MICHAEL T. HINKEMEYER
Aus dunkler Tiefe
Roman
Apex Horror, Band 62
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
AUS DUNKLER TIEFE
ABEL
DAS HAUS IN SEA CLIFF
FESSELN DER NÄCHTE
REISE INS DUNKEL
Das Buch
Für Ken Adamson war die Welt in Ordnung - bis er mit seiner Frau und den beiden Kindern in das große alte Haus auf der Klippe zog. Dann ereigneten sich seltsame, unheimliche Dinge - wie der Schatten, der auf den Strand fiel, obgleich kein Körper da war, der einen Schatten hätte werfen können. Und im Keller rührte sich etwas, körperlos, verschwommen, aber erdrückend wie dichter Nebel. Jenny, Kens fünfjährige Tochter, schien sich in ihrem Wesen zu verändern.
Anfangs weigerte sich Ken, diese Veränderungen zur Kenntnis zu nehmen. Aber es geschah zu viel, und stets betraf es in irgendeiner Form Jenny. Das Haus, irgendetwas in dem Haus, hatte es auf Jenny abgesehen...
Der Roman Aus dunkler Tiefe des US-amerikanischen Autors Michael T. Hinkemeyer (erstmals im Jahr 1974 veröffentlicht) gilt als Klassiker des modernen Horrors und erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Reihe APEX HORROR.
AUS DUNKLER TIEFE
ABEL
Connelli, der Droschkenkutscher, rieb sich die Hände und war froh, dass er den letzten Zug der Long Island Railroad aus New York abgewartet hatte. Abel Warrington war mit Trinkgeldern nie kleinlich, und vielleicht gab er auf der Fahrt zur Mosquito-Bucht noch einen guten Witz zum Besten. Ein paar Monate musste Connelli noch etwas auf die hohe Kante legen, dann hatte er genug beisammen und konnte ein Auto als Taxi kaufen; das erste in Sea Cliff.
»Schön guten Abend, Mr. Warrington!«
»’n Abend, Connelli. Können Sie mich nach Hause fahren?«
»Wird gemacht, Mr. Warrington. Sie brauchen nur einzusteigen.«
Der Droschkenkutscher schnalzte mit den Zügeln; die hohen Speichenräder ratterten über die Pflastersteine.
»Sie waren in der Stadt?«
Der Fahrgast, ein junger Mann, nickte. »Und wenn man nicht aufpasst, ziehen die einem dort das Hemd vom Leib.«
Mehr sagte er nicht. Er wirkte bedrückt und müde. Der Kutscher wusste, wann er seinen Mund zu halten hatte, und er hielt ihn.
Es war keine lange Fahrt, aber das Pferd hatte die steile Küstenstraße zu bewältigen. Als es vor dem großen weißen Haus stehenblieb, dampften die Nüstern, und Schweiß glänzte trotz der kalten Novembernacht auf den Flanken.
»Ist schon alles dunkel drinnen«, sagte der Kutscher. »Wette, die sind schon alle schlafen gegangen.«
Der junge Mann blickte ihn geistesabwesend an, als ob er in Gedanken weit weg sei. Er sah rasch aufs Haus und schien plötzlich beunruhigt.
»Hier.« Er drückte einen viel zu großen Geldschein in die bereitwillig geöffnete Hand, sprang vom Wagen und eilte ins Haus.
»Verona!«, rief er. »Verona, wo bist du?«
Vom Keller hörte er ein hässliches, schadenfrohes Lachen. Sie hatte also gewonnen. Er riss die schwere Tür auf und rannte die Stufen hinunter. Flackerndes Licht einer Petroleumlampe zuckte über sein Gesicht, beleuchtete die nun entsetzten Augen. Die Frau lachte böse und trat zur Seite, um ihm ihr Werk zu zeigen. Er konnte es kaum fassen. Seine Augen saugten das grauenvolle Bild in sich auf und wurden dunkel.
Er schritt langsam die letzten Stufen hinunter, hinein in einen sechzig Jahre währenden Tod.
So erzählte man sich.
DAS HAUS IN SEA CLIFF
Erstes Kapitel
Die Blue Jeans des Jungen waren ein bisschen weniger verwaschen als die der vielen Studenten, die laufend in Kens Büro hereinschauten. Sei es, um sich beliebt zu machen, um etwas zu fragen, oder um sich einfach nur ein Problem von der Seele zu reden. Seine Augen glänzten ungewöhnlich; Ken hoffte, nicht wegen irgendwelcher Drogen. Da war man heutzutage bei den Studenten nie so sicher. Aber es stellte sich heraus, dass des Jungen Erregung einen anderen Grund hatte.
»Ich meine, sie hat wirklich das zweite Gesicht, Professor.«
Ken lehrte am Metropolitan College in New York Psychologie. Er hatte gerade eine Vorlesung über Sinneswahrnehmungen hinter sich, in der er zum Schluss zur Freude der Studenten das heikle Thema Hellsehen gestreift hatte.
»Wir haben den Kartentest versucht, Professor. Den kennen Sie doch?«, fuhr der Student fort. Er hatte wuscheliges, nicht zu, langes braunes Haar, ein offenes, sauber rasiertes Gesicht; keiner der Sommerhippies, die die Kurse nur belegten, um die Zeit totzuschlagen.
»Karten?«, fragte Ken.
»Richtig. Ein grundlegender Test, um diese Fähigkeiten zu prüfen. Man nimmt zwei Dutzend Spielkarten und konzentriert sich auf die einzelnen Bilder. Jemand, der diese Fähigkeiten besitzt, wird über die Hälfte der Karten erraten, an die Sie gerade denken.«
»Nun, dafür könnte es eine Menge logischer Erklärungen geben«, wandte Ken ein, er ließ absichtlich einen belehrenden Ton mitschwingen. Es war Freitag. Er hatte keine Vorlesungen mehr, und er wollte das Problem des Jungen so schnell wie möglich lösen, um ihn loszuwerden. Er hatte keine Lust, in den Freitagabendverkehr zu kommen. »Die Person kann sich zum Beispiel die Karten vorher angesehen haben, oder sie orientiert sich an gewissen physischen Zeichen von Seiten der Versuchsperson, oder...«
»Aber mehr als zwanzig Karten von vierundzwanzig bei fünf Sitzungen?«, unterbrach ihn der junge Mann gekränkt. Offensichtlich hatte er bei Professor Adamson mit mehr Interesse gerechnet. Mein Gott, man konnte doch nie wissen, auf welche merkwürdigen Neigungen man mit einer kleinen Abweichung vom Thema bei den Studenten trifft, dachte Ken missmutig.
»Über zwanzig?« Ken versuchte Anteilnahme zu heucheln.
Renner, David J., so hatte sich der junge Mann in der Vorlesungsliste eingetragen, stützte sich eifrig auf die Schreibtischplatte. »Stimmt, Professor. Es ist so wie Sie in der Vorlesung gesagt haben: Erscheinen uns Wahrnehmungen unverständlich, so heißt das nur, dass wir die empirischen Gesetze ihrer Funktionen noch nicht verstanden haben.«
Ken unterdrückte einen Seufzer. Na schön, wenn er so eine verschraubte Feststellung verzapft hatte, dann musste er sich wohl oder übel dazu stellen.
»Wären Sie bereit, mit mir und Becky ein Experiment zu machen?«, fragte Renner. »Sie will mir einfach nicht abnehmen, dass sie für diese Art von Dingen eine besondere Fähigkeit besitzt. Aber Sie sind schließlich kompetent dafür.«
Das klang schmeichelhaft, aber Ken dachte an die Artikel, die er schreiben sollte, an das Buch, das endlich angefangen werden musste und an Rae Jean und die Kinder, die in die Ferien fahren wollten.
»Ich bin diesen Sommer sehr beschäftigt...«
»Aber das hält Sie doch nicht mehr als eine Stunde auf. Wollen Sie Becky nicht wenigstens mal sprechen? Sie wartet draußen.«
Ohne Kens Antwort abzuwarten, trat Renner an die Tür und gab seiner Freundin ein Zeichen. Der Junge überlässt nichts dem Zufall, dachte Ken amüsiert.
Er erinnerte sich an das Mädchen. Hinterster Fenstertisch im Hörsaal. Den Mund hatte sie noch nicht ein einziges Mal aufgemacht. Schlank, wohlproportioniert, langes blondes Haar und dunkelgrüne Augen. Sie trug die übliche Uniform: Blue Jeans. Das Mädchen betrat schüchtern das kleine Büro.
»Professor, das ist Becky Sondquist. Sie werden sich an sie erinnern, nicht?«
»Natürlich.« Ken bot ihr keinen Platz an; er dachte an die langen Autoschlangen auf der Long-Island-Schnellstraße. »Mr. Renner erzählte mir, dass Sie besondere psychische Kräfte besäßen.«
»Die hat sie, Professor«, versicherte Renner.
»Sind Sie auch der Meinung?« Ken lächelte, um den vielleicht etwas herablassenden Ton der Frage zu mildern.
Sie hob den Kopf und schüttelte mit einer anmutigen Bewegung das Haar nach hinten. »Es wird nichts weiter als eine gewisse Intuition sein«, meinte sie ein wenig verlegen. »Und das ist doch nichts Außergewöhnliches.«
»Um das herauszufinden, sind wir ja hier, nicht wahr, Professor?«, fiel Renner sofort ein. »Wann hätten Sie Zeit für den Test?«
Da es ihm die einzige Möglichkeit schien, die jungen Leute schnellstens los zu werden, ging Ken rasch in Gedanken seinen Terminkalender durch. »Nächsten Donnerstag um drei?«
»Großartig. Da sind die Vorlesungen zu Ende. Becky und ich besorgen einen leeren Saal. Ich finde es riesig nett, Professor, dass Sie daran interessiert sind.« Er schüttelte Ken beglückt die Hand.
»Also, dann bis bald.«
Auch das Mädchen streckte die Hand aus. New Yorker sind groß im Händeschütteln. In Kalifornien wäre sie ihm sogar um den Hals gefallen. Sie lächelte ihn dankbar, fast ein bisschen schuldbewusst an; ihr war klar, dass das Vorhaben ihres Freundes ihm kostbare Zeit stahl. Doch als ihre Hände sich berührten, verschwand das Lächeln, die grünen Augen starrten ihn verblüfft an und ein seltsamer Ausdruck huschte über ihr Gesicht.
»Stimmt was nicht, Miss Sondquist?« Ken ließ ihre Hand los und blickte nervös an sich herab. War die Fliege aufgegangen, oder etwas anderes?
»Oh, nein, nein«, beteuerte sie hastig, aber obwohl sie noch keinen Schritt gemacht hatte, spürte er, wie sie sich von ihm zurückzog.
»Irgendeine Intuition, Professor«, erklärte Renner aufgeräumt. »So ist sie nun mal.« Er hatte wohl den seltsamen Ausdruck nicht gesehen. War es Angst gewesen? Oder eine böse Vorahnung?
Die beiden verließen den Raum. Das Mädchen, ohne Ken noch einmal anzusehen.
Ken konnte sich nicht erklären, was das alles zu bedeuten hatte. Vielleicht hatten sie ihrem Professor auch nur mal auf den Zahn fühlen wollen. Es wäre wahrscheinlich besser gewesen, wenn er heute das Thema Hellsehen gelassen hätte. Na und wenn schon, nächste Woche konnte er sich immer noch Gedanken darüber machen. Er schnappte seine Diplomatentasche, verriegelte die Tür seines Büros hinter sich und verließ mit großen Schritten das vollklimatisierte Psychologiegebäude. Die Julihitze von New York City schlug ihm wie eine feuchte Windel ins Gesicht.
Zweites Kapitel
Er manövrierte seinen Buick-Kombi in die richtige Fahrbahn, bog an der Roslyn-Road-Ausfahrt ab und fuhr nördlich an Roslyn vorbei durch eine dichtbewaldete hügelige Landschaft, in der sich große Villen, riesige Privatgrundstücke, ja ganze Ortschaften versteckten. Und das nur dreißig Kilometer vom Times Square entfernt! Rae Jean konnte das nicht abstreiten. Es war kultivierte Landschaft, aber auf jeden Fall grüne, freie Landschaft. Bald hatte er es bis Hampstead Harbor geschafft, nördlich davon lag Sea Cliff. Nun noch das letzte steile Küstenstück bis zu dem mächtigen weißen Haus an den Klippen. Giebelfenster überblickten Wälder und den Hafen. Park Way Nr. 88. Zu Hause.
»Ich bin in der Küche«, rief Rae Jean, als sie ihn ins Haus treten hörte. »Gott sei Dank, dass du da bist.« Ken brauchte nicht erst nach ihrer Stimmung zu fragen.
Rae Jean, über der Stirn kringelten sich vom Schweiß kleine Löckchen, stand auf einem Küchenstuhl und stellte das gute Porzellan an die oberen Fächer des hohen Küchenschranks. Als sie sich streckte, kamen die hübschen festen Schenkel in der eher grauen als weißen Hose besonders gut zur Geltung; volle Brüste wölbten den dunkelblauen Pullover.
»Ich habe mit dem Abendessen noch nicht einmal angefangen«, klagte sie, und dann: »Wir werden einen zweiten Wagen brauchen.«
Ken ließ Rae Jean reden. Sie waren hauptsächlich ihretwegen an die Küste gezogen. Rae hatte es in der Stadt nicht mehr ausgehalten. Erwartungsgemäß mussten durch den Umzug neue Probleme auftauchen. Aber sie hatten noch nicht mal alles ausgepackt!
»Auf den Straßen hier draußen gibt es keine Gehsteige«, jammerte sie weiter. »Dabei wurde das Land zweihundert Jahre vor Kalifornien bevölkert. Es ist unmöglich, mit einem Einkaufswagen zu den Geschäften zu laufen. Ach, und dann die kleinen Schränke! Ich habe kaum Platz für unsere Sachen. Na, das nächste Mal wissen wir, worauf wir bei einem Haus achten müssen.«
Auch das ließ Ken über sich ergehen. Noch ein Umzug, das war allerdings das letzte, woran er im Moment denken wollte.
Seine kleine Tochter Jenny saß am Küchentisch. Sie fügte mit ernstem Gesichtchen die Steine eines Vorschulpuzzles zusammen. Seitdem sie in dieses Haus gezogen waren, hatte das Kind etwas von seiner Fröhlichkeit verloren, es wirkte bedrückt. So bedrückt wie eine Vierjährige es eben sein konnte. Sie kam ihm, zum Beispiel, nicht mehr entgegengesprungen, wenn er abends heimkehrte, um ihm jubelnd um den Hals zu fallen.
»Bekomme ich einen dicken Kuss, Liebling?« Er beugte sich über sie, und nun streckte ihm Jenny doch die Arme entgegen und drückte ihm einen nassen Kuss auf die Wange. Sie hatte wie ihre Mutter dunkles Haar. Paul war blond wie sein Vater. Auch die schönen hohen Backenknochen hatten Mutter und Tochter gemeinsam und die dunklen südländischen Augen. Auch wenn Ken es nicht zugeben wollte: Jenny war sein Liebling.
»Hast du Mami schön geholfen heute?«, fragte er und drückte die Kleine an sich.
»Ja, Jenny hat Mami viel geholfen. Wir haben mit Schachteln gespielt.«
»Gespielt?«, kam es vom Küchenschrank. »Ich habe Hunderte von den Dingern ausgepackt.«
»Papa, spielst du mit mir?«
»Dein Vater hat jetzt eine Menge zu tun, Liebling.« Rae Jean stieg vom Stuhl und wischte sich die Hände an der Hose ab. »Wenn du mich fragst, Ken, reicht mir schon ein Umzug in diesem Leben. Du könntest bitte einige der guten Kartons in den Keller bringen; den vom Fernseher vor allem und den von der Stereoanlage. Wir können sie beim nächsten Umzug nochmal nehmen.«
Schon wieder umziehen?
»Ach Mami, warum kann Papa nicht mit mir Puzzle spielen?«
»Weil er mir helfen muss. Am besten fängst du gleich damit an, Ken. Ich mache inzwischen das Abendbrot, dann können wir in einer Stunde essen.«
»Okay, ich ziehe mich nur um.«
»Papa, du sollst mit mir spielen, biiiiitte!«
»Du bist jetzt still, Jenny!«, befahl Rae Jean nervös. In letzter Zeit war sie äußerst gereizt. Wahrscheinlich nicht so sehr wegen Ken und der Kinder, sondern wegen des Umzugs und der Probleme, die ihm vorausgegangen waren. Ken küsste sie, aber das half auch nicht viel; er spürte keinen Widerhall.
»Wo ist Paul?« Das wollte Ken noch wissen, ehe er sich umzog.
»Am Strand, mit einem Nachbarjungen. Er heißt, glaube ich, Johnny und ist im gleichen Alter. Johnnys Mutter ist mit am Strand unten. Leider wollte Jenny nicht mitgehen. Deshalb bin ich auch so zurück mit allem.«
»Aber Rae, du hast doch Zeit. Mach doch langsam.«
»Langsam? Du hast gut reden. Du sitzt den ganzen Tag in deinem klimatisierten Büro, während ich mich abrackere, um aus diesem Chaos ein gemütliches Heim zu machen. Schau dich doch mal um, wie es aussieht!«
»Ja, ja, schon gut.« Ken hob müde die Hand. »Ich habe das ganze Wochenende Zeit, um dir zu helfen. Und nächstes Wochenende sind endlich Ferien, dann können wir ein paar Tage irgendwo hinfahren und ausspannen.«
»Ich brauche mehr als ein paar Tage«, entgegnete Rae Jean entschieden, aber ihr Gesicht hatte sich etwas aufgehellt. Ken ging nach oben und fischte sich aus dem Durcheinander im Schlafzimmer ein altes Hemd und eine alte Hose. Rae Jeans anhaltende Gereiztheit irritierte ihn, aber noch mehr bekümmerte ihn Jennys deprimierte Stimmung. Für ein Kind in ihrem Alter war das ungewöhnlich, auch wenn man die Umstellung durch den Umzug berücksichtigte. Er hatte das süße Gesichtchen noch nie so ernst und so traurig gesehen.
Ein Schaukelstuhl auf dem Balkon, ein Whiskey on the rocks und ein bisschen das Treiben im Hafen von Hampstead beobachten, das wäre jetzt genau das Richtige nach der anstrengenden Arbeitswoche. Er gab sich einen Ruck, nur keine Müdigkeit aufkommen lassen. Am besten, er fing gleich an. Wenn Rae Jean zufriedengestellt war, dann stieg auch das allgemeine Stimmungsbarometer im Haus.
Das große Haus war unmittelbar in die Klippen hineingebaut worden. Die Kellerräume erstreckten sich also weit in den Fels. Die Klippen fielen so steil ab, dass das Haus zur Seeseite vier Stockwerke hoch war und zur Landseite nur zweieinhalb. Das heißt, eigentlich drei, doch die Fenster des riesigen durchgehenden Wohn- und Essraums lagen auf der Landseite fast unter der Zimmerdecke; der Fußboden befand sich tief unter der Erdoberfläche. Man sah nur Himmel, Gras und Baumstämme; keine Menschen, keine Autos. Das hatte ihnen das Haus so sympathisch gemacht; es versprach ländliche Zurückgezogenheit.
Der Keller war weniger sympathisch. Er war ungeheuer groß, mit tiefen Gewölben und eisig kalt. Mächtige Holzbalken trugen die Kellerdecke, ein Gewirr von Licht- und Wasserleitungen und Heizungsrohren breitete sich überall wie ein phantastisch gewobenes Spinngewebe aus. Alte, verrostete Türen führten zu den verschiedensten Vorratskellern.
Ken vergaß den Whiskey und den bequemen Schaukelstuhl, als er immer wieder Kisten und Kasten die schmale, gewundene Treppe hinunterschleppte und in dem miserabel beleuchteten Keller aufstapelte. Es mussten unbedingt noch Lampen angebracht werden und die vorhandenen Birnen gegen stärkere ausgetauscht werden. Jenny wollte mit ihm im Keller spielen, aber er musste es ihr verbieten; für ein Kind waren die dunklen, verwinkelten Räume viel zu gefährlich. Sie zog einen Flunsch und wollte weinen, aber er hob sie auf die Arme, versprach ihr mit großem Ehrenwort, bald fertig zu sein und setzte sie vor den Fernseher, wo gerade das Kinderprogramm lief.
Nach einer Stunde hatte er alle leeren Kartons sauber im Keller verstaut. Er schwitzte fürchterlich, aber er konnte mit sich zufrieden sein. Noch ein paar Tage harter Arbeit, und sie konnten in Urlaub fahren. Das würde alles wieder ins Lot bringen.
Ken ließ sich auf einen zusammengeschnürten Stoß Faltkartons fallen und lehnte sich gegen die kalte Steinmauer. Die Dunkelheit und die Kälte waren jetzt fast angenehm. Er war dabei, ein wenig einzudösen, als er Jenny weinen hörte. Verdammt, er hatte ihr doch verboten, herunterzukommen!
»Jenny«, rief er ärgerlich. »Bleib, wo du bist! Es ist zu dunkel hier unten.«
Das Weinen verstummte.
»Jenny?«
Keine Antwort.
»Jenny, bist du hier unten?« Seine Blicke durchwanderten rasch jeden Winkel. Sie musste auf dem Weg in den Keller auf den oberen Stufen der Treppe stehengeblieben sein. Vermutlich war sie nach seinem barschen Befehl wieder zum Fernsehen gerannt.
»Hallo, Paps!« Das war Pauls Stimme. »Bist du im Keller?«
»Ja. Aber bleib oben, ich komme gleich.«
Doch Paul kam schon die Treppe heruntergesprungen. »Mami hat mich nämlich noch nie hier spielen lassen, und ich bin doch so neugierig, wie es hier aussieht«, erklärte er unternehmungslustig.
»Es ist ein Keller wie jeder andere.«
Paul stieg die letzten Stufen langsamer herab. Seine Augen mussten sich erst an die düstere Beleuchtung gewöhnen. »Junge, Junge, das ist ja richtig gruselig hier unten. Wo bist du, Paps?«
»Hier.« Ken stand auf und ging seinem Sohn entgegen. »Solange ich noch kein besseres Licht installiert habe, ist der Keller für euch kein Spielplatz. Achte auch ein bisschen auf deine Schwester.«
»Mach ich, Paps. Aber könnte man dann nicht auch ein bisschen heizen? Es ist so schrecklich kalt hier.« Paul zitterte plötzlich.
Während sie hinaufgingen, erklärte Ken seinem Sohn, warum der Keller so kalt war und was für Vorteile das in Bezug auf die Lagerung von Vorräten brachte.
Rae Jean wirkte immer noch müde und abgespannt, als sie in die Küche traten. Sie packte gerade das Silber aus. Jenny saß schon im Esszimmer am Tisch.
»Hab ein bisschen Geduld, Rae«, sagte Ken. »Wir haben bald alles unter Dach und Fach, dann machen wir einen kurzen Urlaub, und danach könntest du vielleicht wieder anfangen zu malen.«
»Malen!« Sie lachte bitter auf.
»Ja. Und nun lach wieder.« Er zog sie in die Arme, und sie lehnte den Kopf an seine Brust.
»Tut mir leid«, murmelte sie. »Ich will eben immer alles im Nu fertig haben.« Sie blieb eine Weile an ihn geschmiegt stehen, bis ihr der Backofen einfiel. »Ach Gott, das Essen ist fertig!« Sie rannte, um den Auflauf zu retten.
»Übrigens«, Ken holte Besteck aus der Küchenschublade, »lass Jenny nicht wieder in die Nähe der Kellertreppe, die Beleuchtung ist lebensgefährlich.«
»Wieso? Sie weiß, dass sie nicht in den Keller darf.«
»Und was war eben? Vor ungefähr fünfzehn Minuten?«
»Ich weiß gar nicht, wovon du redest? Sie hat die ganze letzte halbe Stunde vor dem Fernseher gesessen.«
»Ja, ja, ’s ist schon gut.« Ken winkte beruhigend ab. Sie musste sich irren, dachte er jedoch. Das war Jenny gewesen, die vorhin geweint hatte, und niemand anderes.
Drittes Kapitel
Sea Cliff lag an der Nordküste von Long Island. Die meisten der kleinen Ortschaften an diesem Küstenstreifen dienten als Wohngebiete, und noch dazu als sehr vornehme Wohngebiete für wohlhabende New Yorker. Wie es dazu gekommen war, wusste keiner.
Die Adamsons hatten das Haus an den Klippen erst vor einer Woche bezogen. Die Möbel standen noch unter Bergen von Büchern, Kleidern und sonstigem Krimskrams verborgen. Dieser Zustand musste unter allen Umständen ein Ende finden, denn erst dann, darüber war sich Ken im Klaren, konnte er sich wieder in Ruhe seinen wissenschaftlichen Arbeiten widmen.
Ken und Rae kamen aus Kalifornien, das heißt, aus Los Angeles und Santa Barbara. Vor neun Jahren hatte er seinen Doktor in Psychologie gemacht und danach hatten sie sofort geheiratet. Den ersten Lehrauftrag bekam Ken in einem kleineren College an der Westküste. Damals hatte alles recht gut für sie begonnen; er hatte zwar nicht viel verdient, aber ihre Ansprüche zu zweit waren nicht allzu groß gewesen. Er hatte neben seiner Arbeit für das College in mehreren Fachzeitschriften einige bahnbrechende Thesen veröffentlichen können, die ihm beachtliche Anerkennung eingebracht hatten. Rae Jean war ihrer Malkunst treu geblieben. Sie hatte Talent, und die pazifische Küste bot ihr genügend malerische Motive.
Alles war gut gegangen, bis durch einen Berechnungsfehler oder das Versagen eines Verhütungsmittels Paul ankam; zwei Jahre bevor sie es geplant hatten. Natürlich hatten sie sich über das Kind gefreut und liebten es über alles; aber mit dem freien Leben war es nun vorbei, und auch die finanziellen Mittel reichten für die neuen Bedürfnisse nicht mehr aus. Rae Jean musste das Malen aufgeben, war unbefriedigt und wurde zusehends nervöser.
Als dann Ken aufgrund seiner aufsehenerregenden Artikel einen Lehrstuhl am Metropolitan College von New York angeboten wurde, hatte er sofort zugegriffen, obwohl Rae Jean überhaupt nicht begeistert war.
Sie und Ken waren echte Kalifornier. Theater, luxuriöse Restaurants und der großstädtische Trubel machten wohl Spaß, aber sie konnten es auch entbehren. Doch der akademische Rang dieser Stellung und das großzügige Gehalt waren zu verlockend gewesen; er hatte nicht ablehnen können. Sie waren in den Osten gezogen.
Der Wechsel hatte Ken nur Vorteile gebracht, und er war bei Kollegen und Studenten außerordentlich beliebt. Unter einem Psychologen stellte man sich im Allgemeinen einen zerstreuten, argwöhnischen und, wenn er seine Berufung ernst nahm, depressiven Mann vor, dessen Gesicht ständig nervös zuckte. Ken passte nicht in dieses Bild. Er war auch im Wesen ein Kalifornier: widerspenstiges, von der Sonne gebleichtes Haar, optimistisch, voller Schwung und Sinn für Humor.
Rae Jean brachte die neue Heimat nicht soviel Glück. Nicht dass es ihr schlecht ging, nein – aber Jenny war angekommen, hatte Raes Leben noch mehr eingeschränkt und sie zu einer vollberuflichen Hausfrau und Mutter gemacht. Die Aussicht von dem Balkon ihres Wolkenkratzers in Flushing, Queens, nur ein kurzes Stück vom College entfernt, regte kaum zum Malen an, auch wenn sie Zeit dazu gefunden hätte. Was war die graue Steinsilhouette von Manhattan gegen die wilde Schönheit der pazifischen Küste; zumal sich die Hälfte der Zeit der Blick im trüben Smog verlor. Sie versuchte wohl die Abneigung gegen New York in Grenzen zu halten, aber Ken hatte ihre Unzufriedenheit gespürt. Kleine Pannen, wie das vergebliche Suchen nach einem Parkplatz, brachten sie gleich aus dem Konzept. Sie liebte die Kinder; doch Ken beobachtete, dass sie die beiden sogar manchmal ein bisschen vernachlässigte und nicht die erforderliche Geduld für sie aufbrachte.
Daran waren nicht so sehr die Kinder schuld oder Ken oder New York, sondern ihre grundlegende Einstellung dem Leben gegenüber, und die wiederum resultierte aus ihrer Kindheit.
Ihr Vater, ein erfolgreicher und selbstbewusster Flugingenieur, hatte mit derselben Umsicht und Präzision, die er täglich in seinem Beruf anwenden musste, auch für seine Familie gesorgt. In Raes Leben hatte es nie ernste Krisen gegeben; das hatte der Vater nicht eingeplant, und so ließ er es auch nicht dazu kommen.
Seinen Tod hatte er allerdings auch nicht eingeplant, er starb unerwartet und schnell an Krebs, als Rae fünfzehn Jahre alt war. Der plötzliche Tod des Vaters hatte in ihrem Leben eine unsichtbare aber fortbleibende Narbe hinterlassen. Ohne sich dessen voll bewusst zu sein, suchte sie – und brauchte es auch – die gleiche von Zufällen verschonte Sicherheit und Geborgenheit, die sie zu Lebzeiten ihres Vaters kennengelernt hatte. Selbst die unbedeutenden, aber unausweichlichen Ärgernisse des Alltags belasteten sie, weil sie sie nicht voraussehen konnte.
Schon bald nachdem sie sich kennengelernt hatten, hatte Ken ihr die Problematik dieser Wesenszüge und die dadurch unvermeidliche und aufreibende Konfrontation mit dem wirklichen Leben zumindest bewusst machen können.
In den wichtigsten Dingen hatte er ihr auch die gesuchte Sicherheit bieten können: Liebe, ein Zuhause und eine glänzende Karriere, deren Höhepunkt noch bevorstand. Doch die Hektik des Ostens, des New Yorker Lebens, schien diese Sicherheit zum Einstürzen zu bringen, und wenn sie sich, wie in letzter Zeit sehr oft, stritten, fühlte er, dass sie sich in das einfachere frühere Leben zurücksehnte. Manchmal hatte sie sogar ganz offen zugegeben, dass sie gern nach Kalifornien zurückgehen würde, wo ihre Mutter noch lebte.
»Lass uns nach Long Island ziehen«, hatte sie gebeten. »Dort kann ich wenigstens Gras sehen und Bäume.«
»Wenn ich außerordentlicher Professor geworden bin«, hatte Ken versprochen.
Und nun hatte er dieses vorläufige Ziel erreicht, und sie waren in ein Haus auf Long Island gezogen, aber Rae Jean schien, wenigstens im Augenblick, noch unzufriedener denn je. Ken schob das auf die Anstrengungen und das Durcheinander, das ein Umzug nun einmal mit sich brachte. Sorge dafür, dass das
Haus endlich in Ordnung kommt, dachte er; nimm dir die Zeit für einen Urlaub, und sie wird wieder in die Reihe kommen. Er hoffte es, denn er liebte sie. Und trotz der Freude, die er an seiner Arbeit hatte, bekümmerte es ihn, dass die unvermeidlichen Begleitumstände seiner Karriere zu einer wachsenden Entfremdung zwischen ihnen führten. Gott sei Dank nur zeitweise. Es gab immer noch viele gute Tage; Tage voller Zärtlichkeit, Gemeinsamkeit und Frohsinn und gelegentlich auch Stunden, in denen einer den anderen heiß und leidenschaftlich begehrte. Allerdings, was früher zum täglichen Leben gehörte, war jetzt mehr oder weniger zu einer kostbaren Ausnahme geworden. Aber auch das würde sich vielleicht ändern, so hoffte Ken, wenn sie sich erst mal in dem neuen Haus eingerichtet hatten...
Viertes Kapitel
Paul plapperte während des ganzen Essens von seinen Erlebnissen. Er hatte keine Umstellungsprobleme.
»Der Strand ist super. Muscheln gibt’s da und was nicht alles. Und ich würde ja zu gern mit dem Rad die tolle Küstenstraße hinuntersausen.«
»Nicht, bevor du mit ihr besser vertraut bist«, sagte Rae.
»Was heißt das, vertraut sein?«, fragte Paul.
»Wenn du über etwas gut Bescheid weißt, dann bist du vertraut damit«, erklärte ihm Ken.
»Vertraut damit«, sprach Jenny mit ernstem Gesichtchen nach. Sie stocherte lustlos auf ihrem Teller herum.
Ken betrachtete sie besorgt. »Möchtest du auch mal an den Strand, Jenny?«, fragte er zärtlich. »Vielleicht morgen?«
»Oh, nein, morgen hat euer Vater zu tun.«
»Um Himmels willen, Rae, die Auspackerei wird ja langsam zu einer Zwangsvorstellung von dir. Ein bisschen frische Luft würde uns allen guttun. Wozu sind wir schließlich hierhergezogen?«
»Wie Sie meinen, Herr Professor.« Ken hörte den feinen Spott heraus. Er hätte das Wort Zwangsvorstellung nicht aussprechen dürfen.
Es entstand ein beklemmendes Schweigen, jeder beschäftigte sich mit seinem Teller. Schließlich hielt es Paul nicht mehr aus und erzählte weiter von
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Michael T. Hinkemeyer/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Korrektorat: Mina Dörge.
Übersetzung: Ute Schmitt-Gallasch (OT: The Dark Below).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 05.04.2022
ISBN: 978-3-7554-1095-9
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