Cover

Leseprobe

 

 

 

 

CARTER BROWN

 

 

Leiche - oben ohne

 

Roman

 

 

 

 

Apex Noir, Band 18

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

LEICHE - OBEN OHNE 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

Ich erstarrte.

Ich blinzelte.

Irgendwo in Manhattan musste eine Dame ohne Unterleib herumlaufen.

Und es waren in der Tat wunderschöne Beine, lang und formvollendet, mit zierlichen Knien und wohlgerundeten Schenkeln, bis obenhin mit schwarzer Spitze verhüllt. Warum, zum Teufel, trennte sich jemand von etwas derart Hübschem?

Die Beine fühlten sich noch warm an. Flüchtig kam mir die Idee, dass man sie einfrieren sollte, aber für meinen Kühlschrank... waren sie etwas zu lang. Schade, die Dame hätte sie sonst wieder verwenden können. Denn die Amputation hatte offenbar eben erst stattgefunden...

 

Der Roman Leiche - oben ohne von Carter Brown (eigentlich Allan Geoffrey Yates; * 1. August 1923 in London; † 5. Mai 1985 in Sydney) erschien erstmals im Jahr 1966; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1967.  

Der Apex-Verlag veröffentlicht Leiche - oben ohne in seiner Reihe APEX NOIR, in welcher Klassiker des Hard-boiled- und Noir-Krimis als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden. 

  LEICHE - OBEN OHNE

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Ich öffnete die Augen, aber der ebenso gleißende wie gnadenlose Sonnenschein, der zum Schlafzimmerfenster hereinströmte, drückte sie mir im gleichen Augenblick wieder zu. Der Bleiklotz, der auf meinen Schultern saß, erhob gewichtigen Einspruch, als ich sie ein paar Zentimeter zu heben versuchte, und dann begann ein unsichtbarer Bösewicht, mich von allen Seiten mit Nadelstichen zu peinigen. Wunderbarerweise brachte ich’s trotzdem fertig, mich aufzusetzen und mit beiden Händen an meinen Kopf zu fassen, obwohl anscheinend jemand drauf und dran war, ihn mir vom Hals zu schlagen, mit einem ausgewachsenen Schmiedehammer. Ich erinnerte mich schwach, dass es eine ganz verteufelte Party gewesen war.

Nachdem ich ausführlich geduscht, mich mit großer, sehr großer Sorgfalt rasiert und mir fünfmal die Zähne geputzt hatte, ging’s mir auch nicht besser. Vielleicht noch schlechter, wenn man will, denn allmählich wurden die Bilder vom letzten Abend deutlicher. Dabei ordneten sie sich leider zu keiner vernünftigen Folge, es waren vielmehr grausliche Einzelbilder, die mich an Standfotos aus einem Gruselfilm erinnerten. Der kleine Dicke fiel mir plötzlich ein, der auf die Terrasse gewollt hatte, um Luft zu schnappen - und erst, als er schon ein Bein aus dem Fenster gehabt hatte, war mir eingefallen, dass mein Apartment ja gar keine Terrasse besaß, sondern vor den Fenstern nichts weiter als dreizehn Stockwerke tief Luft bis auf die Central Park West.

Und dann war da ein rothaariges Kind gewesen, mit einer Busenbucht wie der Grand Canyon (bei dieser Erinnerung zuckte ich leicht zusammen). Diese Schöne war in der Küche über mich hergefallen und hatte gemeint, ich solle mir bloß keine Gedanken machen, weil ihr Mann Catcher sei. Also machte ich mir auch keine Gedanken - bis er uns nach ein paar Minuten überraschte. Mein Rücken schmerzte bei diesem Gedanken heftig, und ich hätte bloß noch gern gewusst, wogegen ich eigentlich geprallt war, als er mich quer durchs Zimmer geschleudert hatte. Und dann war da noch - aber weshalb weiter darüber nachdenken? Ich sagte mir, dass ich bestenfalls einen geistigen Dauerschaden davontrug, wenn ich noch länger über die Party nachdachte, und folglich beschloss ich, mich aufs Ankleiden zu konzentrieren. Ich brauchte dazu lächerliche fünfzehn Minuten, nachdem ich es freilich aufgegeben hatte, mir einen Knoten in den Schlips zu binden - mit Fingern, die nicht mir, sondern einem Bongotrommler zu gehören schienen, der gerade für die nächste Jam Session übte. Und dann beging ich den Kardinalfehler, ins Wohnzimmer zu marschieren - sagte ich Wohnzimmer? Dort sah es aus wie auf dem städtischen Müllplatz, über den gerade ein Hurrikan hinweggefegt war.

Der erbarmungslose Sonnenschein war kräftig genug, den dichten Schleier kalten Tabakrauchs zu durchdringen und alle entsetzlichen Einzelheiten so recht ins Licht zu rücken. Überall lagen und standen Gläser herum, etwa tausend, wie es aussah, und einige davon waren noch halbvoll und beherbergten langsam herumschwimmende Zigarettenkippen. Sämtliche Aschenbecher liefen über, weshalb verschiedene meiner geschätzten Gäste ihre Stummel wohl auch schlicht und einfach im Teppich ausgetreten hatten. Immerhin waren die Möbel noch heil - wenn es auch ein bisschen Geschick erfordern würde, mit dem dreibeinigen Tisch zurechtzukommen; nun ja, und die fehlenden Türen am Büfett hatte bestimmt der Catcher abgerissen. Die Sessel sahen noch wie neu aus, von dem einen mit dem dicken Brandloch abgesehen. Und die Couch war wohl auch noch ohne weiteres zu benutzen, man musste sie nur wieder herumdrehen und auf ihre Füße stellen. Ich ging unsicheren Schritts zu ihr hinüber, bückte mich - und erstarrte.

Oh, nein, protestierte mein Verstand. Bei so einer wilden Party bleibt ja immer mal etwas liegen, aber das hier war doch mehr als unglaublich. Irgendwo in Manhattan musste jetzt eine Dame ohne Unterleib herumlaufen. Wie, zum Teufel, jemand seine eigenen Gehwerkzeuge vergessen konnte, ging über meinen Horizont. Ich blinzelte heftig, und dann sah ich mir die Beine nochmals an, die da parallel zur umgefallenen Couch auf dem Boden lagen. Es waren prachtvolle Beine, lang und formvollendet, mit zierlichen Knien und wohlgerundeten Schenkeln, bis oben bekleidet mit Strümpfen aus so einer Art schwarzer Spitze - warum, zum Donnerwetter, ließ jemand so was Hübsches liegen? Ich kniete neben ihnen nieder und legte meine Hand behutsam auf einen Schenkel. Er fühlte sich warm und lebendig an, worauf ich mir sagte, es sei gewiss noch Zeit für den weiblichen Zwerg, sich die Beinchen wieder anmontieren zu lassen, wenn er nur gleich zurückkäme. Ich hatte flüchtig die Idee, man müsse die Beine so lange einfrieren - aber sie waren zu lang für meinen Kühlschrank.

Ohne mir etwas dabei zu denken, ließ ich meine Hand übers Bein wandern, vom Knie bis ganz oben hin - und im nächsten Augenblick fuhr ich fast aus der Haut, weil nämlich auf der anderen Seite der Couch ein durchdringender Schrei ertönte. Zuallererst glaubte ich, mein benebeltes Hirn habe mir da etwas vorgegaukelt, dann aber riss ich mich zusammen und peilte um die Couch herum, um mich zu vergewissern. Meine nächste Reaktion war ausgesprochene Erleichterung: In Manhattan lief also doch keine Dame ohne Unterleib herum. Die Beine befanden sich noch am Rumpf, und am Rumpf befand sich ein Kopf - folglich handelte es sich hier um ein komplettes Mädchen, und ich war nur irregeführt worden, weil sie in einer unmöglich verdrehten Lage mir zunächst bloß ihre Beine gezeigt hatte, wodurch ich sie, ich meine die Beine, also - oh, hol’s der Teufel, meinetwegen.

Sie trug einen Traum von Kleid aus schwarzer Spitze, das sich wie ein Rettungsring um ihre Taille gerollt hatte und somit den Blick auf hübsche Höschen aus ebenso schwarzer Spitze und so weiter freigab. Ihre Augen waren groß und dunkel und entsetzt und starrten mich ein Weilchen an - dann öffnete sich auch der Mund ganz weit, und der durchdringende Schrei erlebte eine Neuauflage. Was er im Innern meines schmerzenden Schädels anrichtete, das wünsche ich meinem ärgsten Feind nicht.

»Bitte«, wimmerte ich. »Nicht so laut...«

»Sie - Sie haben mich angefasst!« Ihre Stimme zitterte empört. »Ich hab’s gefühlt! Sie haben mein Bein von oben bis unten...«

»Tut mir leid«, versicherte ich ernsthaft. »Aber da wusste ich noch nicht, dass Sie auch da sind.« Ich spürte, wie ein gläsernes Lächeln meine Lippen teilte. »Das heißt«, fügte ich sicherheitshalber hinzu, »ich wusste sehr wohl, dass Ihre Beine da waren, aber ich hatte keine Ahnung, dass Ihr Rest auf dieser Seite der Couch lag - verstehen Sie?«

»Sie sind ein Wüstling!« erklärte sie vorwurfsvoll.

»Heute früh nicht.« Ich schloss die Augen, weil ein scharfer stechender Schmerz soeben eine Art Canyon in meine Schädeldecke grub. »Bitte, die Party ist zu Ende, wollen Sie nicht lieber heimfahren? Sie sind doch irgendwo zu Hause, nicht wahr?«

Sie ließ noch so einen wilden Schrei los, sobald sie entdeckte, wie hoch ihr Kleid gerutscht war. Als ich nach diesem erneuten Schreck die Augen wieder aufbekam, stand sie schon und strich ihr Kleid sorgfältig glatt. Der Ausdruck ihrer Augen verriet, dass sie mich für den neuen Blaubart von der Central Park West hielt.

»Was machen Sie hier?«, fragte sie argwöhnisch.

Ich dachte ein paar Sekunden drüber nach, dann fiel’s mir ein. »Ich wohne hier«, erklärte ich ihr. »Gestern Abend habe ich den Verstand verloren und eine Party veranstaltet, und irgendwann in den frühen Morgenstunden habe ich dann zu allem Ärger auch noch das Bewusstsein verloren und...«

»Gestern Abend?« Ihre Augen wurden noch größer. »Wie spät ist es jetzt?«

»Im Augenblick weiß ich nicht mal, in welchem Jahr wir leben«, murmelte ich. »Wollen Sie mir einen Gefallen tun? Fahren Sie nach Hause...«

»Es ist ja schon Morgen!« Ihre Stimme hätte jeder Lady Macbeth zur Ehre gereicht. »Onkel Joe wird mir nie glauben - niemals!«

»Onkel Joe?« Ich versuchte, die Rädchen in meinem Grübelkasten anzukurbeln. »Ist das der Kerl, der Sie hierher mitgebracht hat?«

»Er wohnt hier«, zischte sie.

»Nein.« Ich wimmerte fast schon wieder. »Hier wohne ich - glauben Sie’s mir.«

»Ich meine, er wohnt irgendwo in diesem Haus - und hergebracht hat er mich nicht. Wissen Sie denn überhaupt nicht mehr, was gestern Abend los war?«

»Nur teilweise«, gab ich zu.

»Ich habe bei Ihnen geklingelt«, sagte sie vorwurfsvoll, »weil ich nämlich dachte, das hier sei Onkel Joes Apartment. Sie haben die Tür aufgemacht, und ehe ich noch ein Wort sagen konnte, dass ich mich geirrt hatte, haben Sie mich reingezogen und mit mir zu tanzen angefangen. Es war so laut - und so viele Leute! Sie haben gar nicht hingehört, als ich Ihnen den Irrtum erklären wollte. Stattdessen haben Sie mich unaufhörlich genötigt, irgendeinen widerlichen Cocktail zu trinken, den Sie Gebet einer Jungfrau nannten oder so ähnlich. Ich dachte, Sie seien ein Verrückter, und hielt es für meine einzige Chance, Ihnen nicht zu widersprechen. Also trank ich eine Menge von dem Zeug, bis Sie mit so einem rothaarigen Flittchen in der Küche verschwanden. Da ist ihr Mann - ebenfalls ein Verrückter - ganz wild geworden, hat die Couch umgeworfen, ein Bein vom Tisch und die Türen vom Schrank gerissen, und dann hat er mich im Zimmer herumgejagt und dabei geschrien, Sie hätten seine Frau entführt und mithin sei es recht und billig, dass er sich Ihre Freundin aneigne - mich!«

»Er hat Sie aber nicht gekriegt«, sagte ich. »Er ist in die Küche gekommen und hat mich erwischt.«

»Ja.« Ihre Züge hellten sich vorübergehend auf. »Er hat die Küchentür aufgerissen und Sie quer durchs Wohnzimmer geschleudert. Ich habe allerdings nicht abgewartet, wo Sie gelandet sind, denn ich hatte Angst, dass er wieder mir nachjagen könnte - und deshalb habe ich mich hinter der Couch versteckt. Und dann« - sie sah betrübt drein -, »ich fürchte, mir sind die vielen Drinks, die Sie in mich hineingeschüttet haben, nicht so recht bekommen - jedenfalls: Ich bin eingeschlafen.«

Sie sah mich mit ihren großen dunklen Augen so traurig an, dass ich bittere Reue verspürte, weil ich den Abend damit vergeudet hatte, mich von einem rothaarigen Flittchen umschwärmen zu lassen, während ich doch die Zeit viel besser hätte nutzen und mich dieser wirklich hübschen Brünetten hätte widmen können. Lange Ponys hingen bis knapp über ihre Brauen, zwei weiche Haarwellen rahmten ihr Gesicht ein und reichten fast bis zu den Schultern. Die Wangenknochen unter den großen dunklen Augen waren hoch, die Lippen waren voll und zart und einladend, wobei die Unterlippe sich ganz leicht nach außen kräuselte, in der Andeutung einer sinnlichen Schmollschnute. Ihre Beine, das wusste ich aus erster Hand, waren rundherum perfekt, und so sah auch der reichlich bemessene Busen aus, der die schwarze Spitze formvollendet wölbte. Sie war der wahr gewordene Traum eines Junggesellen. Und ich war am Abend zuvor zu bedient gewesen, um es zu merken.

»Was soll ich nur machen?«, fragte sie verzweifelt. »Onkel Joe wird mir kein Wort glauben, wenn ich ihm erzähle, was passiert ist. Dann wird er es Onkel Jerome sagen, und...« - ihre Stimme hob sich in hoffnungslosem Jammer - »...er könnte es sogar meinem Vater erzählen!«

»Hören Sie«, sagte ich eifrig, »Sie können doch nichts dafür. Alles war meine Schuld, also muss ich Ihnen auch aus der Patsche helfen. Wie wär’s, wenn ich mitkomme und Onkel Joe alles erkläre?«

Ihre Augen schienen zu glühen, als sie mich anblitzte. »Und Sie meinen, er glaubt Ihnen? Einem Mann, der ein Mädchen in sein Apartment zerrt und ihr sechs Cocktails namens Gebet einer Jungfrau einflößt? Meinen Sie, er glaubt, dass ich die ganze Nacht auf dem Fußboden hinter einer umgefallenen Couch verbracht habe?«

»Na ja«, meinte ich matt, »vielleicht können Sie ihm erzählen, Sie hätten bei einer Freundin übernachtet - oder so.«

»Sie kennen meinen Onkel Joe nicht.« Aus ihren Augen schien mit einem Male Gift zu sprühen. »Vielleicht begnügt er sich damit, mir eine Lehre zu erteilen - indem er Sie umbringt!«

»Er ist doch hoffentlich kein Catcher?«, erkundigte ich mich vorsichtig.

»Nein«, sagte sie, und ich war erleichtert - freilich nicht lange. »Er kann sich nur nicht beherrschen.«

»Schöne Aussichten.« Ich packte die Couch, stellte sie auf und ließ mich darauf niedersinken. »Also, wie wär’s, wenn wir erst ein bisschen frühstücken, bevor wir nachprüfen, ob Onkel Joe mich umbringen will?«

»Nein, vielen Dank«, erwiderte sie kühl. »Aber ich werde mal kurz Ihr Badezimmer aufsuchen, um mich halbwegs herzurichten.« Sie suchte und fand schließlich eine kleine schwarze Abendtasche, dann marschierte sie entschlossen hinaus.

Mit einiger Mühe kam ich wieder auf die Beine und wankte in die Küche. Dort sah es wie im Wohnzimmer aus, eher noch schlimmer. Trotzdem gelang es mir, im Kühlschrank eine Büchse Orangensaft zutage zu fördern und sie zu öffnen. Mein Inneres krempelte sich ob der kalten, alkoholfreien Flüssigkeit um, aber nach ein paar Minuten fühlte ich mich doch ein bisschen besser. Nach etwa zehn Minuten kehrte das brünette Mädchen aus dem Bad zurück, recht frisch und duftig zwar, aber ich sagte mir, dass ein misstrauischer Onkel schon bemerken würde, wie zerkrumpelt das schwarze Spitzenkleid war - und daraus natürlich die falschen Schlüsse ziehen musste.

»Das Dumme ist nur«, sagte sie, »dass ich noch immer nicht weiß, in welchem Apartment Onkel Joe denn nun wohnt.«

»Wissen Sie überhaupt, dass es hier im Haus ist?«, forschte ich.

»Natürlich weiß ich das«, erwiderte sie gekränkt. »Wofür halten Sie mich?«

»Für eine Fee in schwarzer Spitze«, antwortete ich, ohne nachzudenken. »Ähem, ich meine, mein Apartment hat die Nummer 12 B - wenn Ihnen das hilft?«

»Es bringt mich auf eine Idee.« Sie runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich bin überzeugt, Onkel Joe hat 12 B gesagt, aber das kann ja nicht sein, oder?«

»Da ich Ihren Onkel Joe nicht kenne«, erklärte ich freundlich, »kann ich auch nicht wissen, was er gesagt hat, oder?«

»Oh, halten Sie den Mund!« Sie konzentrierte sich wieder, fuhr sich mit der Zunge über die reizende Schmollschnute und brachte meine Phantasie dazu, Überstunden zu machen - was vielleicht an diesem Orangensaft liegen mochte.

»Wie lange wohnt er schon hier?«

»Ein paar Monate«, erwiderte sie abwesend. »Er...«

Sie schlug sich sanft an die Stirn. »Ich muss neuerdings an Gedächtnisschwund leiden! Das kommt bestimmt von all den jungfräulichen Gebeten, die Sie mir eingetrichtert haben! Er hat mir ja einen Schlüssel gegeben - für den Fall, dass er nicht zu Hause ist, wenn ich komme.« Sie machte die kleine schwarze Tasche auf und hielt triumphierend einen Türschlüssel hoch. »Da ist er!« Sie betrachtete ihn näher. »14 B. Ich muss wohl im Aufzug den falschen Knopf gedrückt haben - oder so.«

»Na, es freut mich ehrlich, dass Sie Onkel Joe gefunden haben«, sagte ich vorsichtig. »Und Sie wollen ganz bestimmt kein Frühstück, ehe Sie ihn besuchen?«

»Nein, ich will keins und wir beide werden ihn jetzt besuchen, vergessen Sie das nicht.«

»Wie könnte ich?« Ich widmete ihr ein zaghaftes Lächeln. »Er ist doch der, der sich so schlecht beherrschen kann, oder?«

»Überhaupt nicht!«, antwortete sie mit Nachdruck. »Wie war doch noch Ihr Name? Es sähe dumm aus, wenn ich Sie Onkel Joe nicht mal vorstellen könnte.«

»Danny Boyd«, sagte ich. »Und wie heißen Sie?«

»Das ist unwichtig«, erwiderte sie großzügig. »Wir werden uns ja doch nicht näher kennenlernen. Gehen wir.« Sie nahm Kurs auf die Tür, und ich folgte ihr, wobei ich mir die Daumen drückte, dass sie in puncto Onkel Joe nur gescherzt hatte - und dass er ein netter kleiner Herr von etwa 75 war, mit einem chronischen Herzleiden.

Zwei Minuten später standen wir vor der Tür von 14 B und sahen uns an, nachdem sie auf den Klingelknopf gedrückt hatte. In diesem Augenblick hätte mir ein weiteres Glas Orangensaft gewiss gut getan, vielleicht mit einem Drittel Wodka drin - aber sie wirkte nicht mal nervös.

Als sich eine ganze Weile nichts rührte, klingelte sie erneut, und danach rührte sich ebenso wenig.

»Ich glaube, er ist nicht zu Hause«, sagte ich fröhlich. »Warum schließen Sie nicht auf und warten drin auf ihn?«

»Das wäre wohl das beste«, meinte sie zögernd.

»Bestellen Sie Onkel Joe schöne Grüße«, sagte ich und trat den Rückzug zum Lift an. »Und sagen Sie ihm, es tut mir wirklich leid, dass ich ihn nicht kennengelernt habe...«

»Halt!«, schnappte sie. »Sie bleiben hier! Und Sie gehen mit mir jetzt in dieses Apartment, Danny Boyd!«

»Meine Liebe«, argumentierte ich. »Ich muss doch meine Brötchen verdienen. Ich kann’s mir einfach nicht leisten, herumzusitzen und auf Onkel Joe zu warten. Vielleicht macht er Urlaub in Alaska?«

»Wahrscheinlich ist er im Bad und hat die Klingel nicht gehört«, schimpfte sie. »Also, Sie gehen jetzt mit rein - jedenfalls, bis wir nachgeschaut haben, ob er da ist oder nicht.«

Sie holte den Schlüssel heraus, öffnete die Tür, und ich folgte ihr widerstrebend in die Wohnung. Das Wohnzimmer war nett, großzügig möbliert - und leer. »Onkel Joe?«, rief das brünette Mädchen ein paarmal mit unsicherer Stimme. Keine Antwort.

»Das wär’s denn wohl«, sagte ich. »Er ist nicht da.«

»Sie sehen im Schlafzimmer und im Bad nach«, befahl sie. »Ich gehe mal in die Küche. Ich will mich überzeugen, ehe ich Sie laufen lasse, Danny Boyd.«

»Okay«, seufzte ich. »Langsam kriege ich den Eindruck, dass Sie mir nicht trauen.«

»Ha!«, sagte sie nur, aber in dem einen Wort steckte mehr Bedeutung als in drei avantgardistischen Filmen.

Auch das Schlafzimmer war nett, großzügig möbliert - und leer. Im Bad lief kein Wasser, weshalb dort nachzuschauen wohl nichts weiter als Zeitvergeudung war - trotzdem sah ich nach und beging meinen zweiten Kardinalfehler an diesem Morgen. Onkel Joe war doch im Bad - jedenfalls nahm ich an, dass er’s war. Ihn zu fragen, hatte keinen Sinn, weil er nämlich nicht mehr antworten konnte. Er kniete am Boden, und sein Kopf baumelte in die Wanne hinein, woraus ich schloss, dass der Mörder ein ordnungsliebender Mensch sein musste - den Onkel so zu hinterlassen, nachdem er ihm den Hals von einem Ohr zum andern aufgeschlitzt hatte. Ein Blick auf den Wannenboden genügte, mein Inneres erneut umzukrempeln, und ich wollte mich gerade schleunigst verdrücken, als ich jemand hinter mir heftig einatmen hörte. Ich wirbelte herum und kam gerade zurecht, das brünette Mädchen aufzufangen, als sie das Bewusstsein verlor.

  Zweites Kapitel

 

 

Ihre Wimpern flatterten ein paarmal, und dann starrten mich die dunklen Augen schreckerfüllt an. Sie rappelte sich hoch, drückte sich gegen die Lehne der Couch und presste eine Hand auf den Mund, eine ganze Weile.

»Was...«, sagte sie rau, dann schluckte sie heftig.

»Sie haben die Besinnung verloren«, erklärte ich. »Ich habe Sie wieder in mein Apartment gebracht.«

»Onkel Joe«, flüsterte sie. »Er ist tot...«

»Wenn’s Ihr Onkel Joe war, dann ist er bestimmt tot«, sagte ich finster. »Wissen Sie genau, dass er’s war?«

Sie nickte stumm. »Schrecklich. Der arme Onkel Joe, er hat nie...«

»Hatten Sie ihn gern?«, fragte ich teilnahmsvoll.

»Nicht direkt.« Sie schwang die Beine von der Couch und setzte sich richtig hin. »Um ganz offen zu sein, ich mochte ihn eigentlich nie sonderlich - aber auf solche Weise ums Leben zu kommen!«

»Kein schöner Tod«, sagte ich, was in Anbetracht der Situation eine ausgesprochen blödsinnige Bemerkung war. »Und jetzt werde ich wohl lieber die Polizei rufen.«

»Nein!«, schrie sie auf. »Das dürfen Sie nicht tun - sonst werde ich in die Sache verwickelt.«

»Das sind Sie bereits«, sagte ich trocken. »Wir beide haben den Toten gefunden und...«

»Ich kann’s mir aber nicht leisten, da hineingezogen zu werden«, zischte sie wütend.

»Und ich kann’s mir nicht leisten, nicht hineingezogen zu werden«, knurrte ich sie an. »Das kann mich meine Lizenz kosten.«

»Lizenz?« Sie starrte mich mit großen Augen an.

»Privatdetektivlizenz«, erklärte ich. »Davon lebe ich nämlich.«

»Kein Mensch braucht zu erfahren, dass wir oben waren und ihn gefunden haben«, sagte sie beschwörend. »Ich meine, lassen wir doch jemand anderes die Leiche finden und...«

»Nein«, schnappte ich. »Wie schon gesagt, werde ich Ihretwegen nicht meine Lizenz aufs Spiel setzen - nicht mal Ihres weißhaarigen alten Mütterchens wegen, falls Sie eins haben.«

»Ich möchte mit Onkel Jerome sprechen«, sagte sie plötzlich. »Er weiß bestimmt einen Ausweg.«

»Nicht nötig, ich weiß auch schon einen - die Polizei«, sagte ich.

»Bitte.« Sie nahm meine Hand und sah flehend zu mir auf. »Bitte, Danny. Geben Sie mir nur eine Stunde Zeit. Nur eine Stunde, damit ich mit Onkel Jerome sprechen kann - und dann können Sie meinetwegen die Polizei rufen, wenn Sie noch immer darauf bestehen.«

»Na ja...« Es waren diese vermaledeiten flehenden Augen, die mich schafften. »Okay«, sagte ich endlich, »ich bin eben nicht bei Trost.«

»Vielen Dank!« Sie sprang auf und küsste mich kurz, aber heftig. »Nur eine Stunde.« Dann griff sie ihr Täschchen und wandte sich zur Tür, blieb auf halbem Weg stehen und drehte sich wieder um. »Fast hätt’ ich’s vergessen - der Schlüssel?«

»Ich hab’ ihn wieder in Ihre Tasche getan«, sagte ich.

»Danke, Danny.« Schwarze Spitzen wirbelten - und weg war sie.

Ich begann mein Apartment aufzuräumen, aber ich war mit meinen Gedanken durchaus nicht bei der Sache. Mein Inneres krempelte sich immer noch um, wenn ich an Onkel Joe und seine Badewanne dachte. Aus diesem Grund brauchte ich auch nicht zu frühstücken. Ich machte mir nur eine weitere Büchse Orangensaft auf, und diesmal schmeckte er sogar ganz

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Carter Brown/Apex-Verlag/Successor of Carter Brown.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Will Helm und Christian Dörge (OT: The Black Lace Hangover).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 24.02.2022
ISBN: 978-3-7554-0842-0

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /