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Leseprobe

 

 

 

 

CRAIG RICE

 

 

Die große Verwirrung

 

Ein Roman und sechs Erzählungen

 

 

 

 

Apex Noir, Band 19

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

1. DIE GROSSE VERWIRRUNG 

2. DIE ERMORDUNG EINES GEWISSEN MR. MALONE 

3. KEINER KANN ERMESSEN, WAS ICH VERLOR 

4. DIE VÖGEL VERRIETEN ES 

5. ER WAR DIE GANZE NACHT WEG 

6. MORGEN IST WIEDER EIN ANDERER TAG 

7. WER SEIN GLÜCK ÜBERFORDERT 

 

 

Das Buch

Wenn man einen Mann aus Gründen einer beinahe ehrenwerten Erpressung entführt, muss man dabei eine bestimmte Etikette befolgen: Man sollte sich zum Beispiel kein Geld aus der Hosentasche des Entführten borgen; man sollte ihm regelmäßig zu Essen geben; und man darf gewiss nicht zulassen, dass er ermordet wird. Das war es, was Bingo und Handsome dachten, zumindest so lange, bis ihr schönes Projekt von Leichen, schönen Mädchen, Pistolenhelden und langen, glänzenden Messern völlig durcheinandergebracht wurde...

 

Craig Rice (eigentlich Georgina Ann Randolph Craig; geboren am 05. Juni 1908; gestorben am 28. August 1957) war eine US-amerikanische Schriftstellerin. Sie galt als »Dorothy Parker des Detektiv-Romans.« 

Dieser Band enthält den Roman Die große Verwirrung (1942) sowie sechs Erzählungen, die erstmals im Jahre 1958 veröffentlicht wurden. 

Der Apex-Verlag veröffentlicht Die große Verwirrung in seiner Reihe APEX NOIR, in welcher Klassiker des Hard-boiled- und Noir-Krimis als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden. 

  1. DIE GROSSE VERWIRRUNG

 

 

 

Erstes Kapitel

 

 

Ein Polizeiauto raste mit heulender Sirene wie wahnsinnig am Central-Park West entlang, und die Tauben am Fuß des Bolivar-Hügels erhoben sich in einer lärmenden und protestierenden Wolke. Eine Minute später kehrten sie beruhigt zurück, und der kleine Mann in dem unauffälligen grauen Anzug fuhr fort, sie zu füttern.

Bingo Riggs fotografierte eine umfangreiche Frau in einem geblümten Kleid, während sein Partner Handsome Kuzak sie mit einer Postkarte bedachte und sagte: »Sehen Sie, wie Sie in der Wochenschau aussehen würden, Ma’am. Eine Aufnahme mitten aus dem Leben...« Er brach plötzlich ab, als die Frau die Karte fallen ließ und sich außer Hörweite entfernte.

Handsome seufzte, hob die Karte auf, blies den Staub ab und steckte sie wieder zu den anderen. »Es ist grässlich heiß. Wie wär’s mit einem Bier?«

»Um ein Uhr am Sonntag! Du bist nicht bei Trost.« Bingo zielte mit der Kamera auf ein Paar, das den Weg entlangkam, blickte dann genauer hin und überlegte es sich anders.

Das kleine Weg-Dreieck am Fuß des Bolivar-Hügels wimmelte von Spaziergängern und Touristen und war von Erdnussschalen, Zigarettenstummeln und Papierfetzen übersät. Aber das Geschäft war trotz des Gedränges schlecht gewesen. Vielleicht, so dachte Bingo, lag es an der Hitze.

»Soll ich jetzt die Kamera nehmen?«, fragte Handsome sehnsuchtsvoll.

Bingo schüttelte den Kopf. Wenn sie zusammen arbeiteten, oblag es Handsome, die Karten auszuteilen, obwohl er von den beiden der Berufsfotograf war. Doppelt so viele Frauen nahmen die Karte von Handsome entgegen und erinnerten sich auch daran, sie mit einem halben Dollar für die Aufnahme einzuschicken.

»Ich mache keine so guten Bilder wie du«, sagte Bingo.

»Aber andererseits bin ich auch nicht ein Meter fünfundachtzig groß, und ich habe weder welliges dunkles Haar noch einen Schimmer in den Augen.«

»Quatsch!«, sagte Handsome. »Ich hab’ überhaupt keinen Schimmer in meinen Augen.« Er errötete.

»Ich hab’ schon einen«, sagte Bingo. »Bloß sieht ihn keiner.« Er wollte, er wäre nicht klein und mager gewesen und hätte kein sandfarbenes Haar und ein scharfes, mageres Gesicht gehabt.

Er zielte mit der Kamera auf eine Familie, die ihn ignorierte. Zwei kichernde Sekretärinnen akzeptierten eine der Karten.

»Damit wären es für heute zwei«, sagte Handsome düster. »Ich wollte, wir hätten die andere Kamera.«

»Wir werden sie nächste Woche im Leihhaus abholen«, versprach Bingo. Gedankenverloren blickte er auf seinen Partner, kramte in seiner Tasche und holte eine Münze heraus. »Na schön, bring zwei Flaschen Bier mit. Ich arbeite solo, bis du zurück bist.«

Handsomes Gesicht hellte sich auf, er nahm das Geldstück und verschwand in Richtung Straße. Bingo machte ein Paar ausfindig, das den Famous Guide to New York studierte, machte schnell eine Aufnahme und sagte: »Schicken Sie Ihr Foto Ihren Leuten nach Hause - eine Aufnahme am Fuß des Bolivar-Hügels im Central Park.« Der Mann nahm die Karte, lächelte und steckte sie in die Tasche. Bingo lächelte zurück und hielt nach anderen Touristen Ausschau.

Hinter ihm sagte die Stimme einer Frau: »Schau, Elaine, das hier ist genau der Fleck, von dem Mr. Taube am nächsten Sonntag vor sieben Jahren verschwunden ist...«

Bingo fuhr herum, ließ die Kamera klicken und reichte der Frau eine Karte. »Ein wirkliches Souvenir«, sagte er. »Eine Aufnahme von Ihnen an genau demselben Fleck, an dem Mr. Taube verschwunden ist.«

»Oh«, sagte die Frau. Sie nahm die Karte, blickte sie an und steckte sie in die Tasche.

Als sie weggegangen war, knipste Bingo eine Touristenfamilie, überreichte ihnen eine Karte und sagte: »Dies hier ist der Fleck, an dem Mr. Taube am nächsten Sonntag vor sieben Jahren verschwunden ist. Sicher wollen Sie Ihr Foto als Souvenir...«

Drei Fotos später hatte er sich bereits zu »Eines der großen Mysterien des Jahrhunderts, Herrschaften« auf geschwungen. - »Nächsten Sonntag vor sieben Jahren.« Oder zu »Wer weiß, wohin Mr. Taube verschwunden ist? Nächsten Sonntag vor genau sieben Jahren war es, als - Augenblick, Lady, Ihr Foto...«

Es dauerte zwanzig Minuten, bis Handsome mit dem Bier zurückkehrte. Bingo wischte sich die Stirn, schwang die Kamera über die Schulter und ging voran den Weg und die Steintreppen hinauf, die zu der Statue Simon Bolivars führten. Eine der Bänke oben war unbesetzt. Bingo sank darauf nieder und starrte auf ein mit Kreide auf den Weg gekritzeltes Gedicht, das, wie er vermutete, auf Spanisch abgefasst war. Das Wort libertador war das einzige, was er erkennen konnte, aber es reichte ihm.

Er öffnete die Bierflasche, entfernte die Zigarette, die im linken Mundwinkel an seiner Unterlippe geklebt hatte, und nahm einen tiefen Schluck.

Handsome öffnete seine Flasche. »Wie ging das Geschäft?«

»Prima!«, sagte Bingo. »Es sind nur noch zwei Aufnahmen im Apparat, und ich habe keine Karten mehr. Sag mal, wer zum Teufel war eigentlich Mr. Taube und was ist mit ihm passiert?«

Handsome schloss für ein paar Sekunden die Augen. »Dreizehnter August 1954. Ein Freitag. Die Story kam in der zweiten Ausgabe. Seite drei, Spalte zwei. In der letzten Ausgabe war es auf Seite eins mit einem zweispaltigen Foto, das Louie Jenk von der Statue hier oben gemacht hat.«

Bingo seufzte und wartete. Handsomes Gehirn arbeitete nun mal auf diese Weise. Und Handsome vergaß niemals etwas.

»Ich habe damals bei den News gearbeitet«, fuhr Handsome fort. »Und am nächsten Tag, am vierzehnten August, habe ich dreißig Dollar verloren, die ich auf ein Pferd namens Sweet Marie gesetzt hatte, und Mr. Taubes Partner sagte, er glaube, Mr. Taube sei gekidnappt worden. Es war mitten in einer Hitzewelle. Mr. Taubes Partner hieß Harkness Penneyth. Ich sollte ihn damals aufnehmen, aber er wollte nicht. Seine Telefonnummer war Columbus 7-46-42. Das war in der Woche, als die Schwiegermutter des Lokalredakteurs starb, sie war eine O’Sullivan. Am 16. August setzte die Versicherungsgesellschaft eine Belohnung von 20.000 Dollar für den aus, der Mr. Taube finden würde. Mr. Taube hatte sich hoch versichern lassen, für eine Million, zahlbar an seinen Partner. Ein Haufen Geld.«

»Du faszinierst mich«, sagte Bingo. »Aber wie hieß die Schwiegermutter des Redakteurs mit Vornamen?«

Handsome sah überrascht und leicht verletzt drein. »Geraldine«, sagte er. »Ich dachte nicht, dass dich das interessiert.« Er schloss wieder für ein paar Sekunden die Augen. »Siebzehnter August. Das war der Tag, an dem ein Raubüberfall auf einen Panzerwagen in Brooklyn verübt wurde. Die Beute betrug 427.950 Dollar.«

»Auch ein Haufen Geld«, sagte Bingo. »Aber was hat das mit Mr. Taube zu tun?«

Handsome blinzelte. »Nichts. Es ist mir nur gerade eingefallen. Es geschah Ecke Neunzehnte und Bay Street.«

»Du bist eine Wucht«, sagte Bingo bewundernd und griff nach der Bierflasche.

»Ich habe ein gutes Gedächtnis«, bestätigte Handsome bescheiden.

»Nur«, fügte Bingo hinzu, »weiß ich immer noch nicht, was mit diesem Taube passiert ist, der heute unseren Geschäftsgang so gehoben hat.«

»Das weiß niemand«, sagte Handsome im Ton der Überraschung. »Du solltest gelegentlich mal Zeitung lesen. Heute Morgen stand alles im Mirror. Auch ein Foto von Mr. Taube. Wenn er bis zum nächsten Sonntag nicht auftaucht, bekommt sein Partner die Million von der Versicherung.«

Bingo stand auf. »Dein Gedächtnis ist wundervoll, aber du hast keinerlei Zeitsinn. Absolut keinen Geschäftsinstinkt.«

Handsome sah bekümmert auf. »Hab’ ich was falsch gemacht?«

»Warum zum Kuckuck hast du mir das nicht alles erzählt, bevor wir hier anfingen? Wir hätten diese Karten schon vor einer Stunde loshaben können.«

»Du meinst«, sagte Handsome in erstauntem Ton, »die Leute wollen hier ihre Fotos haben, weil Mr. Taube...?«

Bingo blickte ihn an und schüttelte den Kopf. »Ein Wunder, dass du solange am Leben geblieben bist. Los, gehen wir nach Hause.«

Sie durchquerten den Central Park West, gingen ein paar Häuserblocks am Park entlang, wandten sich nach Westen, liefen einige weitere Blocks und langten vor einem anspruchslosen Haus aus rotbraunem Sandstein, unmittelbar neben Morrie Gelbergs Shamrock Tavern, an. Ein hübsches schwarzhaariges Mädchen in hellgrünen Hosen saß auf der Treppe, die zur Haustür führte, und Bingo blieb stehen.

»Das Geschäft ging gut heute.«

Sie rümpfte die Nase. »Ma wird sicher entzückt sein, wenn sie es hört.«

Bingo runzelte die Stirn. »Sagen Sie ihr, wir zahlen ihr morgen bestimmt was. Verdammt noch mal, so viel Miete schulden wir ihr gar nicht. Sie hat nur kein Vertrauen ins Geschäft.«

»Wenn sie das hätte«, sagte das Mädchen, »würden wir alle verhungern.« Sie lächelte Handsome zu.

Bingo wollte antworten, überlegte es sich anders und stieg die Stufen empor. Im Vorraum blieb er stehen und wollte den Briefkasten öffnen, auf dem Internationale Foto-, Film- und Fernsehgesellschaft von Amerika, Riggs und Kuzak stand.

»Es ist Sonntag«, erinnerte ihn Handsome.

Bingo seufzte und ging vor ihm die schäbige Treppe zum zweiten Stock hinauf. Die winzige Zweizimmerwohnung war heiß und stickig. Bingo reichte Handsome mit einer Hand die Kamera und begann mit der anderen, sich auszuziehen.

»Wir entwickeln sie jetzt«, verkündete er. »Diese Karten werden schnell hereinkommen.«

Handsome warf einen unglücklichen Blick auf die Dunkelkammer, die zugleich Badezimmer war. Sie war heiß wie eine Warmluftheizung und völlig ohne Belüftung.

»Na gut, hol erst Bier«, sagte Bingo, in seiner Tasche kramend. »Vier Flaschen.« Er zog sein tropfnasses Unterhemd aus. »Himmel, ich wollte, ich könnte ein Bad nehmen!«

»Kannst du nicht«, sagte Handsome. »Die Wanne ist voller Abzüge, die trocknen sollen.« Er steckte das Geld ein und verschwand.

Das Badezimmer roch nach Chemikalien. Es roch immer nach Chemikalien. Bingo ging zu der umgebauten Kleiderkammer, die als Küche diente, füllte den Ausguss mit kaltem Wasser und wusch sich von Kopf bis Fuß mit dem Schwamm ab. Dann zog er eine weiß-blau gestreifte Unterhose an und ließ sich auf dem durchhängenden Sofa nieder. Er hob die Sonntagszeitung vom Teppich auf.

Handsome kehrte mit dem Bier zurück, stellte zwei Flaschen und ein Glas neben Bingo, holte den Öffner aus der Küche, reichte Bingo die Zigaretten und verschwand dann in der improvisierten Dunkelkammer.

Bingo streckte sich wie eine Katze und seufzte zufrieden. Wenn man den richtigen Fleck auf dem Sofa fand, war es beinahe bequem, und das Geschäft war gut gegangen.

»Mit meinem Grips«, murmelte er, »und Handsomes Aussehen werden wir reich werden.« Er schlug die Zeitung auf. Sein Blick fiel auf das Foto eines kleinen, lächelnden, sehr durchschnittlich aussehenden Mannes in einem Derbyhut. Mr. Taube. Haben Sie diesen Mann in den letzten sieben Jahren gesehen?, lautete die Unterschrift.

»Ich nicht«, sagte Bingo. Er begann zu lesen.

Mr. S. S. Taube war der Name des Mannes, aber die Zeitung bezeichnete ihn als die Sonntagstaube, weil er die Sonntagnachmittage damit verbrachte, am Fuß des Bolivar-Hügels im Central Park die Vögel zu füttern, mit denen er seinen Namen teilte. Zwanzig Jahre lang, wurde verkündet, Sommer und Winter, bei Regen und Sonnenschein, erschien die Sonntagstaube an seinem wöchentlichen Standort mit Tüten voller Körner und Brotkrumen. Die Woche über war die Sonntagstaube ein erfolgreicher Importeur orientalischer Antiquitäten gewesen, Teilhaber der Firma Taube & Penneyth.

Dann, zum letzten Mal seit zwanzig Jahren, war Mr. Taube an einem Freitag an seinem Stammplatz erschienen. An einem Freitag, dem 13. August 1954. Er hatte dort den Nachmittag zugebracht und seine geliebten Tauben gefüttert. Seither hatte ihn niemand mehr gesehen.

Am nächsten Sonntag, dem 13. August 1960, sollte die Sonntagstaube offiziell für tot erklärt werden und sein Partner Harkness Penneyth würde die Million einkassieren, die ihm zustand.

Bingo Riggs gähnte. »Na, jedenfalls hat uns Ihr vermisster Partner geschäftlich recht hübsch weitergeholfen«, teilte er einem abwesenden und unbekannten Harkness Penneyth mit.

Er schloss die Augen und dachte nach. Wenn fünfundzwanzig Prozent der Leute, die die Karten angenommen hatten, ihre halben Dollars schickten, konnte er einen Teil der Miete zahlen und Handsomes Kamera von Onkel Max zurückholen. Wenn nur fünfzehn Prozent reagierten, konnte er nur die Kamera einlösen. Und wenn zehn Prozent - er begann zu dösen.

Bingo wachte plötzlich davon auf, dass ihn jemand heftig an der Schulter schüttelte. »Wach auf!«, sagte Handsome aufgeregt. »Wach auf und sieh her!«

Bingo blinzelte, gähnte und brummte. »Mach das Licht an.«

Handsome streckte die Hand aus und knipste die Stehlampe an. Sein gutgeschnittenes Gesicht war blass, erschöpft und tropfnass von Schweiß. »Ich habe eine Vergrößerung gemacht Schau dir das an.«

Bingo stützte sich auf einen Ellbogen und nahm das Foto, das Handsome ihm hingeworfen hatte, und starrte es stumpfsinnig an. Eine dünne, grinsende Frau mit einer Brille war darauf zu sehen, die den Arm eines rundlichen grinsenden Mannes umklammert hielt, und im Hintergrund war die sonntägliche Menge im Central Park zu erkennen.

»Habe ich das aufgenommen?«, brummte er. »Ein lausiges Bild. Sie wird wahrscheinlich ihren halben Dollar zurück haben wollen.«

Handsome schüttelte ihn erneut. »Wach auf, verdammt.« Seine Stimme schnappte vor Aufregung beinahe über. Er wies auf eine der Gestalten im Hintergrund.

Bingo sah hin, wollte etwas sagen und schwieg dann.

»Er ist es«, sagte Handsome. »Es ist - die Sonntagstaube.«

 

 

 

Zweites Kapitel

 

 

Es ist ein Bild der Sonntagstaube!«, wiederholte Handsome beharrlich, mit dem noch nassen Abzug vor Bingos Nase herumfuchtelnd. »Und wir haben es heute Nachmittag aufgenommen!«

Bingo Riggs gähnte, streckte sich, kratzte sich hinter dem Ohr und starrte auf das Foto. »So was, so was«, sagte er. »Nach all diesen Jahren taucht er wieder auf, stell dir das vor.« Er streckte sich erneut, wollte sich umdrehen, um noch ein wenig zu dösen, und fuhr plötzlich hoch.

»Die Sonntagstaube! Handsome, wir sind reich!«

Handsome strahlte. »Das habe ich auch gedacht. Ich erinnere mich an einen Burschen in Pittsburgh...«

Bingo starrte auf das Foto, während er auf die Couch zurücksank. Ja, da war er, ein kleiner Mann in einem grauen Anzug, ein freundliches, halb entschuldigendes Lächeln auf dem Gesicht, genau wie er auf diesem vor sieben Jahren aufgenommenen Bild ausgesehen hatte. »Handsome«, sagte Bingo, »wir haben wahrscheinlich das einzige Foto eines Mannes, der seit sieben Jahren vermisst wird und nach dem alle suchen. Dafür werden wir bei einer Presseagentur unseren Preis verlangen.«

»So was«, sagte Handsome und strahlte.

»Los, los!«, sagte Bingo. »Mach noch mehr Abzüge. Glanzfotos. Und gut müssen sie sein. Ich lese inzwischen noch einmal die Geschichte über den Burschen. Vielleicht lässt sich da was rausholen.«

Handsome nahm das Foto, warf einen Blick darauf und schüttelte betrübt den Kopf, während er sich in Richtung der Dunkelkammer davontrollte. »Das wird ein Schlag für den armen Mr. Penneyth sein. Nun kriegt er nächste Woche diese Million nicht.«

Bingo starrte ihn den Bruchteil einer Sekunde lang an und stürzte dann durchs Zimmer. »Handsome!«

Handsome fuhr mit bestürztem Gesicht herum. »Hab’ ich was falsch gemacht?«

»Handsome - wir sind reich!«

Erneut riss er seinem Partner das Foto aus der Hand. Diesmal starrte er es beinahe anbetend an. »Du wundervolle kleine Goldmine!«, hauchte er. Er setzte sich auf die durchhängende Couch und griff nach der verbliebenen Flasche Bier. »Sei still«, sagte er zu dem sprachlosen Handsome. »Ich muss schnell nachdenken.« Wieder starrte er auf das Foto. »Weißt du, wo Harkness Penneyth wohnt?«

Handsome blinzelte. »Neunzehnhundertvierundfünfzig«, sagte er, »wohnte er gleich hinter Central Park West in einem kleinen gelblichen Appartementhaus. Nebenan war eine Schneiderwerkstätte.« Er machte eine Pause. »Willst du auch die Nummer wissen?«

»Nicht nötig«, sagte Bingo. »Das ist sieben Jahre her, und er ist wahrscheinlich inzwischen umgezogen. Aber wir werden ihn finden.«

»Meinst du, er möchte dieses Foto kaufen?«, fragte Handsome.

»Nein«, erklärte ihm Bingo, »aber wahrscheinlich wird er Mr. Taube kaufen wollen.« Er blickte träumerisch ins Leere. »Zuerst, Handsome, müssen wir Mr. Taube finden und ihn verstecken. Gut verstecken und dafür sorgen, dass er nicht weglaufen kann. Dann treffen wir mit Mr. Penneyth eine Abmachung. Wenn er das Geld, das er heute in einer Woche von der Versicherung bekommt, mit uns teilt, werden wir mit der Sonntagstaube nicht herausrücken. Verstehst du?«

Handsome schnappte nach Luft. »Die Hälfte von einer Million«, sagte er. »Das ist ein ganzer Haufen. Wart mal.« Er schwieg einen Augenblick mit angestrengt gerunzelter Stirn. »He«, sagte er schließlich, »das sind 500.000 Dollar.«

»Stimmt haargenau«, sagte Bingo. »Und, Junge, was wir mit dem Geld anfangen können!«

Handsome seufzte. Er konnte sich zehn Dollar vorstellen, er konnte sich sogar hundert Dollar vorstellen, aber Er runzelte plötzlich die Stirn. »Wart mal, Bingo - ist das eigentlich anständig?«

»Anständig!« Bingo stand auf, und seine Augen blitzen in selbstgerechtem Zorn. »Hältst du mich für einen Gauner? Dieser Bursche Penneyth verdient es ja, diese halbe Million zu verlieren. Hör mal, er versucht doch, die Versicherungsgesellschaft zu betrügen. Außerdem«, fügte er in milderem Ton hinzu, »ist es ja nicht so, dass wir ihn erpressen wollen.«

»Na gut«, sagte Handsome. »Wenn du meinst.«

Bingo holte tief und lang Luft. »Wir bitten ihn lediglich, Geld in die Internationale Foto-, Film- und Fernsehgesellschaft von Amerika zu investieren, und das ist ein gutes, gesundes Unternehmen, wenn es eines gibt. Es ist durchaus möglich, dass er die Summe, die er hineinsteckt, verdoppeln wird! Er braucht uns nur den Scheck zu geben...« Er begann, in der Kommode nach einer Krawatte zu suchen. »Und ich werde uns ein hübsches Studio suchen und mich nach einer guten gebrauchten Ausrüstung umsehen - zum Teufel, eine neue Ausrüstung natürlich, jetzt, wo wir die halbe Million haben.« Er fand die Krawatte, warf sie über eine Stuhllehne und begann in der Kommode nach einem sauberen Hemd zu kramen. »Komm schon, Handsome, wir müssen los. Zieh dich an.« Er begann, das Hemd zuzuknöpfen - ein blass-gelbes mit einem feinen violetten Streifen. Er band die gold und purpur karierte Krawatte mit liebevoller Sorgfalt darüber und betrachtete im Spiegel bewundernd das Resultat. »Auf, Handsome«, sagte er. »Hipp-hipp hurra, wir sind reich!«

»Zieh erst deine Hose an«, sagte Handsome, mit dem Binden seiner eigenen Krawatte beschäftigt. Er runzelte erneut die Stirn. »Bingo?«

»Ja?«

»Wo werden wir ihn finden? Mr. Taube, meine ich.«

»Ach, das...« Bingo blickte finster vor sich hin und schwieg einen Augenblick. »Das fällt mir dann schon noch ein. Mach dir keine Sorgen. Denke ich nicht immer an alles? Vertraust du mir nicht?«

»Klar«, sagte Handsome in entschuldigendem Ton. Er bürstete sich das dichte, dunkle Haar zurück und steckte seine Zigaretten in die Jackentasche »Hör mal, Bingo...«

»Himmeldonnerwetter!«, sagte Bingo. »Was denn nun schon wieder?«

»Wo werden wir ihn verstecken, wenn wir ihn finden?«, fragte Handsome schüchtern. »Und wie bringen wir ihn dorthin?«

Bingo schwieg und wienerte seine spitzen, braun-weißen Sportschuhe. »Das werde ich mir noch überlegen«, sagte er schließlich, »wenn es soweit ist.« Er vervollständigte seine Toilette, indem er sorgfältig ein zitronengelbes Taschentuch in der Brusttasche seiner hellkarierten Sportjacke arrangierte. Dann trank er den Rest des Biers, das jetzt warm und schal schmeckte, aus der Flasche. »Morgen«, sagte er glücklich, »gibt’s Champagner.«

An der Haustür unten blieb er kurz stehen und warf Handsome einen warnenden Blick zu. Das schwarzhaarige Mädchen in den grünen Hosen saß nach wie vor auf der Steintreppe.

»’n Abend«, sagte Bingo lebhaft. »Wundervoll draußen, nicht?«

»Schön«, sagte sie kalt. »Eine ideale Nacht, um im Park zu schlafen. Hören Sie zu, Bingo Riggs. Ma hat gesagt...«

Bingo seufzte, setzte sich neben sie und nahm eine ihrer Hände in seine beiden. »Hören Sie zu, Baby. Sosehr ich Sie liebe, wir haben keine Zeit, hier zu sitzen und über Ihre Mutter zu reden. Handsome und ich haben ein großes Geschäft vor.«

Sie rümpfte die Nase. »Ich habe noch niemals erlebt, dass Sie das nicht vorhatten«, sagte sie. »Und diesmal tun Sie gut daran, es gewaltig dick ausfallen zu lassen, denn Sie werden demnächst die Straße als Büro benutzen können.« Aber sie zog die Hand nicht weg.

»Hören Sie, Baby«, sagte Bingo mit verletzter Stimme, »Sie vertrauen mir doch, nicht wahr? Morgen um diese Zeit werden wir nicht nur genügend Geld haben, um diese läppische kleine Wohnungsmiete zu bezahlen, sondern um dieses ganze verdammte Haus zu kaufen - und dazu noch ein paar Pelzmäntel und Diamanten.«

»Ehrenwort«, fügte Handsome hinzu.

Baby lächelte ihm zu und versuchte erfolglos, Bingo nicht anzulächeln. »Es ist zu warm für Pelz«, sagte sie. »Und ich ziehe Smaragde vor. Aber Hals- und Beinbruch, Jungs.«

Bingo drückte ihr die Hand und stand auf. »Baby, Sie sind ein wundervolles Mädchen. Wenn ich reich werde...«, er machte eine Pause und grinste. »Habe ich gesagt, reich werde?«

Er war unten an der Treppe angelangt, als sie ihnen nachrief: »Wenn ihr beiden Millionäre morgen Ma wenigstens zehn Dollar geben könntet, wird sie, glaube ich, mit dem Rest noch ein bisschen warten. Und vergesst meine Smaragde nicht!«

Sie hatten den halben Häuserblock hinter sich, als Bingo sagte: »Baby ist ein Prachtstück.« Er warf einen Blick auf

Handsome und sagte: »Eines Tages, Kumpel, wenn du im Geld schwimmen...«, er fing sich und fügte schnell hinzu: »Ich meine, nun, nachdem du im Geld schwimmst...«

»Sie möchte nicht heiraten«, sagte Handsome. »Ich habe sie mal gefragt.«

»Red nicht wie ein Trottel«, fuhr ihn Bingo an. »Alle Mädchen wollen heiraten.«

»Baby nicht«, sagte Handsome ernst. »Sie möchte Karriere machen. Sie hat einen guten Job - Garderobemädchen in einer der elegantesten Kneipen in der Zweiundfünfzigsten. Man kann ein Mädel nicht bitten, einen solchen Job aufzugeben, um zu heiraten, selbst wenn man reich ist.«

Sie gingen schweigend durch die warme New Yorker Nacht auf den Central Park zu. Ja, Baby ist ein prachtvolles Mädchen, dachte Bingo. Prachtvoll, schön, intelligent, wundervoll, sympathisch und zudem entzückend. Wenn diese Geschichte mit der Sonntagstaube vorüber war, würde er ihr alles kaufen, was sie sich in der Stadt New York wünschte, einschließlich Smaragde.

»Baby ist hübsch«, sagte Handsome, Bingos Traum unterbrechend.

»Um alles auf der Welt«, sagte Bingo, »bei all dem, was wir zu tun haben, gehst du herum und hast Frauen im Kopf. Überleg dir lieber mal selbst, wie wir die Sonntagstaube finden können, und zwar schnell.«

Wo in Kuckucks Namen konnte der kleine Bursche hingegangen sein? Wo hatte er gesteckt?

»Zum Teufel, wir wissen doch, wo er ist«, sagte Handsome überrascht. Er nahm das Foto aus seiner Tasche und deutete darauf. »Hier ist er doch.«

Bingo blickte auf das Bild, das er am frühen Nachmittag aufgenommen hatte und auf dem Mr. Taube zu sehen war, dann starrte er sprachlos Handsome an.

»Ich weiß, dass ich blöde bin«, sagte Handsome. »Aber das ist der einzige Ort, von dem wir wissen, dass er dort war.«

»Verdammt noch mal«, sagte Bingo langsam. »So blöde bist du gar nicht. Der richtige Ort, um nach ihm zu suchen, ist der, wo er zuletzt gesehen wurde.« Sie wandten sich Central Park West zu.

»Vielleicht ist er noch dort«, sagte Handsome. »Er war sieben Jahre lang nicht in New York...«

»Wie kommst du darauf?«, unterbrach ihn Bingo.

»Wenn er hier gewesen wäre«, sagte Handsome, »hätte ihn jemand gesehen. Also ist er nicht hier gewesen. Und ich wette, nun nachdem er so lange weg gewesen ist, lungert er noch immer bei diesen Tauben herum. Er war ganz verrückt nach diesen Vögeln. Ich erinnere mich, einmal ein Bild gesehen zu haben, wo er eine Taube mit nur einem Bein fütterte. Das Bild war in den News, am 11. Mai 1953, Seite drei, rechts oben in der Ecke. Zweispaltig. Gleich neben einer Story über Arthur McDermott, der die Scheidung einreichte, weil seine Frau die Ulk-Karte kritisierte, die er seiner Schwiegermutter zum Valentinstag geschickt hatte. Er kriegte sie am zwanzigsten Oktober desselben Jahres.«

Sie erreichten den Eingang zum Park unmittelbar südlich des Bolivar-Hügels. Bingo ging voran, Handsome blieb einen Schritt hinter ihm.

»Sieh«, sagte Handsome, »das ist der Fleck, wo du die Aufnahme gemacht hast.«

Aber niemand war zu sehen. Nur die Bäume schimmerten hell im Licht der Straßenlampen und des Mondes, und die Wege waren nach wie vor mit dem Abfall des Tages übersät.

Handsome blieb mit unglücklichem Gesicht stehen. »Komisch. Ich war ganz sicher, dass er hier sein würde.«

Bingo warf ihm einen Blick zu und beschloss, menschenfreundlich zu schweigen. »Hier wurde das Bild aufgenommen«, sagte er schließlich freundlich. »Alles, was wir jetzt zu tun haben, ist, uns zu überlegen, wohin er von hier aus gegangen sein kann, und dann selbst dorthin zu gehen.«

»Hm«, sagte Handsome zweifelnd. Er sah sich in dem Netzwerk der Pfade um und seufzte.

»Das meine ich nicht«, sagte Bingo weniger sanft. »Ich meine, wir müssen uns überlegen, wohin er logischerweise gegangen sein kann.« Er wischte sich die Stirn. »Komm, wir gehen auf den Hügel hinauf und setzen uns hin. Ich muss nachdenken.«

Er ging Handsome voran den schmalen Weg und die Steinstufen hinauf, wo es nun dunkel und geheimnisvoll war, bis sich das Blätterwerk teilte, um die Reiterstatue Simon Bolivars freizugeben. Die Bänke um das Denkmal herum waren nun leer. Alle bis auf eine.

Plötzlich packte Bingo Handsomes Arm. »Halt mal«, sagte er leise.

Der kleine Mann auf der Bank unmittelbar vor der Statue hatte aufgeblickt, als sie sich näherten, und lächelte liebenswürdig. Das Licht fiel auf sein Gesicht; es konnte kein Zweifel darüber bestehen, dass er die Sonntagstaube war.

 

 

 

Drittes Kapitel

 

 

Mr. Taube war ein angenehm aussehender kleiner Mann mit milden grauen Augen, dünnem grauem Haar, das ihm der Wind in die Stirn geweht hatte. Er putzte, als Bingo und Handsome sich näherten, eben seine Strahlbrille, und als sie vor ihm stehenblieben, setzte er sie sorgfältig auf die Nase und betrachtete sie freundlich durch die Gläser.

Handsome warf einen besorgten Blick auf Bingo. Hier war Mr. Taube, ganz recht. Aber was sollte nun geschehen?

»Hier oben weht nicht einmal die leiseste Brise, nicht wahr?«, sagte Bingo beiläufig zu Mr. Taube.

»Kein Hauch«, pflichtete Mr. Taube bei.

Handsome stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Man musste nur alles Bingo überlassen.

Bingo und Mr. Taube diskutierten die Tatsache, dass der Tag ungewöhnlich warm gewesen, dass es aber nun, nach Sonnenuntergang, sehr angenehm sei und dass morgen wahrscheinlich wieder ein glühend heißer Tag sein würde. Dann fragte Bingo in gelassenem Ton: »Haben Sie zufällig hier im Park eine einbeinige Taube gesehen?«

Handsome hob mit einem Ruck den Kopf. Was hatte Bingo vor?

»Nicht...« Mr. Taube machte eine Pause. »In letzter Zeit nicht.«

»Komisch«, sagte Bingo, »ich kann einfach niemanden finden, der sie gesehen hat. Ich dachte, sie käme vielleicht öfter hierher in den Park. Man sollte jedenfalls denken, sie täte das.« Er machte eine Pause. »Die einzige einbeinige Taube, die ich je in meinem Leben gesehen habe.«

»Das ist sehr interessant«, sagte Mr. Taube. Das Licht in seinen milden grauen Augen zeigte, dass es ihm Ernst war.

»Hat sie das eine Bein verloren - wissen Sie das? oder ist sie so geboren?«

Bingo stieß mit dem Fuß gegen Handsomes Knöchel. Handsome ging schnell in seiner Erinnerung zu der Story aus dem Jahr 1953 zurück. »Sie ist so geboren«, sagte er.

»Na, so was«, sagte Mr. Taube.

Nun war Bingo an der Reihe, interessiert dreinzuschauen. »Haben Sie sie je gesehen?«

»Nicht mehr seit einiger Zeit«, sagte Mr. Taube fast atemlos. »Ich habe es nicht im Traum für möglich gehalten, dass sie noch lebt. Ich würde sie gern wiedersehen.«

Es stellte sich, als Bingo in seiner Erzählung fortfuhr, heraus, dass die einbeinige Taube die Gewohnheit hatte, jeden Abend gegen zehn Uhr auf seinem Fensterbrett aufzutauchen, um sich füttern zu lassen. Regelmäßig wie ein Uhrwerk. Seit wie lange? Oh, seit vier oder fünf Jahren. Sie schien ein richtiges Familienmitglied geworden zu sein. Wieviel Uhr es jetzt war? Mal sehen - hm, etwa halb zehn. Wobei ihm einfiel, dass er deshalb nun besser heimginge. Er hatte vergessen, Futter auf dem Fensterbrett zurückzulassen.

»Würden Sie sie gern sehen?«, fragte Bingo gastfreundlich. »Wir wohnen nur ein paar Häuserblocks vom Park entfernt.«

Mr. Taube sprang auf. »Ich würde sie schrecklich gern sehen«, sagte er munter. Er machte eine kurze Pause. »Eigentlich wollte ich hier jemand treffen, aber... Ach, ich bin sicher, er wird warten.«

Auf dem Weg zu ihrem Mietshaus stellte sich Mr. Taube als etwas heraus, was Bingo innerlich als einen »duften kleinen Burschen« bezeichnete. Er war, wie es schien, nicht nur an der einbeinigen Taube interessiert, sondern auch an Handsome und Bingo selbst und auch sogar an der Internationalen Foto-, Film- und Fernsehgesellschaft von Amerika.

»Wir machen Aufnahmen von Leuten, wenn sie Spazierengehen«, erklärte Bingo, »und dann geben wir ihnen eine Karte mit unserer Adresse. Wenn sie uns die Karte zusammen mit einem halben Dollar schicken, senden wir ihnen das Bild.«

»Bemerkenswert«, murmelte die Sonntagstaube.

»Aber wenn wir jetzt in unser neues Studio ziehen«, sagte Bingo, »wenn wir uns jetzt vergrößern...« Er machte eine Pause. Ja, was wollten sie dann eigentlich tun? »Es gibt einen Haufen Möglichkeiten, die wir bis jetzt noch nicht einmal in Betracht gezogen haben.«

»Ganz sicher«, sagte Mr. Taube freundlich. »Und ich bin überzeugt, Sie werden sie in jeder Beziehung wahrnehmen.«

Bingo warf ihm einen dankbaren Blick zu. Er begann Mr. Taube mehr und mehr zu mögen. Und er merkte, dass es Handsome ebenso ging. Er merkte auch, dass Handsome bekümmert war, und vermutete, dass sie beide über dasselbe bekümmert waren. Es schien ein gemeiner Streich zu sein, den sie dem angenehmen, vertrauensvollen kleinen Mr. Taube spielten.

Aber, so sagte Bingo energisch zu sich selbst, eigentlich geschah das Ganze doch zu Mr. Taubes eigenem Besten. Eigentlich retteten sie ihm doch sogar das Leben. Wenn nun jemand anderer, der über diese Versicherungspolice Bescheid wusste und der nicht von solcher gewissenhaften Ehrlichkeit war wie er und Handsome, Mr. Taube erwischte - das wäre schrecklich. Bei diesem Gedanken fühlte sich Bingo wesentlich wohler.

Trotzdem war er erleichtert, als er feststellte, dass die zur Haustür hinaufführenden Stufen leer waren. »Es ist kein sehr elegantes Haus«, sagte er zu Mr. Taube halb entschuldigend, »aber mein Partner und ich leben gern einfach.« Er machte eine Pause und fügte hinzu: »Wir haben den zweiten Stock behalten und den Rest der Zimmer vermietet.« Er wich Handsomes missbilligendem Blick aus.

»Es ist eine hübsche Gegend«, sagte Mr. Taube höflich.

Handsome packte Bingo am Arm und hielt ihn zurück, bis Mr. Taube halbwegs die erste Treppe emporgestiegen war.

»Hör zu«, sagte er in heiserem Flüsterton, »gib mir einen Dollar.«

»Wofür?«

»Das kann ich dir jetzt nicht sagen. Aber, Bingo, ich brauche ihn.«

Bingo seufzte. »Okay.« Er kramte vier Vierteldollar aus der Tasche und reichte ihm das Geld. »Wart mal - wohin gehst du?«

»Nur nach nebenan. Ich bin in einer Minute zurück, bestimmt!«

»Na gut«, sagte Bingo. »Aber beeil dich. Vergiss nicht, dass wir wichtige Geschäfte zu erledigen haben.« Er stieg hinter Mr. Taube die Treppe empor. Oben öffnete er die Tür und sagte: »Sie entschuldigen hoffentlich, dass es hier so aussieht. Unsere Putzfrau kommt am Sonntag nicht.« Was im Übrigen stimmte. Allerdings kam die Putzfrau auch an den übrigen sechs Tagen der Woche nicht.

Bingo schubste hastig Kleidungsstücke, alte Zeitungen und benutzte Gläser außer Sichtweite und sagte: »Wollen Sie sich nicht setzen? Nehmen Sie den grünen Stuhl, er ist bequemer.« Er öffnete eines der beiden Fenster, die der Hinterstraße zu lagen, und sagte: »Hier ist das Fenstersims. Sie muss jetzt jeden Augenblick kommen.«

»Interessant«, sagte Mr. Taube vergnügt. »Sehr interessant.«

Ein kurzes Schweigen entstand. Bingo überlegte, was er mit der Sonntagstaube anfangen sollte, um sie nun, nachdem er sie gefangen hatte, am Entfliegen zu hindern. Mr. Taube niederzuringen und zu fesseln schien der einzige Weg zu sein. Er gefiel Bingo durchaus nicht - es schien ihm entschieden nicht gentlemanlike -, aber es fiel ihm nichts anderes ein.

Er grübelte noch darüber nach, als Handsome eintrat, ein Tablett mit Gläsern, einer Schüssel voll Eis, einem Siphon und einer Flasche in den Händen.

»Sehr gute Idee«, sagte Bingo in herzlichem Ton. Er wandte sich an Mr. Taube. »Sie trinken doch sicher gern etwas?«

»Danke«, sagte Mr. Taube, sich mit dem Hut Luft zufächelnd. »Nur ein kleines Glas.«

Handsome hatte das Tablett in die Küche getragen und kehrte nun mit einem Glas, in dem Eis klingelte, zurück und stellte es vor den Gast. Nach einer weiteren Wanderung brachte er eines für Bingo und sich selbst mit.

»Köstlich kühl«, sagte Mr. Taube und trank einen tiefen Schluck.

»Ja, nicht wahr?«, sagte Bingo. »Es war so warm heute.«

»Unwahrscheinlich warm für August«, sagte Mr. Taube.

»Und morgen wird es wahrscheinlich wieder glühend heiß sein.«

Verdammt, dachte Bingo, die Unterhaltung war genau wieder da gelandet, wo sie auf dem Bolivar-Hügel begonnen hatte. Er trank rasch einen Schluck, wurde sich der Tatsache bewusst, dass er erstklassigen Scotch trank, und starrte in sein Glas. Mit einem Dollar hatte Handsome das hier nicht arrangiert. Dann erkannte er das Glas. Es gehörte Baby. Offensichtlich verhielt es sich beim Scotch nicht anders.

Für Handsomes Verhältnisse eine hübsche, schnelle Gedankenarbeit, überlegte Bingo. Aber was hatte er mit dem Dollar angefangen?

»Übrigens«, sagte er, »haben wir uns, glaube ich, noch nicht vorgestellt«, sagte er freundlich. »Das hier ist mein Partner Mr. Kuzak, und ich bin Mr. Riggs.«

Mr. Taube nahm die Vorstellung mit einem schnellen kleinen Kopfnicken zur Kenntnis. »Ich bin Mr. Vogel«, sagte er.

»Vogel«, sagte Handsome. »So ein Zufall. Sie heißen Vogel, und wir haben Sie hierher eingeladen, damit Sie einen Vogel sehen.«

»Ganz recht«, sagte Mr. Taube und warf einen Blick auf den Wecker. Er trank sein Glas leer und stellte das Glas auf den Boden neben seinem Stuhl. »Und wenn wir schon von Vögeln sprechen - wann, sagten Sie, pflegt diese einbeinige Taube zu kommen?«

»Sie muss jeden Augenblick auftauchen«, sagte Bingo. Jetzt kam es darauf an. Er musste diesen netten kleinen Burschen so lange wie möglich hinhalten, ihm dann eines auf die Nase geben und ihn fesseln. »Sie scheint ein bisschen überfällig zu sein, aber vielleicht hat sie eine Verabredung.« Er brachte ein schwaches Lachen zustande.

»Vielleicht«, sagte Mr. Taube liebenswürdig. »Aber leider habe ich zufällig auch eine.« Er erhob sich. »Es war sehr nett, Sie kennenzulernen«, sagte er. »Vielleicht interessiert es Sie, zu erfahren, dass der einbeinige Vogel, mit dem ich vor acht Jahren fotografiert wurde, kurz nachdem die Aufnahme gemacht wurde, starb. Ich bezweifle, dass es hier im Central Park zwei solcher Vögel gibt.« Er ließ die Hände in die Hosentaschen gleiten und lächelte Bingo und Handsome zu. »Ich konnte nicht anders, als aus lauter Neugierde mit Ihnen gehen, um zu sehen, was Sie im Sinn haben. Da ich nun gehe, erklären Sie mir das vielleicht?«

Bingo war auf gestanden und überlegte schnell. »Gut, Mr. Taube, ich werde es Ihnen sagen. Sicher, wir haben Sie durch eine List hierhergebracht. Aber nur, weil Ihr Leben in Gefahr ist. Wir wollen Sie lediglich schützen.«

Mr. Taube lächelte. »Ich bin überraschend geschickt darin, mich selbst zu beschützen«, sagte er im selben liebenswürdigen Ton. Dann, ganz plötzlich, bevor Bingo eine Bewegung machen konnte, stand der kleine Mann an der Tür. Die eine Hand lag auf dem Knauf, die andere hielt eine Pistole. »Man muss auf alle Eventualitäten gefasst sein«, sagte Mr. Taube in beinahe entschuldigendem Ton.

»Warten Sie doch«, sagte Bingo. »Wir müssen über das Ganze reden.« Eine halbe Million Dollar spazierte hier aus dem Zimmer, wenn ihm nicht schnell etwas einfiel. Verdammt, warum rührte Handsome sich nicht, sondern saß da, als ob er einen Klotz am Bein hätte?

»Wenn Sie je eine einbeinige Taube finden«, sagte Mr. Taube nach wie vor lächelnd, »dann bringen Sie sie irgendwann sonntags in den Park. Dann...« Seine Stimme brach plötzlich. Eine graue Blässe begann sein Gesicht zu überziehen.

»He!«, sagte Bingo. »Was...?«

»Eines - Sonntags...« Mr. Taubes Knie gaben unter ihm nach, er keuchte kurz auf und fiel dann schlaff auf dem Boden zusammen wie ein nasser Haufen Wäsche. Die Pistole rollte über den Teppich.

 

 

 

Viertes Kapitel

 

 

Bingo Riggs bewegte sich nicht und atmete für gut zwei Minuten kaum. Er starrte auf die regungslose Masse zu seinen Füßen.

Mr. Taube, solch ein netter kleiner Bursche. Und wie sollten sie seine Leiche hinausschaffen, ohne gesehen zu werden?

Dann wurde ihm klar, dass Mr. Taube atmete. Er war nicht tot. Nur einfach bewusstlos.

Handsome beugte sich kurz über den Besinnungslosen und blickte dann besorgt zu Bingo auf. »Ein Schlafmittel«, sagte er. »Ich habe es in seinen Drink geschüttet. Dazu habe ich den Dollar gebraucht. Wir mussten ihn doch irgendwie hierbehalten.« Seine Augen waren groß vor Besorgnis. »Habe ich was falsch gemacht?«

Bingo holte tief und langsam Luft. »Es war nicht gerade sehr moralisch«, sagte er streng. »Erst jemand einladen und ihm dann ein Mittel ins Glas zu schütten. Aber du hast dein Bestes getan.« Er kniete neben Mr. Taube nieder und betrachtete ihn genau. »Es wird ihm nicht schaden, oder?«, sagte er ängstlich.

»Teufel, nein«, sagte Handsome. »Ich erinnere mich, einmal im Jahr 1959...«

»Schon gut«, sagte Bingo hastig und stand auf. »Steck ihn ins Bett. In meins, es ist das bessere.«

Erregung begann wie ein elektrischer Strom sein Nervensystem zu durchlaufen. Mr. Taube, seit sieben Jahren vermisst und eine Million Versicherungsgelder wert, befand sich in hilflosem Zustand hier in ihrer möblierten Wohnung. Alles, was nun zu tun war, bestand darin, Mr. Taube versteckt zu halten, bis das Geld von der Versicherungsgesellschaft einkassiert war. Er fragte sich, ob man einen Menschen wohl sieben Tage lang mit Schlafmitteln vollpumpen konnte, ohne dass es ihm schadete.

Während Handsome sich an die Aufgabe machte, den bewusstlosen Mr. Taube in einen von Bingos orange und grün gestreiften Pyjamas hineinzuzwängen, setzte sich Bingo an den Tisch und schrieb einen Brief an Mr. Penneyth. Er war, so fand er, ein Meisterstück subtiler Andeutungen.

 

Sehr geehrter Mr. Penneuth,

es gibt hier einen Vogel, den Sie gern fangen und im Käfig halten möchten, bis - von heute ab gerechnet die nächsten sieben Tage verstrichen sind. Nun, mein Partner und ich haben diesen Vogel gefangen und eingesperrt. Vielleicht können wir einen kleinen Handel abschließen?

Hier machte Bingo eine Pause und blickte auf die Spitze seines Federhalters. Vielleicht hatte er sich zu vage ausgedrückt. Er begann erneut zu schreiben.

Ich bin selbst ein Taubenfanatiker und kann Ihr Interesse verstehen. Rufen Sie mich bitte sofort an, vielleicht können wir uns dann über die Taube verständigen.

 

Er war sehr zufrieden mit sich. Ja, der Brief war geeignet, eine sofortige Reaktion bei Mr. Harkness Penneyth hervorzurufen. Er Unterzeichnete die Epistel mit Bingo Riggs und einem Schnörkel.

Dann rannte er die Treppe hinunter ins Erdgeschoss, wo sich das Telefon befand, und blätterte das Telefonbuch durch. Pem - Pen - Penn - Penneyth. Harkness Penneyth. Er schrieb sich die Adresse auf. Penneyth wohnte gleich hinter Central Park West.

Bingo wendete einen beachtlichen Teil des aus einigen Dollars, halben Dollars und einer Reihe kleinerer Münzen bestehenden Kapitals der Internationalen Foto-, Film- und Fernsehgesellschaft von Amerika daran, einen Western-Union-Boten zu Mr. Harkness Penneyth zu schicken.

Dann warf er einen Blick auf die Uhr. Zehn Uhr siebzehn. Er hoffte, Mr. Penneyth würde zu Hause sein, wenn der Bote eintraf. Wenn ja, würde er höchstwahrscheinlich noch vor elf Uhr eintreffen. Mr. Penneyth wohnte nur ein paar Häuserblocks weit entfernt.

Handsome hatte Mr. Taube ins Bett gesteckt, wo er wie ein müdes Kind schlief. Bingo ging durchs Zimmer und blickte mit etwas, das einer Aufwallung von Zuneigung sehr ähnlich war, auf ihn nieder.

»Ich mag ihn leiden«, sagte Handsome, die Bettdecke glatt streichend.

»Wer könnte eine Goldmine nicht gut leiden?«, sagte Bingo beinahe barsch. Er setzte sich auf den großen Stuhl, zündete sieh eine Zigarette an und wartete darauf, dass das Telefon klingeln würde, während er zusah, wie Handsome im Zimmer umherging und verschiedene Dinge wegräumte.

Er hoffte, Handsome nicht in irgendwelche Scherereien hineinmanövriert zu haben. Handsome war ein solch blöder, reizender Kerl. Vielleicht hatte er, Bingo, vor einem Jahr etwas Falsches gemacht, als er Handsome überredet hatte, die Clarion zu verlassen und selbständig zu werden. Aber so schlecht war das Geschäft gar nicht gelaufen. Sicher, es hatte seine Höhen und Tiefen gegeben, aber nun waren sie mit Sicherheit auf einer Höhe angelangt - und diesmal auf einer ganz gewaltigen.

»Bist du sicher, dass alles okay ist?«, sagte Handsome ängstlich. Er saß auf dem Stuhl neben Mr. Taubes Bett.

»Natürlich ist alles okay«, sagte Bingo beruhigend. »Himmel, wir behalten ihn nur hier, damit sein Ex-Partner ihn nicht wegen der Versicherungszahlung ermorden kann.«

Handsomes Gesicht hellte sich auf. »Na klar«, sagte er. Er stand auf und schob einen kleinen Wandschirm ans Bett, damit Mr. Taubes Hals keine Zugluft vom Fenster her erhielt.

Es schien ein Jahr zu dauern, bevor der Telefonsummer surrte; in Wirklichkeit handelte es sich nur um wenig mehr als eine halbe Stunde. Bingo warf einen Blick auf die Uhr, bevor er hinunterraste.

Die Stimme am Telefon sagte: »Mr. Riggs? Hier spricht Penneyth. Ich möchte mich gern über Ihren Vorschlag unterhalten. Können Sie gleich herüberkommen?«

»Wir werden in einer Viertelstunde bei Ihnen sein«, sagte Bingo.

Er eilte, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe empor, riss die Tür auf, wartete, bis er Atem geschöpft hatte, und sagte dann so ruhig wie möglich: »Er ist interessiert. Zieh deine Jacke an und komm.«

Er warf einen Blick auf Mr. Taube, während Handsome seine Jacke anzog und Zigaretten einsteckte.

»Vielleicht sollte einer von uns dableiben, damit er uns nicht davonläuft.«

Handsome schüttelte den Kopf. »Er wird vor morgen früh nicht aufwachen.« Ein Unterton von Stolz lag in seiner Stimme.

»Okay, wenn du meinst«, sagte Bingo.

Im Hausflur trafen sie auf Baby, die eben zur Arbeit gehen wollte. Sie sah reizend aus, dachte Bingo, in ihrem kurzen schwarzen Kleid mit dem weißen Spitzenkragen und dem großen schwarzen Hut. Sobald er das viele Geld hatte...

Er stellte sich vor sie in Positur. »Sehen Sie mich genau an, Baby. Fällt Ihnen nichts auf?«

Sie blickte auf und lächelte nachsichtig. »Nun dieselbe alte Feueralarmkrawatte. Was soll denn los sein?«

»Ich bin reich«, sang Bingo und grinste Handsome an. »Ich meine, wir sind reich. Eine halbe Million Dollar - das heißt jeder die Hälfte einer halben Million Dollar...«

Baby runzelte die Stirn. »Oh, Bingo, seien Sie doch mal ernst - wenigstens einmal im Leben. Sie sind wochenlang Ihre Miete schuldig geblieben...« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Ewig der alte Bingo. Redet von einer halben Million und kann nicht mal das läppische bisschen Miete bezahlen.«

»Hören Sie zu, Baby. Morgen um diese Zeit werden wir in der Lage sein, das ganze Haus zu kaufen.«

»Sehr schön, und vergesst auch meine Smaragde nicht, ihr beiden. Und Mas zehn Dollar morgen früh.« Sie eilte die Stufen hinab, winkte ihnen zu und ging in Richtung Untergrundbahn davon.

Mr. Penneyth wohnte achtzehn Blocks weiter in südlicher Richtung. Bingo unterdrückte den Impuls, ein Taxi zu nehmen. Man wusste nie, was passierte, und auf jeden Fall öffneten die Banken erst morgen früh, selbst wenn ihm Mr. Penneyth gleich einen Scheck aushändigen sollte.

Sie gingen bis zur Avenue Central Park West, fuhren dort im Bus achtzehn Blocks weit, stiegen aus und wanderten einen halben Häuserblock weit in westlicher Richtung bis zu einem kleinen gelben Appartementgebäude.

»Schau mal«, sagte Handsome. »Er wohnt noch im selben Haus. Im Hausflur liegt ein roter Teppich, wenn sie den nicht ausgewechselt haben.«

Er war nicht ausgewechselt worden. Handsome sagte, Mr. Penneyths Klingel sei die zweite von links gewesen, und das war sie immer noch. Bingo drückte auf den Klingelknopf und wartete.

Eine Stimme sagte durchs Haustelefon: »Kommen Sie herauf.«

Sie warteten ein paar Sekunden auf das Geräusch des Öffners. Nichts war zu hören. Bingo drückte gegen die Tür. Sie war offen.

»Er wohnt im ersten Stock«, sagte Handsome.

Sie fuhren im Aufzug hinauf und traten auf einen winzigen Vorplatz. Es gab nur eine Tür dort, und auf der war eine säuberlich gedruckte Karte angebracht: Harkness Penneyth. Die Tür war angelehnt.

Bingo klopfte. Es erfolgte keine Antwort. »Wahrscheinlich sollen wir gleich hereinkommen«, sagte Bingo. Er stieß die Tür auf und trat als erster in die Wohnung.

Harkness Penneyths Wohnzimmer war der Traum eines Innendekorateurs. Es war groß, hoch und so geschickt gestrichen, dass es oben in den Wolken zu verschwinden schien. Die Wände waren in matter, dezenter Farbe gehalten. Es gab große Sessel, zierlich geschnitzte Tische und drei riesige Diwans, die so angeordnet waren, dass sie drei Seiten eines quadratischen freien Platzes vor dem Kamin bildeten. Die orientalischen Drucke an den Wänden waren offensichtlich von einer Person ausgewählt worden, die nicht nur über einen guten, sondern auch völlig unpuritanischen Geschmack verfügte.

»Sehr elegante Aufmachung«, sagte Bingo anerkennend.

»Aber wo ist Mr. Penneyth?«, fragte Handsome.

Bingo sah sich um und fühlte sich ein wenig unbehaglich. Es war ein bisschen merkwürdig, dass jemand, der sie soeben gebeten hatte heraufzukommen, nicht an der Tür stand, um sie zu begrüßen.

»Er muss irgendwo hier sein«, sagte Bingo.

Er trat weiter ins Zimmer.

»Ja«, sagte Handsome. »Er ist hier.« Er trat ebenfalls ins Wohnzimmer, legte eine Hand auf Bingos Arm und wies mit der anderen auf eines der Sofas, und zwar auf dasjenige, das dem Kamin gegenüber stand. Über der Rücklehne des Diwans war nur eine Strähne dunklen Haars zu sehen, aber sie schien eindeutig zu einem menschlichen Kopf zu gehören.

Bingo ging hinüber - das Sofa schien einen halben Kilometer weit entfernt zu sein -, und Handsome folgte ihm.

»Das ist er«, sagte Handsome. »Das ist Mr. Penneyth.«

Mr. Penneyth saß zusammengekauert in der Ecke des großen Sofas, über ein Buch gebeugt, das auf seinem Schoß lag. Er blickte nicht auf, als Bingo und Handsome näher traten.

»Wie unhöflich von ihm«, sagte Bingo, »über einem Buch einzuschlafen, wenn er Besuch erwartet.«

Er streckte die Hand aus und tippte leicht auf Mr. Penneyths Schulter. Mr. Penneyth rollte vom Sofa herab und blieb in einer seltsam verzerrten Haltung zu Bingos Füßen liegen. Das Buch glitt ihm vom Schoß und fiel, die Innenseite nach unten, auf den Boden.

»Es ist tatsächlich Mr. Penneyth«, flüsterte Handsome. Dann fügte er hinzu: »Ich meine, er war’s.«

Bingo sagte gar nichts. Er hob das Buch auf und warf einen Blick auf den Titel. Das Leben beginnt mit vierzig.

»Wenn der Bursche vierzig war«, sagte Bingo heiser, dann hat er das falsche Buch gelesen.«

 

 

 

Fünftes Kapitel

 

 

Er war ein kleiner, ziemlich gewöhnlich aussehender Mann mit schwarzem, welligem Haar. Auf seiner Nase war eine kleine Kerbe, wo seine Brille gesessen hatte, aber jetzt war nirgendwo eine zu sehen. Er sah schrecklich überrascht drein.

Bingo wischte sich den Schweiß vom Gesicht. »Damit sind eine halbe Million Dollar im Eimer«, sagte er, auf die Leiche blickend.

»Vielleicht hat er einen Herzschlag bekommen«, sagte Handsome. Er beugte sich mit zutiefst betroffenem Gesicht über den Toten, als ob er ihn dadurch, dass er ihn untersuchte, wieder zum Leben erwecken könnte.

»Er ist ermordet worden«, sagte Bingo. »Ich weiß nicht wie, aber so muss es sein. Denn ein Mann, der eine Brille trägt, würde nicht lesen, ohne sie aufzusetzen. Außerdem«, fügte er hinzu, »sieht er ermordet aus.« Er wandte sich ab und sagte: »Jemand muss so schnell gearbeitet haben, dass es ihm gelang, ihn umzubringen, während wir unten vom Vorraum aus hier herauf zur Wohnungstür gingen. Wie ist er denn überhaupt umgebracht worden - erschossen?«

»Mhm«, sagte Handsome und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Es ist nichts zu sehen. Vielleicht ist er vergiftet worden. Aber er muss seit drei oder vier Stunden tot sein. Ich habe eine Menge Aufnahmen von Toten gemacht, als ich für die Clarion gearbeitet habe. Ich weiß Bescheid.«

»Oh«, sagte Bingo. Dann legte er los. »Verdammt! Dann hat gar nicht er unseren Brief bekommen und uns am Telefon gesagt, wir sollen herüberkommen. Und nicht er war am Haustelefon, als wir unten im Vorraum standen. Wer war es dann?«

Handsome sah ihn für eine gute halbe Minute schweigend an. Dann sagte er mit leicht schriller Stimme: »Es muss der Mörder gewesen sein. Und wahrscheinlich ist er noch hier und hat sich irgendwo versteckt.«

»Quatsch!«, sagte Bingo. Es klang nicht sehr überzeugend.

Niemand konnte sich in diesem Wohnzimmer versteckt halten, es sei denn, er hätte sich unsichtbar gemacht. Bingo öffnete langsam und vorsichtig eine Tür. Sie führte in Harkness Penneyths Schlafzimmer. Bingo knipste das Licht an. »Niemand hier«, flüsterte er. Einen Augenblick lang blieb er auf der Schwelle stehen und bewunderte das Schlafzimmer. Es war groß, hatte Lampen mit weichem Licht, einen dicken, blassgrünen Teppich und riesiges, luxuriöses Mobiliar. Ein sehr eleganter Raum, dachte Bingo, auch wenn er im Augenblick ein wenig unordentlich war.

Offensichtlich war Harkness Penneyth im Begriff gewesen, eine Reise zu unternehmen. Zwei Koffer standen am Fuß des Bettes, und Kleidungsstücke waren überall auf den Möbeln verstreut Bingo öffnete einen der Koffer und spähte hinein.

»Der hat aber eilig gepackt«, sagte Handsome über Bingos Schulter hinweg.

Kleidungsstücke und Toilettenartikel schienen von jemandem, der gut drei Meter entfernt gestanden haben musste, hineingeworfen worden zu sein. Bingo klappte den Koffer zu.

»Vielleicht hat ihn unser Brief so verängstigt, dass er sich auf und davon machen wollte«, sagte Bingo. »Nein, das kann auch nicht stimmen. Er war tot, bevor er unseren Brief bekam.«

Ein grauer Anzug aus teurem Tweed war auf dem Bett ausgelegt. Bingo betrachtete ihn sehnsuchtsvoll und seufzte tief.

»Wir suchen nach dem Burschen, der Mr. Penneyth umgebracht hat«, erinnerte ihn Handsome.

Bingo zuckte die Schultern, ging durchs Schlafzimmer und öffnete eine Tür, die in ein schwarz-grün gekacheltes Badezimmer führte.

»Ein sehr schönes Klo«, sagte er. »Aber versteckt hat sich niemand drin.« Er öffnete eine weitere Tür; dahinter befand sich eine mit alten Sachen vollgestopfte Kleiderkammer. Bingo betrachtete nachdenklich einen rosa Chiffonmorgenrock, der an einem der Haken hing. »War dieser Bursche verheiratet, oder ist er nur in der Übung geblieben?«, fragte er Handsome.

»Witwer«, sagte Handsome. Er schwieg einen Augenblick und besann sich. »Er heiratete ein Mädchen namens Lucy James. Am zweiundzwanzigsten Oktober 1954. In den Zeitungen war ein Bild von ihr. Es war am gleichen Tag, als Pretty Boy Floyd in East Liverpool, Ohio, sein Fett abbekam. Sein Bild war auf der gleichen Seite wie das von Mrs. Penneyth. Seite drei. Sie brachte sich um, indem sie am vierten Juli letzten Jahres aus dem Fenster sprang.«

Bingo war im Begriff zu fragen, was sich am vierten Juli vorigen Jahres sonst noch ereignet habe, schwieg dann aber. Er trat in einen engen Flur hinaus, Handsome dicht auf den Fersen.

»Ich glaube nicht, dass sich hier jemand versteckt hält«, sagte er. »Aber nachsehen können wir ja.«

Im Gästezimmer war niemand und ebenso wenig im Esszimmer und den verschiedenen kleinen Abstellräumen. In der Küche fanden sie einen auf dem Tisch liegenden Zettel.

 

Wilkins:

Ich werde die ganze nächste Woche fort sein. Nehmen Sie Urlaub. 

H. Penneyth

 

»Wer ist Wilkins?«, fragte Handsome.

»Wahrscheinlich der Diener«, sagte Bingo. Er runzelte die Stirn und kehrte schweigend ins Wohnzimmer zurück.

»Wir haben Zeit vergeudet«, sagte er schließlich. »Wenn dieser Bursche vor drei oder vier Stunden umgebracht worden ist, hat der Mörder nicht die ganze Zeit über hier herumgelungert.«

»Jemand war hier«, sagte Handsome. »Denn jemand hat sich gemeldet, als wir klingelten, und uns gesagt, wir sollen heraufkommen. Und jemand muss auch unseren Brief erhalten haben.« Er blickte hoffnungsvoll auf Bingo. Bingo würde wissen, was als nächstes zu tun war.

Im Augenblick wusste Bingo das nicht. »Wer auch hier war«, sagte er schließlich langsam, »muss gewollt haben, dass wir vorbeikommen. Er hat uns nicht nur aufgefordert heraufzukommen, er hat uns auch extra die Tür offengelassen. Was hat er damit beabsichtigt?«

Handsome schüttelte den Kopf. Er wusste es nicht.

»Vielleicht wollte er, dass jemand hereinkomme und die Leiche finde«, sagte Bingo. »Aber dieser Jemand werden nicht wir sein.« Er runzelte die Stirn. »Der Mörder ist sicher nicht länger geblieben, als unbedingt notwendig war, und er wäre auch nicht zurückgekommen. Also muss jemand anderer hereingekommen sein, und er war auch derjenige, der uns angerufen und dann hereingelassen hat.«

»Du hast recht«, sagte Handsome bewundernd. »Aber warum hat dieser Bursche nicht die Polypen gerufen, als er sah, dass Mr. Penneyth ermordet war?«

»Dafür muss er einen guten Grund gehabt haben«, sagte Bingo unverbindlich. »Ebenso wie wir.«

Handsome holte tief Luft und lächelte beinahe. »Wir wollen abhauen«, sagte er.

Bingo wollte auf die Tür zugehen, hielt aber inne. »Wart mal. Wir werden unseren Brief von hier mitnehmen. Wenn die Polypen kommen und Mr. Penneyth finden, ist es nicht gut, wenn sie zugleich einen Brief von uns finden, in dem wir ihn fragen, ob wir bei ihm vorbeikommen können.«

»Daran hätte ich im Traum nicht gedacht«, sagte Handsome.

Bingo blickte auf den mit Briefen und Papieren übersäten Schreibtisch. »Wahrscheinlich liegt er dort.«

Bevor er jedoch den Schreibtisch auch nur berührte, ertönte die Türklingel, laut und enthusiastisch. Bingo sah seinen Partner an. »Sieht so aus, als ob wir Gesellschaft bekämen. Erinnerst du dich, ob die Tür unten verschlossen war?«

Handsome schüttelte verneinend den Kopf. »Sie war unverschlossen.«

Es klingelte erneut.

»Nur um sicherzugehen«, sagte Bingo, »schaffen wir vielleicht am besten die Leiche von hier weg. Nimm sie hinaus, Handsome, und verstecke sie.«

Handsome sah ein wenig verwirrt drein. »Verstecken - wo?«

»Irgendwo. Das überlasse ich dir. Nur so, dass sie nicht gerade mitten auf dem Wohnzimmerboden liegt, falls jemand hereinkommt.«

Handsome blickte nach wie vor verwirrt drein. Aber er hob die Leiche Mr. Penneyth auf und trug sie den Korridor hinunter. Bingo drehte das Sitzkissen auf dem Diwan um und überzeugte sich durch einen schnellen Rundblick, dass alles in Ordnung war.

Er konnte hören, Wie der Aufzug im Flur draußen anhielt. Dann wurde an die Tür geklopft.

»Hallo, Darling!«, rief eine Frauenstimme. »Ich bin’s.«

Während Bingo noch dastand und sich überlegte, was er tun solle, wurde ein Schlüssel ins Schloss gesteckt. Das brachte ihn zu einem Entschluss. Er rannte zur Tür und öffnete sie.

Das Mädchen, das draußen stand, war selbst für Bingos kritischen Geschmack ein prachtvolles Frauenzimmer. Vielleicht ein bisschen auffallend, aber er schätzte das an Frauen. Ihr Haar war lang, dicht und sehr dunkel. Zuerst hielt er es für schwarz, aber als das Licht darauf fiel, sah er, dass es kastanienbraun war. Ihre Augen waren blau, tiefblau und von sehr kunstvoll gemalten Schatten umgeben. Ihre Figur war so, dass Bingo sich für sehr, sehr lange Zeit an sie erinnern würde.

Sie blickte ihn verblüfft an, sagte: »Oh?«, fasste sich dann schnell und sagte: »Wer sind Sie? Und wo ist Mr. Penneyth? Und warum haben Sie nicht geöffnet, als ich geklingelt habe?«

»Die Klingel funktioniert nicht«, sagte Bingo. »Ich wollte eben eine entsprechende Karte schreiben, als Sie klopften. Mr. Penneyth ist verreist. Er wird für eine Woche weg sein.«

Das Mädchen hob die Brauen. »Dann haben Sie ihm solche Angst eingejagt, dass er verschwunden ist. Das überrascht mich nicht.« Sie trat weiter ins Zimmer. »Sie haben mir noch immer nicht gesagt, wer Sie sind.«

»Einer von Mr. Penneyths Freunden«, sagte Bingo. »Ich bin nur eben hereingekommen, um seine Koffer abzuholen und sie auf die Bahn zu bringen.« Der einzige Name, der ihm zu seiner Lebensrettung einfiel, war »Vogel«. »Ich heiße Vogel«, sagte er. Er sah Handsome den Korridor entlangkommen und sagte: »Und das ist Mr. - Floyd.«

»Vermutlich ist er auch einer von Mr. Penneyths Freunden«, sagte das Mädchen. Sie sah drein, als könne Handsome jederzeit auch einer ihrer Freunde sein.

Bingo seufzte. Es war immer so. Wann immer er ein großartiges Mädchen sah, warf sie nur einen Blick auf Handsome - und damit hatte sich die Sache.

»Ich bin June Logan«, sagte das Mädchen. »Ich bin ebenfalls mit Mr. Penneyth befreundet.« Sie setzte sich auf das Sofa.

Bingo fragte sich, ob ihr wohl der rosa Chiffon-Morgenmantel gehöre. Ziemlich wahrscheinlich, zumal sie einen Schlüssel zur Wohnung hatte.

Das Mädchen zündete sich eine Zigarette an, bevor einer der beiden auch nur ein Zündholz herausziehen konnte. »Da Sie Freunde von Mr. Penneyth sind«, sagte sie, »können Sie ihm etwas von mir ausrichten. Sie können ihm sagen, dass er das übelste, dreckigste, schmierigste Stinktier ist, das kennenzulernen ich je das Pech hatte, und wenn ich ihn jemals wieder treffen sollte, dann nur, um ihm die Augen auszukratzen.«

»Na, na, na«, sagte Bingo nervös. Die Bemerkung schien ihm von äußerst schlechtem Geschmack zu sein, selbst wenn das Mädchen nicht wusste, dass Mr. Penneyth tot war.

Sie achtete nicht auf ihn. »Und genau das werde ich auch tun«, fuhr sie fort, »es sei denn, jemand ersticht ihn zuerst mit einem Messer.«

Bingo setzte sich auf den Rand eines Stuhls. Es lief ihm ein wenig kalt über den Rücken. Handsome sah um eine Nuance blässer aus.

»Aber was haben Sie denn gegen Mr. Penneyth?«, fragte er.

»Wenn Sie eine Frau wären«, sagte sie, »könnte ich es Ihnen erklären. Aber so viel kann ich Ihnen sagen: Alle seine Frauen hegen ihm gegenüber früher oder später dieselben Gefühle.«

Bingo erinnerte sich, was mit Mr. Penneyth geschehen war.

»Trotzdem«, sagte er, »würde ich an Ihrer Stelle solche Dinge nicht hinaustrompeten. Denn wenn ihn eines Tages wirklich jemand mit dem Messer ersticht, erinnern sich die Leute vielleicht daran, dass Sie ihn nicht gemocht haben, und das könnte sie nachdenklich stimmen.«

Sie blickte ihn ein paar Sekunden lang an und brach dann in Gelächter aus. Es war ein gutes, herzhaftes Gelächter. »Ein guter Rat«, sagte sie. »Aber machen Sie sich keine Sorgen. Leute, die so gemein sind wie Harkness Penneyth, werden nicht umgebracht. Wenn überhaupt, bringen höchstens sie jemand anderen um.«

Bingo hätte beinahe »diesmal nicht« gesagt. Er wollte, es wäre ihm ein anderes Gesprächsthema eingefallen als Penneyth.

»Nun ja«, sagte sie und stand auf. »Es liegen hier noch ein paar Sachen von mir herum, aber Sie können ihm sagen, er soll sie seinem nächsten Mädchen schenken. Ich werde mir was zu trinken eingießen und mich dann trollen.« Sie stand auf. »Wollen Sie auch was?«

»Ich - ich glaube, es ist nichts zu trinken im Haus«, sagte Handsome unerwartet.

»Unsinn«, sagte June Logan. »In der Küche steht immer eine Menge Whisky und Mineralwasser und anderes Zeug im Eisschrank. Ich kenne mich hier aus.«

»Nein, warten Sie einen Augenblick«, sagte Handsome.

Sie blieb stehen und starrte ihn an. Bingo begann fieberhaft zu überlegen, wie er sie der Küche fernhalten könnte, da dies offensichtlich das Problem war. Aber Handsome kam ihm zuvor.

»Dann gieße ich Ihnen etwas zu trinken ein und bringe es Ihnen herein«, sagte er.

»Warum?«

»Weil ich es gern möchte«, sagte Handsome. »Ich möchte Ihnen gern ihr Glas einschenken, weil Sie so schön sind.«

Sie lächelte ihm zu und ließ sich wieder auf dem Sofa nieder. »Rye mit Mineralwasser.« Ihre Augen folgten Handsome, als er den Flur entlangging.

Handsome hat wirklich eine einmalige Begabung, mit Frauen umzugehen, überlegte Bingo und widerstand der Versuchung, sich die Stirn abzuwischen.

Eine Viertelstunde später standen drei leere Gläser auf dem Kaffeetischchen, Handsome und Bingo hatten June Logan versprochen, sie gelegentlich zu besuchen und ihre Adresse und Telefonnummer entgegengenommen.

Sie blieb an der Tür stehen und nahm einen Schlüssel aus ihrer Handtasche. Dann ließ sie ihn wieder hineinfallen. »Wenn ich es mir recht überlege«, sagte sie mit halbem Lächeln, »werde ich ihn doch nicht zurückschicken. Vielleicht verschafft ihm der Gedanke, dass ich im ungeeignetsten Augenblick hereinspaziert kommen könnte, ein paar ungemütliche Augenblicke.«

Sie sagte auf Wiedersehen und war verschwunden.

Bingo sammelte die Gläser ein und trug sie in die Küche hinaus. »Wahrscheinlich haben wir überall Fingerabdrücke hinterlassen«, sagte er. »Aber wenn wir damit anfangen, alles abzuwischen, kommen wir nie mehr von hier weg.«

Er blieb unmittelbar hinter der Küchentür stehen. Eine große Menge Krüge und Flaschen standen auf dem Küchentisch. Aber von dem verstorbenen Mr. Penneyth war nicht das Geringste zu sehen.

»Ein Glück, dass es sich um einen großen Eisschrank handelt«, sagte Handsome. »Er passt fein hinein, ich musste ihn nur ein bisschen zusammenknicken.« Er blickte auf Bingo, wartete und fragte schließlich besorgt: »Habe ich was falsch gemacht?«

»Nein«, sagte Bingo. Er holte tief Luft. »Im Augenblick lassen wir ihn am besten drin.« Er sah nachdenklich auf den Eisschrank. »Er hat auch ein Schloss. Wir werden ihn einschließen, dann findet ihn niemand.« Er starrte erneut auf den Eisschrank. »Wart mal. Aber wir brauchen erst den Schlüssel.«

»Wo willst du den finden?«, fragte Handsome.

»In seinen Taschen.« Bingo zog eine Grimasse. Das, was er nun zu tun haben würde, sagte ihm gar nicht zu, aber es gab keinen Ausweg. »Hilf mir dabei.«

Sie holten zusammen die Leiche heraus. Bingo durchsuchte die Taschen, kalten Schweiß auf dem Gesicht, bis er ein Schlüsselbund fand. Einer davon passte ins Schloss des Eisschranks. Dann verstauten sie den Toten wieder im Inneren.

»Einer muss auch der Wohnungsschlüssel sein«, sagte Bingo. »Den nehmen wir am besten auch an uns.« Er ließ das Schlüsselbund in seine Tasche gleiten.

Handsome ließ das Schloss des Eisschranks einschnappen, stand dann auf und trug die Krüge und Flaschen zu einem Schrank, in dem er sie unterbrachte. Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrten, wirkte die Küche einschließlich des Zettels auf dem Tisch völlig unberührt.

»Hör mal, Bingo«, sagte Handsome plötzlich. »Was tun wir denn nun, nachdem Mr. Penneyth tot ist, mit Mr. Taube?«

Bingo seufzte. »Daran habe ich eben gedacht. Deshalb halte ich es ja auch für besser, wenn wir Mr. Penneyth für eine Weile im Eisschrank lassen. Vielleicht ist es besser, wenn seine Ermordung jetzt noch nicht entdeckt wird.«

»Aber deshalb weiß ich trotzdem noch nicht, was wir mit Mr. Taube tun sollen«, sagte Handsome.

»Er soll auch noch nicht entdeckt werden«, sagte Bingo. »Handsome, es gibt für uns nur eines: Wir müssen herausfinden, wer die Million Dollar nach Mr. Penneyths Tod kassieren wird, und ihm dasselbe Angebot machen.« Er räusperte sich. »Ich meine, wir bieten ihm an, sich an der Internationalen Foto-, Film- und Fernsehgesellschaft von Amerika zu beteiligen.« Er blieb im Wohnzimmer stehen und sah sich um. »Wenn die Polypen nichts davon erfahren, dass dieser Penneyth ermordet wurde, wird es keinen Stunk geben. Aber wenn sie was erfahren, besteht die Möglichkeit, dass sie vielleicht früher an die Schuldigen geraten als wir. Dann können wir kein Abkommen mit ihnen treffen.« Er räusperte sich zum zweiten Mal. »Nicht - dass ich den Lauf der Gerechtigkeit aufhalten möchte oder so was. So wie ich die Sache ansehe, dienen wir lediglich der Gerechtigkeit, indem wir die Hälfte des Zasters nehmen, nachdem dieser Unbekannte, der Mr. Penneyth ermordet hat, um es zu bekommen, vielleicht auch Mr. Taube ermorden würde, wenn er an ihn herankäme. Außerdem - was die Gerechtigkeit anbetrifft - scheint dieser Penneyth ein sehr übles Mitglied der menschlichen Gesellschaft gewesen zu sein und ist wahrscheinlich ermordet am besten aufgehoben.«

»Wenn du meinst«, sagte Handsome, »ist es okay.«

Bingo seufzte und begann in den Papieren auf dem unordentlichen Schreibtisch zu kramen. Eine Viertelstunde später sah sowohl der Schreibtisch als auch die Wohnung aus, als ob man nicht nur nach dem Brief und einer eventuellen Information darüber, wer nach Penneyth Anspruch auf das Geld erheben konnte, sondern auch nach Termiten gesucht hätte. Und Bingo und Handsome starrten einander an, verwirrt und ein wenig ängstlich.

»Nun ja«, sagte Handsome, »wir wissen jetzt, dass er einen Haufen Mädchen hatte, die ihm sehr warmherzige Briefe schrieben.«

»Inbrünstige«, sagte Bingo. »Aber grammatikalisch falsche. Und sein Rechtsanwalt ist ein Bursche namens Rufus Hardstone. Ich werde es aufschreiben. Aber das ist alles. Und unser Brief ist nicht da.«

Handsome blinzelte. »Jemand muss ihn weggenommen haben. Vielleicht der Mörder.«

»Nein«, sagte Bingo. »Der Mörder kann nicht da gewesen sein, als der Brief ankam. Aber jemand hat ihn. Und nun müssen wir um Himmels willen den Mord dieses Burschen geheim halten. Zumindest bis wir diesen Brief zurückbekommen. Sonst werden wir uns wahrscheinlich am Ende mit einer Jury herumschlagen müssen.« Er blickte Handsome an und sagte schnell: »Keine Angst. Ich schaffe es schon.«

»Sicher«, sagte Handsome. »Du schaffst es immer. Nun lass uns machen, dass wir von hier wegkommen.«

Sie gingen die Treppe hinab, durch den winzigen Hausflur und hinaus auf die Straße. Bingo war tief in Gedanken versunken. Es schienen so viele Probleme vor ihm zu liegen. Er musste herausfinden, wer nun in den Genuss dieser Versicherungsprämie kam. Er musste mit dem Betreffenden ein Abkommen arrangieren. Er musste etwas wegen Mr. Penneyth unternehmen, der nicht bis in alle Unendlichkeit in diesem Eisschrank bleiben konnte. Na gut, dachte er, er würde sich etwas einfallen lassen. Jedoch wartete ein weiteres Problem, und zwar ein unerwartetes, neben dem Gehsteig vor dem Appartementgebäude.

Ein großer schwarzer Wagen stand dort. Bingo warf einen flüchtigen Blick darauf und strebte dem Park zu, Handsome neben sich. Plötzlich hörte er Schritte hinter sich, und im selben Augenblick spürte er das gefährliche Ende einer Pistole, die sich hart gegen seine Rippen presste.

»Rein in den Wagen, ihr beide«, sagte eine Stimme. »Und zwar dalli! Wir haben schon endlos lange auf euch gewartet.«

 

 

 

Sechstes Kapitel

 

 

Eine wunderschöne Nacht für eine hübsche Spazierfahrt«, sagte Bingo, als die schwarze Limousine in den Central Park einbog. »Ich weiß es zu schätzen.«

»Hören Sie mit dem Gequassel auf«, fuhr ihn der Mann mit der Pistole an. »Wo ist er?«

Bingo hätte beinahe »im Eisschrank« gesagt, fasste sich aber rechtzeitig und sagte: »Sie meinen den Mann der Kleinen? Er ist in Detroit. Sie glauben doch nicht etwa, wir hätten sie besucht, wenn er in der Stadt gewesen wäre.« Er gab Handsome einen Tritt gegen den Knöchel.

»Wer hat welche Kleine mit welchem Mann besucht?«, fragte der Mann mit der Pistole.

»Wen geht das was an?«, sagte Bingo. »Teufel, Sie stellen hier einfach Fragen, und wir haben uns einander noch nicht mal vorgestellt!«

»Nennen Sie mich einfach Mac«, sagte der Mann. »Nun raus damit - was für eine Kleine?«

»Die, welche wir besucht haben«, sagte Handsome. »Und ihre Freundin.«

»Stimmt«, sagte Bingo. »Sie hieß

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Craig Rice/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Rosmarie Kahn-Ackermann, Hans P. Thomas und Christian Dörge (OT: The Sunday Pigeon Murders/The Name Is Malone).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 01.03.2022
ISBN: 978-3-7554-0887-1

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