PATRICIA H. HOWELL
Wind des Bösen
MITTERNACHTS-HORROR, Band 4
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
WIND DES BÖSEN
ERSTER TEIL
ZWEITER TEIL
DRITTER TEIL
Das Buch
Das alte Beecher-Haus barg ein schreckliches Geheimnis. Melanie Bain ahnte das, seit sie gekommen war, um die alte Tante Addie zu pflegen. Ihr Cousin Mark, der sie bei ihrer Ankunft herzlich willkommen geheißen hatte, wurde immer schroffer und abweisender, seit er wusste, dass sie für längere Zeit hier bleiben würde. Hatte er etwas zu verbergen?
Schrecken lag in der Luft und verdichtete sich zu einer körperlichen Bedrohung. Die ersten Anzeichen von Gefahr waren der plötzliche Tod ihres kleinen Hundes, den jemand erwürgt hatte. Und die schauerlichen Geräusche im Haus, wenn es Nacht war. Melanie hatte das nicht geträumt, sie waren Wirklichkeit, und es steckte jemand dahinter, dem es darum ging, sie aus dem Haus zu treiben - oder sie nötigenfalls zu töten...
Der Mystery-Roman Wind des Bösen von Patricia H. Howell erschien erstmals im Jahr 1977; eine deutsche Erstveröffentlichung erschien im gleichen Jahr.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Grusel-Literatur in seiner Reihe MITTERNACHTS-HORROR.
WIND DES BÖSEN
ERSTER TEIL
Erstes Kapitel
Eine gewundene, unbefestigte, von Büschen gesäumte Straße führte den Hügel hinauf. Im Schatten der Magnolienbäume stand das zwei Stockwerke hohe, weißgetünchte Haus mit seinem klassizistischen Portal wie schon fünfzig Jahre zuvor. Aber der Zahn der Zeit hatte an Beecher House genagt. Früher hatte sattgrüner Efeu die Säulen des Vorbaus umrankt. Jetzt aber wuchs er nicht mehr, und wo er sich ehedem festgekrallt hatte, waren nun nur noch hässliche braune Flecken auf der von Sprüngen durchzogenen, weißen Farbe zu sehen. Von den Rosenbüschen, die Bartley Beecher einmal gehegt und gepflegt hatte, war keine Spur mehr vorhanden.
Der Studebaker erreichte den lückenhaft gewordenen Zaun und blieb stehen. Ein Mann mit schütterem Haar stieg aus und ging um den Wagen herum, um die Beifahrertür zu öffnen.
»Jammerschade«, sagte er, als er sich kurz umgesehen hatte. »Seit dem Tode des alten Seth ist das Anwesen furchtbar heruntergekommen. Früher machten die Leute einen Umweg, nur um sich das hier anzusehen. Seth hatte den Garten prima in Schuss.«
Die junge Frau stieg aus und folgte seinem Blick. Sie war langhaarig und grazil; Schuhe mit hohen Absätzen ließen sie ein wenig größer erscheinen.
Jed Creech, der sie von der Busstation in Talladega hierhergebracht hatte, kannte Melanie Bain schon seit Jahren.
Er erinnerte sich an die Zeiten, als ihre Mutter mit ihr hierhergekommen war, um Addie Beecher, die Hausherrin, zu besuchen. Aus dem schönen Kind war eine anmutige junge Frau geworden, aber ihre sanften, braunen Augen funkelten nicht mehr vor Lebensfreude und Glück. Aus ihnen sprach Trauer und verzweifelter Kummer. Melanie Bain hatte ihren Mann Robert in Korea verloren.
Jed hatte mit ihr nicht darüber gesprochen. Wie alle anderen hatte er davon gehört, und ein Blick genügte, um zu wissen, wie groß ihr Schmerz immer noch war. Er holte einen Koffer vom Rücksitz und stellte ihn auf den Boden. »Ist das Ihr ganzes Gepäck, Miss Melanie?«, fragte er höflich.
Sie schien in Gedanken weit weg zu sein, denn sie sah ihn zunächst verständnislos an, ehe sie kopfschüttelnd sagte: »Oh, Jed, entschuldigen Sie... Nein, einen großen Koffer habe ich schon früher geschickt. Wahrscheinlich ist er bereits da.«
Der Weg zum Haus hinauf war mit Ziegeln gepflastert. Grasbüschel wuchsen aus den Ritzen. Jed nahm den Koffer und folgte ihr. Melanie tat ihm leid. So jung den Mann zu verlieren... Und jetzt musste sie auch noch hierherkommen und sich Addie Beechers Hass und Bitterkeit aussetzen. Die ganze Stadt wusste, dass Addie diesen Schlaganfall gehabt hatte und noch an den Folgen litt. Und man wusste auch, dass Hilda, ihre langjährige Haushälterin, den Dienst aufgekündigt hatte. Dennoch meinte Jed, dass sich jemand anderer hätte finden müssen, um auszuhelfen, und nicht ausgerechnet diese junge Frau.
Melanie hob den Messingklopfer und ließ ihn fallen. Dann langte sie in ihre Handtasche und wandte sich Jed zu.
»Nein«, sagte er und legte den Finger dankend an die Krempe seines Strohhutes. »Es war mir ein Vergnügen. Wirklich.«
Sie wollte ihm etwas entgegnen, aber Jed war bereits auf dem Weg zum Wagen. Dann öffnete sich knarrend die Tür. Melanie wandte sich um und sah in die traurigen Augen ihres Cousins Mark Beecher. Sie schlossen sich in die Arme. Auch Marks Herz war voll Kummer, und einen Augenblick lang verharrten sie so in tröstender Nähe.
»Wann warst du zum letzten Mal hier, Melanie?«, sagte Mark und nahm ihren Koffer. »Wie lange ist das jetzt her? Du gingst noch zur Schule.«
»1946. Das Jahr, bevor ich die High-School abschloss«, antwortete sie. »Tante Addie bestand darauf, dass ich nach dem Tod meiner Mutter einige Zeit bei ihr verbrachte. Dann ging ich nach Nashville zurück, um meine Schule zu beenden, und es passierte so viel, dass ich nie mehr hierherkam...«
Die geschwungene Treppe mit dem handpolierten Mahagonigeländer... der riesige Kristalllüster, den Onkel Bartley aus Paris geschickt hatte... drinnen hatte sich nichts verändert.
»Ich hätte dich abgeholt, Melanie, aber ich wollte Tante Addie nicht allein lassen. Sie hat keinen guten Tag heute«, sagte Mark. Er führte sie in das riesige Wohnzimmer. Ein Feuer prasselte im Kamin. Obwohl es schon Frühling war, stak noch die Kälte des Winters in den dicken Mauern des Hauses.
Mark war verschwunden und kam nun mit einem silbernen Tablett zurück, auf dem Tee und ein paar hastig gemachte Sandwiches waren. »Ich dachte, du brauchst vielleicht eine Stärkung, bevor du zu ihr hinauf gehst«, sagte er. »Kurz ehe du kamst sah ich zu ihr hinein, und da schlief sie zum Glück. Den ganzen Morgen hat sie sich nur beklagt.«
»Hier sieht es vielleicht nicht allzu schön aus«, fügte er in entschuldigendem Ton hinzu. »Ich konnte keinen Ersatz für Hilda finden und bin wohl selbst nicht allzu gut in solchen Arbeiten. Aber es ist sehr schwer, Tante Addie auch nur einen Dollar für Reparaturen zu entlocken, und das Ganze kommt doch sehr herunter, fürchte ich.«
Melanie setzte sich und schenkte sich eine Tasse Tee ein. Die Sandwiches sahen unappetitlich aus; auf einem der Brote entdeckte sie sogar einen Schimmelflecken. Dass keine Frau im Hause war, die sich um solche Dinge kümmerte, war nur zu offensichtlich.
Sie nippte an ihrem Tee und beobachtete Mark, der bekümmert in das Kaminfeuer starrte. Früher hatten sie und ihr Vetter in dem blühenden Farmland gespielt, das das Haus umgab. Am Weihnachtsabend hatten sie ihre Strümpfe an diesen Kamin gehängt und dann eine unruhige Nacht verbracht in Erwartung dessen, was am Morgen darin sein würde. So gab es viele schöne Erinnerungen. Aber als Melanie Mark so ansah, wurde ihr bewusst, wie sehr die Zeit Menschen verändert. Jetzt war er ein Fremder für sie. Fast war es so, als wären sie sich niemals vorher begegnet.
»Erzähle doch, Mark«, sagte sie und ließ ihre Stimme so sanft und freundlich wie möglich klingen. »Erzähle mir alles.«
Er sah von dem knisternden Feuer auf. »Du weißt nur, was Dr. Ambrose dir geschrieben hat?«
»Ja. Er schrieb mir, dass Todd, dein Zwillingsbruder, Selbstmord begangen hat. Dass Tante Addie, als sie ihn fand, einen Herzanfall hatte. Als Hilda gegangen war, gab es niemanden mehr, der sich um sie kümmerte, und Tante Addie bat ihn, sich mit mir in Verbindung zu setzen. Ich wäre schon früher gekommen, wenn nicht meine Arbeit gewesen wäre. Ich musste erst kündigen.«
»Du hättest nicht kommen sollen«, sagte er mehr zu sich selbst als zu ihr. »Tante Addie ist schon immer schwierig gewesen, aber seit diesem... diesem Unfall, ist sie völlig unmöglich.«
Melanie setzte ihre Tasse ab, faltete die Hände in ihrem Schoß, holte tief Atem und sagte: »Ich möchte alles ganz genau wissen, Mark. Was ist denn geschehen? Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Todd sich selbst das Leben genommen hat. Er war immer sehr eigenwillig, das weiß ich, aber ich kann einfach nicht glauben, dass er Selbstmord begangen hat.«
»Aber so war es«, antwortete Mark. »Tante Addie fand ihn selbst. Ich war auf dem Baumwollfeld, als jemand sie schreien hörte und mich holte. Als ich dazukam, hatte sie schon das Bewusstsein verloren. Später sagte der Arzt, es sei ein Herzanfall gewesen. Sie war drei Wochen im Krankenhaus. Dr. Ambrose sagt, dass sie sehr vorsichtig sein muss. Ein weiterer Anfall könnte in ihrem Alter das Ende bedeuten.«
Mark schüttelte langsam den Kopf, als könne er gar nicht glauben, dass all das wahr sei. »Todd hat sich aufgehängt – in der Scheune. Er knüpfte sich einen Strick um den Hals und sprang dann von einem der Heuböden, glaube ich. Jedenfalls hing er so da, als ich ihn abschnitt. Ich sah, dass er schon tot war, und fuhr Tante Addie sofort in die Stadt.«
Melanie kämpfte mit den Tränen. Allerdings hatte sie Todd nie gemocht. Als Kind hatte sie sehr unter ihm zu leiden gehabt. Er hatte ihre Spielsachen versteckt und einmal sogar eine Lieblingspuppe zerbrochen. Aber das Schlimmste war passiert, als sie zehn Jahre alt war. In jenem Sommer hatte sie Snowball nach Beecher House mitgebracht, ein kleines, putziges Hündchen. Wie gewöhnlich hatte Todd sie nicht in Ruhe gelassen, aber dieses Mal hatte seine Mutter ihn streng bestraft. Todd hatte Melanie wüst beschimpft und geschworen, sich an ihr zu rächen. Am nächsten Morgen war Snowball tot. Niemand behauptete jemals, dass Todd es gewesen sei, aber Melanie wusste, dass es so war. Schon sein höhnisches Grinsen verriet ihn.
Trotz alledem war Melanie traurig, dass irgendetwas ihn zum Selbstmord getrieben hatte, vor allem im jungen, hoffnungsvollen Alter von dreiundzwanzig.
»Warum, Mark? Warum hat Todd das getan?«, flüsterte sie.
Mark blickte sie noch einmal an und stieß einen Seufzer aus. Mit seinem lockigen, dunklen Haar und den Lachfältchen in den Augenwinkeln sah er gut aus.
»Todd war immer hinter den Mädchen her. Tante Addie hoffte, er würde einmal die Richtige finden, aber er wollte nur seinen Spaß. Er kannte eines der Prather-Mädchen. Als Tante Addie davon erfuhr, war sie ganz außer sich. Sie versuchte, die Sache zu stoppen, aber bei Todd stand sie natürlich auf verlorenem Posten. Eines Abends kam dann Mr. Prather und erklärte, seine Tochter sei schwanger und Todd der Vater; Todd sollte sie heiraten. Tante Addie gefiel der Gedanke zwar nicht, aber sie war doch einverstanden. Wenn Todd das Mädchen nicht heiratete, sagte sie, dann würde sie ihn enterben. Da war Todd natürlich schockiert. Wie du weißt, hat er das College nicht geschafft und hätte sich seinen Lebensunterhalt kaum selbst verdienen können. Er lebte ausschließlich von dem, was Tante Addie ihm gab; hier auf der Farm hat er jedenfalls keinen Handstreich getan. Ich musste die ganze Arbeit machen und mache sie heute noch.«
Mark stand auf und sah Melanie zum ersten Male gerade in die Augen. »Todd erreichte, dass Tante Addie ihm Geld gab, damit er heiraten konnte. Aber das war ein Schwindel. Er zwang das Mädchen zu einer Abtreibung, an der sie starb. Das war natürlich ein furchtbarer Skandal, und Tante Addie musste eine Menge Geld hinlegen, damit die Prathers den Mund hielten. Addie änderte ihr Testament; sie enterbte Todd und wies ihn aus dem Haus. Er weigerte sich zu gehen, und von da an gab es natürlich ständig die schrecklichsten Auseinandersetzungen.«
Er wandte sich von ihr ab und hielt seine Hände an den wärmenden Kamin. »An dem Morgen, als er sich umbrachte, hatte ihm Tante Addie gedroht, ihn von der Polizei abholen zu lassen, vermute ich. Todd schrieb in seinem Abschiedsbrief, Addie habe ihn zum Selbstmord getrieben. Dann ging er in die Scheune und hängte sich auf.«
Melanie schauderte. »Mark, das ist furchtbar! Der arme Todd – und die arme Tante Addie, die sich für seinen Tod verantwortlich fühlen muss.«
»Ich weiß, dass Todd seine Fehler hatte«, sagte Mark mit Bitterkeit in der Stimme. »Aber ich kenne auch unsere liebe Tante und weiß, wie verrückt sie einen mit ihrer ewigen Nörgelei machen kann. Die Leute in der Stadt hassen sie. Deswegen konnten wir auch niemand für den Haushalt finden. Selbst ich weiß nicht, wie Hilda das so lange aushielt, aber sie mochte den Rest der Familie.«
Melanie wollte sich nicht anmaßen zu entscheiden, wer recht und wer unrecht hatte. Man hatte sie gebeten, ihrer Tante zu Hilfe zu kommen; ihre Ansichten würde sie für sich behalten.
Mark fuhr plötzlich herum. »Warum bist du gekommen, Melanie? Ich weiß, du hast vor ein paar Monaten deinen Mann verloren. Du darfst jetzt nicht hier vermodern – du musst ein neues Leben anfangen. Du bist jung. Du hast dein Leben noch vor dir. Warum willst du dich hier einer bösartigen alten Frau ausliefern?«
Da gab es viel, was Melanie hätte sagen können. Aber wie hätte sie ihrem Cousin ihr Herz ausschütten, wie ihm erklären sollen, dass ihr Leben zum Stillstand gekommen war? Als sie von Roberts Tod erfahren hatte, war ein Teil von ihr mit ihm gestorben. Irgendwann würde sie wieder zu leben beginnen. Vorerst jedoch musste das, was in der Welt geschah, an ihr vorbeigehen, bis sie sich wieder selbst gefunden hatte.
Aber es gab noch einen anderen Grund für ihr Kommen. »Du weißt, wie gut Tante Addie zu meiner Mutter war«, sagte sie. »Und meine Mutter war sehr gut zu mir, Mark. Sie adoptierte mich und gab mir ein Heim, und ich werde ihr immer dankbar sein. Mutter war häufig krank; sie hatte mit dem Herzen zu tun und musste häufig den Arbeitsplatz wechseln. Wie du weißt, starb Vater, als ich noch klein war. Wenn Tante Addie uns nicht finanziell geholfen hätte – ich weiß nicht, was wir während Mutters letzter Krankheit getan hätten. Jemand anderen hatten wir nicht. Und Tante Addie sagte niemals ein Wort – sie schickte Geld und hieß uns willkommen, wenn wir hierherkamen.«
Sie hielt inne, bedrückt von ihren Erinnerungen. »Als Mutter starb, bat sie mich, alles in meiner Kraft Stehende für Tante Addie zu tun, wenn sie mich jemals brauchen sollte, weil sie so gut zu uns gewesen war. Das habe ich ihr versprochen. Mutter konnte es ihr nicht entgelten, deshalb kommt mir diese Aufgabe zu. So kann ich mein Versprechen erfüllen... und vielleicht erfährt Mutter es irgendwie. Dann weiß sie, wie dankbar ich ihr für alles bin. Sie war eine wunderbare Mutter, Mark. Ich war nur ein Adoptivkind. Aber sie gab mir immer das Gefühl, ihr richtiges Kind zu sein.«
Er nickte. »Ich glaube, ich verstehe dich. Das ist deine Art, deiner Mutter, Tante Ruth, für alles, was sie für dich getan hat, zu danken.«
»Ja«, sagte Melanie. »Und ich danke dir auch für dein Verständnis, Mark. Ich habe dich immer geschätzt.«
Zum ersten Mal lächelte er. »Das ist lieb von dir. Ich hoffe aber um deinetwillen, dass Tante Addie nicht mehr sehr lange lebt..., damit du hier nicht gefangen bist wie wir anderen.«
»Gefangen?«, fragte sie erstaunt. »Musst du denn bleiben, Mark?«
»Ehrlich gesagt, ja«, erwiderte er mit einer Handbewegung. »Dies alles wird einmal mir gehören, oder der größte Teil davon. Ich habe seit Vaters Tod die Farm zusammengehalten. Da habe ich wohl mehr Recht auf sie als irgendjemand anderer. Oh, natürlich hat sie auch dir etwas hinterlassen und auch für Cale ist so viel da, dass für ihn gesorgt ist. Aber ich kriege den Löwenanteil – und mit Recht.«
Was Mark da sagte, klang sehr kühl und berechnend. Nun, das war seine Angelegenheit, nicht ihre. Was Tante Addie ihr hinterließ, würde sie gerne annehmen, aber sie hatte nicht das Gefühl, einen Anspruch auf etwas zu haben. Sie war ja nur eine Pflegenichte.
Dann dachte sie an Cale, ihren lebhaften, interessanten Cousin, den einzigen Enkel ihrer Tante. »Wie geht es Cale?«, fragte sie.
Man hörte ein Klingeln, und Mark sagte mit resigniertem Lächeln: »Tut mir leid, aber deine liebe Tante ist jetzt wach und verlangt nach dir. Nimm deinen Mut zusammen und folge mir zu ihrem Netz; die schwarze Spinne selbst wartet auf dein Erscheinen.«
Ein kalter Schauder durchfuhr Melanie, als sie aufstand, um Mark zu folgen. Sie war ihrer Tante dankbar, doch wusste sie auch, wie unfreundlich Addie nicht selten war. Melanie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, als würde sie das, was Addie für ihre Mutter getan hatte, mit Zinsen zurückzahlen müssen.
Zweites Kapitel
Auf dem zweiten Treppenabsatz blieb Melanie stehen und schaute auf das leicht ansteigende Gelände hinter dem Haus hinaus. In einiger Entfernung konnte sie Leute sehen, die auf den Baumwollfeldern arbeiteten.
Der Ausblick war schön, und Melanie wandte sich mit einem Seufzer ab, um Mark weiter zu folgen. Im Flur war es dunkel, doch konnte sie erkennen, dass die Doppeltüren zum Sonnenzimmer geschlossen waren. Hier, in dem Raum mit den großen Glasfenstern zur Veranda, hatten sie als Kinder gespielt.
Melanie schaute nach rechts. Auf dieser Seite gab es vier Schlafzimmer – zwei leer, zwei benutzt. Das erste hatte ihrem Onkel Seth und seiner Frau gehört, den Eltern von Mark und Todd; das zweite war das Schlafzimmer Todds gewesen. Ihm direkt gegenüber lag das Zimmer, das Mark jetzt benützte, und Cales Schlafraum daneben.
Melanie empfand ein heftiges Bedürfnis, Mark zu fragen, ob die erste Tür zu ihrer Rechten immer noch versperrt und versiegelt war. Schon die Erinnerung ließ sie erschaudern. Sie war noch ein Kind gewesen; dennoch entsann sie sich lebhaft der langen, nächtlichen Omnibusfahrt, die sie zu Onkel Bartley geführt hatte.
Am frühen Vormittag waren sie angekommen. Ihre Mutter und Tante Addie waren den ganzen Tag in dem Zimmer geblieben, in dem Onkel Bartley lag, während die Kinder im Erdgeschoss spielten. Man hatte sie gemahnt, sich sehr ruhig zu verhalten. Leute kamen und gingen, und im ganzen Hause hatte eine bedrückende Stimmung von Angst und Sorge geherrscht.
Gegen Abend zog Dr. Ambrose die Jacke aus, als wolle er einige Zeit bleiben. Er ging mit seiner schwarzen Ledertasche hinauf, und Hilda scheuchte die Kinder ins Wohnzimmer, wo ein großes Kaminfeuer brannte. Nicht einmal die Kinder konnten sich der allgemeinen Beklemmung entziehen.
Schließlich hatte man sie in eines der Schlafzimmer gebracht. Es musste schon elf Uhr abends vorbei sein, als ihre Mutter kam und ihr sagte, dass Onkel Bartley gestorben sei. Melanie hörte Weinen und Klagen, und schluchzend verbarg sie ihr Gesicht in den Kissen.
Eine Weile hatte ihre Mutter sich neben sie gesetzt und sie sanft gestreichelt. Aber dann war sie wieder zu Addie zurückgekehrt, und Melanie war aufgestanden und hatte sich in den dunklen Flur geschlichen. In einer Ecke stehend, hatte sie verfolgt, wie der alte Luke Walker mit seinem langen, handgemachten Korb in das Zimmer ging. Als er nach einiger Zeit wieder herauskam, lag etwas in dem Korb, mit einem weißen Leintuch zugedeckt.
Und dann war Tante Addie aus dem Zimmer getreten und hatte verkündet: »Solange dieses Haus steht, soll dieses Zimmer versperrt und versiegelt bleiben.« Addies Stimme war ruhig und klar gewesen. »Niemand wird je wieder diesen Raum betreten.«
Ihre Mutter und Tante Claire hatten versucht, Addie zu überreden, das Zimmer erst herrichten zu lassen. Das Bett war noch ungemacht, und Onkel Bartleys unberührtes Mahl stand auf dem Nachttisch.
»Nein«, hatte sie Addie mit fester Stimme sagen hören. »Niemand betritt mehr diesen Raum.«
Jetzt, fast fünfzehn Jahre später, stand Melanie vor der Tür und fragte sich, ob das Zimmer wirklich noch in dem gleichen Zustand war als an dem Abend, da ihr Onkel gestorben war.
Mark schien ihre Gedanken erraten zu haben. »Die Tür ist niemals geöffnet worden, Melanie«, sagte er ruhig. »Tante Addie wollte es so. Auch sie selbst hat es nie mehr betreten.«
Die Glocke läutete von neuem. Mark berührte ihren Arm. »Wir sollten jetzt zu ihr gehen.«
Sie gingen den Flur entlang. Vor einer Tür blieben sie stehen. Mark klopfte, und eine krächzende Stimme ließ sich vernehmen. »Ja, ja, kommt herein! Ich warte bereits. Habt ihr die Glocke nicht gehört? Man könnte hier sterben, ohne dass jemand kommt.«
Mark öffnete die Tür und trat beiseite, um Melanie vorzulassen. Ihre Tante sah alt und grau aus. Sie lag in der Mitte des handgeschnitzten Mahagonibettes auf dicken Kissen. Melanie setzte sich, nachdem sie ihrer Tante ehrerbietig die Wange geküsst hatte.
»Du bist also gekommen«, sagte die alte Frau befriedigt. »Gut! Zumindest hat Ruth dir Dankbarkeit beigebracht, was sich von meinen anderen Verwandten nicht durchweg behaupten lässt.« Sie drehte den Kopf und warf Mark einen bedeutungsvollen Blick zu. »Du weißt, was hier geschehen ist?«
»Ja.« Melanie sah sich noch einmal im Zimmer um. Das Mobiliar war zwar wertvoll, aber alt und verbraucht, die Vorhänge schlaff und staubig. Im Kamin glomm der Rest eines Feuers. Der Teppich war verschlissen und schmutzig. Und hier war es einmal so schön gewesen! Ja, die Zeit veränderte alles.
»Bring mir was zu essen«, sagte Addie zu Mark. »Ich möchte Fleischbrühe und Tee.« Mark ging fast hastig, als sei er froh, der Gegenwart der alten Frau entkommen zu sein.
»Todd hat Selbstmord begangen«, seufzte Addie. Einen Moment lang schloss sie die Augen, als durchlebe sie noch einmal das schreckliche Ereignis. »Und gerade ich musste ihn finden. Ich las seinen Abschiedsbrief... er gab mir die Schuld. Aber meine Schuld war es nicht, Kind. Der Junge war böse. Seinen Vater hat er ins Grab gebracht, und seine Mutter wahrscheinlich auch. Hier blieb er nur wegen des Geldes. Ich ließ ihn wissen, dass er keines bekommen würde, und deshalb hat er sich umgebracht. Er war ein Schwächling, ohne Mark in den Knochen, und es passte zu ihm.«
»Es tut mir nicht leid«, fuhr sie mit so schneidender Stimme fort, dass Melanie förmlich zusammenschrak. »Es tut mir kein bisschen leid. Besser, so ein Bursche ist tot, als dass er allen das Leben schwermacht. Er war schuld am Tod eines jungen Mädchens, aber das hat dir Mark wohl erzählt...«
Melanie nickte. »Ja. Es tut mir so leid. Ich...«
Addie unterbrach sie schroff. »Nun, mir nicht. Und ich will auch nicht hören, dass es jemand anderem leid tut. Mich ärgert nur, dass ich es mir so zu Herzen nahm. Noch einen solchen Schock überlebe ich nicht, sagt Dr. Ambrose. Ich muss auf mich aufpassen. Deswegen bat ich dich zu kommen. Sonst ist niemand zu kriegen, und wie Mark alles herunterkommen lässt, das siehst du ja. Er wartet nur darauf, dass ich sterbe. Dann kann er das Haus abreißen und mit meinem Geld etwas Neues, Ausgefallenes bauen.« Sie sagte es, als wäre so etwas völlig undenkbar.
Aber ich lege sie alle herein. Hundert Jahre werde ich alt; sobald ich wieder auf den Beinen bin, gebe ich mein Geld selber aus, und niemand erbt es, um es töricht zum Fenster hinauszuwerfen.«
Melanie unterdrückte mit Mühe ein Lächeln. »Das ist dein gutes Recht, Tante Addie. Es ist dein Geld.«
»So ist es«, sagte die alte Frau und nickte. »Schön, dass jemand in irgendetwas mit mir übereinstimmt. Alle wollten von mir nur mein Geld – nur eine nicht: Deine Mutter. Ich glaube, Ruth mochte mich gern.«
»Ja, das tat sie«, sagte Melanie mit leiser Stimme.
Addie nickte wieder. »Deshalb half ich ihr. Sie brauchte meine Hilfe. Sie hat nicht versucht, mich auszunützen. Sie brauchte mich wirklich.«
Schweigen trat ein, als Mark mit einem Tablett zurückkam.
Addie steckte den Finger in die Suppenschüssel und schob dann das Tablett so abrupt von sich, dass die Brühe überschwappte.
»Die ist kalt. Was ist nur los mit dir, Junge? Möchtest du das vollenden, was dein nichtsnutziger Bruder begonnen hat? Soll ich mich ins Grab hungern, statt mich zu Tode zu grämen?« Marks Miene verdüsterte sich. Melanie wusste, dass er sich nur mit Mühe im Zaum hielt. Er murmelte, dass er die Brühe aufwärmen werde, und ging rasch davon.
»Siehst du jetzt, was ich meine?«, sagte Addie, als die Tür ins Schloss gefallen war. »Seit ich aus dem Krankenhaus zurück bin, habe ich nichts Anständiges zu essen bekommen.«
Melanie sagte, dass sie am Nachmittag mit Mark in die Stadt fahren würde, um Einkäufe für die Küche zu machen.
Addie lächelte, und Melanie dachte sich, wie hexenhaft sie dabei aussah. »Hätte ich nicht in die Klinik gemusst, dann wäre dieser Junge niemals im Familienmausoleum begraben worden«, sagte sie.
Melanie starrte sie an. Onkel Bartley fiel ihr ein, wie er in seinem Sarg lag, ehe man ihn in der Familienkrypta zur letzten Ruhe bettete.
»Es ist mein Ernst!«, rief Addie erzürnt. »Glaubst du vielleicht, ich möchte, dass so etwas neben meinem Mann begraben wird, neben meinen Vorfahren? Nie und nimmer! Ich hätte viel bezahlt für ein Grab im Stadtfriedhof, aber als ich wieder wach genug war und mich an alles erinnerte, war es zu spät. Mark ließ den verrückten alten Luke Walker kommen, und die beiden bestatteten ihn. Es war nicht mal ein Begräbnis. Wer sollte auch kommen? Alle hassten Todd! Und er hat im Familienmausoleum nichts zu suchen!«
Melanie merkte, dass sich ihre Tante zu sehr erregte. »Es spielt keine Rolle, Tante«, sagte sie besänftigend. »Todd ist doch tot. Du solltest überhaupt nicht mehr daran denken. Jetzt brauchst du nur Ruhe, um dich zu erholen. Und ich will dir dabei helfen.«
Einen Augenblick lang zeigte sich Addie ungehalten darüber, dass man ihr widersprach. Dann hellte sich ihre Miene auf, und sie lächelte die junge Frau an, aus deren Augen Kummer und Traurigkeit sprach.
»Ich habe so mit dir gefühlt, als ich von deinem Verlust hörte. Ich weiß, wie sehr du Robert geliebt hast. Ich wünschte, ich könnte dir irgendwie helfen, aber...«
Melanie schlug die Augen nieder. Wenn man von Robert sprach, machte man ihr alles nur schlimmer. Was sie für ihn empfunden hatte, konnte sie mit niemandem teilen, und ihr Schmerz war so groß, dass kein anderer ihn nachfühlen konnte.
»Ich danke dir für dein Mitgefühl. Aber wie ich vorhin schon sagte – Vergangenheit ist Vergangenheit. Wir müssen uns um die Gegenwart kümmern, und um die Zukunft. Ich möchte nicht über Robert sprechen.«
Addie Beecher war nicht gewöhnt, dass man ihr das Wort abschnitt. »Wie lange wart ihr verheiratet?«, sagte sie schnell, als hätte sie Melanies Bitte gar nicht gehört.
»Ein Jahr«, flüsterte Melanie so leise, dass Addie noch einmal fragte.
»Ein Jahr«, sagte sie wieder. Tränen traten ihr in die Augen. »Vier Monate waren wir nur zusammen, dann musste er nach Korea. Und dann kam das Telegramm mit der Mitteilung, dass er gefallen sei. Ich ließ ihn in Arlington begraben
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Patricia H. Howell/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Darksould/Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Darksould/Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Korrektorat: Mina Dörge.
Übersetzung: Dolf Strasser (OT: Winds Of Terror).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 07.04.2022
ISBN: 978-3-7554-1119-2
Alle Rechte vorbehalten