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Leseprobe

 

 

 

 

CAROLA SALISBURY

 

 

Das Grauen unter Zypressen

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

DAS GRAUEN UNTER ZYPRESSEN 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

In ihrem Traum kam die Erscheinung aus dem Friedhof und glitt barfuß im Mondschein über die Treppen bis zur Villa. Die Eisentore stöhnten, als eine kalte Hand sie öffnete; die Erscheinung schwebte bis zu ihrer Zimmertür. Es gab nur einen einzigen Fluchtweg aus diesem grauenhaften Traum, aber der war genauso entsetzlich wie die Begegnung mit der wandelnden Toten. Und dennoch fixierte sie unaufhörlich das blaue Rechteck des geöffneten Fensters - das Fenster, durch das schon Susannah gestürzt war.

Da wachte sie auf.

Doch die Wirklichkeit übertraf ihren Alptraum. Und aus ihr gab es kein rettendes Erwachen...

 

Carola Salisbury (* 10. Januar 1964 in Nottingham) ist eine britische Kriminal-Schriftstellerin.

Der Grusel-Krimi Das Grauen unter Zypressen erscheint in der Reihe APEX CRIME. 

   DAS GRAUEN UNTER ZYPRESSEN

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Am Zeitungskiosk in der Flughalle prangte Nathan Yardleys sensationeller Bestseller an vorderster Stelle, und Natasha kaufte sich ein Exemplar. Ihre ursprüngliche Absicht, mit dem Kauf bis zur Taschenbuchausgabe zu warten, kam ihr unter den gegebenen Umständen albern vor. Zusätzlich erstand sie noch die Mittagsausgabe des Courier, um sich zu vergewissern, dass im Verlauf des Morgens tatsächlich keine Flugzeugkatastrophe stattgefunden hatte. Es hatte nicht. Lediglich ein englischer Geschäftsmann war in Peking verhaftet worden, eine Hausfrau in Paris hatte tote Sechslinge geboren, und irgendwo wurde wie üblich gestreikt. Die Welt der Flugpassagiere schien in Ordnung.

Als Natasha sich wenig später im Spiegel der Bar musterte, groß, schlank und braunäugig, lächelte sie leicht gequält und verschluckte sich fast an dem Martini-dry, den sie sich zur Stärkung verordnet hatte. Was das Fliegen anging, war sie ein ausgemachter Feigling, wie sich deutlich an ihrem käsigen Gesicht ablesen ließ. Dieser Tag gehörte zu jenen Tagen, an denen ihre gemeinhin als aristokratisch bezeichnete Nase schlichtweg spitz aus dem Gesicht herausragte.

Sie gönnte sich einen zweiten Drink, der, wie sie fürchtete, bis Neapel Vorhalten musste, hatte sie doch keine Ahnung, wer sie am Flugplatz abholen würde. Als ihr Flug aufgerufen wurde, ging sie tapfer über den langen Flugsteig und vermied, nach rechts und links auf die Maschinen zu blicken, die sich wie Wal-Babys aneinanderdrängten. Vor dem jaulenden Heulen der Düsenmaschinen indes gab es kein Entrinnen, und Natasha fand, dass sie sich die Martinis als Beruhigungsmittel ebenso gut hätte sparen können.

Sie ließ sich einen Platz am Gang zuweisen, neben einer kleinen, grauhaarigen Frau, die sie von Kopf bis Fuß musterte und gewissermaßen kleine Preisschildchen an den Bestandteilen ihrer Garderobe zu befestigen schien. Dann heulten die Triebwerke auf, und die Tür wurde mit einem dumpfen Bums zugesperrt. Natasha hatte die Vorstellung eines hermetisch versiegelten Sargs und erschauerte entsprechend. Eine Stewardess murmelte ihr zu, den Gurt anzulegen, fragte sie nach ihrer Staatsangehörigkeit und reichte ihr eine Landekarte zum Ausfüllen.

Natasha betrachtete die ihr somit zugewiesene Beschäftigung wie ein Geschenk des Himmels, half sie ihr doch über den Alptraum des Starts hinweg.

NATASHA CYPRIAN COLLINGWOOD, schrieb sie sorgfältig und langsam in Druckbuchstaben hin. SUDBURY, SUFFOLK, schrieb sie gewissenhaft weiter, obwohl sie sich schlicht nicht vorstellen konnte, was an ihrem Geburtsort für die Regierung Italiens interessant sein könnte.

Bedauerlicherweise war die Maschine erst am Ende der Startbahn, als sie fertig war. Sie spürte einen scheußlichen Druck im Magen, griff zur Zeitung und starrte wie hypnotisiert auf die erste Seite, um nicht die vorbeirasenden Grasbüschel neben der Startbahn zu sehen.

Madame Madeleine Dupuis, las sie angestrengt konzentriert, war sechsunddreißig und hatte unter ärztlicher Aufsicht Hormone geschluckt. Die Geburt war die erste von Sechslingen überhaupt im Departement Paris-Seine. Nach Aussagen des Arztes ging es Madame Dupuis...

Natasha versetzte sich in die Rolle der Madeleine Dupuis im Kreißsaal - die Hebamme teilte ihr die Geburt der Sechslinge mit und zeigte, als sie sie sehen wollte, auf einen Metalltisch am anderen Ende des Raums, auf dem sechs kleine, zugedeckte Körper lagen, aufgereiht wie die Opfer eines abgestürzten Flugzeugs...

Sie wechselte hastig zu Mr. Ernest Bottomley, 41, der in seiner Wohnung in Peking verhaftet und an einen unbekannten Ort gebracht worden war. Er war der dritte der englischen Geschäftsleute, die ohne formelle Anklage und ohne Gerichtsverfahren in Rotchina festgehalten wurden. Bei den anderen handelte es ich um einen Mr. David Eaves, 33, und einen Mr. W. O. Spurgeon, 48, die beide schon länger...

Natasha war jetzt Ernest Bottomley in seiner engen Zelle, mit Eaves und Spurgeon irgendwo im gleichen Gebäude. Es war stickig heiß, und Bottomley war nackt ausgezogen worden. Splitternackt lag er auf der Pritsche, die nichts weiter als eine Metallplatte war, ähnlich denen im Leichenschauhaus...

»Haben Sie was gesagt, Kindchen?« Das war die kleine Frau an ihrem Ellenbogen. »Es kam mir so vor, aber ich höre nicht mehr gut. Übrigens können Sie Ihren Gurt wieder abschnallen.«

Natasha warf einen schnellen Blick nach draußen. Die Maschine war schon hoch im Himmel. Alles war still und komischerweise überhaupt nicht beängstigend. Natasha entspannte sich, ließ die Zeitung auf den Boden rutschen und holte das Buch aus ihrer Flugtasche.

 

Nathan Yardley
Der Sturz des Titanen

 

Auf dem Umschlag standen auf mattschwarzem Untergrund nur der Titel und der Name des Autors. Im Waschzettel innen hieß es:

 

Mit seinem Erstling ist Nathan Yardley der große Wurf gelungen, auf den die Welt so lange gewartet hat. Die Kritiker haben schnell erkannt, dass hier ein »Meisterstück formalen Könnens« (Robin Grey, Evening Courier) vorliegt; das wahrhaft geniale Erstlingswerk eines bisher Unbekannten, das ihn mit einem Satz in die Reihen der Unsterblichen unserer Literatur katapultiert hat (Nicholas Randall, The Globe), das mit Sicherheit zu dem Buch der siebziger Jahre wird (Derek Vessey, Northern Union). Yardleys Thema ist die Vermessenheit des Menschen, die die Welt und die Menschen, die sie bewohnen, zerstört, bis auch die vermeintlich unsterblichen Seelen zerstört sein werden...

 

Natasha drehte das Buch um. Hinten auf dem Umschlag war Yardleys Bild: ein hageres, sonnenverbranntes Gesicht mit kleinen Lachfalten um den ausdrucksvollen Mund, beschattet von einem lässigen Strohhut, mit schon tüchtig angegrautem Haar an den Schläfen, aber straff und jugendlich. Schultern und Brustkorb unter dem engansitzenden T-Shirt waren breit und muskulös. Insgesamt das Bild des Typs Mann, der wie der berühmte Fels in der Brandung allen Gefahren zu trotzen wusste. Unter dem Bild stand seine Biographie in Kurzfassung:

 

Nathan Yardley, geboren in Birmingham, ist dreiundvierzig Jahre alt. Englische Fernsehzuschauer erinnern sich an ihn als an einen der Stars in dem erfolgreichen Bildschirmspiel der sechziger Jahre Die Antwort genügt mir nicht. Der Sturz des Titanen, an dem der Autor zehn Jahre gearbeitet hat, ist bereits in zwölf Sprachen übersetzt und wird in Kürze verfilmt. Mr. Yardley ist verwitwet und lebt mit seinen zwei Stiefkindern in Süditalien.

 

Mit einem amüsierten Lächeln klappte Natasha das Buch auf und las den ersten Satz, der als Buchzitat schon um die halbe Welt gereist war:

 

Ich habe mit einer kaffeebraunen Schönen unterm Kreuz des Südens geschlafen, ich habe auf den Zuckerhut von Rio gespuckt und in einer Nacht in Monte Carlo mein ganzes Geld verjubelt, ich saß pleite in Singapur und habe gegen die Goldenen Tore von Samarkand geschifft...

 

Die kleine Frau neben ihr lachte. Sie stupste Natasha am Ellbogen und nickte gegen das Buch. »Haben Sie schon mal so was Freches gelesen?«, sagte sie. »Ich bin immer noch ganz begeistert. Mein Mann auch. Schade, dass wir nie zusammen verreisen können. Wir sind im Einzelhandel tätig, und ich verreise so gern im Mai, wenn noch nicht alles mit Touristen überschwemmt ist. Wir waren große Anhänger von Yardleys Die Antwort genügt mir nicht. Er wohnt jetzt irgendwo bei Capri, wissen Sie! Da will ich auch hin.«

»Er lebt jetzt bei Amalfi«, korrigierte Natasha und fügte wie beiläufig hinzu: »Ich bin auf dem Weg zu ihm. Ich bin seine neue Sekretärin!«

Die kleine Frau drehte sich verärgert ab. Sie glaubte Natasha nicht und machte keinen Hehl daraus.

Natasha hatte nichts dagegen. Sie überflog die ersten Kapitel des Buchs und gratulierte sich gleichzeitig zu dem Wunder, das sie ganz plötzlich und unvorhergesehen zur Angestellten des berühmten Autors gemacht hatte.

Sie hatte die kleine Frau neben sich wirklich nicht angelogen. Sie war vor kurzem von einem Wochenendausflug in ihre Wohnung zurückgekehrt und hatte Veronica, mit der sie die Wohnung teilte, völlig aus dem Häuschen vorgefunden. Die exklusive Vermittlung von graduierten Sekretärinnen, bei der sie beide geführt wurden, hatte angerufen und Natasha den Job bei Nathan Yardley angeboten, eine Auszeichnung, die sie der Tatsache verdankte, dass sie sich monatelang tapfer mit den Launen der Kriminalschriftstellerin Mimi Middleton herumgeschlagen hatte, bis diese die Verbindung zu Natasha im Besonderen und der Welt im allgemeinen mit einer Überdosis von Barbituraten aufkündigte. Diese Stelle trug ihr aber den Aktenvermerk ein glänzend im Umgang mit Autoren Hinzu kam, dass Natasha fließend Italienisch sprach. Der Flug nach Neapel war schon gebucht, Ticket und Spesengeld sollten durch Boten vorbeigebracht werden, wenn sie den Job annähme. Natasha telefonierte sofort und sagte zu.

Sie drehte das Buch wieder um und betrachtete noch einmal das Gesicht auf dem Umschlag.

Yardleys Fernseherfolge fußten keineswegs - wie die so vieler anderer - auf liebenswürdiger Unverbindlichkeit, sondern auf schneidender, gnadenloser Schärfe, mochte sie echt oder gespielt sein.

Das Publikum liebte ihn, weil er die plötzlich zum Tabu hochstilisierten Ideen irgendwelcher linker Weltverbesserer genauso zerfetzte wie andererseits die selbstgerechte Unduldsamkeit der Reaktion.

Sie sind für mich so ein bisschen eine unbekannte Größe, dachte Natasha bei sich, aber wenn ich Glück habe, wird unsere Zusammenarbeit nicht so kompliziert wie die mit der armen Mimi Middleton.

Der Himmel blieb die ganze Zeit während der Fahrt vom Flugplatz bedeckt und hing bis über den Kraterrand des Vesuvs. Über dem bergigen Rückgrat der Halbinsel ballten sich die Wolken, irgendwo fern in den Weingärten und Zitronenhainen grollte der Donner.

Es war fast vier Uhr, als der Taxifahrer vor einem breiten, massiv eisernen Tor hielt, das rechts und links von einer hohen, getünchten Mauer flankiert war. Er zog die Handbremse, setzte seine spitze Mütze auf und wartete.

»Ist das die Villa Gaspari?«, fragte Natasha und zeigte gegen das Tor.

»Si, si, Signorina.« Es waren so ziemlich die ersten Wörter, die er herausbrachte. Seit er sie vom Flugplatz abgeholt hatte, war er offenbar entschlossen gewesen, sich auf kein Gespräch mit ihr einzulassen.

Das zweiflügelige Tor war von Innen versperrt und zusätzlich mit Holzbohlen verstärkt. Von Haus und Park war nichts zu sehen. Der Fahrer hämmerte gegen das Tor und machte sich lautstark bemerkbar, bis innen jemand die diversen Riegel zurückschob. Die Tore öffneten sich. Ein junges Mädchen, so um die sechzehn, siebzehn, stand barfuß vor einer Unendlichkeit aus Meer und Himmel. Von der Villa Gaspari waren nur die Dächer zu sehen.

»Hallo«, lächelte Natasha liebenswürdig, »ich bin Natasha Collingwood. Ich werde erwartet.«

Das junge Mädchen hatte ganz offensichtlich geweint. Sie erwiderte nichts und bückte sich nur, um einen der Koffer zu tragen. Der Fahrer schnappte sich den anderen und forderte Natasha mit einem Kopfnicken auf, ihm über die Treppen auf die tiefergelegene geflieste Terrasse vorauszugehen, die von einer Reihe von Zypressen flankiert wurde.

Erst von der Terrasse aus erkannte Natasha, wie traumhaft schön dieser Besitz lag. Die Villa mit ihren zahlreichen Anbauten war stufenartig in einen zum Meer abfallenden Felsen gebaut, um dessen zerklüfteten Sockel die Brandung toste. Die grandiose Fassade des offenbar ältesten Teils der Villa mit dem säulengeschmückten Portal, über dem alte Statuen thronten, beeindruckte Natasha am meisten. Aber sie hatte auch Sinn für den Charme der eher gemütlich wirkenden Anbauten mit ihren getünchten Mauern und ihren Ziegeldächern aus gebranntem Ton, die sich so selbstverständlich in den Felsen schmiegten, als seien sie immer dort gewesen.

Mitten hindurch schlängelte sich eine breite Steintreppe, vorbei an dickem, wild bewachsenem Gemäuer, vorbei an kleinen kühlen Innenhöfen und breiten Terrassen, die in auf schäumender Gischt des Meeres endete.

Natasha sog den Duft von Jasmin und Geißblatt und Oleander ein und sagte laut: »Mein Gott, ist das schön hier!«

Der Fahrer überhörte ihren begeisterten Ausruf, und das junge Mädchen war schon zu weit auf der Treppe nach unten. Sie blieb an einem kleinen Torbogen stehen und sah sich um. Als Natasha sie erreicht hatte, klinkte sie mit dem Ellenbogen eine Tür auf und wies mit einer Kopfbewegung in den Raum, der dahinter lag.

»Das ist Ihr Zimmer, Signorina.«

Auf dem in Weiß und Blau gefliesten Boden standen ein reich geschnitztes Himmelbett, ein Schreibtisch und ein Ledersessel. Ein einziges großes Fenster, dessen Läden zurückgeklappt waren, bot einen traumhaft schönen Blick aufs Meer.

Natasha gab dem Fahrer ein Trinkgeld, und während er mürrisch abzog, öffnete das junge Mädchen eine Tür am anderen Ende des Raumes, die ins Bad führte. Sie vermied geflissentlich, Natasha in die Augen zu sehen. »Haben Sie noch Wünsche, Signorina?«

Natasha schüttelte den Kopf. »Ist Mr. Yardley zu Hause?«

»Nein, Signorina.«

»Oder sonst jemand aus der Familie?«

»Nein, Signorina. Aber sie müssten gleich zurück sein. Ich sage Ihnen sofort Bescheid.« Sie neigte schnell und kurz den Kopf und verschwand.

Natasha begann auszupacken. Wäsche und Kleider räumte sie in den eingebauten Wandschrank dem Fenster gegenüber, ihre Schmink- und Toilettensachen trug sie ins Bad. Plötzlich glaubte sie ein merkwürdig kratzendes Geräusch zu hören, das zum Fenster hereindrang. Sie ging ans Fenster und sah hinaus nach unten.

Etwa zehn Meter tiefer lag ein kleiner Hinterhof, der in den Küchentrakt des Hauses zu führen schien. In einer Ecke waren Holzscheite gestapelt, an der Wand stand eine Reihe leerer Flaschen, am Ende scharrten drei müde aussehende Hühner im ausgedörrten Erdreich, das an den gepflasterten Teil des Hofs angrenzte.

Direkt unter dem Fenster hockte ein grauhaariger alter Mann in einer speckigen schwarzen Samtweste und bearbeitete mit einem großen Bimsstein ein Stück Pflaster. Er goss Wasser aus einem Holzbottich über die Steine und schrubbte, mit beiden Händen auf dem Bimsstein, hin und her. Nach einer Weile machte er eine Pause, wartete mit zur Seite geneigtem Kopf, bis die Steine getrocknet waren, entdeckte, sichtlich verärgert, noch Flecken und machte sich von neuem an die Arbeit.

Natasha schüttelte verwundert den Kopf. Am Himmel war inzwischen die Sonne wieder erschienen, sie beschloss, sich ein wenig umzusehen.

 

Der Golf von Salerno zu ihrer Linken löste sich am Horizont in sanft-blauen Dunst auf, nur winzige weiße Punkte markierten sein südliches Ende, der Hafen von Salerno vor den fernen Bergen. Ein Fischerboot pflügte gemächlich eine breite Furche in die schimmernde Wasserfläche.

In einem luftigen, blauweiß gestreiften Sommerkleid saß Natasha auf der oberen Terrasse unterhalb des massiven Eisentors auf einer Steinbank, sah sich um und wartete auf den Hausherrn. Gegen fünf endlich klopfte es gebieterisch ans Tor, aus dem Küchentrakt rief jemand irgendwas zurück, aber Natasha sprang schon selbst die Treppen hoch, zwei Stufen auf einmal nehmend. Sie schob den schweren Riegel zurück, öffnete das in den Angeln quietschende Tor - und sah direkt in das Gesicht, das an ungezählten Dienstagabenden die englischen Fernsehzuschauer begeistert hatte. Es war tief gebräunt und verlieh den Augen eine geradezu verwirrende Bläue. Nathan Yardley trug einen leichten schwarzen Anzug mit schwarzer gestrickter Krawatte. Er sah müde aus.

»Hallo«, sagte Natasha, »ich bin Natasha Collingwood«, und reichte ihm die Hand.

Yardley schien angesichts der unerwarteten Begegnung etwas aus der Fassung zu geraten und murmelte eine leicht verlegene Begrüßung. Natasha dachte, er sei weit weniger selbstsicher und entschieden freundlicher als der Mann, den sie vom Bildschirm kannte.

»Die Kinder kommen gleich nach«, sagte er und sah auf die Straße zurück.

Erst jetzt bemerkte Natasha den tiefen schmalen Spalt im Felsen oberhalb der Straße, durch den eine Treppe mit abgewetzten Stufen bis in den Himmel zu führen schien. Zwei schwarz gekleidete Gestalten, ein junges Mädchen und ein kleinerer Bub, kamen die Treppe herunter.

»Ich hatte gehofft, bei Ihrer Ankunft sei alles vorbei«, sagte Nathan Yardley, »aber es hat dann doch länger gedauert. Ich hoffe, Sie sind freundlich empfangen worden und haben Ihr Zimmer bezogen.«

»Oh, ja, danke, es ist alles in Ordnung.« Natasha lächelte. »Und ich finde es hier unglaublich schön.«

Inzwischen konnte sie die beiden Stiefkinder Yardleys deutlicher sehen. Das Mädchen mochte so um zwanzig sein, mit flachsblonden, glatten Haaren, die das tiefbraune Gesicht umrahmten und weit über die Schultern fielen. Sie bewegte sich über die Treppe mit der geschmeidigen Anmut einer Zigeunerin und wirkte in dem langen schwarzen Kleid schmal und zierlich. Der Bub war wesentlich jünger. Vermutlich ging er noch zur Schule. Er folgte der Schwester langsam und bedächtig. Sein Haar war so hell wie ihres, aber er trug es kurz geschnitten. Dass sie Geschwister waren, sah man auf den ersten Blick.

»Meine Stieftochter Amanda«, stellte Yardley vor.

Amanda, barfuß und in einem bei näherem Hinsehen verschmuddelten Kleid, gab vor, Natashas ausgestreckte Hand nicht zu sehen. Sie blickte an ihr vorbei zu dem jungen Mädchen, das aus der Küche angelaufen kam.

»Giulietta, hast du auch nicht vergessen, mir die paar Sachen zu waschen, die ich dir gegeben habe?«

»Nein, Signorina.«

Eric war inzwischen herangekommen. »Mein Stiefsohn Eric«, sagte Yardley.

Eric ergriff ohne Zögern Natashas Hand und wurde rot wie ein kleines Mädchen. Jeder Zoll ein public school boy in seinem dunkelgrauen Anzug und den schweren schwarzen Schuhen, dachte sie, sympathisch, aber irgendwie unsicher.

»Haben Sie einen schönen Spaziergang gemacht?«, fragte sie, um das lastende Schweigen zu durchbrechen.

Ihre Frage hatte die Wirkung einer Bombe mit Zeitzünder. Erics Augen weiteten sich und blickten hilfesuchend zum Stiefvater. Yardley ließ abrupt den Torriegel los, den er gerade hatte zuschieben wollen, drehte sich langsam Natasha zu und sah sie entgeistert an. Das blonde Mädchen blieb mitten in einem Schritt wie angewurzelt stehen. Alle drei starrten Natasha jetzt an.

»Ja, weiß sie denn nicht, was passiert ist?«, rief Amanda aus.

»Halt den Mund!«, fauchte Yardley.

»Ich fürchte, ich weiß gar nicht...« Natashas Satz verebbte.

»Sie weiß es also nicht!« In Amandas Stimme schwang so etwas wie hämische Freude mit.

Yardley machte mit der Hand eine weitausholende Geste, die sogar Giulietta mit einschloss. »Aber jemand muss Ihnen doch gesagt haben, wo wir waren. Sie sprechen Italienisch, wenn ich richtig informiert bin, oder?«

Natasha nickte, brachte aber kein Wort heraus.

»Wir sind so angezogen«, erklärte Amanda, »weil wir auf einer Beerdigung waren. Ihre Vorgängerin hat letzten Samstag zum nächsten Ersten gekündigt. Vorgestern Nacht hat sie ihren Abgang beschleunigt, sozusagen Hals über Kopf, um im Bild zu bleiben...«

»Amanda!«

»Komm, Nathan, tu mir einen Gefallen«, entgegnete Amanda scharf, »verlange nicht von mir, dass ich mir jetzt noch irgendwelche Zurückhaltung auf erlege.«

Nathan Yardleys Augen hielten Natashas Blick fest, als wollten sie sie zwingen, Amandas Stimme nicht zu hören. »Es passierte so plötzlich«, sagte er leise. »Ich hätte Sie vorwarnen müssen. Mich wundert, dass die Zeitungen in England die Geschichte noch nicht aufgegriffen haben.«

Amanda nahm das Stichwort auf. Sie schien die Szene zu genießen. »Keine Bange«, sagte sie boshaft, »die Reporter werden hier einfallen wie ein Heuschreckenschwarm, wenn erst mal jemand spitz kriegt, dass sie deine Sekretärin war.«

»Was ist denn mit ihr passiert?«, fragte Natasha.

»Sie ist aus ihrem Schlafzimmerfenster gefallen«, sagte Amanda.

Natasha überlief es eiskalt. Deshalb hatte der alte Mann mit dem Bimsstein die Steine geschrubbt - um die rostfarbenen Flecken zu entfernen.

»Sie wurde eiligst beerdigt«, fuhr Amanda fort, »sie halten sich in diesem Klima nicht lange. Die Leichen, meine ich.«

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Nathan Yardley und seine Stiefkinder verschwanden, jeder für sich, irgendwo im unüberschaubaren Innern der Villa Gaspari, und Natasha blieb sich selbst überlassen. Sicher würde man gemeinsam zu Abend essen, aber niemand machte sich die Mühe, Natasha zu sagen, wann und wo. Sie hätte sich gern ein bisschen mit ihrem neuen Chef unterhalten und sich vielleicht das Haus zeigen lassen. Es wäre auch eine freundliche Geste seinerseits gewesen, wenn er ihren Schock über den Tod dieser Susannah Hislop mit ein paar erklärenden Worten gemildert hätte. Sie rechtfertigte sein Verhalten mit der Mutmaßung, dass der Tod des Mädchens ihn tief getroffen hatte, und er nicht darüber reden konnte oder wollte. Sie beschloss, ein bisschen spazieren zu gehen.

Sie warf eine leichte Stola über die Schultern und öffnete sich das Tor.

Die Straße war staubig und heiß wie ein Backofen. Die tief im Felsspalt liegende Treppe, über die Yardley und die Kinder gekommen waren, lag im Schatten und wirkte einladend kühl. Überdies, vermutete Natasha, müsste man von oben einen traumhaften Blick über die ganze Bucht von Salerno haben. Sie überquerte die Straße und stieg die Treppe hinauf, die vergleichsweise breit zwischen ungefugten Steinmauern angelegt war und von breitblättrigen Feigenbäumen mit schweren roten Früchten beschattet wurde. Irgendwo vor Natasha raschelte es im dürren Unkraut an der Mauerkante. Sie sah gerade noch den peitschenähnlichen Schwanz einer schwarzen Schlange, die geschmeidig in einer Mauerritze verschwand. Die Luft zitterte förmlich vom unaufhörlichen Gezirpe der Zikaden.

Schon auf halber Strecke war Natasha atemlos und schlapp vor Hitze, obwohl oben am Ende der Treppe ein Stück strahlendblauen Himmels, dekorativ mit zwei riesigen Zypressen geschmückt, sie verlockte.

Sie zwang sich zum Weitersteigen, hielt aber inne, als die Stufenreihe durch ein kleines Plateau unterbrochen wurde, das linkerhand zum Dorffriedhof führte. Die Mauer war hier ein gutes Stück zurückgenommen und zum Torbogen für das eiserne Tor geworden, ehe sie sich jenseits des Bogens wieder vorschob und als Eingrenzung der Treppe bis zu deren Ende weiterlief. Das kleine Plateau gab gerade genug Raum für die Sargträger, die ihre schwere Last in Richtung Friedhofstor drehen mussten.

Natasha sah durch die Gitter in einen wie ein Amphitheater gestuft in eine Felsenmulde gebetteten Friedhof mit Grabsteinen, eisernen Kreuzen und kleinen Grüften, die von schlanken Zypressen wie von stummen Wächtern bewacht wurden.

Das Jaulen der rostigen Torscharniere, widerhallend im mauerumfriedeten Rund, lähmte augenblicklich die Zirp-Organe der Zikaden. Sekundenlang herrschte eine gespenstische Stille, dann nahmen die Zikaden ihr schrilles Konzert wieder auf.

Natasha kam sich vor wie ein Eindringling. Vorsichtig schloss sie das Tor hinter sich und sah sich um. Ein Weg führte als Achse durch die Mitte des Friedhofs, ein anderer lief am Rund der Mauer entlang. Einen Augenblick lang zögernd, entschloss Natasha sich schließlich, nach rechts zu gehen. Langsam wanderte sie an ausgebleichten Steinen und rostigen Eisenkreuzen vorbei und fühlte die Augen in den ausgeblichenen Fotografien wie auf sich gerichtet. An einem offenbar frisch zugeschaufelten Grab blieb sie stehen.

Die rote Erde war noch nicht ausgedörrt, es gab keinen Grabstein und kein Kreuz. Nur einen Lorbeerkranz mit wächsernen Feuerlilien und einem mit Draht angehefteten Bild unter Plexiglas in einem billigen Plastikrahmen. Ein farbiger Schnappschuss von einem jungen Mädchen mit roten Haaren und auffällig blassem Teint, das irgendwie unsicher und verlegen lächelte, so, als sei es bei etwas ertappt worden. Daneben steckte eine schwarzumrandete Karte: In aufrichtigem Schmerz, Nathan Yardley und Familie.

Das also ist Susannah Hislop, dachte Natasha und versuchte, aus den Gesichtszügen etwas vom Wesen und Temperament des Mädchens herauszulesen. Vergebens.

Ein sanfter Windhauch streifte die Wipfel der Zypressen. Trotz der Hitze zog Natasha instinktiv den Schal fester um die Schultern. Sie fühlte sich plötzlich von irgendetwas bedroht und wollte fort. Suchend sah sie sich um und entdeckte ein zweites Friedhofstor, das auf offenbar kürzerem Weg als die Felsentreppe zur Hügelkuppe führte. Sie hastete aus dem gepflegten stillen Friedhof und lief die Treppen hinauf, bis vom Friedhof nur noch die Wipfel der Zypressen zu sehen waren. Atemlos blieb sie stehen und blickte zurück - auf eine Welt aus Himmel und Meer.

Sie horchte in die Stille. Von fern drangen Stimmen zu ihr hoch, ein Auto keuchte die kurvige Bergstraße hinauf, ein Fischerboot tuckerte geräuschvoll in den Hafen, Kinder lachten, und alles war untermalt vom ewigen Zirpen der Zikaden.

Während sie einfach dastand und horchte und staunte, hörte sie plötzlich ganz deutlich das Jaulen des sich öffnenden Friedhoftors.

Sie lief die restlichen Stufen zur Hügelkuppe hoch auf das kleine, felsige Plateau mit den sommerverstaubten Pinien. Landeinwärts dehnten sich Weingärten und Zitronenhaine, Terrasse um Terrasse, bis hin zur fernen Hügelkette, die sich bis in die dunklen Wolken schob, die sich am Horizont zusammenballten.

Natasha suchte sich einen vergleichsweise weichen Platz, breitete die Stola wie einen Teppich aus, legte sich hin und schloss die Augen.

 

In ihre Träume mischte sich eine beklemmende Ahnung drohenden, unsichtbaren Unheils und ließ sie hochschrecken. In instinktiver Angst warf sie die Hände vor den Hals und rief erregt: »Wer ist da? Hier ist doch jemand!«

Aber nichts und niemand rührte sich. Nur die Regentropfen fielen sanft und warm auf ihre nackten Arme. Der Himmel hatte sich zugezogen und den Horizont in ein graues Meer von Wolken aufgelöst, die Zikaden waren verstummt.

Natasha sah auf ihre Uhr und sprang schuldbewusst auf. Viertel nach sieben. Sie musste länger als eine Stunde geschlafen haben. Was würde ihr neuer Chef von ihr denken? Hoffentlich war er nicht ungehalten. Eilig raffte sie ihre Stola zusammen und begann ihren Rückweg über den Friedhof. Die Steinstufen waren glatt und schlüpfrig unter ihren Sandalen, aber der Regenschauer war vorbei.

Als sie den Friedhof betrat, packte sie erneut jene beklemmende Ahnung drohenden Unheils, die sie aus ihren Träumen aufgeschreckt hatte. Angstvoll sah sie sich um - und sah am anderen Ende des Friedhofs das Tor weit geöffnet. Ihre Blicke flogen zum Grab von Susannah Hislop, und noch ehe ihr Verstand fähig war zu begreifen, was sich dort abgespielt hatte, fing sie an zu zittern. Aus ihrer unbestimmbaren Ahnung war grauenhafte Wirklichkeit geworden. Jemand hatte Susannah Hislops Grab geschändet.

Wie unter einem Zwang lief sie hin. Der Lorbeerkranz war auseinandergerissen worden. Zerstreut, zerstampft und zertreten lagen Blätter und Blüten auf dem Weg - und mitten darin der gerahmte Schnappschuss mit der Bildseite nach unten. Natasha

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Carola Salisbury/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Edith Massmann (OT: The Villa On The Shore).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 20.03.2022
ISBN: 978-3-7554-0982-3

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