ARLENE FITZGERALD
Ketten des Todes
MITTERNACHTS-HORROR, Band 1
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
KETTEN DES TODES
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Das Buch
Die Gefahr schwebte wie ein schwarzer Schatten über Nodlaig McConnell, seit sie dem attraktiven, aber mysteriösen Fremden begegnet war. Er schien sich sehr für sie zu interessieren, besonders für die halbmondförmige Narbe auf ihrer Schulter. Was es damit auf sich hatte, erfuhr Nodlaig erst, als es beinahe schon zu spät war: In dem uralten irischen Schloss Blackthorn Castle wurde ihr Leben zu einem Alptraum ungewisser Ängste und körperlicher Gefahren. Ihr Schicksal schien unlösbar verbunden zu sein mit den Qualen einer rätselhaften schönen Frau, deren Geist die düsteren Schlossgewölbe heimsuchte...
Der Mystery-Roman Ketten des Todes von Arlene Fitzgerald erschien erstmals im Jahr 1977; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1978.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Grusel-Literatur in seiner Reihe MITTERNACHTS-HORROR.
KETTEN DES TODES
Erstes Kapitel
Es war ein Nebelmorgen im Mai, als ich, Nodlaig McConnell, zum ersten Mal die Burg Blackthorn sah. Diese alte Festung duckte sich an den Rand einer windumtosten Klippe an der Westküste Irlands. Das ist eine Küste von wilder Schönheit mit verschwiegenen Buchten und Kiesstränden, in denen viele Möwen und verschiedene Krähenarten nisten.
Für das letzte Stück der Reise hatte ich in Galway den Bus genommen, und als er eine Biegung der schmalen Küstenstraße nahm, sah ich das Schloss vor mir, nein, die Burg. Aus den grauen Nebeln tauchten erst die Zinnen und Türme, und dann die übrigen Befestigungsanlagen, die Mauern und Wälle auf. Die fernen Türme wirkten wie ein Sinnbild des Bösen, und ich besah sie mir mit dem gleichen Unglauben, der mich eigentlich nie ganz losgelassen hatte, seit ich erfuhr, dass dieser düstere, im Nebel doppelt unheimlich wirkende Bau, der Ort meiner Geburt sei.
Bis vor wenigen Wochen hatte ich von dieser großartigen alten Festung nichts gehört, auch nicht von den O’Rourkes, die seit fünf oder sechs Jahrhunderten in dieser abgelegenen Ecke der smaragdenen Küste Irlands als die Schlehdorn-Familie bekannt war, um die sich allerhand Legenden rankten.
Der Bus rumpelte die schmale Straße entlang und bog ein wenig landeinwärts ab, um dem Fuß eines Hügels zu folgen, dessen grünen Hänge mit Heide und Felsen durchsetzt waren; da flogen meine Gedanken zurück zu den unerklärlichen Ereignissen, die mich schließlich veranlassten, zu dieser mittelalterlichen Festung zu reisen, die Connemara auf dem Festland beherrschte.
Begonnen hatte alles, als Richard O’Rourke auf einer Abendgesellschaft meiner Stiefmutter Marion erschien, ehe der Generalkonsul von Irland in San Francisco in seine Heimat zurückkehrte.
»Mr. O’Rourke ist Architekt, Liebling«, sagte Marion, als sie uns bekannt machte. »Magst du ihm das Haus zeigen, ehe wir uns setzen?«
»Ja, natürlich, Mr. O’Rourke.« Ich bog in den breiten, langen Gang, der die Halle des weitläufigen viktorianischen Hauses am Russian Hill durchschnitt. Mein Vater hatte dieses Haus, als er starb, meiner Stiefmutter hinterlassen.
»Wollen Sie mich nicht Richard nennen?«, fragte mich der Gast lächelnd. In dem gebräunten Gesicht wirkten seine Zähne ungewöhnlich weiß. »Nodlaig«, fügte er leise hinzu und nickte, als mache es ihm Vergnügen, meinen Namen auszusprechen.
»Die meisten Leute wissen nicht, dass der Name meiner Stieftochter Nollig ausgesprochen wird, nicht einmal jene, die sich selbst als Iren bezeichnen«, warf meine Stiefmutter ein.
»Es ist ein sehr schöner Name«, sagte er. Sein Akzent, so schien es mir, war zum großen Teil gekünstelt, während der Charme seiner warmen, geschmeidigen Stimme echt war. Sein Haar war dunkel. Seine Augen verschlugen mir den Atem. Sie waren von einem so tiefen Dunkelblau, dass ich sie erst für violett hielt. Sein Gesicht war von keltischem Schnitt, der Mund klar gezeichnet, die Nase stark und wie gemeißelt. Alles in allem wirkte er arrogant. Das stolze, eigenwillige Kinn hatte ein Grübchen.
Plötzlich bemerkte ich, wie mich Marion musterte, und da wurde ich mir klar darüber, dass er wohl einer der anziehendsten Männer war, die ich je gesehen hatte. Noch erstaunlicher als er selbst war jedoch das in seinen unglaublichen Augen funkelnde Interesse. Ich war zwanzig und hielt mich für leidlich hübsch. Meine kupferfarbenen Haare und meine – wie mein Vater sie einmal beschrieben hatte – Augen von der Farbe dunkler Jade waren sicher das Hübscheste an mir.
Aber in seinem Blick lag mehr als Bewunderung, sodass ich einen Augenblick lang glaubte, das geblümte Jerseykleid, das Marion für mich gewählt hatte, sei vielleicht nicht ganz das Richtige für diesen Abend. Ich hätte dieses Kleid mit den schmalen Schulterträgern nicht für mich ausgesucht, und deshalb fühlte ich mich jetzt unter den Blicken dieses Mannes ein wenig verlegen.
Mein Unbehagen verstärkte sich noch, als sein Blick von meinem Gesicht zu der kleinen, halbmondförmigen Narbe ging, die über meine rechte Schulter lief. Ich hatte keine Ahnung, wie diese Narbe, die von den dünnen Schulterträgern nicht einmal andeutungsweise verdeckt wurde, dorthin kam, wie sie entstanden war. Ich musste damals noch ein so kleines Kind gewesen sein, dass ich keine bewusste Erinnerung daran hatte. Oder der sie verursachende Vorfall hatte eine so schwere traumatische Wirkung auf mich gehabt, dass ich die Erinnerung daran verdrängte. Mein Vater und natürlich auch Marion hatten sich nicht daran erinnern können, woher die Narbe kam.
»Man sollte fast meinen, jemand habe Ihnen einen Stempel aufgedrückt«, bemerkte Richard schließlich und sah mich dabei forschend an. »Oder man hat Sie irrtümlich als Mondkind gekennzeichnet.« Und dazu hob er die Brauen zu einem erstaunten Blick.
»Wie wollen Sie wissen, dass mein Sternbild nicht der Krebs ist?«, fragte ich abwehrend.
»Mit dem Namen Nodlaig?« Er lächelte ein wenig schief. »Oder haben Sie vergessen, dass ich Ire bin — wie Sie?« Damit deutete er an, ich wolle ihm mit meiner Antwort nur ausweichen und kenne den Grund für diese Narbe ganz genau.
Und da hatte ich das vage Gefühl, er wolle damit ausdrücken, dass diese Narbe ein Mal und Makel sei, der irgendwie gerechtfertigt werden müsse.
»Es ist wohl ein sehr großer Unterschied, Mr. O’Rourke, einen irischen Namen zu tragen und irischer Bürger zu sein«, erwiderte ich kalt.
»Richard«, erinnerte er mich. »Dann wissen Sie aber doch sicher, dass Nodlaig der gälische Name für Weihnachten ist?« Nun wurde sein Blick zu einer Herausforderung.
»Nein, das wusste ich nicht«, antwortete ich. Dabei überlegte ich mir, ob wohl alle Iren sich immer so rätselhaft ausdrückten und benahmen wie dieser Mann.
»Und das soll ich Ihnen glauben?« Er musterte mich. »Nun, vielleicht stimmt es doch. Und Sie scheinen auch von mir zu erwarten, dass ich es für selbstverständlich halte, wenn ein junges, schönes Mädchen wie Sie eine so auffallende, wenn auch sicher für Sie bedeutungslos erscheinende Narbe für unwichtig hält.« Er zog mit der Spitze des Zeigefingers sanft die flammend roten Umrisse der Narbe nach.
Ich trat ärgerlich einen Schritt zurück. Sofort war wieder sein seltsames Lächeln da, das mich so verwirrte. »Dann sind Sie also doch nicht so gleichgültig, wie Sie erscheinen wollen.«
Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass hinter dem Spott in Stimme und Augen eine kleine Grausamkeit lauerte, und ich drehte mich um und ging zu den Gästen, die mit ihren Drinks im eleganten, weitläufigen Wohnzimmer herumstanden und sich unterhielten.
»Soll hier die große Tour beginnen?«, fragte er hinter mir, und ich warf ihm über die Schulter einen ziemlich abweisenden Blick zu. »Sie denken doch hoffentlich nicht, ich verzichte auf die Einlösung Ihres Versprechens, mir das Haus zu zeigen?«
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte ich vorsichtig.
Nein, ich hatte ganz bestimmt nicht den Wunsch, mit diesem Mann allein in einen abgelegenen Teil des Hauses zu gehen, das Marion so umgebaut hatte, dass aus der viktorianischen pompösen Ungemütlichkeit ein gemäßigt modernes, gemütliches Haus wurde. Und der Grund dafür, dass ich dies nicht wünschte, war einzig und allein diese kleine Narbe an meiner Schulter.
Ich zögerte. Konnte ich nicht vielleicht doch eine plausible Entschuldigung erfinden? Ich hatte nicht die geringste Lust, die Führung für ihn allein zu übernehmen. Aber Marion würde es mir nie verzeihen, wenn ich einen ihrer Gäste nicht so höflich behandelte, wie er es als Gast erwarten konnte. Sie hatte auch allen Grund dazu. Als Diplomatentochter hatte ich ganz einfach den Takt zu zeigen, den man von mir erwarten konnte, den sie mir auch anerzogen hatte, nachdem meine Mutter gestorben war, als ich noch ein ganz kleines Kind gewesen war.
Ich zwang mich also zu einem kühlen Lächeln und winkte Richard O’Rourke zu, er möge mir folgen.
»Das Haus wurde gebaut von David Martingale, einem bekannten Bürger San Franciscos, der im Jahre 1849 nach dem Westen kam«, trug ich pflichtgemäß vor und führte ihn durch den hinteren Salon in das anschließende Musikzimmer, auf das Marion unglaublich stolz war. Die schönen Deckenmalereien hatte sie sehr behutsam renovieren lassen, und der riesige Chickering-Flügel hatte Seltenheitswert. »In einem Führer durch die frühe Architektur von San Francisco wurde dieses Haus als Meisterstück des Eastlake-Stils bezeichnet«, fuhr ich höflich fort.
»Es ist lohnend, zu wissen, dass es Leute gibt, die diese alten Sachen nicht in die Welt der Geister versinken lassen, wie es mit so vielen irischen Altertümern der Fall ist«, bemerkte er und besah sich mit dem Blick des Kenners die alten Möbel. »Ein bisschen übersteigert vielleicht. Aber damals hatte man eine so ungeheure Vorliebe für die Antike, dass man sich daran nicht sattsehen konnte. Ähnlich wie heutzutage in einer bisschen anderen Form. »Man holte sich Anregungen von Griechen und Römern, auch ein wenig von der Renaissance.« Sein Blick fiel auf eine übrigens sehr gute Reproduktion von Dürers Ritter, Tod und Teufel.
»Die Orientteppiche wurden auch alle von diesem Mr. Martingale in Auftrag gegeben und stammen vor allem aus Haiderabad und Jaipur«, fuhr ich fort. »Die roten Samtdraperien an den Fenstern sind Originale wie auch die hier.« Ich deutete auf einen halb beleuchteten
Alkoven, in dem eine vergoldete Harfe zu sehen war. Der reich verzierte, anmutig geschwungene Hals wurde von einem ovalen Spiegel reflektiert.
Im rauchigen Glas erblickte ich mein eigenes blasses Spiegelbild. Er hing über einer Mitgifttruhe mit Beschlägen aus gehämmertem Silber. Dann erschien unvermittelt Richard O’Rourkes Bild neben dem meinen. Seine Augen forschten in denen meines Spiegelbildes.
»Wir haben Burgen in Irland mit Dohlen in den Kaminen und Fledermäusen, die herausgeflattert kommen«, sagte er leise, und sein Blick glitt weiter zu der Narbe auf der Schulter meines Spiegelbildes.
Wieder hatte ich das Gefühl, er spotte, und deshalb drehte ich mich zu ihm um.
»Was wollen Sie von mir?«, fragte ich kurz angebunden, zitterte innerlich aber dabei. »Warum müssen Sie dauernd auf diese Narbe starren?«
»Eine Narbe, die Sie anscheinend gerne zur Schau stellen«, erwiderte er und wollte damit wohl sagen, ich hätte ihn nun absichtlich darauf hingewiesen.
»Zufällig hat Marion dieses Kleid für mich ausgesucht«, entgegnete ich barsch.
»In Blackthorn würden Sie in einem so dünnen Zeug zu Tode frieren«, erklärte er mir gleichmütig.
»Hier sind wir nicht in Blackthorn«, antwortete ich scharf. »Und bei uns nisten keine Dohlen in den Kaminen, und keine Fledermäuse flattern heraus.« Da fiel mir wieder ein, dass er ja Marions Gast war und fügte etwas sanfter hinzu: »Im Vergleich zu dem, was Sie in Irland haben müssen, erscheint Ihnen wohl dieses Haus als sehr langweilig. Soll ich etwa annehmen, Blackthorn sei eine jener Burgen, die nur noch von diesen Tieren bewohnt wird?«
»Wollen Sie etwa behaupten, Sie hätten davon noch nie etwas gehört?«, entgegnete er, und sein klargeschnittener Mund verzog sich zu einem skeptischen Lächeln.
Warum sollte ich etwas behaupten wollen, das nicht zutraf? Ich hätte ihn lieber angeschrien, als jetzt kühl zu ihm zu sagen: »Sollte ich etwa davon gehört haben?«
Wieder musterte er mich mit seinen seltsamen Augen. Im Licht der hohen Kerzen auf der Truhe glühte seine sonnenbraune Haut wie Kupfer. »Hat Ihr Vater Ihnen nie von der Zeit erzählt, als er in Irland war?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nach dem Tod meiner Mutter war es zu schmerzlich für ihn, darüber zu sprechen. Sie hatten dort ihre Flitterwochen verbracht. Es war seine erste Mission nach seiner Heirat.« Mir stieg ein Kloß in die Kehle, wie übrigens immer, wenn ich an meinen Vater dachte, und deshalb ging ich von ihm weg zu einem der tiefen Fenster, von dem aus ich auf die Lichter der Stadt hinabschauen konnte. »Jedenfalls habe ich nie gehört, dass mein Vater von einem Ort namens Blackthorn gesprochen hätte«, fügte ich hinzu, um meine Gefühle vor seinen scharfen Augen zu verbergen.
»Das ist nämlich eine der wenigen historischen Burgen, die diese blutigen Belagerungen der Briten überlebten«, erklärte er mir und folgte mir so dicht auf den Fersen, dass ich seinen warmen Atem in meinem Nacken spürte. »Allerdings muss ich zugeben, dass man der Burg ihr Alter schon ansieht. Zwischen den Steinen wächst Moos, und an einigen Stellen hat sich sogar eine Efeuranke durch die Steine gezwängt. Oben auf einem der Türme wächst ein Baum, eine Eberesche. Da muss ein Vogel den Samen verloren haben, sonst könnte er dort nicht wachsen.«
»Das scheint, als würde jeden Moment das Dach über Ihnen zusammenbrechen«, bemerkte ich.
»Das wird natürlich nicht geschehen«, versicherte er mir.
Seine Stimmungen schienen so flüchtig zu sein wie der Wind oder der Rauch, der von ihm verweht wird. Seine Augen hatten sich verdunkelt, und mir kam unwillkürlich der Gedanke, dahinter lauere ein dunkles, sehr verwirrendes Gefühl, das er vor mir zu verbergen suchte.
»Auch dann nicht«, fuhr er fort, »wenn Sie zufällig an die mystische Kraft der Eberesche glauben, dass sie das von bösen Feen zugedachte Übel abwehren kann.« Er wusste, dass ich ihn beobachtete, doch seine gespielte Leichtigkeit konnte mich nicht täuschen.
Er lächelte mich an, doch sofort spannten sich seine Züge zu einer harten, fast grausamen Maske.
Ich war sehr erleichtert, als mir Marion von der offenen Tür des Musikzimmers her zuwinkte. »Ah, da bist du ja, Liebling!«, rief sie heiter. »Kann ich dich einen Augenblick sprechen, Nodlaig? Richard, Sie entschuldigen ja. Nodlaig, ich möchte dich nämlich vor dem Essen mit jemandem bekannt machen.«
Ich war ziemlich verwirrt und kannte mich mit seinen Stimmungen nicht aus. Sie waren jedenfalls düster und rätselhaft und schienen um mich und meine kleine Narbe an der Schulter zu kreisen.
Zweites Kapitel
Marion zog mich zu einer Gruppe von Gästen, die sich um einen großen, würdig aussehenden Mann und eine rundliche Frau mittleren Alters, die seine Frau zu sein schien, versammelt hatten.
»Generalkonsul James March und seine Frau, aus Neuseeland – meine Stieftochter Nodlaig McConnell.« Ich stand neben ihr und lächelte hölzern. Hinter der Schulter des würdigen Mannes erblickte ich Richard, der uns aus dem Musikzimmer gefolgt war.
Später, als ich einmal kurz mit ihr allein war, sagte ich zu ihr: »Ich hoffe, dass nicht alle Iren so ungehobelt sind wie dein O’Rourke von Blackthorn.«
»Liebling, wenn du ihn erst einmal genauer kennst, wirst du, ganz im Gegenteil, feststellen, wie charmant er ist«, erwiderte sie und ließ ihre blauen Augen über ihre Gäste schweifen. Solche Essen leitete sie mit erstaunlicher gesellschaftlicher Sicherheit. Mein Vater hatte Gäste aus der ganzen Welt gehabt, und da war es natürlich überaus wichtig, dass die Frau des Gastgebers sehr geschickt und gewandt war. Diese gesellschaftliche Sicherheit ist zwar in der Grundanlage eine Gabe, die man entweder hat oder nicht, aber sie muss kultiviert und in einer häufig wechselnden Umgebung geschult werden.
»Ich überlege mir schon die ganze Zeit, Liebling, neben wen ich dich setzen soll. Das Problem wäre gelöst, wenn du dich mit Richard O’Rourke einverstanden erklären würdest. Ich lernte ihn gestern beim Abschiedsessen der United Irish Societies für den Generalkonsul kennen. Ich hoffe, dass du unter den gegebenen Umständen wenigstens nett zu sein versuchst, Nodlaig. Er hat mit mir darüber gesprochen, dass er als Gast des Generalkonsuls noch eine Weile in San Francisco bleiben möchte, bis dieser Herr tatsächlich nach Irland zurückkehrt. So, wie ich es verstand, werden die beiden zusammen reisen, und das heißt also, dass Richard noch ungefähr einen Monat, wenn nicht länger, hier sein wird.«
Marion schaute mich bittend an. »Und überdies bist du viel zu ernst, Liebling. Ich weiß, wie schwierig alles für dich gewesen ist... für uns beide, seit dein Vater starb. Aber Liebling, das Leben geht weiter. Und wenn Richard offensichtlich von dieser kleinen... Unvollkommenheit so fasziniert ist...« Sie lächelte, als sie selbst einen Blick auf die Narbe warf. »Ich an deiner Stelle würde mir sicher keine Gedanken darüber machen. Aber es ist doch eigentlich ein Kompliment, wenn er dich so genau ansieht. Du wirst ja selbst bemerkt haben, dass er der bestaussehende Mann des Abends ist. Stell dir doch vor, wie enttäuschend es gewesen wäre, hätte er dich überhaupt nicht bemerkt.«
Ich schaute sie misstrauisch an. »Ich glaube nicht, dass du es nötig hast, mir das gesellschaftliche Leben schmackhafter zu machen«, erklärte ich ihr, aber ohne jede Schärfe.
»Das weiß ich doch. Und überdies hat der Generalkonsul ihn eingeladen, zu uns mitzukommen. Aber jetzt muss ich einmal schnell einen Blick in die Küche werfen, ehe ich die Gäste zum Essen bitte.«
Wie auf einen Zauberruf hin erschienen, als wir saßen, zwei junge Chinesen mit glatten Gesichtern und leisen Füßen, die als Hausboys gekleidet waren und heute als Butler dienten. Marion mochte ihre Rolle als Diplomatenfrau nicht aufgeben, wenn auch mein Vater schon seit einigen Monaten tot war und hatte deshalb das Essen und die Bedienung von einem sehr bekannten Restaurant in Chinatown bestellt. Irgendwie hatte sie erfahren, dass der scheidende Diplomat während seines Aufenthaltes die örtliche chinesische Küche lieben gelernt hatte. In ihrer Miene las ich daher die Befriedigung darüber, dass sie nicht nur ganz bestimmt der Neigung des bekannten Gastes entgegengekommen war, sondern dass sie etwas Außergewöhnliches bot, weil auch der Kreis der Gäste außergewöhnlich war.
Natürlich übersah ich auch nicht die vorsichtigen Blicke, die sie mir vom anderen Tischende her zuwarf, denn das hatte ich als Diplomatentochter gelernt. Ich nahm daher ein winziges Schlückchen des Reisweines, der zu den mit Honig bestrichenen Grillrippchen und den kleinen Currykuchen gehörte, die nur einen Gang des hervorragenden Essens bildeten. Jedes Mal, wenn ich aufschaute, bemerkte ich O’Rourkes Blicke; er beobachtete mich also noch immer.
Er lächelte mich über dem Goldrand des Tulpenglases an. »Auf Sie, Nodlaig«, sagte er, dann glitt sein Blick von meinen Augen weg zur mondförmigen Narbe auf meiner Schulter.
Das musste eine Art Besessenheit sein. Fetischismus konnte man dies nennen. Mit diesem Wort hatte mein Psychologieprofessor eine übertriebene Aufmerksamkeit für eine Besonderheit des Körpers oder Geistes bezeichnet, die über die Norm hinausging.
War es möglich, dass O’Rourke zu dieser Sorte gehörte? Ein Mann, der einen zwanghaften Trieb entwickelte für Frauen, deren Körper irgendwelche ungewöhnliche Male oder Narben aufwies? Dieser Gedanke stieß mich ab, umso mehr als ich wusste, dass diese Neigung sogar zu Verbrechen führte, wenn es anders nicht möglich war, sie zu befriedigen. Mich beherrschte also der Gedanke, mich bei nächster sich bietender Gelegenheit von Richard O’Rourke wegzusetzen; allerdings zog sich die von Marion mit soviel Liebe und Sorgfalt vorbereitete Mahlzeit endlos in die Länge.
Auch eine chinesische Mahlzeit nimmt einmal ein Ende, und ich half Marion, die Gäste unauffällig in den Zwillingssalon zu geleiten, wo vor dem flackernden Kaminfeuer der Kaffee serviert wurde. In der Glasur der Majolikavasen mit langstieligen, edlen Chrysanthemen spiegelten sich die Flammen. Diese Blumen waren und sind das chinesische Symbol der Langlebigkeit. Marion hatte wirklich nichts dem Zufall überlassen; alles passte, und die Atmosphäre fernöstlichen Zaubers wurde durch nichts gestört. Aus kleinen Messingbrennern stieg dünner Weihrauch; sie waren stilgerecht wie Drachen geformt. Überall standen auch auf den Mahagoni- und Rosenholztischchen Schalen mit den herzkirschengroßen Goldorangen.
»Diese Goldorangen und die Chrysanthemen sind uralte Symbole des Gedeihens und langen Lebens«, bemerkte ich unvermittelt, als Richard O’Rourke neben mir stand.
»In Irland haben wir den Schwarzdorn, die Schlehe«, erwiderte er leise. »Die Äste sind knorrig und kahl, wenn sie ihre weißen Blüten in verschwenderischer Fülle aufstecken, Frühling für Frühling.«
»Ich glaube, jedes Volk und jede Gegend hat ein solches Symbol der Hoffnung.«
»Und Sie, Nodlaig?« Er sah mich eindringlich an. »Welches Symbol haben Sie?« Er brauchte mich doch gar nicht zu fragen, denn ich wusste auch so, dass er sich schon wieder auf die Narbe bezog.
Ich wich natürlich aus. »Möchten Sie Kuchen zum Kaffee?«, fragte ich ihn, ging aber gleich unauffällig weg zu einer Gruppe anderer Gäste, die sich vor einer Platte mit Smörgasbrod und winzigen Appetithäppchen versammelt hatten.
Aber da war er schon wieder. »Die Chinesen nennen diese Häppchen Wonne des Herzens«, flüsterte er mir zu, und diesmal klang allzu deutlich in seiner Stimme etwas mit, das mich beunruhigte. Überdies wurde ich rot.
Ob es der Wein war oder seine Anziehungskraft auf mich, die ich nicht mehr leugnen konnte – ich weiß es nicht. Ich wurde aber, und das fühlte ich nur allzu deutlich, in ein dunkles, verstecktes Netz hineingezogen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was ich zu ihm sagte oder was ich getan haben konnte, doch zum Glück brachte da Marion einen verspäteten Gast mit, den sie mit uns bekannt machen wollte.
Sie klatschte leicht in die Hände, um die Aufmerksamkeit der Gäste auf sich zu ziehen, und da schlüpfte ich unbemerkt durch die Tür und lief in das Arbeitszimmer meines Vaters. Mir wirbelte der Kopf. Das Studio war immer meine Zuflucht, wenn mich etwas quälte oder ich nicht weiterwusste, seit mein Vater vor einem halben Jahr an einem Herzinfarkt gestorben war.
Hier brannte nur eine Lampe und tauchte den ganzen, holzvertäfelten Raum in einen weichen Halbschatten. Da stand ich nun an einem der hohen Fenster und schaute hinab auf die Lichter der Stadt, während ich darauf wartete, dass es in meinem Kopf wieder klarer wurde.
Ich weiß nicht, wie lange ich hier schon gestanden hatte, als ich plötzlich leise die Tür hinter mir hörte. Ich dachte, es sei wohl Marion und drehte mich um, doch dann erkannte ich sein Spiegelbild in den dunklen Fensterscheiben.
Richard O’Rourke stand noch an der Tür, die er leise ins Schloss drückte. Dann kam er langsam auf mich zu. Etwas Unwirkliches, Beängstigendes war in dem Blick, mit dem er mich beobachtete; sein gebräuntes Gesicht verschmolz nahezu mit den Schatten des halbdunklen Raumes, sodass ich kaum aus seinen Augen zu schließen vermochte, was er vorhatte.
Ich wirbelte herum. »Was wollen Sie?«, flüsterte ich. »Und was tun Sie hier in diesem Zimmer?« Ich weiß, meine Stimme war von einiger Schärfe, sogar voll Verachtung oder Ablehnung.
»So steht es also zwischen uns«, sagte er leise und so bewegt, dass sich meine Angst auf unbeschreibliche und auch unbegreifliche Art verstärkte. Aber durch die Angst schimmerte ein wenig bestürzende Erregung.
Ich war überzeugt, eine gewisse Grausamkeit in ihm zu erkennen, die sogar Wahnsinn sein konnte. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden«, erwiderte ich ihm laut und so ruhig, wie ich konnte.
»Oh, ich glaube schon«, antwortete er spöttisch.
Ehe ich seine Absicht noch erraten konnte, griffen seine Finger in mein langes, offenes Haar, um die halbmondförmige Narbe an meiner Schulter freizulegen. Ich stieß einen leisen Entsetzensschrei aus und drehte mich halb herum, sodass ich mich nun selbst in den schwarzschimmernden Fensterscheiben sah.
Seltsam, diese Narbe stand jetzt wieder, wie schon zu Beginn des Abends, wie ein rotes Mal vor meinen Augen; sonst war sie blasser, wenn auch deutlich zu erkennen. Schnell wandte ich mich ab, denn in den Augen meines Spiegelbildes erkannte ich meine brennende Angst.
»Ich glaube, mich erinnern zu können, dass ich eine solche Narbe schon gesehen habe«, sagte er langsam mit seiner tiefen, leisen Stimme, die gleichzeitig gefährlich und anklagend klang.
Verrückt, dachte ich, aber da glitt seine Hand schon über meine nackte Schulter. Mich überlief eine Gänsehaut, als er die Narbe mit den Fingerspitzen nachzog.
»Sie sind verrückt«, fuhr ich ihn an und riss mich von ihm los, um hinter dem großen Mahagonischreibtisch Schutz zu suchen.
Er folgte mir und griff mit starken Fingern nach meiner Schulter. Ich muss wohl heftig zusammengezuckt sein, denn er ließ mich sofort los, doch nun legten sich seine Hände um meine Unterarme. Ich spürte die Spannung in seinen Händen und war sicher, dass sich sein Griff wieder verstärken würde, versuchte ich mich erneut von ihm loszureißen.
»Nun?«, fragte er herausfordernd.
»Was wollen Sie von mir?«
»Ist es denn so schwer, die Wahrheit zu sagen?«
Welche Wahrheit? Ich wusste nicht, was er meinte. Einmal hatte ich dieses Kleid zu irgendeiner von Marions Wohlfahrtsveranstaltungen getragen, und ein Reporter hatte Fotos gemacht, auf denen auch die Narbe deutlich sichtbar gewesen war. Dies fiel mir auf; sonst wusste ich nichts. Zu welcher Wahrheit wollte er mich also zwingen?
»Sie denken wohl an diese Fotos, die durch die Zeitungen gingen? Nun, jedes Mädchen hat doch etwas in dieser Art, irgendein Mal oder so, auch ohne, dass sie etwas dafür können – ebenso wenig wie ich.«
»Sie sind ja nicht irgendein Mädchen, das versichere ich Ihnen«, erwiderte er, und sein Blick ließ mich nicht los.
Ich wusste nicht, was dies zu bedeuten hatte. Was wollte er von mir? Ich war neugieriger geworden als ich zugab, und ich hatte eine Menge Fragen, doch es war mir unmöglich, mich seinen Händen zu entziehen, ohne unfreundlich zu wirken.
»Warum ausgerechnet ich?«, wollte ich wissen.
Ehe ich wusste, wie mir geschah, zog er mich an sich, er presste seinen Mund auf den meinen in einem langen, harten Kuss.
»Hat das Ihre Frage beantwortet?«, fragte er mich, als er mich freiließ.
Ich brauchte eine Weile, bis ich meine Sinne wieder zusammenfand. Ich nahm deshalb nur halb wahr, dass die Tür aufging, und dann hörte ich Marion sagen: »Ah, da bist du ja. Ich habe doch hoffentlich nicht gestört...«
Später an diesem Abend, als ich auf dem Weg zu meinem Zimmer war, sah ich Richard O’Rourke noch einmal durch die bleigefassten Scheiben des Fensters am Treppenabsatz. Er schaute hinauf zu den Erkerfenstern im oberen Stock. Das Licht von der Straßenlampe an der Ecke fiel schräg über sein Gesicht, das plötzlich tyrannisch wirkte. Ich konnte ihn mir leicht als Herrn einer alten Burg vorstellen, aus deren Kaminen Fledermäuse flatterten.
Mein Herz begann plötzlich so zu klopfen, dass ich schnell in mein Zimmer lief. Aber sicher stand er nur dort unten, um auf ein vorüberkommendes Taxi zu warten. Doch so leicht ließ sich der Gedanke nicht wegschieben, dass er wahrscheinlich noch vier Wochen oder länger in unserer Stadt sein
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Arlene Fitzgerald/Apex-Verlag/Successor of Arlene Fitzgerald.
Bildmaterialien: Darksouls/Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Darksouls/Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Korrektorat: Mina Dörge.
Übersetzung: Leni Sobez (OT: Blackthorn).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 25.03.2022
ISBN: 978-3-7554-1019-5
Alle Rechte vorbehalten