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Leseprobe

 

 

 

 

CAROLA SALISBURY

 

 

Blumen für eine tote Hexe

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

BLUMEN FÜR EINE TOTE HEXE 

Prolog 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

Polly Lestrange wird zum Sterbebett ihrer Tante gerufen. Doch als sie in dem großen düsteren Haus ankommt, darf sie ihre Tante nicht sehen. Sie sei zu schwach und brauche Ruhe, behauptet die Haushälterin.

Polly schleicht sich zum Zimmer der Sterbenden... doch die Tür ist verschlossen.

Da fällt ihr Blick auf ein Gemälde in der Eingangshalle: Es zeigt eine Frau, die im 16. Jahrhundert als Hexe verbrannt wurde - und diese Frau hat Pollys Gesicht!

 

Carola Salisbury (* 10. Januar 1964 in Nottingham) ist eine britische Kriminal-Schriftstellerin.

Der Grusel-Krimi Blumen für eine tote Hexe erscheint in der Reihe APEX CRIME. 

   BLUMEN FÜR EINE TOTE HEXE

 

 

 

 

 

 

  Prolog

 

 

Eine Zeitungsnotiz im Evening Courier vom 29. August 1969:

 

BLUMEN FÜR EINE HEXE

 

Von der Ostküste in Suffolk erreicht uns folgende merkwürdige Geschichte.

Der kleine Ort Denwich (250 Einwohner, zwei Lokale, eine Kirche) bewegt sich aufgrund von Küstenerosionen schon seit fünfhundert Jahren allmählich ins Meer. Die ursprüngliche Kirche aus dem 13. Jahrhundert verschwand 1893. Der Friedhof folgt ihr mit etwa dreißig Zentimetern pro Jahr.

Die prominenteste noch verbliebene Bewohnerin des Friedhofs (um diesen etwas paradoxen Begriff zu gebrauchen) ist Julien Granchester, die 1556 im Alter von vierundzwanzig Jahren als Hexe verbrannt wurde und deren sterbliche Überreste allen Protesten der Kirche zum Trotz in der Familiengruft ihre letzte Ruhe fanden. Dort hätten sie vermutlich unbeachtet weiter geruht (bis etwa zum Jahr 1990, dem Zeitpunkt, an dem nach Vorausberechnung das Mausoleum der Granchesters über die Klippen stürzen wird), wären nicht von unbekannter Hand seit dem Allerheiligenabend vergangenen Jahres zweimal pro Woche frische Blumen an der Tür des Mausoleums niedergelegt worden.

Die Verbindung mit Allerheiligen könnte an Hexerei denken lassen, und in der Tat sind in Ost-Suffolk Gerüchte in Umlauf, dass in der Gegend von Denwich böse Kräfte am Werk sind. Diesen Vermutungen wurde durch Predigten von Reverend Jonathon Ayers, dem Pastor von Denwich, neue Nahrung gegeben, der von der Kanzel herab vor seiner Gemeinde »unaussprechliche Sünden, die in unserer Mitte begangen werden«, angeprangert hat. Nichtsdestotrotz sind unseren Informationen zufolge die Bewohner von Denwich nicht bereit, diese Vorgänge mit Außenstehenden zu diskutieren. Es werden jedoch ständig mehr Neugierige angelockt. An jedem Wochenende dieses Sommers war die Dorfstraße von Autos verstopft, und oft genug warten lange Menschenschlangen darauf, vor dem blumengeschmückten Hexengrab fotografiert zu werden.

Die dreiundsiebzigjährige Miss Henrietta Granchester, Eigentümerin von Mondisfield Hall in Denwich, kann verständlicherweise über ihre berühmte Vorfahrin keine Angaben machen.

Beide Lokale des Ortes haben an den Wochenenden höchste Umsätze zu verzeichnen!

 

...ausgeschnitten und aus persönlichen Gründen aufbewahrt von Miss Polly Lestrange in Toronto, Kanada.

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Irgendwie verpasste sie die richtige Abzweigung von der Küstenstraße, was neun überflüssige Kilometer bis zu einer fremden Ortschaft und neun Kilometer wieder zurück bedeutete. Sie war erschöpft und müde von der Anstrengung, durch die regenüberströmte Windschutzscheibe in die Dunkelheit zu starren. Allmählich überkam sie das hoffnungslose Gefühl, überhaupt nicht mehr an ihr Ziel zu gelangen. Bis sie endlich den windschiefen Wegweiser entdeckte, der eine schmale, baumbestandene Allee entlang zeigte.

Als sie einen knappen Kilometer auf der Allee zurückgelegt hatte, begann der Motor des kleinen roten Sportwagens zu stottern und blieb dann plötzlich ganz weg. Das Fahrzeug, das sie sich am Vormittag des Tages von einem beredten Gebrauchtwagenhändler in Cambridge hatte aufschwatzen lassen, rollte noch ein kleines Stück die leicht abschüssige Straße entlang, bis es dann in einer breiten Pfütze endgültig zum Stehen kam. Nur noch das Trommeln des Regens auf dem Wagendach war zu hören.

Sie versuchte erneut zu starten, aber es erfolgte nur ein schwaches metallisches Klicken - sonst nichts.

»Typisch für mich«, sagte sie laut vor sich hin, »dass ich mir so ein verdammtes Wrack habe andrehen lassen!« Sie sackte deprimiert gegen das Lenkrad. Ob sie hier für die ganze Nacht festsaß? Wahrscheinlich, sofern der dichte Regen nicht aufhörte. Im Augenblick hatte es nicht den Anschein, als würde er auch nur nachlassen. Vielleicht kam jemand vorbei, der sie mitnahm. Bloß wer war in einer so abgelegenen Gegend in der Nacht noch unterwegs?

Sie tastete im Handschuhfach nach ihren Zigaretten und ihrem Feuerzeug. Das Zigarettenpäckchen gab zwischen ihren Fingern nach und ließ sich zu einem feuchten Kloß zusammendrücken. Am Ende des Handschuhfachs stand zwei Zentimeter tief Wasser. Also war auch die Windschutzscheibe nicht dicht. Wenigstens flammte das Feuerzeug gleich beim ersten Versuch auf. Sie ließ es sekundenlang brennen, warm und merkwürdig beruhigend in der Dunkelheit, die sie umgab.

Ihr Gesicht spiegelte sich in der Windschutzscheibe, dramatisch von unten beleuchtet, so dass ihre Wangenknochen und die dunklen Augenhöhlen besonders betont wurden. Ein paar feuchte Strähnen ihrer schwarzen Haare waren unter dem Chiffonband, das sie um den Kopf trug, hervorgekommen und kringelten sich an beiden Seiten zu Korkenzieherlocken. Es war das Gesicht einer Fremden, völlig unvertraut. Für jemanden, der wie sie ohne konkreten Grund nie recht zufrieden mit ihrem Äußeren gewesen war, eine nicht unangenehme Konfrontation.

»Du siehst gar nicht so schlecht aus, meine Liebe«, stellte sie fest und schüttelte die ungewohnten Seitenlöckchen. Dann ließ sie das Feuerzeug wieder verlöschen. »Wie Lady Macbeth oder eine etwas aufgelöste, aber nicht reizlose Hexe.«

Diese Assoziation verursachte ihr prickelndes Unbehagen, weil ihr dabei eine Stelle aus dem Reiseführer ins Gedächtnis kam. Dieser Landstrich hier war die Sterbende Ecke von England genannt worden. Eine abbröckelnde Küste, die langsam dem hungrigen Meer zum Opfer fiel und dabei ein Jahrtausend Geschichte mitnahm.

Der Kies des Strandes, der irgendwo im Dunklen vor ihr lag, hatte oft unter den Kielen von Wikinger-Langschiffen geknirscht, die gekommen waren, um Feuer, Plünderung und wilde Nordmänner zu bringen. Römische Legionäre hatten sich eben diese Straße entlangbewegt, während ihre Karrenräder durch die Furchen geholpert waren. Briten gegen Römer, Angelsachsen gegen die Männer aus dem Norden - sicher gab es hier im Umkreis von Meilen kein Stückchen Erde, in dem keine alten Gebeine lagen. Die Gebeine erschlagener Männer und vergewaltigter Frauen.

Und die verkohlten Gebeine verbrannten Hexen. Die Zeitung war die ganze Woche lang voll gewesen davon: Den Hexenglauben in East Anglia hatte es bereits im frühen Mittelalter gegeben, und dem Vernehmen nach existierte er noch immer - genährt von Aberglauben und Isolation, von gedankenloser Inzucht und angeborenem Schwachsinn...

Ein Windstoß fuhr durch die überhängenden Äste und ließ eine neue Ladung dicker Tropfen herunterprasseln. Und im gleichen Augenblick wusste sie, dass sie es keinesfalls die ganze Nacht hier in dieser Einsamkeit würde aushalten können.

Sie war gerade aus dem Wagen gestiegen und dabei, ihren Koffer vom Rücksitz zu hieven, als sie das sonore Brummen einer hochtourigen Maschine vernahm und die Scheinwerfer eines näherkommenden Wagens bemerkte.

Es war ein weißer Jaguar E-type, der großäugig wie ein Hai aus der Dunkelheit tauchte, ohne das Tempo zu mindern. Sekundenlang befürchtete sie schon, er würde überhaupt nicht anhalten. Aber das war natürlich kaum möglich. In einer Nacht wie dieser würde bestimmt niemand an einem Mädchen vorbeifahren, das eine Panne hatte. Sie trat zur Straßenmitte und winkte heftig. Der Jaguar bremste mit leichtem Schleudern.

Sie ging zur Fahrerseite, während das Fenster heruntergekurbelt wurde.

»Was ist los? Haben Sie kein Benzin mehr?« Eine kultivierte Stimme, ein angenehmer Bariton, aber sie konnte das Gesicht nicht erkennen.

»Nein. Der Motor hat seinen Geist aufgegeben. Ich fürchte, der Schaden ist ziemlich erheblich. Ob Sie mich wohl mitnehmen könnten? Ich will nicht weit. Nur nach Mondisfield Hall.«

»Nach Mondisfield? Selbstverständlich. Steigen Sie ein.«

Er öffnete die Tür zum Beifahrersitz, und die Innenbeleuchtung zeigte ihr einen elegant gekleideten Mann von Mitte Dreißig mit blauen Augen, einem blassen Teint und semmelblonden, seitlich gescheitelten Haaren. Er trug einen schwarzen Schlips mit hellblauen Diagonalstreifen, in seinem Knopfloch steckte eine dunkelrote kleine Nelke.

Mit dem Zuklappen der Tür verlosch die Innenbeleuchtung wieder. Nur noch das grünliche Licht vom Armaturenbrett fiel auf sein Profil, als er sich vorbeugte und den Gang einlegte.

»Haben Sie die Absicht, hierzubleiben?«, erkundigte er sich. »In Mondisfield?«

»Zumindest für eine Weile.«

»Ich bin ein Nachbar«, erläuterte er. »Wir haben ein Wochenendhaus auf den Klippen oberhalb des Dorfes. Mein Name ist übrigens Hugo Fettes.«

»Ich heiße Polly Lestrange.«

»Ah! Die Dame aus Kanada. Wir haben schon von Ihnen gehört.« Als sie ihn überrascht anblickte, lächelte er. »Miss Granchesters kanadische Verwandte. Verwandtschaftliche Beziehungen bleiben in einem Ort wie Denwich nicht verborgen, wo jeder, selbst Wochenendler, über den anderen sozusagen Buch führt.«

»Dann kennen Sie also meine Großtante und Mondisfield?«

»Vor dem Haus nur, soviel man durch die Bäume erspähen kann«, erwiderte Fettes. »Ein herrlicher alter Kasten. Natürlich ist mir aber Miss Granchester vom Sehen bekannt. Wir nicken uns zu und grüßen uns. Wie es heißt, soll sie im Moment nicht auf dem Posten sein.«

»Sie ist sehr, sehr krank«, versetzte Polly Lestrange ruhig.

»Oh! Das tut mir aufrichtig leid«, sagte er. »Wir hatten zwar gehört, dass sie das Bett hüten muss, aber wir dachten, es sei nichts Ernstes. Ist es das Herz?«

»Ja. Und dazu kommt das Alter.«

»Meine Frau wird es auch bedauern, wenn ich es ihr erzähle«, meinte er. »Vielleicht hat sie es schon heute Nachmittag bei ihrer Ankunft erfahren. Ich konnte leider nicht früher weg. Bitte richten Sie Miss Granchester unsere besten Genesungswünsche aus.«

»Vielen Dank. Das werde ich gern tun.«

Die Straße beschrieb eine Kurve, und gleich darauf hielt der Jaguar vor einer offenstehenden hohen Eisenpforte an, deren Flügel an wuchtigen, von heraldischen Falkenköpfen gekrönten Steinpfosten hingen.

»Ich würde Sie ja gern bis direkt vors Haus bringen«, sagte Fettes entschuldigend. »Aber die Hinterachse dieses Wagens liegt so niedrig, dass ich die holperige Auffahrt nicht schaffe. Es tut mir leid, Sie werden scheußlich nass werden. Aber einen Augenblick...« Er fasste auf den Rücksitz, der mit Gepäckstücken beladen war, und zog einen Regenschirm hervor. »Wenigstens den kann ich Ihnen zur Verfügung stellen«, sagte er.

Sie stieg aus und schaffte es glücklicherweise auf Anhieb, den Schirm aufzuspannen. Dann beugte sie sich vor und reichte Fettes die Hand.

»Vielen, vielen Dank. Sie haben mir wirklich sehr geholfen. Den Schirm bringe ich Ihnen so bald wie möglich zurück.«

»Das hat keine Eile«, wehrte er ab. »Ich besitze einen Schirm für jeden Wochentag. Übrigens werde ich morgen früh als erstes bei der Ortswerkstatt vorbeifahren und Bescheid sagen, damit Ihr Wagen abgeschleppt und repariert werden kann.«

»Sehr freundlich von Ihnen«, bedankte sie sich. »Ohne Sie wäre ich vollkommen aufgeschmissen gewesen. Gute Nacht.«

»Gute Nacht.« Fettes rollte auf die Straße zurück, hupte einmal kurz und verschwand in Küstenrichtung.

Sie wartete, bis sie die Rücklichter des Wagens nicht mehr sehen konnte - dann setzte sie sich in Marsch, die lange holprige Auffahrt zu Mondisfield Hall entlang.

 

Ihre Schritte auf dem Kies klangen unnatürlich laut über das monotone Rauschen des Regens hinweg. Vereinzelt platschten dicke Tropfen aus den überhängenden Zweigen der mächtigen Ulmen zu ihrer Linken auf den Regenschirm. Rechts lag eine eingezäunte, verwilderte Koppel, hinter der sich die Umrisse eines kleinen Wäldchens abzeichneten. Aus dem Wäldchen klang der Ruf einer Eule herüber.

Ein Geruch stieg ihr in die Nase, den sie später immer mit Mondisfield in Verbindung brachte - der modrige Geruch abgestorbener Pflanzen, welker, verwesender Blätter und morschem Holz.

Sie sah das Haus. Die Auffahrt machte eine letzte Biegung, und dann ragte das spitze Dach in den Himmel, wie der umgestülpte Rumpf eines gestrandeten Segelschiffs. Alles war stockdunkel.

Das Gelände senkte sich zu einem breiten Graben hinab, in dem Wasser schimmerte. Über dem Wassergraben führte eine Steinbrücke mit von Brombeergestrüpp und Efeu überwuchertem Geländer. Etwa fünfzig Meter dahinter, am Ende eines gepflasterten Weges, der durch eine ungemähte Rasenfläche führte, stand Mondisfield Hall.

Ein elisabethanisches Monstrum von Gebäude, drei Stockwerke hoch, mit Giebeln und Schornsteinen an allen Ecken und Enden. Die Fassade war ein kompliziertes Gewirr von Fachwerkbalken, unterbrochen von zahlreichen Fenstern unterschiedlicher Größe und Form.

Sie schauderte zusammen - und überquerte die Brücke. Den Blick starr auf den überdachten Vorbau des Hauses gerichtet, steuerte sie schnell darauf zu.

Sie musste noch zwei Stufen nehmen, dann stand sie vor einer alten, mit rostigen Nägeln verzierten Doppeltür. Der Türklopfer stellte eine Löwenmaske dar, aus deren geöffnetem Maul ein Ring baumelte. Sie schloss den Regenschirm und lehnte ihn gegen die Wand. Dann hob sie zaghaft den Ring und ließ ihn niederfallen. Dreimal.

Der Klang von Eisen auf Eisen dröhnte hohl durch das Haus. Sie strich sich eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht und wartete.

Es waren keine Schritte zu hören. Alles blieb still. Dennoch wurden plötzlich schwere Riegel zurückgeschoben, die Tür öffnete sich knarrend einen Spaltbreit, und ein Augenpaar hinter dicken Brillengläsern spähte heraus.

Die Augen musterten sie etwa eine halbe Minute lang, während Polly kein Wort hervorbrachte.

Also, wenn Sie es sind, dann sagen Sie doch etwas. Damit ich wenigstens Bescheid weiß.« Es war eine raue, nörgelnde Stimme, die da sprach. »Nun los! Machen Sie den Mund auf!«

»Mein Name ist Lestrange«, begann Polly. »Ich hatte eigentlich gehofft, viel früher einzutreffen, aber ich hatte Schwierigkeiten mit...«

»Aber jetzt sind Sie da!« Die Brillengläser verschwanden, und die Tür wurde aufgerissen. »Und nun kommen Sie herein.«

Polly betrat eine große Halle mit Steinfußboden, die nur von dem spärlich flackernden Feuer in dem breiten Kamin an der gegenüberliegenden Wand erhellt wurde. Sie versuchte, beeindruckt, die Ausmaße des Raums abzuschätzen. Die rautenförmig gefassten Fenster, schwarz gegen die dunkle Nacht, reichten bis hoch zur Decke.

»Das ist ja atemberaubend«, flüsterte sie.

Hinter ihr wurden die Riegel wieder vorgeschoben. Polly wandte sich um.

»Bis kurz nach neun hatte ich noch etwas zu Essen für Sie bereit. Dann habe ich es, bevor es ganz verbrannt ist, den Katzen gegeben. Ist das Ihr ganzes Gepäck?«

Die Stimme gehörte einer Frau von gedrungener Gestalt mit männlich kurz geschnittenen grauen Haaren. Sie schlurfte auf karierten Filzpantoffeln an Polly vorbei und bemächtigte sich des Koffers.

»Eine Tasse Kakao können Sie noch haben, wenn Sie wollen. Aber keinen Alkohol. Den duldet sie in diesem Haus nicht.«

 

Sie war Emma Chesham - Miss Emma Chesham, wie sie ausdrücklich betonte, Haushälterin und Lebensgefährtin von Großtante Granchester seit siebenunddreißig Jahren. Und was für schöne Zeiten sie miteinander erlebt hatten, bevor Henrietta - Miss Granchester - diese Herzbeschwerden bekommen hatte, berichtete sie. Ihr schroffer, ablehnender Ton wich einer gewissen Sanftheit, als sie eine auf Pappkarton aufgezogene Fotografie hervorkramte, unter der in eingestanzter Silberschrift Le Lido, Paris zu lesen war. Das Foto zeigte zwei nicht mehr junge Frauen in Cocktailkleidern nach der Mode der dreißiger Jahre an einem Tisch mit Champagnergläsern. Miss Chesham war nicht zu verkennen, wenn ihre Haare auch noch eine dunkle Farbe hatten. Ihre kräftige Hand lag beschützend über die Hand ihrer Gefährtin gebreitet. Von Henrietta Granchester war allerdings nicht mehr zu sehen als ihr gesenkter Kopf, da sie in ihr Glas starrte.

»Das war 1935 in Paris«, schwärmte Miss Chesham. »Wir waren zu den Rennen in Longshamps hinübergefahren. Es war eine herrliche Woche, das können Sie mir glauben. Prickelnd wie Champagner.«

Polly nickte. »Wie Sie vielleicht wissen, habe ich meine Tante noch nie gesehen«, murmelte sie.

Sie befanden sich in einem großen Wohnraum neben der Halle. Ein abgetretener Perser bedeckte die dunklen Eichendielen, ein schaurig-schönes geschnitztes viktorianisches Sideboard mit einem Spiegel darüber zierte die Wand gegenüber dem Kamin. Die Kaminwand selbst bestand aus rußgeschwärzten Ziegeln, bis zu den schweren Deckenbalken hoch mit gekreuzten Schwertern und Degen behängt.

Miss Chesham nahm das Foto wieder an sich und legte es dann behutsam neben sich auf das Sofa. Zwei riesige Katzen - eine schwarze und eine siamesische - hockten nebeneinander auf der Sofalehne und verfolgten mit den Blicken jede Bewegung.

Pollys Bemerkung hing in der Luft, aber Miss Chesham reagierte nicht darauf. Sie starrte auf ihre Hände hinab, und Polly bemerkte voller Mitleid, dass in ihren kurzsichtigen Augen Tränen standen.

»Es tut mir so leid, Miss Chesham. Für Sie muss es besonders schrecklich sein. Besteht denn noch Hoffnung?«

Der Kopf mit den kurzgeschnittenen grauen Haaren flog hoch. »Sie ist noch nicht tot! Noch lange nicht!«, fauchte Miss Chesham erbittert. »Falls Sie die Absicht hierzubleiben und ihr Ende abzuwarten, werden Sie mehr brauchen als ein kleines Köfferchen!« Es war völlige Ablehnung und Feindseligkeit.

Sie musterten sich sekundenlang schweigend, wobei die alte Frau das Kinn kriegerisch vorreckte. Zum Schluss war es Polly, die den Blick abwandte.

»Ich nehme an, ich werde sie begrüßen können«, sagte sie ruhig.

»Nein«, versetzte Miss Chesham.

»Auch nicht morgen, irgendwann im Laufe des Tages?«

»Sie schläft die ganze Zeit«, erläuterte Miss Chesham. »Und sie soll nicht gestört werden. So lauten meine Anweisungen. Wenn Sie sich mit dem Arzt herumstreiten wollen, ist das Ihre Angelegenheit.« Sie stand auf und stellte die leeren Tassen auf ein Tablett. »Ich werde Ihnen jetzt Ihr Zimmer zeigen. Es ist schon spät, und ich muss morgens früh anfangen, wenn ich in diesem Haus mit der Arbeit durchkommen will.«

Sie durchquerten gemeinsam die große, düstere Halle, an deren Ende eine breite Treppe nach oben führte. Polly unternahm einen Versuch, die alte Frau wieder versöhnlich zu stimmen.

»Dieses Haus ist wirklich phantastisch«, sagte sie mit einer unbestimmten Handbewegung. »So etwas sieht man sonst höchstens im Kino. Einfach unwahrscheinlich! Was sich in diesen Mauern schon alles abgespielt haben mag. Kein Wunder, dass die Leute von Gespenstern und Hexen reden...«

Miss Chesham betätigte einen Lichtschalter, worauf ein Kronleuchter über dem ersten Treppenabsatz aufflammte. Als sie sich umwandte, war ihr Gesicht zornverzerrt.

»Es wird leider viel zu viel geredet!« schimpfte sie aufgebracht. »Vor allem, seitdem auch noch dieser Narr von einem Pastor von der Kanzel herunter dummes Zeug faselt, so dass hier die Leute dutzendweise mit ihren Fotoapparaten aufkreuzen. Aber denen zeige ich schon, was Hexerei ist. Das können Sie mir glauben. Die ziehen ab wie die begossenen Pudel.«

Polly folgte ihr eingeschüchtert die Treppe hinauf. Unter dem Kronleuchter blieb Miss Chesham stehen und wies mit dem Kopf auf ein paar Stufen, die rechts zu einem kleinen Flur empor führten.

»Henriettas Zimmer liegt dort oben«, flüsterte sie. »Und ich schlafe gleich daneben.« Sie wandte sich ab, um weiter hinaufzusteigen. »Ihr Zimmer befindet sich einen Stock höher.«

Es fiel ihr oben sofort ins Auge: das lebensgroße Porträt eines jungen Mädchens, in die steife Mode des sechzehnten Jahrhunderts gekleidet, mit einem breiten Rüschenkragen und der dreieckigen Tudor-Haube auf dem Kopf. Große, dunkle Augen blickten ausdruckslos aus dem ovalen Gesicht mit den hohen Wangenknochen...

Ihr eigenes Gesicht - das von Polly Lestrange!

Miss Chesham, die sich an einem Türgriff zu schaffen machte, sagte: »Also, das ist nun Ihr Zimmer.« Erst als sie sich umdrehte, bemerkte sie, was Pollys Aufmerksamkeit gefesselt hatte. »Oh, Sie haben sie also schon bemerkt, wie? Die Reporter von den Londoner Zeitungen waren hier und wollten das Porträt fotografieren. Aber ich habe sie genauso zum Teufel geschickt wie alle anderen.«

Sie trat neben Polly und betrachtete ebenfalls das gemalte Gesicht. »Sie sieht Ihnen ähnlich. Sie beide könnten Schwestern sein.«

»Julien Granchester!«

»Ja, das ist sie«, bestätigte Miss Chesham. »Sie wurde damals als Hexe verbrannt.«

  Zweites Kapitel

 

 

Polly öffnete die Augen, weil sie im Halbschlaf ein schwaches Geräusch gehört hatte - einen hohen, piepsenden Laut, ähnlich wie der Ruf eines kleinen Vogels. Vielleicht hatte sie aber auch bloß geträumt, dachte sie noch ein wenig benommen.

Sie schlüpfte aus dem Bett und ging auf das Fenster zu, um einen ersten Blick bei Tageslicht auf ihre neue Umgebung zu werfen. Nach drei Schritten traf sie jedoch mit dem Rist ihres rechten Fußes auf etwas Weiches, Nachgiebiges. Sie hörte erneut den schrillen Laut aus ihrem Halbschlaf.

Das Ding bewegte sich, sobald sie mit einem Entsetzensruf den Fuß hob. »Oh, mein Gott! Wie ekelhaft!«

Es war eine kleine Fledermaus, zu einem Häufchen zusammengekauert, die ledrigen Flügel angezogen, die unwahrscheinlich langen Ohren gespitzt. Das Tier drehte den Kopf, um sie anzublicken. Es lag Boshaftigkeit in dem hässlichen, winzigen Gesicht mit dem geöffneten rosa Maul, das die stecknadelscharfen Zähne zeigte. Die Fledermaus schrie erneut.

Polly wich zurück und starrte zu den Deckenbalken empor. Von dort musste sie heruntergefallen sein. Vielleicht würde sie wieder zurückfliegen. Der Gedanke, das Vieh könnte durch das Zimmer flattern und sich womöglich in ihren Haaren verfangen, ließ sie aktiv werden. Auf ihrem geöffneten Koffer lag eine Illustrierte. Die nahm sie in die Hand und schlich zu der Fledermaus zurück. Der kleine Kopf zuckte bei dem Geräusch herum, so dass sie sich zwang, nicht genau hinzuschauen, als sie das dunkle Häufchen hastig mit der Illustrierten aufnahm und zum Fenster trug. Der Riegel klemmte ein wenig, ließ sich dann Gott sei Dank jedoch ziemlich leicht öffnen. Sie kippte die Fledermaus auf das Sims draußen und schloss dann hastig das Fenster.

Sie schaute vom zweiten Stock des alten Hauses über den Rasen und den gepflasterten Weg, der zur Brücke führte. Links war der Rasen von einer überwucherten Blumenrabatte und einer bemoosten Ziegelmauer begrenzt, hinter der dicke Dolden verblühter Kletterrosen von hohen Spalieren hingen. Am Ende dieses Rosengartens, jenseits der Mauer, stand ein Sommerhäuschen mit Kuppeldach und Wetterfahne, von dem die Farbe abblätterte. Rechts war alles hinter einer dicken unbeschnittenen Taxushecke verborgen. Eine träge Ruhe lag über dem Ganzen. Nur ein einsamer Schwan schaukelte auf dem schiefergrauen Wasser des Grabens und zupfte mit dem Schnabel an seinem Gefieder.

Eines Tages wird das alles mir gehören, dachte sie. Aber - will ich es eigentlich?

Die Fledermaus schien mit ihrem neuen Platz nicht unzufrieden zu sein. Polly wandte sich um, nahm ihren Morgenrock und ging ins Badezimmer auf der anderen Seite des Flurs.

Als sie sich eine Viertelstunde später, frisch gebadet und angezogen, die Haare kämmte, hörte sie aus der großen Halle unten Stimmen heraufschallen.

»Wenn sie Verlangen nach Ihnen hätte, würde sie mir das gesagt haben. Das ist doch wohl klar, oder?« Miss Cheshams Stimme klang verächtlich.

»Nun denn, Miss Chesham, da Sie mich nicht zu ihr lassen wollen, dürfte ich Sie dann wenigstens bitten, ihr ein Briefchen zu geben?« Es war eine Männerstimme, sonor und mit gepflegtem Ausdruck, aber schüchtern klingend.

»Es geht nicht darum, was ich will oder nicht will. Der Arzt sagt, sie soll unter keinen Umständen gestört werden.«

»Darf ich also einen Brief hierlassen?«

»Wie Sie wollen. Ich weiß aber nicht, wann sie in der Lage sein wird, Ihren Brief zu lesen.«

»Ich... ich schreibe ihn gleich. Ich habe Papier und Umschläge im Wagen.«

»Bitte sehr. Ich muss mich jetzt um das Frühstück kümmern. Wir haben einen Gast im Haus.«

Polly hörte, wie eine Tür zugeschlagen wurde. Dann kam der Mann die Stufen des überdachten Vorbaus herunter. Polly sah vom Fenster aus eine hochgewachsene Gestalt mit gesenkten Schultern auf einen schwarzen Mini zugehen, der auf dem freien Platz vor der Haustür geparkt war. Der Mann hatte dichte graue Haare und trug einen schwarzen Anzug. Als er um den Wagen herum zur Fahrerseite ging, erkannte Polly den typischen Stehkragen des Geistlichen.

Aus einem Impuls heraus rannte sie die Treppe hinunter.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Carola Salisbury/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Sigrid Kellner (OT: Flowers For A Dead Witch).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 07.03.2022
ISBN: 978-3-7554-0924-3

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