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Leseprobe

 

 

 

 

DAVID MONTROSS

 

 

SOS am Bosporus

 

Roman

 

 

 

 

APEX CRIME CHEFAUSWAHL, BAND 4

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

SOS AM BOSPORUS 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

Ein aufgefangener Gesprächsfetzen, ein eisiger, drohender Blick machen Claire Kendals Urlaubsfreude zunichte. Unter den Passagieren der Kreuzfahrt soll sich ein Agent der Gegenseite befinden. Und Claire muss den Lockvogel spielen. Vorbei ist es mit den Träumen von unbeschwerten Ferienflirts, von fröhlichen Bordfesten - die raue Wirklichkeit gleicht einem Tanz auf dem Vulkan. Denn auch Claires Beschützer ist ein Neuling im erbarmungslosen Kampf der Geheimdienste, und seine Unerfahrenheit hat verhängnisvolle Folgen...

 

Der Roman SOS am Bosporus des US-Schriftstellers David Montross (* 13. März 1909; † 26. August 1978) erschien erstmals im Jahr 1966; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im Jahr 1969.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME CHEFAUSWAHL.

  SOS AM BOSPORUS

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Moskau, 22. Januar: Oberst Stefan Galuskavitsch Wasilowsky, Leiter des sowjetischen Kurierdienstes, erstattet seinem Vorgesetzten, dem Chef des sowjetischen Geheimdienstes, den allwöchentlichen Bericht.

Seit langem sind die beiden durch enge Freundschaft verbunden. Dennoch empfindet der tuberkulöse Oberst beim Anblick des Generals stets etwas wie Neid: Anastas Pawlowitsch Petrossian, ein weißhaariger Sechziger mit rosa Apfelbäckchen, sticht in voller Uniform mit seiner kerzengeraden Haltung allzu sehr gegen den alten Freund ab. Manchmal hat Wasilowsky seines schlechten Aussehens wegen Minderwertigkeitskomplexe; schadhafte Zähne, übler Mundgeruch, dazu das von dem dunkelblauen Anzug nur schlecht kaschierte Kadavergerippe. Dabei hat ihn Anastas wirklich gern, und sie waren während ihrer gemeinsamen Zeit im Geheimdienst stets ein Herz und eine Seele.

»In der rumänischen Sache setze ich Lev als Kurier ein«, sagte der Oberst. »Nach der Kreuzfahrt kommt er ja für immer nach Moskau zurück.«

Der General lächelte. »Sie haben ihn weit herumgeschickt, Stefan, Odessa - New York... War eine brillante Idee, ihn mit der westeuropäischen und amerikanischen Lebensweise vertraut zu machen und seine Existenz hier geheimzuhalten. Für die selbständige Arbeit in unserem Geheimdienst bringt er dann einen ungewöhnlichen Schatz an persönlicher Erfahrung fürs In- und Ausland mit. Er ist jetzt vierundvierzig, nicht wahr?«

Wasilowsky nickte und hustete zugleich. »Alt genug, seine Kenntnisse verwerten zu können, jung genug, um noch zündende Ideen zu haben. Und nach dem Coup in Rumänien wird er für den Obersten Sowjet sofort akzeptabel sein. Wir werden keine Schwierigkeiten haben, ihn einzuführen.«

»Schön. Wieviel weiß er eigentlich von unseren Plänen?«

»Nur, dass er mein Nachfolger werden soll. Er ahnt nicht, dass ich schon nächsten Monat gleich nach seiner Heimkehr zurücktreten will.«

Oberst Wasilowsky schwieg nachdenklich. Seit er sich vor vierzehn Tagen in Berlin heimlich mit Sazanawitsch getroffen hatte, verfolgte ihn der Gedanke, Lev sei ihm gegenüber nicht ganz aufrichtig. Dennoch war er sicher, dass nichts mehr seine Pläne umstoßen könnte. Er liebte Sazanawitsch wie einen Sohn - die einzige Unstimmigkeit zwischen ihnen betraf die Bedeutung, die Lev seit jeher der Arbeit im Außendienst beimaß. Seiner Meinung nach waren die Leute draußen wichtiger als diejenigen, die daheim saßen und die Schachzüge ausdachten. Dies beunruhigte Wasilowsky kaum; sein Unbehagen war einzig durch eine kleine Bemerkung Levs entstanden: »Ich bin nicht mehr der Jüngste«, hatte er gesagt. »Ich muss mich darum kümmern, dass ich bald nach oben komme.« Ein Zeichen ganz normalen Ehrgeizes - oder?

»Soviel ich sehe, ist der Plan ausgezeichnet«, sagte der General. »Das Schiff wird am dreiundzwanzigsten Februar im Hafen von Constanta vor Anker gehen. Wenn die Touristen Bukarest verlassen, wird ein Passagier zurückgehalten werden. Sazanawitsch weiß allerdings noch nichts davon. Sind Sie sicher, dass der Mann den Köder aufnimmt?«

»Ganz sicher. Der Chef-Dragoman muss ihm Levs Namen zutragen. Das Netz um die rumänische Untergrundbewegung wird sich schließen, gleichzeitig ziehen wir ihren ausländischen Verbündeten aus dem Verkehr.«

»Ausgezeichnet. Sie haben also alle Fäden in der Hand, und Sazanawitsch muss nur nach Schema F arbeiten, dann geht alles glatt und er kommt nicht in Gefahr.«

»Wenn es für ihn gefährlich werden könnte, hätte ich ihn nicht verwendet«, sagte Wasilowsky leise. Er hatte größtes Vertrauen zu seinem Protege. Die paar unbedachten Worte waren wirklich kein Grund zur Besorgnis. Heute in einer Woche ging das Schiff ab, mit Lev an Bord, und im April konnten sie in Moskau bereits den Erfolg feiern.

 

Eine Woche später betrat Dinu Gregorescu, zitternd vor Kälte, das Restaurant des Barbizon-Plaza-Hotels in New York. Er fand die gesuchte Nische und schlüpfte von der Seite hinein, den hinteren, durch Säulen versteckten Sitz, ließ er für den Sowjet-Agenten frei.

Die eine Nebennische war leer, in der anderen saß eine junge Frau. Dinu betrachtete sie interessiert - so langes Haar in so einfacher Frisur sah man hier selten. In der Mitte gescheitelt, in weicher Welle bis zum Nackenknoten verlaufend - wunderbares Haar, goldgelb wie reifer Weizen in seiner rumänischen Heimat.

»Erwarten Sie mich?« Die Stimme war ganz neutral, der Sprecher hatte ein kantiges, offenes Gesicht. Ehe Dinu aufstehen konnte, hatte der andere sich durch die verabredete Frage legitimiert und setzte sich. Während er die Serviette entfaltete, betrachtete er seinen Partner mit herablassend-interessierter Miene, was diesen ärgerte. Dick wie er war, mit fettem Gesicht und kleinen Schweinsäuglein, wurde er von Russen meist geringschätzig behandelt, aber bei diesem Mann hier kam noch etwas hinzu: er war - jedenfalls schien es Dinu so - gefühllos, nervenlos, geschlechtslos. Umso stärker der Eindruck der Kälte, tödliche Kälte, der von ihm ausging.

Während des Essens redete der Russe belangloses Zeug, erst beim Kaffee brachte er das Gespräch auf die gemeinsame Sache. Er fragte Gregorescu über seine Arbeit in New York aus.

»Leider gibt es zur Zeit nichts«, erklärte Dinu in hartem Englisch. »Keine Leute, die man erpressen könnte, keine neuen UNO-Intrigen, keine weiteren Berichte über die Absichten Rumäniens bezüglich der Herstellung freundschaftlicher Beziehungen zu den Vereinigten Staaten.«

»Also alles negativ?« Der bissige Ton gab Dinu das Gefühl, als sei er für die Lage verantwortlich zu machen. »Sie wissen ja, dass Sie dann diesen Monat keine Zahlung zu erwarten haben?«

»Das weiß ich. Tut mir leid, Kamerad. Ich hoffe, im Februar bessere Dienste leisten zu können.«

»Etwas können Sie jetzt gleich tun. Wir wollen, dass man es bei der Passkontrolle des griechischen Vergnügungsschiffes Tritonia nicht allzu genau nimmt. Es fehlt uns dazu nur die Bewilligung des Chefs Ihrer Geheimpolizei.«

»Nicht genau nimmt - womit? Ich müsste ihm Genaueres berichten...«

»Ich weiß es selbst nicht. Ich soll nur diese Bitte weiterleiten. Sie müssen seine Bewilligung erlangen.«

»Hören Sie«, protestierte Dinu, »ich kann doch nicht mit einer so vagen Bitte zum Chef gehen. Er wird Details wissen wollen, er wird...«

»Was er will, ist uninteressant. Wir wollen nur seine Bewilligung.«

»Und wenn Sie die nicht bekommen?«, fragte Gregorescu aufsässig. Er hatte jetzt eine richtige Abneigung gegen diesen Russen, mit wachsender Erregung wurde auch seine Stimme lauter. »Wenn Sie in Constanta ohnehin tun, was Sie wollen, hätten Sie nicht hierherzukommen brauchen.«

»Leise, leise! Ihr Geheimdienstchef kam unerwartet nach New York, und deshalb bin ich hier. Ohne seine ausdrückliche Bewilligung würden wir unseren Plan keinesfalls durchführen.«

»Wirklich nicht? Vielleicht muss er in Bukarest rückfragen? Wann und wo kann ich Sie erreichen, wenn...«

»Wir haben keine Zeit, auf Rückfragen in Bukarest zu warten«, unterbrach ihn der andere. »Ich muss es morgen wissen, ehe ich an Bord der Tritonia gehe.«

»Ach so! Deswegen kamen Sie also nach New York? Um mit dem griechischen Schiff abzusegeln?« Wieder hob der Rumäne die Stimme. Er wusste genau, dass er letzten Endes den Wunsch des Russen erfüllen würde, aber es machte ihm Spaß, zögernd und rebellisch aufzutreten. Noch lauter setzte er fort: »Sie können von Glück reden, wenn die CIA nicht schon einen Agenten auf dem Schiff hat, und von noch mehr Glück, wenn man Sie nicht hier bereits erkannt hat, wo Sie ja nicht...«

»Still! Still!«, fuhr ihn der andere an - seine Worte waren fast unhörbar.

Gregorescu war sehr zufrieden mit sich - dann sah er plötzlich die Augen der langhaarigen Blonden von nebenan auf sich gerichtet. Seine Hände begannen zu zittern. Es war blödsinnig gewesen, diese unverantwortliche, unbewiesene Behauptung hinauszubrüllen, nur um den Russen zu ärgern. Jetzt hatte ihn das Mädchen gehört, und außerdem würde sein Partner wissen wollen, warum er glaube, die CIA habe einen Agenten auf dem Schiff. Dabei wusste er es selbst nicht - er hatte es einfach erfunden. »Sie hat uns zugehört«, flüsterte er.

»Sie hat Ihnen zugehört«, verbesserte der andere - seine Lippen bewegten sich dabei kaum. »Starren Sie zurück, los, jagen Sie ihr Angst ein mit Ihren grässlichen Augen!«

Gregorescu folgte seiner Anweisung, das Mädchen ließ unvermittelt den Kopf sinken. Einige Augenblicke später zahlte sie, verließ das Lokal und ging die Treppe zum Hoteltrakt hinauf. »Geht in Ordnung«, sagte der Russe. »Und wieso glauben Sie, dass die CIA einen Agenten an Bord der Tritonia haben könnte?«

 

Als Claire Kendal Gregorescus Worte hörte, konnte sie sich nicht darauf besinnen, was CIA bedeutete, auch wusste sie nicht, von welchem Schiff die Rede war, noch was sie, wenn überhaupt, in der Sache tun sollte. Wären nicht diese grässlichen Augen gewesen, hätte sie das Ganze leichthin abgetan. Und so kam es, dass sie, anstatt einzuschlafen, immer wieder an die Worte denken musste: »Sie können von Glück reden, wenn die CIA nicht schon einen Agenten auf dem Schiff hat und von noch mehr Glück, wenn man Sie nicht hier bereits erkannt hat, wo Sie ja nicht...« Und immer wieder sah sie die tödlichen Augen in dem dicken Gesicht, den drohenden Blick, der sie bis ins Mark erschauern ließ.

Sie hatte keine Ahnung, wie der zweite Mann aussah und war froh darüber. Die Stimme des Dicken hatte hässlich und bösartig geklungen. Immer wieder überdachte sie den Vorfall, bis sie endlich in unruhigen Schlaf fiel.

Am nächsten Morgen wachte sie müde auf und blieb nach dem Frühstück bis mittags im Bett. Dann musste sie aufbrechen. Während das Taxi langsam über die eisglatten Straßen fuhr, redete sie sich selbst zu, die Angelegenheit nicht so tragisch zu nehmen, ihre Furcht abzuschütteln. Als der Taxifahrer bei Mole 88 anhielt, fühlte sie sich fast wieder normal.

Ihr Gepäck wurde auf ein Laufband gelegt, sie selbst fuhr mit dem Fahrstuhl in eine offene Abfertigungshalle, in der die Reisenden Schlange standen. Fast nur ältere Damen und Herren, dazwischen ein paar Ehepaare mittleren Alters, aber weit und breit keine alleinstehende junge Dame wie sie.

Einsam und verlassen reihte sich Claire ein.

Draußen am North River war der Wind an diesem Januartag bitterkalt. Dabei hatte ihr der Reisebüroangestellte in Denver unbeschwerte Stimmung und Sonnenschein versprochen. »Im Schwarzen Meer wird es vielleicht kalt sein«, hatte er gesagt, »das liegt ja weiter nördlich. Aber wenn Sie dann von den Ostblockländern ins Mittelmeer zurückkehren...«

Und plötzlich fiel ihr ein, was CIA bedeutete. Central Intelligence Agency - Geheimdienst-Zentrale. Dort befasste man sich mit Spionen und Geheimagenten. Der Gesprächsfetzen gestern Abend war bestimmt bedeutsam, und da sie nun wusste, was CIA hieß, war es ihre Pflicht, jemandem davon zu berichten. Auch, wenn sie sich dabei selbst gefährdete.

Sie blickte sich auf dem vollgedrängten Deck um. Falls sie einen Polizisten entdeckte, konnte sie es ihm sagen. Oder einem Schiffsoffizier. Nein - das waren lauter Griechen. Sie musste einen Amerikaner finden. Einen, der ihre Information an die CIA weiterleitete.

Während die Schlange sich vorwärts bewegte, blickte sie sich um. Hinter einer Holzplanke auf dem Quai standen eine Menge fröhlich winkender Leute.

Ein grässlicher Anblick ließ sie erstarren: mitten in der Gruppe stand der Dicke von gestern Abend! Er blickte über die Barriere direkt auf sie, durchbohrte sie mit seinem tödlichen Blick! Wie hatte er - warum war er...?

Sie zwang sich, neben ihn in die Menge zu starren. Was hätte sie dafür gegeben, jetzt einen Polizisten zu sehen, einen Matrosen oder Soldaten, jemanden, der irgendeine amerikanische Behörde repräsentierte. Sie war schon beinahe bei dem Schalter und hatte immer noch keinen entdeckt. Sollte sie ihre Geschichte hier Vorbringen - obwohl die Beamten Griechen waren?

Zwei uniformierte Zahlmeister standen hinter dem Pult. Einer beugte sich über eine Liste und strich ihren Namen durch. Der andere nahm ihr Fahrkartenheft und riss ein Blatt heraus. »Kabine A-44«, sagte er. »Gute Reise!«

Sie dankte und blieb zögernd stehen. Sollte sie? Sie musste es tun, es war die letzte Möglichkeit. »Würden Sie bitte etwas für mich erledigen?«

»Wenn Sie brauchen etwas, fragen Steward auf Schiff«, antwortete der junge Mann.

Ihr Herz schlug wild. Dort unten stand der Dicke. Sie wagte nicht, nochmals in seine Richtung zu blicken. Aber wo sonst sollte sie nach Hilfe Ausschau halten? Sie drehte sich halb zur Seite und sprach den Griechen nochmals leise an.

»Bitte sagen Sie jemandem - einem Amerikaner -, dass ich ein Gespräch mitgehört habe...« Nein, falsch. Die verstanden zu wenig Englisch, und außerdem durfte sie nichts von dem, was sie gehört hatte, weitersagen. »Ich möchte der CIA - der Geheimdienstzentrale - etwas mitteilen.« Die dunklen Augenbrauen des jungen Beamten zogen sich fragend nach oben, sie fuhr verzweifelt fort: »Ein Polizist - rufen Sie einen Polizisten. Sagen Sie der Polizei, dass man mich aufsuchen soll, ehe wir abfahren. Ich bitte Sie darum!«

»Polizeimänner? Sie wollen Polizeimänner?«

»Ja! Sagen Sie, es ist wegen der CIA und sehr wichtig. Gefährlich!« Ihr war ganz übel. Die Zahlmeister würden sie für verrückt halten und gar nichts tun. »Bitte tun Sie es wirklich!« setzte sie noch ohne Überzeugung hinzu.

An Bord führte sie ein Mädchen über mehrere Decks nach unten zu einer winzigen Innenkajüte. Als das Mädchen gegangen war, blieb ihr nichts übrig, als zu warten. Warten, worauf? Auf Polizisten? Die kamen ohnehin nicht. Am besten sie versuchte, die Sache zu vergessen.

Doch dann merkte sie, dass ihr das unmöglich war. Die Worte, die sie mit angehört hatte, verfolgten sie einfach. Es war noch früh, das Schiff fuhr erst um fünf Uhr ab und sie beschloss, nochmals von Bord zu gehen, den Dicken nach Möglichkeit zu fotografieren und ein Telefon zu suchen. Vielleicht gab es sogar eines auf dem Schiff.

Beinahe eine Stunde lang durchstreifte sie das Schiff. Alle, die sie nach einem Ausgang oder einem Telefon fragte, rollten nur die Augen in Bewunderung ihrer Schönheit, oder redeten unverständliches Kauderwelsch. Sie bemühte sich gerade, eine schwere Tür aufzudrücken, als über ihr ein Männerarm auftauchte. Sie hatte Angst, sich umzusehen, Angst, dass es der Dicke oder sein unbekannter Partner sein könnte. Sie erstarrte, als der Mann die Tür öffnete und sagte: »Sie sind doch sicher Miss Kendal, nicht wahr? Miss Claire Kendal?«

 

Lev Sazanawitsch stand weit hinten im Besucherraum und beobachtete jeden einzelnen der Passagiere sorgfältig, denn er hatte die Fotos von Tausenden von Feindagenten im Kopf. Kein Amerikaner, dessen Verbindung mit dem US-Spionagedienst bekannt war, konnte hier durch, ohne dass Sazanawitsch es gemerkt hätte. Aber es gab Agenten, die er nicht kannte, und die auch in Moskau nicht registriert waren. Es musste welche geben, allein deshalb, weil seine eigene Existenz sogar in Russland so geheim war, dass nur wenige der obersten UdSSR- Beamten von ihm wussten. Anzunehmen, dass andere Regierungen ebenfalls ihre »super-geheimen« Agenten hatten.

Mach langer Befragung hatte Dinu Gregorescu zugegeben, dass seine Bemerkung eine dumme Rederei gewesen war, nur erfunden, um Lev zu ärgern. Dessen Forderung, den Rumänen zu arretieren, war übrigens bereits nach Moskau unterwegs. Der Dicke würde schon noch draufkommen, wie schwer man dafür büßte, das Inkognito eines Geheimagenten zu gefährden. Sazanawitsch beabsichtigte, die Todesstrafe zu verlangen.

Jetzt blieb nur noch die Blonde, die ihr Gespräch gehört hatte. Diskrete Befragung des Kellners hatte ergeben, dass es sich um eine Miss Claire Kendal aus Denver in Colorado handelte. Ein Verbindungsmann Sazanawitschs im Hotel, von dem Gregorescu nichts wusste, hatte dann noch bestätigt, dass sie an diesem Nachmittag mit der Tritonia abreiste. Ein merkwürdiger Zufall, falls es einer war...

Sazanawitsch hatte lange darüber nachgedacht. Einmal war er überzeugt, dass er eine Gegenspionin vor sich hatte; dann wieder, dass sie keine war.

Gregorescu hatte allen Ernstes vorgeschlagen, die Frau zu ermorden. Lev wies den Vorschlag verächtlich zurück. Mord lockte die Polizei an, und wenn Claire Kendal tatsächlich zum Geheimdienst gehörte, war ihr Tod doppelt gefährlich für ihn. Er hatte Gregorescu absichtlich ganz vorn im Besucherraum platziert, und als Miss Kendal das Schiff bestieg, befriedigt ihr Erschrecken beim Anblick des Dicken bemerkt. Die Reaktion schien nicht einstudiert zu sein, und wirkte überhaupt sehr unprofessionell. Daraufhin neigte er wieder der Meinung zu, dass es sich hier doch um einen jener seltenen Zufälle handelte, die manchmal verkommen. Sofern Gregorescu nicht verhaftet wurde - und das würde geschehen, falls Miss Kendal die Behörden irgendwie verständigt hatte -, sah er für sich beim Betreten des Schiffes keine Gefahr.

In der kommenden Woche würde er sich um die Dame kümmern, sie ausfragen und herauszufinden trachten, ob sie sich an die Erlebnisse im Hotel erinnerte und überhaupt darüber sprach. Falls er Beweise für ihre Gefährlichkeit fand, würde er selber vor der Ankunft in Lissabon für ihren Tod sorgen. Das Verschwinden eines Menschen im Atlantik zog zwar auch Untersuchungen nach sich, aber es würden dabei keine Verbindungen mit New York oder dem Barbizon-Plaza Hotel aufgedeckt werden, oder mit Dinu Gregorescu und anderen Personen oder Umständen, die Lev Sazanawitsch ernstlich gefährden konnten.

Glücklicherweise war er im April schon in Moskau, hatte seine Außendienstzeit beendet und musste sich nicht mehr mit lächerlichen Maskeraden und Versteckspielen befassen. Oberst Wasilowsky, General Petrossian und alle Goldbetressten in der Regierung würden ihn anerkennen. Dann wollte er die Position des Obersten unterminieren und ihn zum Rücktritt zwingen, falls er nicht inzwischen an seiner Tuberkulose starb, was eine ausgezeichnete Lösung des Problems wäre. Innerhalb eines Jahres würde er jedenfalls die Leitung des Kurierdienstes übernehmen. Danach wollte er zwei Jahre warten und dafür sorgen, dass er General Petrossians Posten als Leiter des gesamten sowjetischen Geheimdienstes übernehmen konnte. Von dort aus war es nur noch ein Schritt bis zur Führung der UdSSR. Er würde sie wieder im Sinne Stalins ausüben. Stalin, sein Idol; tot und verunglimpft, dachte er, aber seine Ideen waren richtig. Wenn ich hinaufkomme, werde ich auf seine Weise regieren. Genau wie er. Bis Moskau die Hauptstadt der ganzen Welt ist, und alle Fäden in meiner Hand sind...

Die letzten Passagiere waren angekommen, die Matrosen machten alles fertig zum Ablegen. Kein ihm bekannter Agent hatte das Schiff betreten, keine bekannte oder unbekannte Person schien Miss Kendal zu folgen, Gregorescu war nicht verhaftet worden.

Als der Russe an Bord ging, stellte er sich innerlich auf die neue Rolle um. Seine wahre Identität war für die Nachtstunden in der Kajüte reserviert, wenn er Nachrichten verschlüsselte oder entschlüsselte, die ihn während der Kreuzfahrt mit Moskau verbanden. Tagsüber war er ein anderer, ein völlig seriöser, umgänglicher, amüsanter, tüchtiger Mann mit gefälschtem Pass, der ihn als naturalisierten US-Bürger auswies. Als die Schiffssirene ertönte, blieb Sazanawitsch an Deck und sah den Matrosen zu.

Auf dem oberen Deck spielte eine Kapelle, die Leute im Dock brüllten ihre Abschiedsgrüße herüber. Schlepper zogen und schoben das große Linienschiff in den North River hinaus. Sazanawitsch sah interessiert zu, wie sie stromabwärts schwammen, dann lächelte er, Gregorescu stand unbelästigt auf dem Quai, seine bösartigen Augen waren glasig vor Angst und Entsetzen. Der Russe begann zu glauben, dass Miss Kendal rein zufällig auf diesem Schiff reiste. Ein echter Zufall - nichts, worüber er sich Sorgen machen musste.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Paul Gillespie blieb an Bord der Tritonia, bis sie an der Freiheitsstatue vorbei und weit hinaus in den Hafen gekommen war. Dann wies er seine Polizeikennmarke vor und erhielt die Erlaubnis, mit dem Lotsenschiff zurückzufahren. Während sie ablegten, kauerte er sich hinten in einen Winkel des Bootes. Hoch oben konnte er eben noch Claire an der Schiffsreling erkennen. Sie sah recht verloren aus; als er ihr zuwinkte, richtete sie sich jedoch auf und machte ihm Zeichen, dass alles in Ordnung sei. Er blickte dem hellerleuchteten Schiff nach, wie es sich seinen Weg zwischen Tankern, Frachtern und Fährbooten bahnte, bis er es im Nebel aus den Augen verlor. Er war keineswegs sicher, dass alles in Ordnung sei.

Die schöne Miss Kendal hatte ihn als Mann fasziniert und im Gespräch erkannte er, dass ihr Wesen und ihre Ehrlichkeit sie noch anziehender machten. Als ausgebildeter Sicherheitsdienstbeamter glaubte er zwar nicht an Zufälle, während das Boot sich langsam dem Ufer näherte, war er jedoch bereits überzeugt, dass sein Bericht über die Angelegenheit unter der Bezeichnung D-4, »Quelle unverlässlich, Informationen unwahrscheinlich«, im Archiv landen würde. Claire Kendal hatte sich vermutlich einfach verhört.

Wieso war aber dann Dinu Gregorescu auf Mole 88?

Als am Nachmittag ein ihm befreundeter Polizist angerufen und gesagt hatte, eine Dame wolle einen Polizisten wegen einer Angelegenheit der CIA sprechen, hatte Gillespie mürrisch gefragt: »Warum schickt ihr dann keinen Polizisten?«

»Du weißt doch, dass wir euch Bundesgespenstern nie in die Suppe spucken«, hatte der Polizeiinspektor geantwortet. »Der griechische Zahlmeister, der für die Dame anrief, sagt, sie habe  ausdrücklich die CIA erwähnt. Es handelt sich übrigens um die Tritonia, sie legt um fünf Uhr ab, und die Dame heißt Claire Kendal. Viel Glück bei der Hexenjagd!«

»Vielen Dank«, knurrte Gillespie, musterte erst den Haufen unerledigter Berichte auf seinem Pult und blickte dann auf die Uhr. Schon zwei Uhr. Er holte seinen Wagen aus der Untergrundgarage und fuhr zur Mole, fest überzeugt, dass er um der Halluzinationen einer kleinen alten Dame willen den Nachmittag verplempern würde.

Er wollte gerade den Zahlmeister bei seinem Pult ansprechen, als er in den vordersten Reihen der Besucher den Rumänen entdeckte. Sofort ging er zum Landesteg vor und zeigte dort, in der Hand versteckt, seine Polizeimarke vor. Nach kurzem Gespräch mit dem Oberzahlmeister und einem Blick in den Pass des Mädchens machte er sich auf die Suche nach Kabine 44 auf Deck A. Miss Kendal war jedoch nicht dort.

Er befragte ihren Kabinen-Steward; der erklärte, sie sei an Deck gegangen. Dann folgte Gillespie der Spur ihrer langen Haare, die im Passbild zwar dunkel aussahen, jedoch nach der begeisterten Aussage eines Mannes der Besatzung, dem Claire begegnet war, so golden wie der Sonnenschein leuchten sollten. Schließlich holte Paul sie ein, als sie eben versuchte, eine Tür zu öffnen. Ihr Haar schimmerte tatsächlich golden, aber niemand hatte ihn auf die porzellanzarte Haut, die blaugrünen Augen und den faszinierenden Mund vorbereitet.

Er zeigte ihr seine Polizeimarke und stellte ein paar Routinefragen, ehe er sie über die Konversation berichten ließ, die sie am Vorabend mit angehört hatte. Sie erzählte ihm alles und vergaß auch nicht zu erwähnen, dass sie den Dicken habe fotografieren wollen. Die Fotos habe sie von Lissabon aus brieflich einschicken wollen.

Nein, sie wusste nicht, wie Gregorescus Gesprächspartner aussah. Sie hatte ihn weder bemerkt noch sprechen gehört.

Paul tat sein Möglichstes auf dem Schiff. Er schrieb die Worte auf, die Miss Kendal gehört hatte, und machte mit ihrer Kamera Aufnahmen von dem Rumänen, der Mole und ihr selbst. Dennoch zweifelte er, dass das alles je gebraucht würde.

Dinu Gregorescu war Mitglied der rumänischen Mission bei den Vereinten Nationen, und die CIA hatte über ihn, wie über alle ausländischen Delegierten - besonders wenn sie zum Polizei- oder Sicherheitsdienst gehörten -, einen Akt angelegt. Es war Pauls Aufgabe, alle Informationen über diese Leute auszuwerten, und soweit er sich erinnerte, war über den Rumänen nichts Nachteiliges bekannt.

Das bedeutete jedoch nicht unbedingt, dass er unverdächtig war; deshalb wollte Paul die Geschichte des Mädchens noch genau überprüfen, ehe er sie endlich in eine Kategorie einstufte. Mehr als einmal war ein D-4-Akt zu A-1 geworden, das hieß: Quelle äußerst verlässlich, Information sehr wahrscheinlich zutreffend.

Er fuhr zum Büro zurück. In dieser Nacht musste er Überstunden machen.

Im siebenten Stockwerk trug er sich in das Dienstbuch der Wache ein und betrat sein Büro. Das Mädchen von der Schreibstube, Effice, hatte die Berichte, an denen er zurzeit arbeitete, ordentlich zurechtgelegt. Auf jedem steckte ein Zettel mit der Kurzfassung vom Inhalt sowie zusätzlicher Informationen, die Effice für ihn ausgegraben hatte. Ich muss ihr nächstes Mal eine Kusshand zuwerfen, dachte Paul. Er kannte das alte Mädchen gut und wusste, wie ihr das schmeicheln würde, auch wenn sie ihm drohte und »Ach, Sie Böser!« flötete.

Er las die Notizen durch, die er sich auf der Tritonia gemacht hatte. Als Miss Kendal erwähnte, was im Restaurant vorgefallen war, hatte er sie gebeten, die Worte, die sie angehört hatte, langsam zu wiederholen, damit er sie niederschreiben konnte: »Sie können von Glück reden, wenn die CIA nicht schon einen Agenten auf dem Schiff hat, und von noch mehr Glück, wenn man Sie nicht hier bereits erkannt hat, wo Sie ja nicht...«

Paul lehnte sich bequem zurück und klopfte geistesabwesend mit dem Kugelschreiber auf den Tisch. Dann war der zweite also ein Ausländer, der sich illegal im Land aufhielt, oder? Er konnte auch ein gewöhnlicher Staatsbürger sein, der sich außerhalb seines Büros oder Hauses an einem Ort befand, wo man ihn nicht vermutete. Und Gregorescu war heute Nachmittag vielleicht nur zum Quai gekommen, um irgendjemanden zu verabschieden.

Doch dann setzte sich Paul plötzlich aufrecht hin. Du lieber Himmel! »... wenn die CIA nicht bereits einen Agenten auf dem Schiff hat...«

Das war ihm beinahe entgangen - es sah wirklich so aus, als glaubten diese Männer, schon bekannt zu sein und wähnten Gegenspione am Werk. Und der zweite Mann hatte Angst, erkannt zu werden. Das sprach jedenfalls dafür, dass er ein bekannter Spion war.

Langsam, langsam, ermahnte sich Gillespie. Er zog den Fahrplan des Schiffes zu Rate. Luxus-Kreuzfahrt ins Mittelländische und Schwarze Meer. Weiß Gott, die liefen auch zwei sowjetische Häfen an, Jalta und Odessa; und von Constanta aus war ein kurzer Ausflug nach Bukarest vorgesehen; Rumänien, das Geburtsland Gregorescus. War der Dicke heute zum Quai gekommen, um einen Freund zu begleiten? Um sicherzugehen, dass Miss Kendal abreiste? Oder um festzustellen, ob ein unbekannter CIA-Spion das Schiff betrat?

Gillespie zog den Film heraus. Sollte er bis morgen warten? Keineswegs. Er rief im Archiv an und bat, Dossiers über Claire Kendal und Dinu Gregorescu zusammenzustellen. Dann verließ er sein Büro und stieg zum achten Stock hinauf. Der Nachtdienstlaborant hatte sich in der Dunkelkammer eingeschlossen.

»Komme gleich«, rief er.

Gillespie beruhigte ihn und meinte, es habe keine Eile; dabei war er so aufgeregt, dass er nicht ruhig sitzen konnte.

Das rote Licht über dem Labor erlosch, der Fotograf kam heraus und nahm Gillespies Film in Empfang.

»Vorrang, Al, bei Gott«, sagte Paul, und grinste, als der andere die Stirn runzelte. »Du bekommst eine Medaille, wenn diese Bilder das halten, was sie versprechen.«

»Lenin in der Badewanne? Ich kann nicht, Paul. Ein Kollege hat Urlaub. Schau, was da drüben noch wartet, die haben alle Vorrang vor dir.«

»Ich kann ja den Boss anrufen...«

Als finstere Miene erhellte sich wieder. »Übernimmst du die Verantwortung?«

»Pass auf, Al, ich denke - ich glaube -, die Sache könnte nach Washington gehen. Vielleicht sogar noch heute Nacht, falls du mir die Bilder entwickelst.«

»Unmöglich. Frühestens am Morgen.«

Gillespie sah auf seine Uhr. »Es ist jetzt zwanzig Uhr dreißig. Ich gebe dir vier Stunden Zeit. Und vergiss nicht die Vergrößerungen! Also bis Mitternacht.«

»Ein Uhr«, knurrte Al. »Keine Minute früher.«

Gillespie fuhr mit dem Lift in den sechsten Stock: der diensthabende Beamte war nicht da, Paul hinterließ ihm die Nachricht, dass er gern um ein Uhr fünfzehn zu ihm käme, und fuhr dann mit dem Lift in die Tiefgarage, um seinen Wagen zu holen.

Er parkte in der Nähe des Barbizon-Plaza Hotels und ging zuerst ins Restaurant hinunter.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: David Montross/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx. Model: Victoria Borodinova
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Inge Wiskott und Christian Dörge (OT: Fellow-Traveller).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 16.03.2022
ISBN: 978-3-7554-0964-9

Alle Rechte vorbehalten

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