... »David, als du mich zum Teufel geschickt hast, da wollte die eine Hälfte von mir nicht mehr leben, aber die andere Hälfte will es noch immer. Würdest du mir also bitte die Erlaubnis geben, dass ich zur Seelenmassage gehen kann?«

»Nein«, sagte sie.

»Ich verstehe. Schön. Können Sie mir dann erzählen, was Donnerstagvormittag geschehen ist? Sie sind doch wie gewöhnlich um zehn Uhr zu Dr. Maher gegangen?«

Jetzt kam es. Sie behielt sich fest in der Gewalt.

»Ich bin etwas zu spät gekommen«, sagte sie. »Ungefähr zehn Minuten. Auf dem Weg nach St. John's Wood wurde ich beim Cricket-Platz durch eine Verkehrsstockung aufgehalten.«

»Sie sind also etwa zehn Minuten nach zehn bei Dr. Maher angekommen und gleich zu ihrer Wohnung im vierten Stock hinaufgefahren. Hat Sie jemand gesehen, als Sie das Gebäude betraten?«

»Nein. Es gibt zwar einen Pförtner, aber der ist selten da. An dem Morgen war er nicht da.«

»Ich verstehe. Sie sind also mit dem Lift hinaufgefahren und haben an der Tür von Dr. Maher geklingelt?«

Hinter dem Entsetzen, das auf sie zukam, ahnte sie dunkel eine Falle.

»Nein«, sagte sie. »Die Tür war offen, da bin ich hineingegangen.«

»Ist das nicht etwas ungewöhnlich - ich meine, dass die Tür offenstand?«

»Ich - ich habe nichts dabei gefunden. Zuerst. Wissen Sie, ich hatte mich verspätet, und sie konnte ja schon im Sprechzimmer auf mich gewartet und die Tür offengelassen haben.«

»Aber sie war nicht da. War irgendjemand in der Wohnung?«

»Nein.«

Niemand. Es war jetzt alles sehr weit entfernt, doch sie erinnerte sich, Dr. Maher mit Namen gerufen zu haben. Der schmale Korridor war ihr bedrückend und muffig vorgekommen. Sie war an der offenen Schlafzimmertür vorübergegangen: ein zerwühltes, ungemachtes Bett, ein schwarzer Pyjama auf einem rosaroten Teppich. Weiter ins Sprechzimmer: beige und grau, die Corniche-Landschaft über der Couch, und Dr. Mahers Stuhl an seinem Platz neben der Couch, darauf ihr Notizbuch und ihr silberner Füller. Ein leichter Luftzug vom Fenster. Die Gardinen bewegten sich.

Das offene Fenster...

Da begann sie zu schreien. Sie presste sich die Hände vor die Augen. Die beiden Kriminalbeamten starrten sie an, hilflos. Die Oberin kam ins Krankenzimmer gestürzt.

 

»Was denken Sie, Sir?«

Phillips und Burton kehrten nach Scotland Yard zurück.

»Tod durch Unfall«, sagte Phillips. »Ein Unfall. Mit was anderem kommen wir nicht durch.«

»Selbstmord?«

»Versuchen Sie's mal. Dr. Maher steht gegen sieben auf, ruft den Pförtner an und beschwert sich, dass ihre Zeitung noch nicht da ist. Dann macht sie sich Eier mit Speck und kocht sich Kaffee. Danach schreibt sie in ihrer entsetzlichen Krakelschrift an ihre Mutter, sie käme sie am übernächsten Wochenende besuchen, und legt den unfrankierten Brief auf den Tisch in der Diele, um ihn später mitzunehmen. Dann legt sie Füller und Notizblock für die Sitzung mit dem Mädchen zurecht. Und schließlich endet die ganze Geschichte damit, dass sie im vierten Stock einen Hechtsprung aus dem Fenster macht. Wie finden Sie das?«

»Vielleicht hat es das Mädchen getan; das wäre doch möglich«, sagte Burton eigensinnig. »Diese Typen haben manchmal ganz verquere Beziehungen zu ihren Seelenmanglern. Vielleicht ging bei ihr das Licht aus, bevor sie sie aus dem Fenster stieß?«

»Dafür haben wir keinen Beweis«, sagte Phillips.

»Heymans hatte sich ja ziemlich eingehend mit ihrem Geisteszustand befasst.«

»Sie kennen diese Psychiater nicht, Jack. Die würden dasselbe von Ihnen und mir denken, wenn sie uns auf der Couch hätten und wir packten mit unserem Geschlechtsleben aus, immer munter drauflos.«

»Vielleicht hat sie es trotzdem getan? Gelegenheit jede Menge.«

»Vielleicht. Jedenfalls gibt's bei Mord keine Verjährung, und

Miss Baxter werden wir schon nicht aus den Augen verlieren.« Phillips zog eine zerknitterte Zeitung aus der Tasche. »Welcher Film läuft denn um halb drei im Lincoln, Jack?«

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Mittlerweile träumte Sally Baxter jede Nacht. Es war stets das gleiche: eine grässliche Variante der Entdeckung von Dr. Mahers zerschmettertem Körper. Es begann mit einem langen dunklen Gang. Den ging sie entlang. Und der Wind zupfte an ihrem langen weißen Gewand und ihren offenen Haaren. Sie kämpfte gegen den Zwang, der ihre schleppenden Schritte bestimmte. Vergebens. Am fernen Ende des Korridors war ein Bogengang, der in einen ungeheuer großen Raum führte, dessen gewölbte Decke sich in geheimnisvoller Dämmerung verlor. Und hier wurde aus dem Wind ein richtiger Sturm, gegen den sie sich stemmen musste.

Dann der Blick aus dem Fenster nach unten. Und schreiend wachte sie auf...

Dr. Heymans machte sich Sorgen um sie, ebenso die Oberin. Zweimal wurde sie von ihrem Schreien herbeigerufen und saß bis zum Morgengrauen an ihrem Bett, eingehüllt in einen grünen Hausmantel, den sie vorn zugebunden hatte, und mit einem steifgeflochtenen Zopf, der ihr wie bei einem Husaren hinten herunterhing. Brummig erzählte sie aus dem Krieg, als sie beim Queen Alexandra Imperial Nursing Service in Kairo gewesen war. Sie sondierte nicht und schürfte nicht. Sie erstattete nur am Morgen Dr. Heymans Bericht. Er kam dann zu ihr herein und fragte, was das alles zu bedeuten habe. Sally erzählte ihm nie, was sie in ihren Träumen erlebte.

Als sie eine Woche in der Anstalt war, bekam sie Besuch von Harry Greaves. Harry war einer der leitenden Redakteure der Evangeline Press. Er kündigte sein Kommen in einem kurzen Schreiben an und schickte ihr einen Fahnenabzug der demnächst erscheinenden Nummer ihrer Zeitschrift. Sie durchblätterte die glatten Seiten, die so vertraut rochen, und erinnerte sich der nervenaufreibenden Wochen, die sie gekostet hatten: Konferenzen in ihrem Büro, wo die ganze Redaktion sich in den Sesseln und auf dem Teppich breitmachte; aufgeregte Telefongespräche wegen der Fotomodelle, die sich nicht blicken ließen, und wegen der Studios, die von nichts wussten; Auseinandersetzungen mit dem Anzeigenchef, der stets versuchte, Anzeigen für Deodorants unter ihre gelungensten Layouts zu schmuggeln; halbvolle Kaffeetassen und halbgerauchte Zigaretten; im Hintergrund David Wildernesse, der sich mit einem Bleistift an die Zähne klopfte.

War ich das? Habe ich es jemals fertiggebracht, diesen ganzen Zirkus in der Hand zu halten? Und wird mir das je wieder gelingen?

Wie ein flinkes Eichhörnchen kam Harry Greaves am nächsten Nachmittag hereingehuscht: klein, mit unmodern weiter Hose, die fast die Spitzen seiner winzigen Schuhe verdeckte. Forschende graue Augen blickten sich im Zimmer um, registrierten die gelblichen Wände, den Krug mit Teerosen, die Vorhänge mit ihrem jakobinischen Dessin - und das Mädchen, das aufrecht im Bett saß.

»Na, wie geht's uns denn, altes Mädchen?«

Sally lächelte. Ihr fiel ein, dass sie immer Harry Greaves schickten, wenn irgendetwas auszubügeln war. Wenn ein wichtiger Anzeigenkunde wegen eines falsch gesetzten Textes oder wegen einer schlechten Wiedergabe tobte, wenn ein wertvoller Mitarbeiter abzuspringen drohte - ein Lunch mit H. G. behob den Schaden. H. G. mochte jeden, und sogar die eigenwilligsten Außenseiter mochten H. G. Es scheint so, als gehörte ich jetzt in diese Kategorie, dachte sie.

Er hockte sich auf das Fußende ihres Bettes, ließ seine Beine baumeln, schob sich die Brille auf dem Nasenrücken höher. Diesmal war sogar Harry Greaves verlegen, und er zeigte es. Natürlich war er inzwischen über sie im Bilde. Mittlerweile wussten wohl alle Bescheid. Ihr Name musste in den Berichten aufgetaucht sein. Und bis zu den Liftmädchen und Botenjungen hinab wusste jedermann im Verlag, dass sie in einer Klapsmühle war.

Sally spielte mit dem Zipfel ihrer Bettdecke und fragte sich, weshalb er gekommen sein mochte. Greaves war so etwas wie ein Kavalier, sicher, aber es musste noch etwas dahinterstecken.

Er kicherte. »Ich habe die Fernsehtype unten gesehen, diesen Heymans. Das ist schon eine Nummer, alles was recht ist.« Greaves hatte ihn offensichtlich in sein Lieblingsalbum eingeklebt. »Sind Sie denn bei ihm gut aufgehoben, meine Liebe?«

»Ja«, log Sally.

Er war zappelig und blickte erleichtert drein, als eine Schwester mit einem Kaffeegedeck erschien. Dann zündete er Sally eine Zigarette an und sagte: »Na, wie gefällt's Ihnen so?«

»Ganz gut«, sagte Sally fröhlich.

»Wir haben ja einen Schreck gekriegt, als wir hörten, dass Sie - dass Sie nicht ganz auf dem Posten sind, Sally. Sie hätten sich uns anvertrauen sollen. Mir oder David...« Seine Stimme verlor sich, und er musterte angestrengt das Mundstück seiner Zigarette. Das kam noch hinzu: er wusste von ihr und David Wildernesse. Vielleicht wussten es auch die Liftmädchen und die Botenjungen.

»Na ja«, fuhr er fort, »auf jeden Fall sind wir jetzt im Bilde, und wir stehen natürlich alle einmütig hinter Ihnen.« Dieses Konzept schien seine Sicherheit wieder herzustellen, denn er sah sie erneut an. »Und was haben sie als nächstes mit Ihnen vor, Sally?«

»Ich denke, sie werden mich nächste Woche entlassen«, sagte sie.

Er blickte verdutzt drein. »Einfach so?«

»Ja. Ich werde die Therapie zweimal wöchentlich fortsetzen«, sagte sie, und fügte ruhig hinzu: »Mit einem anderen Psychiater.«

Er blinzelte ungläubig. »Mit einem anderen... Ach so. Ja, natürlich.«

»Mit einem Dr. Flint«, sagte sie. »Wir fangen am kommenden Dienstag an.«

»Das ist ja schön. Na, das ist ja sehr schön.« Dann wechselte er das Thema. »Wissen Sie, Sally, die leitenden Herren sind sehr zufrieden mit Ihnen - einfach hin- und hergerissen.«

»Danke, Harry.«

Er hatte es gern, wenn man ihn Harry nannte.

»Wir sind jetzt schon ganz schön aus den roten Zahlen heraus, und die Jungs in der Buchhaltung reiben sich die Hände. Sie und David - Sie beide zusammen - erstklassige Arbeit! David kann sich jetzt anderen Projekten zuwenden, während Sie...«

Jetzt kommt's, dachte sie.

»...wir sind der Meinung - die Direktion ist der Meinung, Sie sollten eine Weile ausspannen, meine Liebe. Machen Sie mal Urlaub. So lange Sie wollen. Sie haben doch da eine fähige Assistentin - wie heißt sie gleich? Angela. Lassen Sie Angela inzwischen den Laden schmeißen.«

Zu ihrer eigenen Überraschung stimmte Sally zu.

 

Es war ein früher Sommer mit plötzlichen Gewittern. Die Oberin und die hübschen weiß und malvenfarben gekleideten Schwestern winkten ihr von einem Fenster im unteren Stockwerk aus zu, als der Pförtner sie mit einem gewaltigen schwarzen Regenschirm zum Taxi begleitete. Und dann fuhr sie unter einem verhangenen Himmel die glitzernde Harley Street hinab zu ihrer Künstlerwohnung in der Church Street.

Mrs. Settle - quengelig und lieb wie immer - öffnete die Tür.

»Gott, wie sind Sie dünn! Haut und Knochen!«

Sally hätte ihre Aufwartefrau am liebsten umarmt, aber sie wusste, dass Mrs. Settle solche Gefühlsäußerungen missbilligte. Ihre Zuneigung zeigte sich in der geradezu unheimlichen Ordnung und Sauberkeit von Diele und Wohnzimmer.

»Aber es hatte auch sein Gutes: ich konnte endlich mal richtig auf räumen.«

Man sah es. Kein Stäubchen, kein Kissen ohne Mittelfalte. Die Zeitschriften waren peinlich genau aufeinandergestapelt, und ein bunter Papierschirm stand auf dem Kaminrost, wo sonst Zigarettenkippen und zusammengeknüllte Briefumschläge lagen. Die Bilderrahmen waren abgestaubt, und jedes Bild hing ein wenig schief. Mrs. Settle hatte einfach kein Auge für die Horizontale, aber das war auch ihre einzige Unzulänglichkeit.

»Ihre Postkarte habe ich gestern bekommen. Freitag waren sie wieder hier. Ich habe Wasser auf dem Herd. Nun setzen Sie sich erst mal hin. Ich bringe Ihnen eine Tasse Tee.« Mit diesem Versprechen verschwand sie in die Küche.

Sally ließ sich auf dem Sofa nieder und streifte ihre Schuhe ab.

Geborgen. Zum ersten Mal, seit es geschah, fühle ich mich geborgen. In meinen eigenen vier Wänden, vor all ihren Fragen sicher. Zeit, um nachzudenken. Zeit, um alles wieder ins rechte Licht zu rücken. In die Redaktion könnte ich nicht. Noch nicht. Durch die schweren Glastüren, vorüber an den vorwitzigen Augen der Botenjungen und Liftmädchen. Der Redaktionsstab. David Wildernesse...

Mrs. Settle kam mit dem Teetablett zurück. Sie brachte nur eine Tasse; sie selbst trank keinen Tee. Sie schenkte Sally ein und beobachtete sie mit verschränkten Armen.

»Sie haben gesagt, sie seien Freitag wieder hier gewesen«, sagte Sally, der die Bemerkung einfiel. »Wer war da, Mrs. Settle?«

»Na ja, die Polizei!«

Der heiße Tee verbrühte ihr die Wade, und die Tasse zerbrach auf dem Parkett; die Scherben sprangen bis zur Scheuerleiste. Gemeinsam bückten sie sich und brachten den Schaden in Ordnung. Sally gewann Zeit, um ihre Gedanken zu sammeln.

»Demnach sind sie also mehr als einmal hier gewesen?«, fragte sie schließlich.

»Beim ersten Mal haben sie lauter Fragen gestellt«, sagte Mrs. Settle. »Sie wollten wissen, wann Sie an dem Donnerstagmorgen weggegangen sind. Wie konnte ich denen das sagen? Sie waren ja schon weg, als ich herkam. Dann ging es weiter: wie lange Sie hier wohnen, und welche Freunde Sie regelmäßig besuchen, und alles Mögliche. Ich habe ihnen nichts gesagt.«

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Carola Salisbury/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Rudolf Rocholl und Christian Dörge (OT: The Soundless Scream).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 08.04.2022
ISBN: 978-3-7554-1128-4

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