ARLENE FITZGERALD
Das Höllentor
MITTERNACHTS-HORROR, Band 3
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DAS HÖLLENTOR
ERSTER TEIL
ZWEITER TEIL
DRITTER TEIL
Das Buch
Ich kletterte über die dicken Balken, und als ich wieder richtigen Boden unter meinen Füßen spürte, begann ich zu laufen. Nur weg von diesen Stimmen! Inzwischen war es so dunkel geworden, dass die Steine wie drohende Gespenster aussahen. Der Weg zwischen ihnen war kaum mehr zu erkennen.
Und weil ich nichts mehr sah, hatte ich plötzlich das Gefühl, jemand folge mir. Ich blieb einen Moment stehen, um zu lauschen. Vielleicht waren die dumpfen Schritte, die ich zu hören glaubte, nur das Echo meines eigenen Herzschlags.
Ich ging weiter und stolperte über den Stamm eines verkrüppelten Busches, und da mein eigener Schritt unterbrochen war, glaubte ich wieder ferne Schritte zu vernehmen. Ich schaute mich um.
Über mir stand drohend eine verzerrte Gestalt, die an einen Riesenvogel mit gebrochenen Schwingen erinnerte. Ich schrie und rannte los, den steilen Pfad hinab, der mich in die Sicherheit führen sollte.
Aber ich kam nicht weit, denn plötzlich gab unter mir der Grund nach und ich stürzte in ein schwarzes Nichts...
Der Mystery-Roman Das Höllentor von Arlene Fitzgerald erschien erstmals im Jahr 1977; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1978.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Grusel-Literatur in seiner Reihe MITTERNACHTS-HORROR.
DAS HÖLLENTOR
ERSTER TEIL
Erstes Kapitel
Hinter mir klickte ein Schloss, und ich wandte mich von der großartigen Aussicht des Erkerfensters ab, um zu entdecken, dass mich mein Mann durch eine offene Tür beobachtete.
»Gamble McCain«, sagte er leise, und sein Gesicht wurde von einem Lächeln erhellt, als er mir mit offenen Armen entgegenkam. »Mrs. McCain.«
Vor ein paar Stunden noch war ich Gamble Reagan gewesen, ein wenig scheu und allein auf einer Welt, die für mich plötzlich aus den Fugen geraten war.
Vor etwas mehr als einem Monat war ich in Nevadas spukhaft-nostalgischem Comstock, einem Landstrich, dessen Melancholie ich nicht so leicht von mir abschütteln konnte, angekommen. Vorher hatte ich nicht einmal geahnt, dass es solche Plätze wie McCains Schloss gab.
Es ängstigte mich auf einmal, dass ich nun die Herrin dieses alten, riesigen Herrenhauses sein sollte, das da über der Schlucht stand, in deren Schatten sich die alte Minenstadt, eine Touristenattraktion, duckte. Und über dem Städtchen lag das Höllentor, das eigentlich nur ein Durchbruch in der Wand zur Schlucht war.
Dieser Durchbruch war so schmal, dass sich die steile Zufahrt zum Herrenhaus kaum durchwinden konnte. Links und rechts von dem zerklüfteten Pass ragten graue Felsen in die Höhe. Das alte Haus stand wie ein Wachtposten direkt über der engen Schlucht; die Gärten lagen hinter einer massiven Steinmauer aus dicken Blöcken des blaugrauen Erzes, das man früher aus den endlosen Stollen herausholte, die sich durch das Herz der wilden Washoe Mountains wie der Irrgarten eines Kaninchenbaues zogen.
Am Hügel neben dem Haus lag der Familienfriedhof. Eine marmorne Frauengestalt stand wie eine Spukgestalt hinter einem Staketenzaun und vor den reichverzierten Gittertoren einer alten Grabstätte im Berg, die wesentlich zum Gefühl der Drohung beitrug, das mich hier umgab.
Aber an Gefahr durfte ich jetzt nicht denken. Ich hatte, so impulsiv ich das auch tat, meine Wahl getroffen. Ich war entschlossen, mein neues Leben durch nichts stören zu lassen, denn ich hatte mich selbst gefunden. Und am wenigsten wollte ich auf die flüsternden Stimmen hören, die aus dem Nirgendwoher zu kommen schienen, als habe das alte Haus das beobachtende Schweigen vieler Jahrzehnte gebrochen, um gegen meine Anwesenheit zu protestieren.
Nicht einmal Jade, das merkwürdige Mädchen, das – wie ich selbst – einen McCain zu heiraten gewagt hatte, konnte jetzt mit ihren vorwurfsvollen, gehässigen Blicken mein Glück beeinträchtigen.
»Gamble, Liebling«, flüsterte mein Mann mir ins Haar. »Bist du dir darüber klar, wie glücklich du mich gemacht hast? Ich weiß, ich werde dich nie mehr loslassen, da ich dich nun gefunden habe.«
Ein dunkler Zweifel hielt mich für einen Moment gefangen, doch dann holte ich tief Atem und warf ihn von mir. »Als ob ich das wollte«, gelang es mir zu antworten.
Sein Arm umfing mich und drehte mich sanft zum Fenster. Ein großer, dicker Mond hing wie eine silberne Scheibe hinter den kleinen Fenstervierecken und ließ sein Licht auf die schimmernden Pappelblätter tropfen und auf die Weiden, die am Grund der Schlucht standen.
Über dem Boden der Schlucht kauerten tapfere viktorianische Häuser und klammerten sich an ihre Steinterrassen. Die nüchternen Fenster spähten über Fliederhecken und struppiges Buschwerk. Weiter unten im Canyon lag in einer Senke an der engen Hauptstraße des Städtchens das erst kürzlich renovierte Opernhaus und Hotel, wo ich gewohnt hatte, als ich nach McCainville kam.
Mein Blick fiel auf die hohen, alten Fördergöpel der McCain-Mine, die hoch über der Stadt gelegen war. Die verwitterten Balken und durchhängenden Kabel waren schwarze, bizarre Muster vor dem mondhellen Himmel. Ich erinnerte mich des Tages, da ich zum ersten Mal McCains Schloss über der dunklen Schlucht gesehen hatte. Es schien direkt aus dem tiefsten Mittelalter zu stammen.
Plötzlich vergaß ich meine ganzen guten Absichten, mein neues Glück durch nichts und niemanden stören zu lassen: Ich hatte wieder Angst.
Es hatte alles damit begonnen, dass meine Pateneltern, denen das alte Opernhaus und das Hotel gehörten, mich einluden, einige Zeit bei ihnen zu verbringen, nachdem meine Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren.
Ganz von Anfang an hatte dieses alte Herrenhaus über der düsteren Schlucht etwas Zwingendes für mich gehabt. Gleich am ersten Abend fragte ich meine Pateneltern danach, als wir beim Kaffee auf der oberen Hotelveranda saßen, von der aus man einen wundervollen Rundblick über das umgebende Land hatte.
»Jeder, der hierher kommt, ist neugierig wegen dieser Leute im Schloss«, sagte meine Patin Tobi Greer und erklärte auch, anders als die meisten alten Häuser am Loch sei das Herrenhaus der McCain noch von den Nachkommen jenes Mannes bewohnt, der es gebaut habe. »Joshua McCains Name ist hier ein Sinnbild für einen gehobenen Lebensstandard«, fuhr sie fort. »Er scheint das Geld wie Konfetti herumgeworfen zu haben, und er gab in seinem berühmten Schloss Gesellschaften wie ein Maharadscha. Man sagt, er habe seinen Gästen schon zum Frühstück eigens dafür importierte erlesene Weine vorgesetzt.«
Etwas in ihrer Stimme durchdrang die Mauer meines Kummers, der mich seit der schrecklichen Tragödie, die mich meiner Eltern beraubte, umgab. Es regte meine Phantasie so an, dass ich interessiert hinaufsah.
»Er hat sich da wirklich ein Denkmal erbaut«, bemerkte ich. »Das Haus sieht aus, als wolle es für immer auf diesen Felsen hocken.«
»Es ist auch ein Wahrzeichen unserer Gegend, Liebling«, antwortete Tobi. »Joshua McCain hat es auch sozusagen für die Ewigkeit gebaut. Chav McCain, der Mann, dem es jetzt gehört, ist sein Urenkel. Ich fürchte allerdings, du würdest seinen Vetter Morgan sehr viel netter finden als ihn. Chav ist...«
Mein Pate, John Greer, fiel ihr ins Wort. »Warum soll sich Gamble über die Lokalgrößen nicht ihre eigene Meinung bilden, Tobi?«, fragte er. »Tobi hat Vorurteile«, erklärte er mir, »weil Chav McCain es immer entschieden abgelehnt hat, sein Haus für das Publikum zu öffnen. Und dabei stirbt sie fast vor Neugier, was er in seinem alten Gemäuer versteckt hält.«
»Oh, wir könnten damit die Einnahmen der Stadt ziemlich aufbessern. Sie sind sowieso ziemlich dürftig«, entgegnete Tobi. »Aber Chav bleibt unerbittlich. Er will die Schlosstore nicht einmal für die Touristen öffnen, obwohl ihm das viel einbringen könnte. Aber sie sind da oben eine sehr... geheimnistuerische Gruppe.«
»Das klingt ja schrecklich mysteriös«, warf ich ein.
Tobi zuckte die Achseln. »Ist es auch, wenn es auch nur meine Meinung ist.«
Jedenfalls hatten ihre Bemerkungen meine Neugier geweckt, und die Begründung, dass ich ein bisschen Bewegung bräuchte, war nur meine Ausrede für meinen Wissensdurst. Am folgenden Morgen machte ich mich daher auf zu McCains Schloss.
Es war ein Sonntag, und die Stadt war noch nicht aufgewacht, als ich die Hintertreppe des Hotels hinabging und über die gesprungenen Steinplatten des Fußweges zur Vorderseite des Hauses ging, das über der steilen Straße stand. An dieser Straße standen alte, oft schon baufällige Häuser mit Scheinfassaden. Ihre Balkone hingen über dem Gehsteig wie schwere Augenlider, und die Wimpern waren die Balkongitter.
Ein reichverziertes Zeichen fesselte meine Aufmerksamkeit. Es hing unter einer gedrechselten, holzgeschnitzten Galerie, die noch nach frischer Farbe roch. Zum Jadebaum las ich laut und schaute durch die alten, blasigen Schaufensterscheiben auf eine Ansammlung alter Gläser, alle in den verschiedensten Schattierungen von Grün, das wie Feuer funkelte.
Hinter der Stadtmitte stieg die Straße wieder steil an, und die ziemlich heruntergekommenen viktorianischen Häuser saßen hoch auf Steinschlagmauern aus dicken Blöcken. Wie eine riesige Sichel bog sich diese Straße zum gähnenden Maul der Schlucht und dem dunklen Pass, durch den sich die Zufahrt zum Schloss wand. Die Hänge über den verstreut liegenden Häusern wiesen noch die Wunden der alten Mine auf, und von der Veranda einer schäbigen Minenarbeiterhütte winkte mir ein ebenso schäbiges Paar zu.
Diese Hütte, die am Steilhang klebte, bildete den verblüffendsten Gegensatz zu dem Herrenhaus, das nun fast unmittelbar über mir an der gegenüberliegenden Straßenseite stand. Ein kaum erkennbarer, staubiger Fußweg führte an der schäbigen Hütte vorbei dort hinauf. Zwischen Felsblöcken wuchsen struppige Salbeibüsche, die sich allmählich in den Schlackenhalden verloren. Der Pfad tauchte immer wieder für kurze Strecken an den Steilhängen über dem Höllentor auf. Ich stieg ziemlich rasch weiter und war bald außer Atem.
Tobi hatte mir geschrieben: Überall an diesen zerklüfteten Hügeln gibt es Fußwege. John und ich würden Dir gerne helfen, Dein Leben wieder richtig zusammenzufügen. Es wird Dir gut tun, für eine Weile von der Stadt wegzukommen und unsere saubere Bergluft zu atmen. Und es ist gar nicht weit, Gamble, nur ein paar Autostunden...
Ja, das schrieb sie mir, als sie mich einlud, für einige Wochen ihr Gast zu sein.
Bald würde ich zweiundzwanzig sein, und ich brauchte, weiß Gott, ein wenig Trost nach dem furchtbaren Unglück, das einem halben Dutzend Menschen das Leben und mir die Eltern nahm. Ich War wie betäubt und nahm gerne Tobis Einladung an. Von meinem Job in einem Reisebüro in San Francisco ließ ich mich für einige Zeit beurlauben.
Tobi, die Zimmerkameradin meiner Mutter im College, hatte mich sehr herzlich begrüßt.
»Es mag dir taktlos vorkommen, Gamble, wenn ich dir sage, die Zeit wird auch diese Wunde heilen«, hatte sie mir zugeredet. »Hier kannst du dich ein wenig umsehen, mit Einheimischen sprechen und dir auch sonst ein bisschen Ablenkung verschaffen. Da wir gerade mit der Renovierung des alten Opernhauses fertig sind, werden wir bald einen Ball geben anlässlich seiner Eröffnung. Weißt du, es wird eine Art Maskenball, zu dem jeder als das kommt, als dessen Wiedergeburt er sich sieht. Ich nehme an, die meisten hier werden sich auf die Geschichte des Loch beziehen.«
Ich war eigentlich gar nicht in der Stimmung für solche Festlichkeiten, aber ehe ich noch etwas sagen konnte, fuhr sie schon fort: »Du bist ein entzückendes Mädchen mit deinem silberblonden Haar, das du von der Mutter und den fabelhaften grün-blauen Augen, die du von deinem Vater geerbt hast. Du siehst ihnen beiden sehr ähnlich, weißt du. Das könnte ein kleiner Trost für dich sein. Ich habe die beiden immer wegen ihres alterslos guten Aussehens beneidet.«
»Das hättest du gar nicht nötig gehabt«, versicherte ich ihr. »Sie selbst waren sich dessen kaum bewusst.«
»Das war ja Teil ihres Charmes. Sie waren ungeheuer vital und würden es ganz bestimmt nicht wünschen, dass du dich in deinen Kummer vergräbst.«
Natürlich hatte Tobi recht. Trotzdem hatte ich keine Lust zu einer Party, ob es nun ein Maskenball war oder nicht, und ich mochte auch keine Leute kennenlernen. Noch nicht. Ich war froh, dass mir Tobi ein ganz ruhiges Zimmer an der Rückseite des Hotels gegeben hatte, wo ich nicht ständig anderen Gästen begegnete. Das Zimmer war reizend, und ein winziges Bad in einer Nische unter der Treppe zum Dachboden gehörte auch dazu. Die Wanne hatte altmodische Klauenfüße, und die Toilette war auf einen spiraligen Delphinschwanz montiert.
Und jetzt machte es mir Freude, unter einem porzellanblauen Himmel den steilen Pfad hinaufzusteigen. Der starke, würzige Duft des Wüstensalbeis kitzelte mich in der Nase; die silbergrauen Goldasterbüsche waren mit klebrigen gelben Blüten bedeckt, und zwischen ihnen standen schlanke, dunkle Wacholderbüsche. Die Luft prickelte wie Sekt, sodass ich leicht dahinschritt und mich erstaunlich heiter fühlte.
Ganz unvermittelt stand ich dann auf dem Kamm; hier wand sich der Pfad um übermannshohe Felsbrocken, in denen Pyrite glitzerten. Bald gelangte ich an den Rand des Abgrundes. Auf der anderen Seite der Schlucht ragte hoch über mir das Schloss auf und löschte die Morgensonne aus, sodass mich fror, denn ich stand im tiefen Schatten. Ein kalter Wind fegte von den Felsen herab und griff mit eisigen Fingern nach meiner vom Gehen erhitzten Haut. Das riesige, alte Haus erschien mir plötzlich sehr drohend und geheimnisvoll.
Erst am Rand des Höllentores fiel wieder ein wenig Sonne auf mich, und das Gefühl, etwas Verborgenes und Böses lauere hinter der imposanten Fassade und warte auf mich, fiel von mir ab. Und da erblickte ich dann auch die Reihen von Grabsteinen, die links von mir am Hügel hinaufzuklettern schienen. Die schmiedeeisernen Zaungitter um die Gräber verschwanden fast zwischen den Salbeibüschen. Die blasse Marmorstatue vor einem eingesunkenen Grab hielt ich zuerst für einen Engel, bis ich feststellte, dass das, was wie ein Flügelpaar aussah, nur die Enden eines flatternden Schals waren, der sehr geschickt um die Marmorschultern drapiert war. Wer mochte wohl diese Marmorfrau geschaffen haben?
Aber nun fiel mein Blick auf die blanken Fenster des Hauses, die mich aus einem Gitterwerk von Schnitzereien, das die zahlreichen Türme miteinander verband, drohend anfunkelten. Gekrönt wurde das alte Haus von einer Kuppel, deren schmale Fenster im hellen Morgenlicht schwarz wirkten. Als ich da hinaufschaute, meinte ich einen Augenblick lang ein blasses Gesicht hinter einer der Scheiben zu sehen. Als jedoch ein Sonnenstrahl über das dunkle Glas tanzte, wurde ich mir darüber klar, dass ich mich geirrt hatte, denn es war niemand mehr zu sehen. Oder die Person war verschwunden.
Der Gedanke, mich könne jemand beobachtet haben, als ich den steilen Pfad hochlief, machte mich schaudern. Schnell wandte ich mich von dem alten Haus ab und ging den schmalen Weg zwischen den Steinen zurück. Da fiel mir Chav McCain ein, von dem Tobi mir erzählt hatte. Wie mochte er wohl sein? Welch ein Mann konnte sich so von der Welt absperren, um in diesem prächtigen Ungetüm aus gotischen Türmen und Flügeln zu hausen?
Ein Motorengeräusch brach in meine Gedanken ein. Ich trat vorsichtig an den Rand des Abgrundes und spähte hinab in die verschatteten Tiefen, um gerade noch einen glänzenden grünen Porsche zu sehen, der wie ein flinker, schimmernder Käfer das Sträßchen zum Haus heraufkroch.
Als der Wagen aus dem Schatten tauchte und ins helle Sonnenlicht kam, sah ich ein rothaariges Mädchen etwa meines Alters am Steuer sitzen. Ihre Mähne flog wie Flammen im Fahrwind, der durch die offenen Wagenfenster pfiff.
Da ich mich plötzlich benommen fühlte, trat ich zurück und hielt mich an der rauen Kante eines Felsblockes fest. Meine Stirn legte ich für einen Moment an den kühlen Stein, um mein Schwindelgefühl zu bekämpfen. Später bemerkte ich, dass ich plötzlich wieder zum Haus hinaufschaute, weil ich spürte, dass jemand mich beobachtete.
Ein Mann stand auf der anderen Seite der Schlucht und sah zu mir herab. Er war groß und dunkel, und sogar aus dieser Entfernung konnte ich feststellen, dass seine Augen den durchbohrenden Blick eines Adlers hatten.
Der Teufel, der dieses Höllentor bewacht... Das war mein erster Gedanke, bei dem mir ein kalter Schauer über den Rücken rieselte. War dies etwa Chav McCain, der mich auf diese herausfordernde Art beobachtete? Mir war, als leuchte in diesen dunklen Augen ein Erkennensfunke auf, dann wandte er sich abrupt um und sprang mit der raschen, geschmeidigen Bewegung einer Katze von der Krone der Steinmauer über dem Abgrund und verschwand irgendwo hinter dieser Mauer.
Ich war schon ein Stück den schmalen Pfad hinabgestiegen, als ich ihn erneut sah. Diesmal kam er auf der mir gegenüberhegenden Seite des Hanges herab. Seine langen in Jeanshosen steckenden Beine brauchten nur einen Schritt zu machen, wo ich zwei tat. Vielleicht hatte es ihm nicht gepasst, mich oben am Rand der Schlucht, gegenüber von seinem Haus, zu sehen. Er hatte jedenfalls etwas an sich, das mich ängstigte.
Da begann ich zu rennen. Ich weiß, es war dumm von mir, denn ich kam nicht weit, als sich meine Schuhspitze an einem scharfen Felszacken fing und ich der Länge nach in den Staub stürzte.
Zweites Kapitel
Einige Augenblicke lag ich wie betäubt da; der Sturz hatte mir den Atem genommen. Ganz kurz muss ich wohl ohnmächtig gewesen sein, denn plötzlich sah ich den Mann, der vorher auf der anderen Schluchtseite gewesen war, über mir stehen und sich zu mir herabbeugen.
Sein gebräuntes Gesicht sah hart aus, und sein wilder schwarzer Haarschopf reichte ihm hinten bis zum Kragen seines blauen Hemdes, das genau die Farbe seiner Augen hatte. Es waren eisige Augen. Ohne Umstände zu machen, stellte er mich auf die Füße, griff nach meinen Händen und untersuchte sie nach Abschürfungen.
»Das hier muss ordentlich versorgt werden«, meinte er brummig. Irgendwie war aber doch ein wenig Musik in dieser Stimme, und ich wusste, unter anderen Umständen müsste sie sehr angenehm klingen. Er schaute mir ins Gesicht und legte dabei seine Stirn in Falten. Da sah er so streng drein, dass ich unwillkürlich zusammenzuckte. »Und sonst scheint alles in Ordnung zu sein?«, fragte er.
Ich nickte.
»Na, gut«, sagte er barsch. »Und jetzt bringen wir Sie mal diesen Hügel hinab.«
»Ich wohne im Hotel«, bemerkte ich.
»Das dachte ich mir.« Er legte mir einen Arm um die Schultern, um mich zu stützen, als wir den steinigen Hang hinabstiegen. »Übrigens, ich bin Chav McCain.«
Ich hatte also recht gehabt. Der Teufel, der das Höllentor bewacht. Ich musterte ihn mit einem vorsichtigen Blick aus den Augenwinkeln, bemerkte, wie arrogant sein Profil war, wie nahezu perfekt sein gebräuntes Gesicht, fast so klassisch wie der klargezeichnete Kopf einer griechischen Statue.
»Ich bin Gamble Keagan«, sagte ich.
»Gamble?« Er musterte mich neugierig.
»Das war die Idee meiner Mutter«, erklärte ich ihm. »Meine Eltern hatten schon alle Hoffnung aufgegeben, je Kinder zu bekommen. Dann war meine Mutter schon vierzig, als sie entdeckte, dass ich unterwegs war. In ihrem Alter war es schon ein Risiko, Kinder zu haben. Der Arzt sagte ihr, es sei ein Glücksspiel, und deshalb hat sie mich auch so genannt. Ich bin wirklich Gamble, das Glücksspiel.« Abrupt brach ich ab. Ich redete viel zu viel, vielleicht deshalb, weil ich meinen Schrecken über den Sturz abreagieren wollte, vielleicht aus Verlegenheit, weil ich bemerkte, dass er mich recht nachdenklich und intensiv musterte. Ich hatte den Eindruck, er sei der Meinung, ich hätte mir diese Geschichte nur ausgedacht.
»Ist Ihre Haarfarbe echt?«, fragte er plötzlich; das klang ein wenig steif, als gefalle ich ihm nicht recht, als missbillige er mich, obwohl ich gleichzeitig eine gewisse Bewunderung in seinen Augen las.
»Welch eine Frage an ein Mädchen!«, hielt ich ihm vor. »Aber ja, meine Haarfarbe ist echt. Meine Mutter war schwedischer Abkunft.«
»War?« Noch immer sah er mich so durchdringend an.
»Sie ist jetzt tot. Meine beiden Eltern sind tot.«
Da schwieg er. Ich war froh, dass er sich die üblichen Phrasen sparte, aber er führte mich vorsichtig weiter, vorbei an den blühenden Büschen und den spitzen Steinen. Ich bemerkte, dass seine Hand ebenso gut geformt war wie sein Gesicht.
Unter uns schoss der grüne Porsche, den ich vorher gesehen hatte, das Sträßchen hinab in Richtung Stadt. Ich hatte das Gefühl, das Mädchen am Steuer sei sehr zornig. Chav McCain schien aber weder den Wagen, noch das Mädchen zu bemerken.
Als wir die Straße erreichten, drehte ich mich zu ihm um und zwang mir ein kühles Lächeln ab, da ich mit einem Mal das Gefühl hatte, ihm gegenüber vorsichtig sein zu müssen. »Danke sehr, dass Sie den ganzen Weg gemacht hatten, mich aufzuheben und den Staub von mir abzuklopfen«, sagte ich.
»Sie lagen so still da, dass ich schon Angst hatte, Sie hätten sich ernstlich verletzt«, antwortete er.
»Ich war außer Atem, das ist alles«, meinte ich obenhin.
»Ich würde an Ihrer Stelle nicht mehr da hinaufgehen«, warnte er mich, und der Schatten in seinen Augen war nicht zu verkennen.
»Ich hatte auch gar nicht die Absicht«, erwiderte ich kalt und wandte mich zum Gehen. Ich dachte, nun wüsste ich, weshalb Tobi ihn nicht mochte.
Aber er ging nicht, obwohl ich geglaubt hatte, er sei nur deshalb so eilig angerannt gekommen, um mich abzufangen, wenn ich von dem schmalen Pfad herabkäme; und richtig, ich sah auch tatsächlich ein Schild, auf dem stand Privatweg an einer Stange in einem gelbblühenden Busch, direkt an der Stelle, wo dieser Weg vom Sträßchen abzweigte. Vorher hatte ich es nicht gesehen, aber ich hatte auch nicht die Absicht, mich dafür bei diesem abweisenden Menschen zu entschuldigen.
Ich dankte ihm noch einmal für seine Hilfe und dachte, nun würde er aber bestimmt gehen. Nein, er tat es nicht, sondern ging im Gleichschritt mit mir weiter. Ich fühlte mich unbehaglich, weil ich keine Ahnung hatte, was ich von ihm erwarten sollte oder musste. Ein solcher Mann wie er war mir noch nie begegnet. Aber ich spürte auch die seltsame Anziehungskraft, die von ihm ausging, die mich aber gleichzeitig auch abstieß. Er strahlte Vitalität aus, und er hatte etwas an sich, das sich auf mich zu konzentrieren schien, und was das war, begriff ich nicht.
»Ich bringe Sie zum Hotel«, sagte er, als ich ihm noch einmal versicherte, ich könne jetzt alleine weitergehen. »Wir haben hier nämlich keinen Arzt«, erklärte er mir. »Wir müssen also die Salbe und Bandagen für Ihre Hände aus dem Drugstore holen. Und darauf muss ich bestehen. Ich fühle mich verantwortlich, da Sie zufällig auf McCain-Boden waren, als Sie so ungeschickt stürzten.« Wieder war dieser warnende Ton in seiner Stimme, und da schoss es mir wie ein Blitz durch den Kopf, dass er wohl in diesem düsteren alten Gemäuer etwas zu verstecken hatte.
Das war natürlich ein sehr dramatischer Gedanke, der so gar nicht zum zwanzigsten Jahrhundert passte. Aber was würde Tobi sagen, wenn ich ihr erzählte, dass Chav McCain mich praktisch gewarnt hatte, mich von seinem Besitz fernzuhalten? Ich konnte wirklich nichts mehr tun, um ihn davon abzuhalten, mich zum Hotel zu begleiten. Nun, eigentlich wollte ich es ja auch gar nicht, wenn ich ehrlich war, denn ich musste mir eingestehen, dass mich dieser abweisende, dunkle Mann allmählich mehr faszinierte als mir selbst angenehm war.
Wir waren nun vor dem Laden angelangt, der Zum Jadebaum hieß und grünes Glaszeug in allen denkbaren Schattierungen im Schaufenster hatte. Obwohl Sonntag war, stand nun ein GEÖFFNET-Schild im Fenster. Als wir vorbeigingen, kam das rothaarige Mädchen, das ich am Steuer des grünen Porsche gesehen hatte, herausgerannt. Ihr Gesicht leuchtete, als sie Chav sah.
»Liebling!«, rief sie und warf ihm die Arme mit den klirrenden Armreifen um den Hals. »Vor ein paar Minuten war ich oben im Haus, konnte dich aber nicht finden.«
»Ich weiß, Jade.« Chav löste ihre Arme von seinem Hals und lachte grimmig. »Was, um Himmels willen, hast du vor? Willst du mir etwa das Genick brechen?«
Ihr Gesicht veränderte sich urplötzlich. Ihr Mund wurde mürrisch, als sie ihn losließ und zwei Schritte zurücktrat. Seine Worte schienen wie eine Ohrfeige gewirkt zu haben.
»Musst du wirklich so eklig sein?«, hielt sie ihm vor. Ihre Augen, die von einem merkwürdigen, fahlen Grün waren, funkelten ebenso wie die Gläser in ihrem Schaufenster.
»Du weißt doch, das war nur eine Redensart«, erwiderte Chav. Zwischen den beiden herrschte eine Spannung, die mit Händen zu greifen war. Ich überlegte mir fast zwangsläufig, was zwischen den beiden sein mochte, das nicht mehr zu kontrollieren war. Wer und was war dieses rothaarige Mädchen, das mich so übersah, als sei ich der Wind, der durch die Straße wehte? Was mochte sie für Chav McCain sein? Eine Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht. Sie war wie eine Flamme. An ihr schien alles zu vibrieren, und dafür beneidete ich sie. Die beiden schauten einander so herausfordernd an, als wolle eines den anderen unter seinen Willen zwingen.
Chav gewann, und Jade schaute weg. Da erst bemerkte sie mich, und ihr Blick drückte unverhohlene Abneigung aus.
»Sind Sie eine Freundin von Chav?«, wollte sie wissen.
Chav wandte sich mir zu. »Gamble Reagan, das ist meine Cousine Jade McCain.« Er schaute Jade an. »Gamble wohnt im Hotel.«
»Ich will dort ein paar Wochen bleiben«, ergänzte ich. »Die Greers sind meine Freunde.«
Nun sah Jade deutlich missvergnügt drein, sodass ihr Gesicht unvermittelt scharf und starr wirkte. Sie musste ziemlich launenhaft sein.
Grün passte aber zu ihr. Ihre Augen hatten die Farbe von Katzenaugen; sie hatte unglaublich lange, dichte und dunkle Wimpern, und ihre Haut war unter den Sommersprossen von cremiger Weiße und Glätte. Wenn sie ihren vollen Mund nicht so verdrossen verzog, musste er wie eine tropische Lilie aussehen. Jeder Mann, einschließlich Chav McCain, musste ein solches Mädchen zauberhaft finden, auch wenn er sie mir als seine Cousine vorgestellt hatte.
»Gamble hatte einen kleinen Unfall«, erklärte er. »Wir waren gerade auf dem Weg zum Drugstore, um etwas für ihre Wunden zu kaufen.«
Jade musterte meine abgeschürften Hände. »Was ist passiert?«, fragte sie misstrauisch.
»Ich ging den Weg hinauf zum Rand der Schlucht, und auf dem Rückweg tat ich einen Fehltritt und stürzte«, antwortete ich betont leichthin, wenn mir auch gar nicht so zumute war.
Weshalb sollte ich ihr erzählen, dass ich gerannt war oder gar warum? So, wie Chav dreinschaute, schien er es sowieso zu wissen, und der Verdacht, dass er mich schon eine Weile beobachtet hatte, verstärkte sich. Wollte er mich etwa durch sein plötzliches Erscheinen auf der Mauer verscheuchen? War das Gesicht, das ich für einen Augenblick hinter der Fensterscheibe gesehen hatte, das seine gewesen? Und wenn, warum hatte er mich dann so heimlich beobachtet?
»Jemand hätte Sie ja schließlich warnen sollen«, erklärte Jade kalt. »Niemand geht da hinauf.«
»Der Weg scheint aber benützt zu werden«, entgegnete ich.
Jade zuckte verächtlich die Achseln. »Vielleicht solltest du ihr erzählen, was da oben passiert ist«, sagte sie zu Chav.
»Sei nicht so makaber«, fuhr er sie an.
»Aber Liebling, sie sollte es wirklich wissen, wenn sie entschlossen ist, auf eigene Faust diese Hügel zu erforschen«, hielt ihm Jade vor. Und zu mir sagte sie: »Vor Jahren stürzte ein Mädchen am Höllentor ab und wurde von ihrem eigenen Schal erwürgt.« Ihre blassen Augen glühten in einem sonderbaren, grellen Feuer, als errege sie die spukhafte Tragödie.
»Das klingt ja schrecklich«, antwortete ich. »Aber ich sehe nicht, was das mit mir zu tun haben sollte.«
»Jeder kann stürzen, meine Liebe. Auch Sie können es.«
»Zum Glück trage ich selten einen Schal.«
»Es gibt auch noch andere Möglichkeiten, einen Menschen zu erwürgen«, erklärte Jade.
Ich musste sie wohl sehr zornig gemacht haben, und deshalb versuchte ich einzulenken. »Es tut mir leid. Ich wollte wirklich nicht schnippisch sein. Aber die ganze Sache klingt doch ziemlich seltsam.«
»Ihr Schal fing sich an einem dieser Felszacken, als sie stürzte«, sagte Jade. »Oder vielleicht war es auch ihre Absicht, Selbstmord zu begehen. Vielleicht, und auch das erscheint mir möglich, wurde sie ermordet. Jedenfalls starb sie eines unnatürlichen Todes. Sie haben sicher ihre Statue im alten Friedhof gesehen, als Sie da oben waren.«
»War sie eine McCain?«, wollte ich wissen.
»Guter Gott, nein!«, warf Chav, der bisher geschwiegen hatte, ein.
»Sie war Joshua McCains Liebeslicht, um einen Ausdruck aus jener Zeit zu verwenden«, erklärte Jade. »Joshua war Chavs Urgroßvater.«
Von Joshua hatte mir schon Tobi erzählt, aber dass seine Geliebte vom Höllentor stürzte oder vielleicht gestürzt wurde und sich dabei erwürgte, hatte ich nicht gewusst. Vielleicht wäre ich dann doch nicht so eifrig und vorwitzig hinaufgestiegen.
»Er muss aber sehr viel von ihr
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Arlene Fitzgerald/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Darksouls/Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Darksouls/Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Korrektorat: Mina Dörge.
Übersetzung: Leni Sobez (OT: The Devil's Gate).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 06.04.2022
ISBN: 978-3-7554-1109-3
Alle Rechte vorbehalten