Cover

Leseprobe

 

 

 

 

W. J. TOBIEN

 

 

DIE GRAUENVOLLE NACHT

- 13 SHADOWS, Band 59 -

 

 

 

Erzählungen

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

DIE GRAUENVOLLE NACHT 

DIE LEKTÜRE 

VERSTÄNDNIS 

FLEISCHFRESSER 

PHÄNOMEN DER ANGST 

WAS IST DENN SCHON DABEI? 

FLUCH DER MASCHINE 

CAMPING 

MUTTER 

CÄSAR 

DEBBIE 

 

Das Buch

Maud Deigstra hatte keine Sorgen und kannte das Wort Problem nur vom Hörensagen.

Deshalb war es durchaus verständlich, dass sich ihre Eltern wunderten, als sie merkten, wie mit Maud eine Veränderung vorging.

Philip Deigstra rief Dr. Wieman zu Hilfe. Aber auch sein Freund konnte kein zufriedenstellendes Gutachten abgeben, zuckte nur mit den Schultern, und sagte. »Das wird sich schon legen, Philip.«

Doch Mauds Zustand verschlechterte sich von Tag zu Tag.

Sie erschien nicht mehr zum gemeinsamen Essen.

Das einzige, was sie noch regelmäßig einhielt, waren die Verabredungen mit ihrem Freund, einem jungen Mann namens Peer Zarakow.

Ihre Eltern versuchten vergeblich Kontakt zu dem jungen Mann zu schließen. Er kam mal in der Woche auf einen Drink herein, doch war er bei diesen Anlässen so verschlossen, dass Mauds Mutter ein unheimliches Gefühl beim Anblick des jungen Mannes nicht verleugnen konnte... 

 

DIE GRAUENVOLLE NACHT enthält elf Horror-Erzählungen von W. J. Tobien, die erstmals im Jahr 1976 veröffentlicht wurden.

DIE GRAUENVOLLE NACHT erscheint in der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht. 

  DIE GRAUENVOLLE NACHT

 

 

Maud Deigstra hatte keine Sorgen und kannte das Wort Problem nur vom Hörensagen.

Deshalb war es durchaus verständlich, dass sich ihre Eltern wunderten, als sie merkten, wie mit Maud eine Veränderung vorging.

Philip Deigstra rief Dr. Wieman zu Hilfe. Aber auch sein Freund konnte kein zufriedenstellendes Gutachten abgeben, zuckte nur mit den Schultern, und sagte. »Das wird sich schon legen, Philip.«

Doch Mauds Zustand verschlechterte sich von Tag zu Tag.

Sie erschien nicht mehr zum gemeinsamen Essen.

Das einzige, was sie noch regelmäßig einhielt, waren die Verabredungen mit ihrem Freund, einem jungen Mann namens Peer Zarakow.

Ihre Eltern versuchten vergeblich Kontakt zu dem jungen Mann zu schließen. Er kam mal in der Woche auf einen Drink herein, doch war er bei diesen Anlässen so verschlossen, dass Mauds Mutter ein unheimliches Gefühl beim Anblick des jungen Mannes nicht verleugnen konnte.

In den Zeiten des Zusammenseins mit Zarakow lebte Maud auf. Dann sprach sie fröhlich wie eh und je, lachte herzerfrischend und war ganz die alte Maud. Wenn Zarakow gegangen war, ging eine seltsame Verwandlung mit ihr vor. Ihr Gesicht wurde schlagartig ernst, sie verstummte, und dann ging sie langsam nach oben in ihr Zimmer und verriegelte die Tür.

So ging es Woche für Woche.

Zarakow kam, Maud lebte auf, um hinterher in eine noch schwerere Apathie zu verfallen. Es kam so weit, dass ihre Eltern den Besuch des jungen Mannes herbeisehnten, brachte er es doch fertig, ihnen Maud für ein paar Stunden so zu geben, wie sie sie kannten!

Als Maud mit der Bitte herausrückte, mit Zarakow auszugehen, konnten ihre Eltern ihr kein Nein entgegenhalten, denn sie hatte im Anschluss ihrer Bitte die Äußerung getan: »Wenn ihr es mir verbietet, laufe ich weg!«

Als der Abend nahte, ging ihre Mutter hinauf und suchte ein klärendes Gespräch. Als sie eintrat, ohne vorher anzuklopfen, fand sie Maud auf dem Boden sitzend vor, auf ihren Knien ein dunkelrotes Buch von enormen Ausmaßen. Die Seiten, in denen sie blätterte, waren vergilbt und brüchig. Als Maud ihre Mutter gewahrte, erschrak sie und schlug das Buch zu.

»Was willst du hier«, fragte sie, und versuchte dabei mit einer Hand den Titel zu verdecken. Doch ihre Mutter hatte schon genug gesehen. Ihre Beine gaben nach, und mit einem Seufzen ließ sie sich auf den Sessel hinter ihr fallen.

»Was liest du da für ein Buch, Maud? Schämst du dich nicht, dass du noch vor kurzer Zeit eine Bibel in denselben Händen hieltest?«

»Die Bibel?« Maud lachte gequält auf. »Die Bibel, da liegt sie, ich brauche sie nicht.«

»Kind!« Entsetzen schwang in ihrer Stimme mit, sie verschloss rasch die Augen, als sie die schwarz eingefasste Bibel zerrissen und zerfleddert auf dem Boden liegen sah.

»Aus dir spricht der Satan.« Ihre Stimme zitterte. »Du verleugnest dich.« Sie bekreuzigte sich.

»Lass das!«, schrie Maud verzweifelt. Als ihre Mutter das Kreuzzeichen schlug, hatte Maud sich herumgeworfen. Sie presste die Hände vor das Gesicht.

»Geh«, ihre Stimme überschlug sich, »geh, in Teufels Namen, geh!«

In den Augen ihrer Mutter spiegelte sich die personifizierte Angst. Maud sprang auf, ergriff das rote Buch, presste es fest an ihre Brust und murmelte eine Beschwörungsformel Luzifers.

Ihre Mutter rannte wie von Furien gehetzt hinunter und stürzte in die Arme ihres Mannes, der sie verwundert und überrascht umschloss.

»Du siehst aus, als sei dir der Leibhaftige begegnet, Schatz.« Philipp Deigstra lächelte.

»Maud«, sagte seine Frau, »Maud, unser Kind ruft den Teufel, oh Philipp, das ist entsetzlich.« Sie fing an zu schluchzen.

Beruhigend strich er über ihr Haar. Natürlich war das Unsinn, was sie ihm da erzählte. Sie war ein bisschen verwirrt, zugegeben, aber deshalb brauchte sie nicht gleich solch haarsträubende Geschichten zu erfinden.

»Beruhige dich erst mal, Belinda.« Er führte sie zu einem Sessel und drückte sie darauf nieder. »Nun erzähle mir alles noch mal in Ruhe, ja?«

Belinda berichtete, was sie gesehen und erlebt hatte, und sein Gesicht wurde immer ernster. Nachdem sie geendet hatte, saß er ihr gegenüber und starrte zu Boden, lange Zeit, ohne ein Wort von sich zu geben.

Als Philip Deigstra in meiner Praxis auftauchte, war ich doch überrascht. Wir waren zwar Klassenkameraden gewesen, hatten aber wenig Sympathien füreinander empfunden.

Schon damals besaßen wir verschiedene Charaktere und gerieten oft aneinander. Dass Philip bei mir erschien, musste folglich einen triftigen Grund haben, sonst wäre er zu meinen Kollegen gegangen.

Kollegen muss ich in Anführungszeichen sagen, denn unsere Sparte war eigentlich kein Beruf. Ich bin Wissenschaftler, Doktor der Medizin, übe aber dieses Wissen schon seit langem nicht mehr aus. Mein Spezialgebiet war seit Jahren die Bekämpfung des Bösen, speziell Teufelsaustreibung.

»Was führt dich zu mir?« Ich bot ihm keinen Platz an, denn er hätte ihn ohnehin nicht angenommen.

»Du musst uns helfen«, sagte er mit seiner schwerfälligen Stimme. Ich merkte, dass es ihn plagte, mich um einen Gefallen zu bitten.

»Um was handelt es sich? Du weißt, dass ich meine eigentliche Praxis nicht mehr ausübe. Was willst du also von mir?«

Er druckste herum. Es störte mich nicht, ihn hilflos zu sehen. »Willst du nicht deutlicher werden?«, drängte ich.

»Also gut.« Er streckte sein Kinn vor und machte einen energischen Eindruck. So kannte ich ihn, das war der alte Philip Deigstra.

»Meine Tochter Maud gehört anscheinend irgendeinem Teufelskreis an. Meine Frau und ich machen uns deswegen Gedanken. Kennst du einen gewissen Peer Zarakow?«

Bei der Nennung des Namens horchte ich interessiert auf.

»Sagtest du eben Zarakow?«, vergewisserte ich mich.

»Ja, weshalb, was ist mit ihm?«

»Woher kennt ihr ihn?«, fragte ich. »Setz dich doch«, bat ich ihn. Philip nahm Platz.

»Maud hat ihn uns vorgestellt, wir selber haben ihn nur ein paarmal gesehen. Kennst du ihn?«

Und ob ich Zarakow kannte. Meine Gedanken überschlugen sich. In meinem Kopf spürte ich das schmerzhafte Ziehen, was sich immer bei Gefahr aus einer anderen Welt anzeigte. Philip hatte anscheinend bemerkt, wie ich erblasste.

»Was ist mit ihm?«, schnappte er, »du kennst ihn doch, sag doch schon! Ike, was ist mit diesem Zarakow?«

Ich überlegte rasch. Sollte ich Philip die Wahrheit sagen? Wahrscheinlich glaubte er mir nicht mal, denn die meisten Menschen hatten kein Gespür und schon gar keinen Glauben an etwas Übersinnliches, und Zarakow war ein übersinnliches Wesen, oder wie man sonst zu einem Vampir sagt.

»Ist deine Tochter mit ihm befreundet?«, fragte ich. »War sie schon mal allein mit ihm? So rede doch, Mann!«

»Ja«, antwortete er mir, »sie ist mit ihm befreundet, und seitdem ist sie auch so sonderbar. Was soll das, Ike, was bedeutet das?«

Ich blieb ihm fürs erste die Antwort schuldig. Was hätte ich auch sagen sollen? In meinem Schädel rumorte es wie verrückt. Zarakow war also wieder unterwegs. Das war eigentlich zu erwarten gewesen. Und nicht mal den Namen hatte er gewechselt. Warum eigentlich, überlegte ich, niemand kannte ihn, niemand wusste, wer er war und vor allen Dingen, was er war. Er hatte also nichts zu befürchten. Und dass der Vater seines neuen Opfers ausgerechnet ein Klassenkamerad von mir, von Ike Deventish, war, konnte er natürlich nicht ahnen.

Ich entschloss mich rasch zu handeln.

»Wohnst du noch in deinem alten Haus?«

»Ja, wieso?«

»Ich werde mitkommen und mir deine Tochter ansehen, wenn du nichts dagegen hast. Deiner Frau kannst du ja erzählen, ich sei Arzt, was ja in gewissem Sinn auch richtig ist.«

»Das wird wohl das beste sein, Ike.«

Ich erhob mich hinter meinem Schreibtisch, ergriff den kleinen Schweinslederkoffer mit den wichtigsten Utensilien, die ich vielleicht brauchen würde, dann gingen wir zu seinem Wagen und fuhren zu ihm nach Hause.

Er hatte eine nette Frau. Ich kannte sie noch nicht. Er stellte mich unter meinem richtigen Namen vor und sagte, dass ich ein guter Arzt sei, der ihrer Tochter helfen wolle.

Seine Frau machte einen apathischen Eindruck. Ihre Bewegungen waren zu langsam und wirkten zu stilisiert.

Dann machte er mich mit seiner Tochter bekannt. Als Maud mir ins Gesicht sah, schlug mein Herz schneller. Ich spürte es, mit jeder Faser meines Körpers, ein jeder Gedanke wisperte mir zu: Vorsicht! Vor mir stand eine Infizierte, ich blickte in die Augen eines Vampirs.

Beim Abendbrot saßen wir uns gegenüber.

»Der Salat ist Ihnen ausgezeichnet gelungen, Belinda«, lobte ich Philips Frau.

»Sie sind, so glaube ich, der geborene Schmeichler, Ike.« In den wenigen Stunden meines Hierseins war sie ein wenig aufgelebt. Vielleicht lag es daran, dass sie unbewusst die Hilfe spürte, die von mir ausging, die Kraft, die es mir ermöglichte, mit dem Bösen fertig zu werden.

Nach dem Essen räumten die beiden Frauen den Tisch ab, während Philip und ich hinüber in sein Arbeitszimmer gingen, Zigarren anrauchten und Cognac tranken.

»Haben die beiden keinen Verdacht geschöpft?«, erkundigte er sich.

Ich leerte mein Glas. Über den Rand des Schwenkers blickte ich ihn an. Er machte einen nervösen und fahrigen Eindruck. Was sollte ich ihm antworten?

»Was sollen sie bemerkt haben, Philip?« Ich war noch nicht bereit, ihm die Wahrheit zu sagen, wahrscheinlich würde er mich für verrückt halten. Ich würde erst mal abwarten. Voreilige Offenbarungen waren nicht angebracht.

»Wie spät ist es?«, fragte Philip.

Ich schaute auf meine Armbanduhr. »Halb acht.«

»Dann wird er gleich kommen.«

Ich nickte. Zarakow war pünktlich, das wusste ich.

In mir stieg eine bisher unbekannte Angst hoch; als es klingelte, zerbrach das Glas zwischen meinen Fingern. Ich wickelte mir mein Taschentuch um die Hand.

Wir hörten Mauds leichte Schritte. Sie lief zur Tür.

Dann hörte ich Zarakows Stimme. Sie war vornehm und leise, und trotzdem verstanden wir jedes Wort.

»Du kommst heute spät, Peer«, sagte Maud. Danach war es einen Moment ruhig. Wahrscheinlich küsste er sie.

»Zehn Sekunden, Maud, ganze zehn Sekunden«, sagte Zarakow, »ich wurde aufgehalten.«

Sie kamen den Flur entlang. Vor der Tür zu Philips Arbeitszimmer verhielten sie. Ich spürte Zarakow, und der spürte mich auch.

»Habt ihr Besuch? Wer ist da drin?«

»Ein Freund meines Vaters«, antwortete Maud.

Ich sah Philip an. Er war blass geworden. Seine Hände zitterten, als er mir ein neues Glas reichte.

»Komm«, sagte ich zu ihm, »lass uns rausgehen und Zarakow begrüßen!«

Er nickte knapp.

Mein Herz schlug bis zum Hals, das Blut pochte durch meine Halsschlagader. Wir gingen ins Wohnzimmer. Da saßen die beiden Vampire.

Zarakow sprang auf, als er mich sah. Mühsam presste er die Lippen aufeinander. Während ich auf ihn zuging, die Hand ausgestreckt, öffnete ich mit der anderen meinen obersten Hemdknopf und zog das kleine Kreuz, das ich an einem goldenen Kettchen trug, heraus. Es baumelte auf meiner Krawatte hin und her und spiegelte das Licht des Lüsters wider.

Zarakow schlug die Augen nieder, als er mir die Hand schüttelte, und Maud rannte aus dem Zimmer.

Philip hatte von dem Vorfall nichts bemerkt.

»Freut mich, Sie wiederzusehen«, sagte ich und hielt seine kühle Hand fest.

Zarakows hübsches Gesicht verfinsterte sich, er zischelte, dann räusperte er sich. Ich wusste, dass seine beiden langen Reißzähne wieder zurückgegangen waren, denn jetzt öffnete er seine Lippen und zeigte zwei Reihen weißer, gleichmäßiger Zähne.

»Angenehm, Dr. Deventish.«

Immer noch blickte er an mir vorbei. Rasch steckte ich den Kreuzanhänger wieder zurück. Zarakow hatte meine Bewegungen aus den Augenwinkeln verfolgt. Ausatmend sah er mir jetzt ins Gesicht.

»Ich bin überrascht, Sie hier zu sehen, Doktor.«

»So?«

»Mister Deigstra«, wandte er sich an Philip, »leider habe ich heute nicht mal Zeit für einen Drink, Sie entschuldigen, dass ich gleich wieder weg muss?«

Philip nickte. »Aber natürlich.«

»Es hat mich gefreut, Sie wieder mal zu sehen, Doktor, unsere letzte Begegnung war ja etwas ungewöhnlich in ihrer Art.«

Da hatte er recht. In monatelanger Kleinarbeit hatte ich seinen nächtlichen Unterschlupf ausgemacht. Ich versteckte mich kurz vor dem Dunkelwerden in seinem Zimmer. Zehn Minuten nach Mitternacht kam er. Er hatte ein neues Opfer gesucht und auch gefunden, wie ich an seinem Mund sah. Noch immer lief eine Blutspur an beiden Mundwinkeln herab bis zum Hals. Er entdeckte mich, in der Dunkelheit konnte ich das rettende Kruzifix nicht finden und musste flüchten, als er auf mich losging. Seitdem war er untergetaucht bis heute.

Ohne Verabschiedung verließ Zarakow das Zimmer.

Nachdem er draußen war, ließ ich mich der Länge nach auf ein Sofa fallen. Das Böse war mir soeben in seiner Karnation entgegengetreten. Das Böse in einer solchen Leibhaftigkeit wie es schlimmer nicht ging. Mir fielen die Schriftsteller ein, die über Vampire phantasiert hatten, Bram Stoker mit seinem schon klassischen Dracula. Doch was war das alles gegen das eben Erlebte? Es gab Vampire, und ich hatte eben mit einem gesprochen, hatte ihm die Hand gegeben und gespürt, wie ihm bei meinem Anblick die Reißzähne gewachsen waren.

Als ich am Nachmittag Maud sah, war das Gefühl der Ohnmacht nicht so stark gewesen. Sie war auch ein Vampir, aber mit ihr würde ich fertigwerden. Doch gegen Zarakow?

Philip ließ mich in Ruhe. Er stand vor dem Kamin und starrte in das flackernde Feuer. Ich wusste nicht, ob er allmählich etwas zu ahnen begann, oder ob er noch in seiner Naivität dem Übersinnlichen verschlossen gegenübertrat.

Kurz darauf kam Belinda ins Zimmer. Ihr Gesicht war verweint.

»Maud ist mit ihm gegangen«, sagte sie unter Tränen, »einfach mit ihm gegangen, ohne ein Wort zu sagen, oh Philip, ich verstehe sie nicht mehr.«

Dann fiel ihr Blick auf mich. Ich erhob mich, langsam ließ die Spannung in mir nach, meine Beine trugen mich wieder sicher.

»Sie kommt schon wieder, Belinda«, sagte ich bestimmt. »Beruhigen Sie sich!«

Sie nickte ohne Sinn, immer wieder; Philip nahm sie in seinen Arm und gab ihr Halt. Er führte sie aus dem Zimmer.

Unter der Tür drehte er sich um und sagte zu mir:

»Ich bringe meine Frau auf ihr Zimmer, warte so lange. Im Übrigen wäre es mir lieb, wenn du heute Nacht bei uns bleiben würdest, Ike. Geht das?«

»Gern«, antwortete ich, »auf mich wartet sowieso niemand.«

Heute Nacht würde ich hier schlafen, und heute Nacht würde ich Zarakow Wiedersehen, das wusste ich, und das Wissen ließ mich erschauern und trotzdem die Begegnung herbeisehnen.

 

Es ging auf die elfte Stunde zu. Wir saßen zu dritt in gemütlicher Runde. Mrs. Deigstra hatte sich wieder unter Kontrolle. Um 22 Uhr hatte sie uns einen schmackhaften Imbiss serviert. Pumpernickel mit Butter, Tomatenscheiben und Salatblättern, dazu Erdbeeren mit Sirup. Philip hatte aus seinem Arbeitszimmer einen vorzüglichen Sherry geholt.

Zeitweilig kam sogar gute Laune auf, dann lachten wir gemeinsam, scherzten über vieles und sprachen ordentlich dem alten Sherry zu.

Kurz vor dem Zubettgehen hatte Belinda einen reizenden Schwips. Ihre Augen strahlten glücklich. Anscheinend schienen die letzten Tage aus ihrem Gedächtnis gestrichen zu sein. Philip betrachtete wohlwollend seine Frau und freute sich daran, wie sie in unserer Gesellschaft aufzublühen begann.

Wir beide sprachen viel aus unserer Schulzeit und entdeckten seltsamerweise viele Gemeinsamkeiten. Immerfort drohte Belinda mit ihrem Finger, wenn wir von der Studentenzeit erzählten. Wir waren zusammen in Europa gewesen. Ich belegte mehrere Semester Medizin, Philip Physik. In Heidelberg trieben wir es reichlich toll.

Es war direkt ernüchternd, als die Uhr halb zwölf schlug. Es war nur ein dunkler, wohlklingender Gong, dennoch ließ er mich zusammenfahren. Meine Blicke suchten das Zifferblatt der Standuhr, und ich sah den kleinen Zeiger kurz vor der 12 stehen.

»Es wird Zeit«, sagte ich und bedauerte gleichzeitig meine voreiligen Worte. Belinda richtete sich kerzengerade auf. Ihr Blick verdüsterte sich schlagartig. Auch Philips Miene veränderte sich.

Die Angst war unter uns. Angst vor etwas Unwirklichem. Dabei wusste ich genau, wovor ich mich fürchtete. Nur die beiden nicht. Sie hatten es nur im Gespür, sie fühlten die Beklemmung, die sich auf einmal breit machte, und ich merkte es.

Ich wusste, dass in wenigen Minuten ein Vampir das Haus betrat, ein Vampir, der sich von mir durchschaut fühlte. Ein Wesen das sich seiner Haut wehren würde, wehren musste, wollte es weiter existieren und sein Unwesen treiben.

Und nicht genug damit, so unreal das auch klang, sie würde Verstärkung erhalten, von ihrem Herrn, von Zarakow, dem Fürsten dieses Distriktes, und ich musste mich beider erwehren. Würde mir das Kreuz helfen? Würde ich Gelegenheit erhalten, die beiden Höllenwesen zu vernichten?

Philip erhob sich langsam.

Was wäre, wenn ich die Deigstras bat, noch aufzubleiben bis zum frühen Morgen? Oder was, wenn ich mich jetzt verabschieden würde? Nein, es ging nicht mehr, ich musste es durchstehen; eine fürchterliche Angstwelle schnürte mir die Kehle zu. Ich merkte, wie meine Hände unkontrolliert zitterten.

»Dein Zimmer ist schon fertig«, sagte Philip. »Komm, ich bringe dich hinauf.«

Als ich Belinda die Hand zum Nachtgruß reichte, schaute sie mich an wie eine Seelenlose.

Was war los mit ihr?

Wusste sie, worum es in dieser Nacht gehen würde? Ahnte sie die Zusammenhänge um ihr einziges Kind, um Maud?

Ich wusste es nicht. Momentan hatte ich auch andere Sorgen. Mehrere Probleme hatten sich vor mir aufgetürmt, die bewältigt werden mussten.

Das Zimmer war sehr hübsch; es gefiel mir sofort.

Es war groß und geräumig. An der Schmalseite stand das Bett, breit und riesig mit einem scharlachroten Baldachin. Ein Fenster hatte das Zimmer und einen Zugang zum Balkon, genau nebeneinander. Das Mobiliar war sehr geschmackvoll, mit vielen Kleinigkeiten, die das Auge gar nicht bemerkte, die aber einfach zum gemütlichen Wohnen gehörten.

Dicht neben der Tür stand eine kleine fahrbare Bar mit diversen Getränken und einer Unzahl verschiedener Gläser. Durst würde also niemand leiden müssen.

»Schlaf gut«, wünschte mir Philip. Dann ging er und zog die Tür hinter sich zu.

Ich war allein mit meiner unerklärlichen Furcht. Ich verstand mich selbst nicht. Des Öfteren hatte ich schon mit dunklen Mächten ringen müssen, und niemals hatte ich ein auch nur unbehagliches Gefühl verspürt, diesmal war es anders.

Ich bemerkte eine Tapetentür.

Mit gemischten Gefühlen ging ich langsam darauf zu und öffnete sie. Als ich in den anschließenden Raum sah, musste ich lachen. Ich befand mich im Bad. Auf dem Frisiertisch stand alles, was man brauchte, bevor man ins Bett ging.

Sogar eine frische Zahnbürste stand in einem blauen Becher, sowie Seife, Lappen und mehrere Handtücher.

Ich bereitete mich auf die Nacht vor.

Nach fünf Minuten lag ich im Bett. Das Licht ließ ich brennen wie ein kleines Kind, das die Dunkelheit fürchtet.

Auf den Nachttisch neben mir hatte ich das silberne, stilisierte Kruzifix gelegt, sodass ich es mit raschem Griff an mich bringen konnte. Das Kreuz war ein Geschenk meines Vaters, eines streng gläubigen Katholiken.

Ich warf einen kurzen Blick darauf und spürte, wie eine Sicherheit mich umfing. Ich legte meine Fingerspitzen auf die feine Silberarbeit. Sofort durchfuhr mich eine beruhigende Wärme, die meinen Körper gefangen hielt. Ich glaubte, ich habe minutenlang so gelegen, die Augen weit geöffnet und die linke Hand auf dem Kreuz.

Wahrscheinlich kam ich dadurch wieder zu mir, weil mir die Hand weh tat. Ich nahm meine Armbanduhr ab, dabei sah ich die Zeit: wenige Minuten vor zwölf. Sofort fiel mir alles wieder ein, und die alte Angst beherrschte mich.

Bald war es soweit. Mein Gott, dachte ich, hilf mir, steh mir bei... Ich glaube sogar, dass ich gebetet habe.

Noch gab das Licht mir Sicherheit.

Doch ich wusste genau, ich musste Maud aus der Reserve locken. Ich musste das Licht ausmachen. Je länger ich es hinausschob, um so unsicherer wurde ich.

Kurz entschlossen erhob ich mich noch mal und schaltete das Licht aus. Die Dunkelheit sprang mich an wie ein wildes, reißendes Tier. Meine Augen waren noch an das Licht gewöhnt, und so spiegelten sie mir schattenhafte Verzerrungen vor. Irgendein Gebilde, wolkenhaft, stand vor meinem Bett. Jetzt verwischte es, ballte sich in anderer Form wieder zusammen und täuschte mir Wahrnehmungen vor.

Ich blinzelte wütend. So ein Unsinn! Der wabernde Nebel löste sich endlich von meinen Augen und ermöglichte mir wieder, die natürlichen Schemen der Möbel auszumachen.

Langsam ging ich zum Bett und legte mich nieder.

Der Baldachin über mir knisterte leise. Es war schwerer Brokat, der sich durch sein Eigengewicht nach unten bauschte.

Wo gab es heutzutage noch Himmelbetten? Lachhaft so ein altmodischer Zopf.

Ich starrte in die Dunkelheit und hing meinen Gedanken nach.

Die Uhr auf dem Nachttisch tickte in nervenaufreibendem Gleichklang...

Im Erdgeschoss schlug die Standuhr Mitternacht.

Ich zählte die einzelnen Schläge... neun, zehn, elf, zwölf. 

Es war soweit! In wenigen Augenblicken würde Maud zurückkommen. Unter der Decke ballten sich gegen meinen Willen die Fäuste. Meine ganze Haltung war verkrampft.

Plötzlich hörte ich unten die Haustür schlagen. Ich zuckte zusammen. Maud war gekommen, ein Vampir im Hause.

Ich richtete mich halb auf, schüttelte das Kissen im Rücken zurecht und wartete. Maud kam leichtfüßig die Treppe herauf.

Ich hörte es daran, weil die Stufen, wie in beinahe jedem alten Haus, heftig knarrten.

Das Warten wurde schon nach wenigen Sekunden unerträglich.

Ich wusste, Maud stand vor der Tür, ihre Finger würden jetzt gerade über die Klinke streifen.

Endlich wurde die Klinke niedergedrückt. Ich hielt den Atem an; da schob Maud langsam die Tür auf und huschte herein. Sie trug ein leichtes Sommerkleid, es sah aus, als ob sie Fähnchen hinter sich herzog, als sie auf mich zutrat. Ich sah nur ihre Konturen.

Mit einem Satz war ich aus dem Bett, riss das Kruzifix an mich, sprang zur Tür und knipste das Licht an. Den Anblick werde ich nie vergessen! Maud stand vor mir, das Gesicht vor Überraschung verzerrt. Ihr Mund war weit aufgerissen, und die spitzen Vampirzähne blitzten. Sie fauchte wie ein Tier, das man in eine Falle gelockt hatte.

»Bleib, wo du bist und komme nicht näher«, sagte ich mit krächzender Stimme und zitterte dabei vor ungezügelter Furcht.

Maud machte einen Schritt auf mich zu. Sofort streckte ich ihr das Kruzifix entgegen. Schreiend wich sie zurück, riss die Arme vor die Augen und hechelte mich an.

»Bleib stehen«, schrie ich, »bleib stehen, ich will mit dir reden. Dann nehme ich das Kreuz weg, hörst du?«

Wieder zischte es zwischen den Zähnen. Es war ein furchtbares Geräusch.

»Setz dich drüben hin, Maud«, sagte ich, »versuch nicht, mir zu nahe zu kommen, sonst werfe ich das Kreuz auf dich!«

»Nein«, schrie sie, »nehmen Sie das Kreuz weg, bitte!«

Ich hielt es hinter meinen Rücken.

Maud ließ die Arme sinken und sah vorsichtig zu mir herüber, ihr Gesicht war entstellt.

»Setz dich da hin!« Ich deutete auf den Sessel in der gegenüberliegenden Ecke.

Sie folgte meiner Aufforderung. Ich ging zum Bett und setzte mich so, dass ich sie im Auge behalten konnte. Ihre Hände umkrallten die Lehnen, sie blickte mich ängstlich an.

»Wo ist Zarakow?«, fragte ich sie.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie.

Beim Sprechen sah ich die beiden spitzen Zähne. Maud war noch so in Erregung, dass sich die Zähne nicht zurückgebildet hatten.

»Wo warst du?«

»Wir waren draußen am Strand.«

»Habt ihr jemand...« Ich zögerte und scheute mich, das Wort auszusprechen, doch es nutzte ja nichts. »Habt ihr jemand gebissen?«

»Der Fürst hat einen erlöst«, antwortete sie.

Ich erstarrte. Zarakow hatte seiner Gefolgschaft einen Neuen einverleibt. Das war grauenhaft. Ich musste diese arme, blutleere Kreatur finden, bevor sie in der nächsten Nacht ebenfalls auf Opfersuche ging. In meinem Koffer hatte ich vier Holzpflöcke, einen für Maud, einen für Zarakow, und nun würde ich noch einen benutzen müssen. Bei dem Gedanken schauderte ich.

»Und du?«

»Ich sollte Sie...« Maud vervollständigte den Satz nicht. Das brauchte sie auch nicht. Ich wusste ohnehin, welchen Auftrag ihr Zarakow gegeben hatte.

»Wo hast du Zarakow kennengelernt?«, fragte ich sie. Es war eigentlich nebensächlich, aber ich musste mit ihr reden, und sie in Sicherheit wiegen, um ihr dann völlig überraschend den Pflock ins Herz zu rammen.

»Auf dem College«, sagte sie.

»Auf dem College«, wiederholte ich fassungslos. »Was hatte Zarakow da zu tun?«

»Er hielt einen Vortrag über schwarze Magie.«

Mein Herzschlag setzte für einen Moment aus. Wenn er nun außer Maud noch mehr Medien kennengelernt hatte?

»Hat er noch eine Freundin?«

Sie schüttelte den Kopf. Maud war ein bildhübsches Mädchen. Auch ihre Erregung hatte sich allmählich gelegt. Langsam gingen die Zähne wieder in die Normalform zurück. Jetzt lächelte sie sogar, und das sah nett aus.

»Nein«, sagte sie selbstsicher, »außer mir hat Peer keine Freundin. Das weiß ich sicher.«

»Maud«, fragte ich erschüttert, »wie soll das mit dir weitergehen?«

Ihre Augen suchten die meinen. Sie besaß die schönsten Augen, die ich je gesehen habe. Ihre Pupillen schillerten verlockend, fluoreszierende Pünktchen faszinierten mich.

Ihre Hände fuhren empor zu ihrem Kragen, langsam knöpfte sie ihr Kleid auf. Sie erhob sich mit gleitenden Bewegungen und schlüpfte aus ihren Sachen. Sie

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: W. J. Tobien/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Korrektorat: Mina Dörge.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 21.03.2022
ISBN: 978-3-7554-0988-5

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /