LARA BRENNAN
Im Schatten des Unheimlichen
MITTERNACHTS-HORROR, Band 2
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
IM SCHATTEN DES UNHEIMLICHEN
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Das Buch
Lysette Bell hatte die Vergangenheit verdrängt, die Erinnerung an den lange verstorbenen Vater, an die streitsüchtige Tante, bei der sie als Waise aufgewachsen ist. Auch an die Telefonanrufe verschwendete sie keinen weiteren Gedanken, so beunruhigend diese auch sein mochten: Stets meldete sich eine heisere Männerstimme mit den Worten »Lysette, Lysette, hier ist dein Vater...«
Und dann geschah das Entsetzliche: Ein Anruf ihrer Tante wurde mitten im Gespräch unterbrochen, bevor die alte Dame ihr sagen konnte, wovor sie sich fürchtete. Am nächsten Morgen erfuhr Lysette, dass ihre Tante ermordet worden war...
Der Mystery-Roman Im Schatten des Unheimlichen von Lara Brennan erschien erstmals im Jahr 1972; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1981.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Grusel-Literatur in seiner Reihe MITTERNACHTS-HORROR.
IM SCHATTEN DES UNHEIMLICHEN
Erstes Kapitel
Die Schreibtischschubladen waren geleert. Das ganze Sammelsurium der letzten fünf Jahre: alte Lippenstifte, halbfertige Artikel, angelaufene Schokoladenreste und zerknitterte Fotos füllten den Papierkorb. Ich zog die Schutzhülle über die altersschwache Schreibmaschine und warf einen letzten Blick auf die schmutziggrauen Wände und die verstaubten Regale. Das Zimmer stand für das nächste karrierehungrige Mädchen bereit. Es würde viel Idealismus mitbringen müssen, gute Nerven und Sinn für Humor, um diesen Stress für einen Hungerlohn durchzuhalten.
Fünf Jahre waren eine lange Zeit. Aber ich empfand keinen Abschiedsschmerz. Ich war selig, dieses Zimmer auf Nimmerwiedersehen zu verlassen. Über Lady Cynthias protzige Gartenparty, über die neue Kleiderlänge oder den letzten Schrei im Make-up der Augen durfte nun eine andere berichten. Eine andere sollte sich mit den Launen der Redakteure herumschlagen und sich deren oft erstaunlichen Wortschatz an Schimpfwörtern anhören.
Ich war von nun an mein eigener Herr. In meiner Tasche steckten ein wundervoller Vertrag und ein noch wundervollerer Scheck, von Philip Ashton-Croft eigenhändig unterschrieben. Das Sonntagsblatt und die Rubrik Aus der Sicht der Frau gehörten für mich der Vergangenheit an. Mit sechsundzwanzig Jahren, meine liebe Lysette Bell, ist es an der Zeit, der Fleet Street und der Zeitungswelt Lebewohl zu sagen und sich größeren Aufgaben zuzuwenden! Ich dachte lächelnd darüber nach, wie überraschend schnell eigentlich alles gegangen war.
Schuld daran hatte meine große Liebe zur Geschichte. Ich hatte in meiner Freizeit – eigentlich nur zum Spaß – eine Reihe von Kapiteln über Ludwig XIV. geschrieben; mehr eine Art Charakterstudie, gespickt mit witzigen Anekdoten und pikanten Einzelheiten seiner vielen Liebesabenteuer. Als ich sie jedoch an den Mann bringen wollte, interessierte sich kein Mensch dafür. Erst nach unzähligen Abfuhren erklärte sich ein obskurer Hinterhofverlag bereit, sie zu drucken. Ich gab mich keineswegs der Hoffnung hin, dass die Ausgabe ein Erfolg werden würde. Umso überraschter war ich, als eines Tages ein Brief des großen Philip Ashton-Croft ins Haus flatterte.
Philip Ashton-Croft war einer der mächtigsten Verleger Londons. Die Bücher, die er herausgab, waren maßgebend für die belletristische Welt und zeugten von einem unantastbaren Geschmack. Und just dieser Mann hatte mich zu einem Gespräch eingeladen. Zu meinem Erstaunen hatte er nicht nur alle meine Manuskripte gelesen, sondern er fand sie auch noch fabelhaft. Er war der Ansicht, man könnte daraus einen Bestseller machen. Er bot mir einen Vertrag an und eine großzügige Vorauszahlung bei Unterzeichnung.
Das war vor drei Wochen gewesen. Heute hatte mich mein neuer Verleger in ein exquisites Restaurant zum Mittagessen eingeladen, und ich bekam praktisch als Dessert den phantastischen Vertrag samt phantastischem Scheck überreicht. Ich weiß natürlich, dass man nicht über Wolken schreiten kann. Aber als ich aus dem Restaurant trat, wurde mir klar, welches Gefühl man mit diesem Ausdruck beschreiben will.
Ich goss ein letztes Mal die Topfpflanzen, die ich durch all die Jahre hindurch gehegt und gepflegt hatte und trat dann entschlossen auf den Korridor hinaus und schloss mit festem Druck die Tür hinter mir. Miss Lysette Bell stand in klobigen schwarzen Buchstaben auf der Glasscheibe; die letzte Spur meiner fünfjährigen Anwesenheit – und auch die würde schon in der nächsten Stunde verschwunden sein.
Das laute Geklapper unzähliger Schreibmaschinen empfing mich im riesigen Redaktionsraum. Angestellte eilten mit Korrekturfahnen zwischen den Tischen herum, holten sich Scheren, Kleister oder schnell mal eine Tasse Kaffee. Im Hintergrund rumpelten die Druckmaschinen. Der Lärm und das Gerenne hörten erst für eine kurze Weile auf, wenn das letzte Manuskript redigiert, der letzte Artikel gesetzt war und der Druck beginnen konnte. Es gab nicht viele, von denen ich mich verabschieden musste. Eine Reporterin der Sonntagsausgabe war für das große Team der Tageszeitung nur eine kleine Nummer. Und dann stand ich auf der Straße. Der Lärm im Zeitungsgebäude war nichts gegen das nervöse Aufheulen der Automotoren, gegen das hektische Gehupe und das Geschrei der Zeitungsjungen, die den Passanten die letzten Neuigkeiten in die Ohren brüllten.
Ich ging schnurstracks zur Bank, um den Scheck gutschreiben zu lassen. Eine schöne kleine Summe hob ich sofort ab; den Packen Geldscheine stopfte ich mit einem wonnigen Lustgefühl in meine Tasche. Noch nie zuvor hatte ich so viel Geld auf einmal in der Hand gehabt, und ich nahm mir vor, eine wahre Einkaufsorgie zu veranstalten: Bücher, die ich mir bisher nicht leisten konnte, neue Schuhe und Kleider und ganz bestimmt das himmlische Schwarze, mit dem Mandy die ganze Zeit geliebäugelt hatte. Die folgenden drei Stunden befand ich mich im siebten Himmel; mit all meinen Tüten und Päckchen fühlte ich mich wie Aschenputtel auf dem Weg zum Ball. Ganz erschöpft, aber glücklich, leistete ich mir schließlich eine Tasse Tee in einem der Kaufhausrestaurants und dachte über das Schicksal nach, das es so gut mit mir gemeint hatte.
Obwohl meine Eltern seit vielen Jahren tot sind, ist es mir eigentlich bis jetzt nicht schlechtgegangen, überlegte ich. Mutter starb, als ich fünf war. Papa und ich zogen danach zu Tante Daphne in das große viktorianische Haus mitten im Wald von Devon. Ein Jahr später wanderte Vater nach Australien aus und ließ mich mit Tante Daphne, einer mehr als exzentrischen alten Jungfer mit der besonderen Vorliebe für Gin und Klatsch, allein zurück. Über Jahre erhielt ich jeden Monat einen Brief von Vater. Aber ich habe ihn nie wiedergesehen, denn er starb, als ich dreizehn war. Gleich nachdem wir die Nachricht von seinem Tod erhalten hatten, schickte mich Tante in ein Internat. So untröstlich ich über den Verlust meines Vaters war, so glücklich war ich, von der interessanten, aber wenig geliebten Tante wegzukommen. Seitdem habe ich die alte Dame nur einige Male wiedergesehen und die Besuche der verrückten und streitsüchtigen Jungfer mit Geduld über mich ergehen lassen. So war ich also seit meinem dreizehnten Lebensjahr auf mich allein gestellt gewesen und hatte mich so recht und schlecht durchgeschlagen.
Die Bedienung brachte mir eine zweite Tasse Tee, und ich dachte an den Tag, als ich in einer Teestube Mandy kennenlernte. Sie war wie ich allein in London. Wir freundeten uns an und zogen kurze Zeit später zusammen in eine kleine Wohnung; sie, die vorwärtsstrebende Schauspielerin, und ich, die zukünftige Schriftstellerin. Wir haben seither eine Menge schwerer Tage gemeinsam durchgestanden und sind enger zusammengewachsen als Geschwister. Obwohl sehr verschieden, ergänzten wir uns eher, als dass wir ständig in Streit gerieten. Mandy würde von meinem Auftrag, ein Buch zu schreiben, begeistert sein. Vor lauter Angst, es könnte in letzter Minute noch etwas schiefgehen, hatte ich niemandem davon erzählt.
Auch Lloyd wusste noch nichts.
Ich lächelte bei dem Gedanken an Lloyd. Wenn ich Aschenputtel war, so war er bestimmt der schöne Prinz. Ich hatte ihn vor drei Monaten bei einer großen Party kennengelernt. Man feierte eine von Mandys Premieren. Das Stück war schlecht gewesen, aber die Stimmung bei der Party umso ausgelassener. Der Champagner floss in Strömen, und Mandy war wie immer von einem Haufen Verehrer umringt. Um mich hatte sich keiner gekümmert, und da ich das fürchterliche Gedränge bei solchen Partys sowieso hasste, hatte ich mich auf eine kleine Terrasse zurückgezogen. Ich stand am Geländer, genoss die Ruhe und die herrliche Abendluft, als Lloyd zu mir heraustrat. Er schien über die Ruhe genauso erleichtert wie ich.
Ich erfuhr, dass er ein erfolgreicher Anwalt war und die ihm verhassten Partys nur aus beruflichen Gründen mitmachen musste. Er war dreißig, sehr groß und gut gebaut. Der seidene schwarze Abendanzug saß wie angegossen. Er hatte ein scharfgeschnittenes männliches Gesicht, dunkelbraune Augen und ungewöhnlich kurzes rotes Haar. Die dunkle Hornbrille unterstrich den ernsten, distinguierten Ausdruck seiner Erscheinung. Er hatte tadellose Manieren und sprach mit einer wohlmodulierten, beherrschten Stimme. Zwei Stunden unterhielten wir uns damals auf der Terrasse, und als er mich nach Hause brachte, konnten wir immer noch kein Ende finden und saßen noch weitere zwei Stunden vor der Haustür im offenen Wagen.
Von diesem Abend an sahen wir uns drei- oder viermal in der Woche. Es war wundervoll, mit ihm zusammen zu sein. Es gab soviel, worüber man mit ihm reden konnte. Sein umsichtiges und manchmal fast ein wenig zu bestimmtes Auftreten gehörte für mich zu der kraftvollen Männlichkeit, die er ausstrahlte. Ich fühlte mich bei ihm sehr geborgen, und ich überlegte, ob das Liebe war, was ich für ihn empfand, und was ich ihm antworten würde, wenn er mich fragte, ob ich seine Frau werden wollte. Lloyd hatte ziemlich altmodische Ansichten über die Stellung der Frau im Leben des Mannes, und ich war mir noch nicht sicher, ob ich ihm zuliebe meine Unabhängigkeit aufgeben könnte.
Verträumt vor mich hin lächelnd, sammelte ich meine Päckchen ein, ließ ein reichliches Trinkgeld auf dem Tisch zurück und machte mich auf den Heimweg. Der Bus fuhr mir gerade vor der Nase weg. Geschäfte und Büros spien ganze Trauben von Menschen aus, die alle auf die Eingänge zur U-Bahn zu drängten. Ich entschloss mich, nach Haus zu Fuß zu gehen. Heute konnte mir nichts die gute Laune verderben. Ich bog von der breiten Geschäftsstraße ab und erreichte eine Viertelstunde später den friedlichen kleinen Platz mit den hübschen Laubbäumen in der Mitte und den um ihn herum dichtgedrängten alten Mietshäusern. Das Haus, in dem Mandy und ich lebten, war das schäbigste von allen.
Zum Glück war Mrs. Wellington, die Hausbesitzerin, nicht auf ihrem Posten. Wenn sie einen nämlich im Hausflur erwischte, stand man eine geschlagene halbe Stunde und musste sich ihr Gejammer über die Gesundheit, über ihre Katzen und die viel zu hohen Preise anhören. Sie wohnte im Erdgeschoss, und die Wohnungstür stand stets offen, sodass sie beobachten konnte, wer ein und aus ging. Sie war sehr auf den guten Ruf ihres Hauses bedacht und lag Mandy wegen der vielen Herrenbesuche ständig in den Ohren. In Wahrheit ging es ihr jedoch nur darum, dass die Miete pünktlich bezahlt wurde, und da wir darin sehr genau waren, hätten wir uns die ganze Nacht von Zigeunern aufspielen lassen können, ohne mehr als einen milden Verweis dafür zu ernten.
Wir hatten die gesamte Wohnung in der obersten Etage gemietet. Mandy brauchte viel Platz für ihre Partys. Eingerichtet war sie mit einem Mischmasch sämtlicher Stilrichtungen; überall lagen Bücher und Zeitschriften und irgendwelche weiblichen Utensilien herum, meist von einer dicken Staubschicht bedeckt, da weder Mandy noch ich über hausfrauliche Neigungen verfügten. Die Tapeten mit den blassgrünen Rosen auf einem ebenso verblichenen blauen Untergrund waren genauso scheußlich wie der schmutziggraue Teppichboden. Die Küche wirkte durch den dunkelbraunen Linoleumbelag und die vorsintflutlichen Geräte und Möbel ein wenig traurig, und im Badezimmer stand ein wahres Monstrum von Badewanne. Trotz allem fanden wir unser Heim gemütlich und würdigten ganz besonders die niedrige Miete.
»Lysette?« Mandys Stimme kam aus dem Badezimmer.
»Ach, du bist schon da!«
»Seit Stunden schon, Kleines. Ich brauche ein anderes Wort für König. Der dritte Buchstabe muss ein R sein.«
»Herrscher.«
»H-E-R – das ist es! Du bist großartig, Lysette. Jetzt habe ich das dumme Ding endlich fertig.«
Wenn Mandy nicht am Schminktisch saß oder Kleider anprobierte, saß sie bestimmt mit einem Kreuzworträtsel oder mit einem Krimi in einer Ecke. In den Schränken türmten sich Hunderte von Thrillern. Sie verschlang sie mit Wonne – je mehr Blut floss, desto besser.
»Hast du die Rolle gekriegt?«, rief ich, schlüpfte aus den Schuhen und schob sie unter einen Sessel.
»Der Nachmittag war ein Trauerspiel, Kleines. Dieser lausige Kerl von einem Produzenten wollte doch – na ja, du weißt schon. Erst lud er mich zu einem kleinen Drink ein, und dann machte er mir ein dreckiges Angebot. Du hättest den armen Kerl sehen sollen: wie er dasaß und ihm der Whiskey von der Glatze troff.«
Mandy kam kichernd ins Zimmer.
»Du hast ihm den Whiskey ins Gesicht geschüttet?«
»Der Kellner war empört. Und ich war gar nicht so scharf auf die Rolle. Ich bin keine dramatische Heldin. Mir liegt mehr das Leichte, Spritzige.«
Amanda Hunt war groß und gertenschlank. Riesige braune Kulleraugen und der in einem dunklen Goldton schimmernde Lockenkopf gaben ihrem Gesicht einen ganz besonderen Reiz. Alle Männer fanden sie faszinierend. Sie hatte eine sehr individuelle Ausstrahlungskraft und könnte als Schauspielerin viel erfolgreicher sein, wenn sie sich nur ein bisschen mehr Mühe geben würde. Doch Ehrgeiz war ihr ein unbekannter Begriff – sie war eher faul und benutzte ihre hohe Intelligenz fast ausschließlich dazu, immer neue Vergnügungen zu ersinnen. Ihren größten Erfolg hatte sie bisher als Maisie, das Milchmädchen, bei einer Werbeserie im Fernsehen für Büchsensahne.
»Lysette!«, schrie sie entsetzt auf, als sie die vielen Päckchen entdeckte. »Bist du verrückt geworden? Am Freitag wird unsere Miete fällig. Wie sollen wir die bezahlen, wenn du heute halb London leerkaufst?«
»Ich habe dir etwas zu erzählen«, begann ich feierlich.
»Du hast eine Bank ausgeraubt. Stimmt’s? Keine Sorge, ich gebe dir ein Alibi. Wir werden das schon schaukeln...«
Ich erzählte ihr strahlend von Philip Ashton-Croft und dem phantastischen Vertrag. Mandy wurde sofort nüchtern und studierte aufmerksam jede Klausel des Vertrags, den ich bisher eigentlich nur überflogen hatte.
»Der scheint in Ordnung zu sein«, meinte sie, als sie ihn mir zurückgab. »Ich gratuliere, Kleines. Aber ich wusste ja schon immer, dass du etwas auf dem Kasten hast. Deine Arbeit für das Käseblatt hast du nun hoffentlich an den Nagel gehängt?«
Ich nickte und ließ mich auf das plumpe Sofa fallen. »Das wird eine Menge Arbeit geben. Ich werde Berge von Büchern
durchsehen müssen, ehe ich mit der eigentlichen Arbeit anfangen kann.«
»Schreib mir vor allem noch ein bisschen mehr über Madame de Thianges. Sie muss eine unwahrscheinliche Frau gewesen sein, und es wird viel zu wenig über sie berichtet.« Mandy hatte alle Bücher, die ich für meine Recherchen nach Haus gebracht hatte, gelesen und wusste über die Zeit des Sonnenkönigs fast genauso gut Bescheid wie ich. Sie begeisterte sich immer mehr für das Projekt und sprudelte eine Idee nach der anderen hervor.
Schließlich begannen wir die Päckchen auszupacken. Sie freute sich wahnsinnig über das tolle Schwarze und zog es sofort an. Das tief ausgeschnittene Kleid saß ihr wie auf den Körper geschnitten. Sie sah sehr sexy darin aus. Ich hätte nie gewagt, so etwas anzuziehen.
»Darling, ich werde damit Furore machen! George wird es die Sprache verschlagen.«
Eine Stunde später hatten wir alles ausgepackt, und wir bekamen Hunger. Auf dem Boden türmten sich leere Schachteln und Tüten und Berge von Einwickelpapier. Lloyd musste heute Abend arbeiten, und Mandy hatte verschiedene Einladungen ausgeschlagen. Sie wollte den neuesten Thriller lesen. Obwohl sie leidenschaftlich gern ausging, gab es auch Tage, an denen sie lieber zu Hause gemütlich herumgammelte. Wir hatten uns gerade entschlossen, ein paar Büchsen aufzumachen und ein paar Reste aufzuwärmen, als das Telefon klingelte.
Mandy zuckte zusammen und sah mich nervös an.
»Was hast du denn? Das wird einer deiner Verehrer sein«, sagte ich so leicht wie möglich.
»Und wenn er es wieder ist?«
»Unsinn. Er hat seit Wochen nicht mehr angerufen.« Ich nahm den Hörer ab. »Hallo?«
Keine Antwort. Und dann, erst nach einigen Sekunden, flüsterte eine heisere Männerstimme: »Lysette? Lysette, hier ist Papa...«
»Tut mir leid. Sie haben falsch gewählt.« Ich hängte ein.
Mandy stand neben mir. Sie starrte mich mit blassen Wangen an. »Er war es, nicht?«
Ich nickte und verstand nicht, warum sie so nervös war. Die Anrufe waren wohl ärgerlich und vor allem geschmacklos, aber sie waren für mich nicht mehr als ein dummer Scherz. Mandy dagegen machten sie Angst, sie witterte irgendeine Gefahr dahinter.
»Hat er etwas Neues gesagt?«
»Nein, nur wieder Hier ist Papa. Der Kerl ist ziemlich phantasielos.«
»Lysette – ich kann mir nicht helfen, mir ist das unheimlich. Er ruft nun schon seit über zwei Monaten an. Wie – wie eine Stimme aus dem Grab.«
»Du liest zu viele Krimis«, sagte ich und lachte. »Vater ist 1956 in Australien gestorben. Daran gibt es nichts zu rütteln. Es lohnt nicht, darüber nachzudenken.«
»Ich wünschte, du hättest recht, Lysette! Aber wer macht so was?«
»Vielleicht einer, der sich durch einen meiner Artikel im Sonntagsblatt auf die Füße getreten fühlt. Schließlich steht mein Name im Telefonbuch.«
»Aber wir haben inzwischen doch eine Geheimnummer!«, protestierte Mandy. »Ich habe sie uns doch nach dem dritten Anruf geben lassen.«
Sie hatte recht, das hatte ich vergessen. Aber auch an eine Geheimnummer konnte man wahrscheinlich herankommen. Ich maß der Sache weiter keine Bedeutung zu.
»Lysette«, sagte Mandy, »bist du wirklich sicher, dass dein Vater tot ist?«
»Ganz sicher.«
Wir waren inzwischen in die Küche gegangen und mit der Zubereitung unseres Abendessens beschäftigt. Mandy trug immer noch das schwarze Abendkleid, eine ziemlich außergewöhnliche Kleidung zum Kochen. Sie versuchte verzweifelt, eine Büchse zu öffnen, und ich wartete jeden Moment darauf, dass ihr der ganze Inhalt entgegenspritzte. Schließlich hatte sie es geschafft und dekorierte die Heringe auf eine Platte.
»In den Büchern tauchen sie oft wieder auf.«
»Wer?«
»Na, die Toten! Er starb sicher unter mysteriösen Umständen und...«
»Er starb an einem Infarkt.«
»Aber weit weg von England, und du warst nicht bei seinem Begräbnis.«
»Sei nicht albern, Mandy.«
»Lysette, ich weiß, dass die Anrufe irgendetwas zu bedeuten haben. Ich verstehe nicht, dass du sie so leicht nimmst.«
»Ich versuche nur, vernünftig zu sein. Und ich lese keine Krimis.«
»Mach dich nur lustig über mich! Aber es wäre doch möglich, dass er noch lebt. Vielleicht hat er in Australien eine Goldader entdeckt oder...«
Sie brach ab, als dicker Qualm aus dem Backofen drang. Sie riss das Fenster auf, und ich griff nach den Topflappen, klappte die Ofentür auf und zog hastig die verkohlten Reste unseres Aufgewärmten heraus. »Wir werden nie gute Hausfrauen«, stöhnte ich mit einer Grimasse.
»Na, und wennschon! Essen ist nicht so wichtig.« Sie trat an den Kühlschrank und holte eine Flasche Champagner aus dem Eisfach.
»Wo hast du denn die her?«
»Stevie, das Unschuldslamm, brachte sie gestern mit. Ich hob sie für bessere Gelegenheiten auf. Und jetzt werden wir deinen Vertrag feiern und uns einen herrlichen kleinen Schwips antrinken.«
Zweites Kapitel
Es war ein warmer Apriltag. Wir saßen auf der Terrasse eines entzückenden Restaurants und blickten auf den hübschen Park hinunter. Überall blühten gelbe Narzissen, die Bäume standen im zarten Frühlingsgrün, und um einen kleinen Teich rannten juchzend ein paar kleine Jungen und ließen ihre Plastikboote im Wasser schwimmen. Eine Woche war vergangen, und da Lloyd wieder am Abend zu tun hatte, war ihm die Idee gekommen, mich zum Mittagessen hierher einzuladen.
»Möchtest du noch Kaffee?«, erkundigte sich Lloyd mit ein wenig abwesender Stimme.
Ich schüttelte den Kopf und beobachtete eine Gruppe junger Leute, die es sich unten auf dem Rasen gemütlich gemacht hatte. Einer von ihnen spielte Gitarre. Die Klänge des alten Volksliedes erhöhten meine glückliche Stimmung. Ich war mit meinem Leben zufrieden und genoss die hübsche Umgebung und die Musik. Lloyd dagegen schien etwas zu bedrücken, sein Gesicht war ernst und angespannt.
»Musst du bald in die Kanzlei zurück?«, fragte ich.
»Nicht gleich. Erst in einer halben Stunde.«
»Dann lass uns ein bisschen in den Park gehen, ja?«
Er winkte dem Kellner und zahlte. Seine tadellose Erscheinung trug ihm von den meisten Frauen bewundernde Blicke ein. So war es immer, wenn ich mit ihm ausging, und ich empfand jedes Mal das gleiche befriedigende Gefühl, wenn er meinen Arm nahm und mit mir an den Tischen entlangschritt.
Obwohl wir weit konventioneller gekleidet waren als die meisten der Spaziergänger, erregten wir Aufsehen. Ich trug ein weißes Baumwollkleid mit einem Muster aus braunen und grünen Blättchen. Miss Universum war ich gerade nicht, aber doch ziemlich attraktiv mit den hohen Backenknochen, den dunkelblauen Augen und dem langen braunen Haar, das bei Sonnenlicht leicht rötlich schimmerte. Die Männer warfen mir meist noch einen zweiten Blick nach, und Lloyd schien stolz darauf zu sein.
»Wie kommst du mit deinem Buch voran?«
»Sehr langsam«, gestand ich. »Gestern, zum Beispiel, habe ich den ganzen Nachmittag damit zugebracht, ein paar ausführlichere Hinweise über den ziemlich geheimnisvollen kranken Mann von Madame de Maintenon zu finden. Ich möchte ein Kapitel über ihre Ehe und ihr recht perverses Sexualleben schreiben.«
»Dass du über Sex schreiben willst, kann ich mir kaum vorstellen.«
»Warum?«
»Du machst einen von diesen Dingen noch völlig unberührten Eindruck.«
»Betrachtest du das als ein Manko?«
»Für mich schon.« Er lachte. »Aber was soll ich machen? Ich mag nun mal ausgerechnet dich. Abgesehen davon freue ich mich wirklich, dass du mit dem Buch etwas gefunden hast, was dir Spaß macht.«
»Ach, du meinst, ich arbeite nur zum Spaß?«
Lloyd lächelte belustigt. »Zieh deine Stacheln ein! So habe ich’s doch nicht gemeint. Ich bin froh, dass du ein so gescheites Köpfchen hast.«
»Ein bisschen unselbständiger wäre dir lieber, nicht? Aber ich bin nun mal kein schutzbedürftiges Weibchen.«
»Ich weiß, mein Schatz. Du bist eine durch und durch emanzipierte Frau. Scharfsinnig, klug und ganz zufällig auch noch eine Augenweide in diesem Kleid.« Er blinzelte mir schmunzelnd zu und legte den Arm um meine Schultern.
Wir bummelten schweigend um den kleinen Teich und blieben neben einem künstlich aufgeschichteten Felsgebilde direkt am Ufer stehen. Das Sonnenlicht tanzte mit glitzernden Silberstreifen über das Wasser. Kleine Wellen schwappten gegen das Ufer.
»Böse?« Lloyd drückte mich an sich.
»Warum sollte ich?«, gab ich zurück. Mich ärgerte seine männliche Selbstsicherheit. »Es ist nur – du willst mich einfach nicht ernst nehmen.«
»Aber wo denkst du hin! Ich nehme dich außerordentlich ernst.«
»Du glaubst...«
»Ich glaube, dass du ganz bezaubernd bist.« Er hob meinen Kopf und küsste mich lange. Seine Lippen verrieten die Erfahrung, die er mit Frauen hatte. Dann blieb er noch eine Weile vor mir stehen, die Hände ruhten fest auf meinen Schultern, und um den Mund spielte ein leicht amüsiertes Lächeln.
»Was bist du für eine entzückende Person, Lysette. Viel zu schade, um sie der rauen Männerwelt zu überlassen. Was mache ich nur mit dir?«
»Ich weiß nur, was du ganz bestimmt nicht mit mir machst.«
Er grinste. »Schon gut, schon gut! Man darf es ja wenigstens mal versuchen. Schließlich bin ich ein Mann.«
»Versuche es nur ruhig wieder. Das hebt mein Selbstbewusstsein.«
»Na, davon hast du schon genug. Tut mir übrigens leid, Lysette, dass das heute Abend mit dem Theater nicht klappt. Die leidige Arbeit...«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Lloyd. Ich verstehe das schon.«
»Siehst du, das gefällt mir auch so an dir. Du hast immer Verständnis für mich. Wir gehen dann nächsten Donnerstag ins Theater und danach ins Garden essen. Den Tisch habe ich schon bestellt. Ist das recht so?«
»Oh, ja, natürlich.«
So war Lloyd. Er überließ nichts dem Zufall, alles wurde genau geplant und vorbereitet. Er wurde jeder Situation gerecht. Manchmal hatte ich mir schon gewünscht, er wäre nicht so perfekt. Das Leben mit ihm würde stets geordnet und gut organisiert verlaufen; wahrscheinlich sogar auch in der Liebe. Es würde keine aufregenden Probleme geben, aber auch keine Überraschungen. Vielleicht urteilte ich ein bisschen zu schnell, dachte ich beschämt. Einen besseren Ehemann als Lloyd Raymond konnte sich bestimmt keine Frau wünschen, und es war ein Wunder, dass ihn nicht überhaupt schon eine an die goldene Leine gelegt hatte.
»Lysette«, sagte er plötzlich und sah mich forschend an. »Bist du wieder angerufen worden?«
»Wieso?« Auf die Frage war ich nicht vorbereitet. »Vergangene Woche einmal und gestern. Warum fragst du?«
»Weil ich mir deswegen Sorgen mache. Zumal der Kerl sogar eure Geheimnummer rausbekommen hat. Hast du eine Ahnung, wer es sein könnte?«
»Nicht die geringste. Aber die Sache ist es gar nicht wert, dass du dir darüber den Kopf zerbrichst. Ich weiß nicht, warum
du und Mandy so viel Aufhebens davon macht.«
»Erzähl mir von deinem Vater«, bat er ohne jeden Übergang. »Was für ein Mann war er?«
»Ach, Lloyd, ich habe keine Lust.«
»Aber das ist wichtig, Lysette. Bitte!« Er sprach sehr ruhig, aber seine Stimme ließ keine weitere Diskussion zu, und so begann ich seufzend:
»Es ist lange her, und ich kann mich nicht mehr an viel erinnern. Ich war fünf, als wir nach Devon zogen, und ein Jahr später hat er uns schon verlassen. Er war sehr groß und ziemlich wortkarg. Aber er liebte mich über alles. Mir ist fast das Herz gebrochen, als er einfach wegging...«
»Und er ist nach Australien ausgewandert?«
»Ja. Warum, weiß ich nicht. Ich erhielt pünktlich jeden Monat einen Brief von ihm. Dann starb er plötzlich. Ich war gerade dreizehn.«
»Hast du die Briefe noch?«
»Die Briefe? Ich habe keine Ahnung, wo die sein könnten.«
Lloyd runzelte die Stirn. Das Gesicht machte er bestimmt bei Gericht, wenn er einen Zeugen befragte. Irgendwie passte mir seine Fragerei nicht, denn ich hatte ihm alles schon nach dem ersten mysteriösen Anruf erzählt. Er verschränkte die Arme und legte den Kopf zur Seite.
»Und du kannst dich an nichts in diesen Briefen erinnern?«
»Natürlich nicht, das ist ja schon lange her.«
»Versteh mich doch, Lysette. Ich möchte der Sache einfach auf den Grund gehen. Selbstverständlich kann es sich bei den Anrufen nur um einen dummen. Streich handeln, aber es könnte auch etwas anderes dahinterstecken.« Er sah mich besorgt an. »Ich möchte eben, dass dir nichts passiert.«
»Das ist sehr lieb von dir, aber glaube mir, du und Mandy, ihr macht aus einer Mücke einen Elefanten.«
»Möglich. Und doch, wenn dir irgendetwas über deinen Vater einfällt, sage es mir bitte.«
Ich sah in seinen Augen die ehrliche Sorge um mich. Eigentlich sollte ich mich geschmeichelt fühlen, überlegte ich reumütig und schenkte ihm ein besonders herzliches Lächeln. »Gut, Lloyd, ich verspreche es dir.«
Erblickte auf die Uhr. »Ich habe um zwei einen Termin. Wir müssen leider zurückgehen. Entschuldige, wenn ich ein wenig zu ruppig war. Der Gerichtssaal scheint abzufärben. Und du bedeutest mir sehr viel, Lysette.«
Er nahm mich an der Hand, und wir schlenderten auf den Parkausgang zu.
»Schade, dass du schon gehen musst«, schmollte ich.
»Tut mir auch leid, Schatz. Ich würde bestimmt lieber den Nachmittag mit dir verbringen.«
»Meinst du das ehrlich?«
»Natürlich. Ich bin zwar kein besonders galanter Verehrer und in romantischen Redewendungen nicht sehr bewandert, aber dass ich dich kennengelernt habe, Lysette, ist das Beste, was mir je passiert ist. Gut so?«
Ich lachte. »Oh, ja, Lloyd, für den Anfang klingt das schon sehr schön.«
Wir hatten den Park verlassen und standen mitten im Gewühle der belebten Geschäftsstraße. In der nächsten Minute würde er in der Menge verschwinden. Ich seufzte und wollte ihn am liebsten überhaupt nicht loslassen. Doch ich spürte, dass er unruhig wurde
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Lara Brennan/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Darksouls/Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Darksouls/Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Korrektorat: Mina Dörge.
Übersetzung: Ute Philipp (OT: The Sinister).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 06.04.2022
ISBN: 978-3-7554-1105-5
Alle Rechte vorbehalten