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Leseprobe

 

 

 

 

CYRIL ABRAHAM

 

 

Die Onedin-Linie

Sechster Band: Auf dem großen Strom

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

AM GROSSEN STROM 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

Allen Warnungen zum Trotz errichtet James Onedin an der brasilianischen Küste einen Hafen, den er auf den Namen seines engsten Vertrauten tauft: Port Baines. Er will es allen Skeptikern zeigen - auch mit der kühnen Eisenbahnbrücke, die sich über den Urwald spannt. James Onedin hat sein letztes Geld in dieses zukunftsweisende Bauwerk gesteckt.

Doch da schlägt die Natur unbarmherzig zu...

 

Cyril Abraham (* 22. September 1915; † 30. Juli 1979) war ein englischer Schriftsteller und Drehbuchautor. Die BBC-Serie Die Onedin-Linie - von der ARD in den Jahren 1971 bis 1980 ausgestrahlt - gilt als sein bekanntestes Werk. Weitere Berühmtheit erlangte er durch seine Mitwirkung als Autor an der legendären TV-Serie Mit Schirm, Charme und Melone.

Am großen Strom spielt in der rauen Welt der Seefahrt: Spannend und lebendig verwoben mit der Familiensaga der Onedins erzählt Cyril Abraham von den letzten Tagen der ruhmreichen Frachtsegler, welche auf den Weltmeeren kreuzten, ehe das neue Zeitalter der dampfbetriebenen Stahlriesen begann.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers.

  AM GROSSEN STROM

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Ein unbekannter, grün-gelber Vogel krächzte hinter ihm aus dem Geäst eines fremdartigen Baumes. Von weit unten, neben der blauen Bucht, stieg ein lautes, rasselndes Geräusch herauf – ein Ton, den man für das Ächzen eines Seglers im Sturm hätte halten können, wenn er nicht bereits als die Musik der seltsamen Eingeborenen dieser exotischen Uferlandschaft erkennbar gewesen wäre.

Für einen Mann, der mehr an die Gleichförmigkeit und das geschäftige Treiben von Liverpool (oder das Blähen weißer Segel und die Befehle des Steuermanns) gewöhnt ist, könnte dieser Ort nie ein Zuhause bedeuten, dachte James Onedin bei sich. Und dennoch ist es ein Ort, wo Kapital ebenso wohlüberlegt wie vielleicht in der Church Street von Liverpool investiert wurde; wo die Natur gezwungen ist, sich ebenso kompromisslos wie auf den Coburg Docks der Industrie zu beugen; wo ein Traum geträumt wurde, um Wahrheit zu werden.

Port Baines. Tiefere Linien zeigten sich neuerdings auf seiner Stirn, seine lederige Haut war von den Jahren in der Sonne tief gebräunt. Captain James Onedin betrachtete nachdenklich die Gebäude, die weit unter ihm am Ufer dicht beieinanderstanden. Neben ihnen begannen die langen, solide gebauten Anlegestellen, die sich in den schönen, natürlichen Hafen hinauszogen, wo die Schiffe lagen. Am heutigen Tage, da sein Hafen, sein Werk, endgültig für den Handel eröffnet werden würde, waren besonders viele Schiffe in der Bucht. Jedes Schiff der Onedin-Linie lag hier vor Anker, um der neuen Stellung ihres Eigners Reverenz zu erweisen. Dazu kamen Handelsschiffe aller Nationen, die diese Gegend befuhren; sie zeigten ihre Nationalflagge und waren über die Toppen geflaggt. Und schließlich war noch an diesem Morgen ein Kanonenboot der brasilianischen Marine eingelaufen und hatte interessierte Geschäftsleute sowie Regierungsvertreter aus Rio de Janeiro mitgebracht.

James’ Blick wanderte von dieser erfreulichen Szene zu den grünen Hügeln, die sich gen Westen erhoben. Ganz oben fiel das Land schroff ab und bildete eine tiefe, nebelige Schlucht. Zwischen den beiden Steilhängen war eine Bogenbrücke errichtet worden. Sie schimmerte in dem klaren, tropisch-heißen Licht.

»Port Baines«, murmelte James Onedin vor sich hin. Und er hätte ohne falschen Stolz hinzufügen können: Mein Hafen. Ich allein habe ihn geschaffen. 

Ein plötzlich aufkommender leichter Wind strich ihm über das Gesicht, als er sich über den primitiven Pfad auf den Abstieg machte. Das überraschte James, denn der Tag war drückend und windstill gewesen, und wenn er seiner südamerikanischen Gründung einen Nachteil zuschreiben konnte, so war es der, dass die fast zu sehr geschützte Lage des Hafens durch die umgebenden Hügel auch manchmal wünschenswerte Witterungsumschläge fernhielt. Man vermisste die Wechselfälle des Seeklimas. Nur allzu oft mussten seine stolzen, weißen Schiffe aufs offene Meer hinausgeschleppt werden, bevor sie Segel setzen und davonfahren konnten.

»Papa«, rief eine helle, jugendliche Stimme, »welchen Namen willst du der Brücke geben?«

Eine schlanke, junge Frau stand neben ihm und schaute über die Bucht hinweg bis zu der Schlucht hinüber, wo die beherrschende Eisenkonstruktion der Brücke lag. Sie war attraktiv – vielleicht sogar schön – mit ihren dunklen und leuchtenden Augen, und sie gab sich wie eine Frau, der man nicht ansah, dass sie erst sechzehn war. James wunderte sich immer wieder darüber, dass er in seiner Tochter Charlotte im selben Augenblick das Kind erblicken konnte, das er auf den Armen gehalten hatte, und die Frau, die einmal daraus erwachsen würde. Die Frau war Anne, das wusste er: die tote Anne, die er noch immer auf seine zurückhaltende Art betrauerte, obwohl er nun schon seit vier Jahren mit Laetitia Gaunt, der früheren Gouvernante der kleinen Charlotte, verheiratet war.

»Die Brücke«, sagte James gedehnt. Sie standen noch ziemlich weit oben auf einem flachen Absatz, wo sich das Gelände ein wenig ausbreitete. In den Jahren, als Port Baines erbaut wurde, hatte es sich James zur Gewohnheit gemacht, allein zu dieser Stelle hinaufzuklettern, um auf sein Werk hinauszublicken – wie Moses, der das Gelobte Land vor sich sieht. Ab und zu hatte er sich jedoch, wegen seines angeborenen Pessimismus, eher wie Napoleon gefühlt, der vor seinem Waterloo stand. Er fragte sich, was Charlotte hier vorhatte. Es musste für sie ein anstrengender Aufstieg gewesen sein, denn Laetitia bestand darauf, dass sie die weiten Röcke trug, die im Gelände hinderlich waren, obwohl sie sich alle weit abgesetzt von England und der Zivilisation befanden.

»Na ja, Brücken werden gewöhnlich nach dem Ort benannt, wo sie errichtet werden, nicht wahr? So ist es mit der Tey Bridge oder der Leith Bridge. Dieser Ort trägt keinen anderen Namen als den, den ich ihm gegeben habe – Port Baines. Infolgedessen...«

»Ach, bloß nicht Port Baines Bridge!« Charlotte warf den Kopf zurück. Sie hatte lange, rabenschwarze Haare, die in der Sonne bläulich glänzten. »Ich muss schon sagen, wenn hier noch mehr nach Baines benannt wird, wird der arme Mann noch an Größenwahn sterben. Hast du den Captain heute gesehen?«, fragte sie mit quirlendem Lachen. Charlotte war ein intelligentes Mädchen; dank Lettys wohlbedachter Schulung verstand sie es, sich im Gespräch von ihrer besten Seite zu zeigen, aber trotzdem sprang sie immer wieder von einem Thema auf das andere über.

»In seinen besten weißen Segeltuchhosen betrachtete er – mit einer funkelnagelneuen Mütze und seinem Jackett – die ganze Anlage, als gehöre sie ihm. Als ich ihm auf der Merseyside begegnete, fuhr er plötzlich einen unglückseligen Seemann an, der eine ausgebrannte Tonpfeife wegwarf, auf seinem Schiff würde er eine solche Ungehörigkeit nicht dulden, und er täte gut daran, den Dreck schnellstens wegzuräumen, sonst könne er noch etwas erleben. Er hält Port Baines für eine Brigantine, die unter seinem Kommando steht.« Sie lachte wieder laut.

Merseyside hieß die Hauptstraße der kleinen Siedlung, die um das Hufeisen der Bucht herumführte. Es war eine vertraute und irgendwie trostreiche Bezeichnung für ein Gemeinwesen, das sich weitgehend aus Auswanderern zusammensetzte. Es gab kaum mehr als ein Dutzend fertiger Gebäude, aber Händler und kleine Geschäftsleute hatten sich im Laufe der Jahre eingefunden, um die Bedürfnisse der Bauarbeiter zu befriedigen. Kein Zweifel: Eine Stadt war im Entstehen. Es gab sogar ein Bürgerzentrum, wo später einmal die brasilianischen Notablen feierlich bewirtet werden würden – ein Gebäude, das von Baines, der zusammen mit James ganze zwei Jahre am Ausbau des Hafens gearbeitet hatte, schon jetzt als das Rathaus bezeichnet wurde.

In seiner Moses-ähnlichen Stimmung sah James Onedin hier eine große Stadt mit breiten Prachtstraßen vor sich – eine Rivalin (wer konnte das jetzt schon wissen?) für Rio. Aber als er sich mehr wie Napoleon vorkam, betrachtete er die Brücke über der Schlucht und fragte sich trübsinnig, ob hier vielleicht die Ursache für sein Unglück lag.

»Wir könnten sie Santos Bridge nennen«, meinte James. Santos war der nächstgelegene Hafen, obwohl er nicht wie Port Baines ein natürliches Hafenbecken und die Verladeeinrichtungen besaß, die hier noch geschaffen werden mussten. »Es sei denn, wir lassen das alles aus dem Spiel und geben ihr einen ganz anderen Namen. Wir können sie sogar...« Er hatte plötzlich einen Einfall und brach in lautes Lachen aus. »Ja, warum nicht? Du machst dir wegen der Brücke Gedanken. Also könnten wir sie Charlotte Bridge nennen!«

Er umfing die gewaltige Eisenkonstruktion mit einer weitausladenden Handbewegung. Charlotte sah ihn neugierig an und wandte dann den Blick wieder auf die Brücke. James war zunächst erstaunt über ihre offensichtliche Interesselosigkeit, begriff dann aber, dass sie mit einer völlig neuen Idee bekannt gemacht worden war und beschlossen hatte, nicht mit spontaner, mädchenhafter Begeisterung zu reagieren, sondern das Problem lieber kühl abzuwägen. Er freute sich über diesen Wesenszug, denn sie hatte ihn offensichtlich von ihm geerbt.

»Charlotte Bridge...«, sprach sie nach längerer Pause langsam vor sich hin. »Klingt ganz nett, finde ich. Aber werden denn die Leute wissen warum...?«

Aufmerksamkeit, vorsichtiges Abwägen: Eigenschaften, die James während seiner ganzen Laufbahn für unabdingbar gehalten hatte. Eigenschaften, die seine Tochter (obwohl sie nicht der Sohn war, auf den er einstmals gehofft hatte) noch lange bewahren würde, wenn sich vielleicht schon herausgestellt hatte, dass er sie alle ins Verderben geführt hatte...

James’ Pessimismus kehrte zurück, als sein Blick wieder auf die eisernen Stützen der Brücke fiel. Die ganze Konstruktion sah eher wie ein Skelett aus, das sich über den Bergeinschnitt hinwegspannte. Es war seine Brücke, die ausschließlich mit seinem eigenen Geld erbaut worden war. Aber die Baukosten hatten ein finanzielles Risiko von einer Größenordnung mit sich gebracht, die ihm ganz neu war. Es würde viele Jahre dauern, bis er seine Auslagen durch die Erhebung des Brückenzolls wieder hereingeholt haben würde; im Augenblick stand er jedenfalls tief in der Kreide. Es war eine Erkenntnis, die nicht geeignet schien, sein Herz zu erleichtern.

Die Brücke war zwingend notwendig gewesen. Port Baines hätte ohne sie einfach nicht existieren können. Güter aus dem reichen Binnenland hätten zwar bis zu der Bergkette oberhalb der Bucht transportiert werden können, aber dort lag dann jener tiefe Einschnitt, der den Höhenrücken von dem zum Meer hin abfallenden Gelände trennte. James hatte zu Anfang gehofft, die brasilianische Regierung würde einen Teil der Baukosten übernehmen, aber obwohl sich Kaiser Dom Pedro II. persönlich mehrmals durchaus positiv geäußert hatte, war letzten Endes jede finanzielle Hilfe ausgeblieben.

Die brasilianische Regierung hatte die Eisenbahnlinie von Curitiba bis zur Küste verlängert und ganz allgemein die Straßenverbindungen verbessert. Als es aber darum ging, derartig hohe Summen Geldes bereitzustellen, hatten andere Überlegungen die Oberhand gewonnen. Ausländische Investitionen waren in Brasilien zwar willkommen, aber der Kaiser war kein Dummkopf. Er war mit Sicherheit nicht gewillt, Geschäftsleute anderer Nationen mit seinem Geld in Positionen zu bringen, die seiner eigenen Machtstellung Vorbehalten waren.

»Es ist nett von dir, Papa«, meinte Charlotte schließlich. »Ich weiß es zu würdigen, dass du die Brücke nach mir benennen willst. Ich weiß es mehr zu würdigen, als ich es in Worte kleiden kann. Aber dies ist, wie du mir von Anfang an gesagt hast, ein geschäftliches Unternehmen. Vielleicht wäre es deshalb klüger, die Brücke Dom Pedro II. Bridge zu nennen. Oder Ysabel Bridge – nach seinem Kind. Das hielte ich gar nicht für schlecht...«

Meine Tochter, dachte James bei sich. Annes Tochter? Von Neuem wurde das vertraute Gesicht der Toten in den Umrissen des Antlitzes vor ihm erkennbar. Ach, Anne, Anne, muss ich in alle Ewigkeit die Schuld an deinem Tod tragen? Ich weiß, ich habe dich zu Lebzeiten nie stark genug geliebt. Ich weiß, ich ließ dich dein Leben opfern, für mich, ohne dass du einen Lohn verlangt hättest. Aber willst du mich jetzt nicht freigeben und mich meinem neuen Leben überlassen – mit diesem deinem Kind und Letty? 

Der Wind kam merkwürdigerweise wieder in Böen, als James und Charlotte den Pfad hinabstiegen. »Wird es regnen?«, fragte Charlotte.

»Ich weiß nicht. Die Wolken scheinen sich nicht von der Stelle zu rühren. Aber über dem Boden kommt es immer wieder zu einzelnen Windstößen. Merkwürdig.« Und dann fragte er sie: »Kommst du oft hier in die Berge? Ich wusste gar nicht, dass du gern einmal etwas auf eigene Paust unternimmst.«

»Nicht so wie du, Papa. Und nicht so oft.« Also teilte sie sein Bedürfnis, sich gelegentlich in die Einsamkeit zurückzuziehen. Lag das im Blut? »Aber manchmal tue ich es, um die Indianer zu sehen.«

Er runzelte die Stirn. Charlottes Interesse an den Mestizen, die hier die einheimische Bevölkerung bildeten, bereitete James einige Sorge. Er hielt nicht viel von Vorurteilen, war aber der Meinung, dass sich die beiden Kulturen besser aus dem Wege gehen sollten: die der Mestizen mit ihrer steinzeitlichen Lebensform und die der Europäer, die sich aufgrund ihres technischen Fortschritts bemühten, an dieser Küste eine moderne Welt zu errichten. Als er zum ersten Mal hierhergelangte und den Entschluss fasste, Port Baines zu gründen, hatte ein Stamm unten an der Bucht gelebt. Mit Freundlichkeit, aber auch mit Beharrlichkeit hatte er die Menschen zum Umzug auf höher gelegenes Gelände bewegt; er hatte neue Unterkünfte für sie gebaut, hatte sie mit Geschenken und Waren entschädigt und ihnen ihre wertvollen Fischereirechte garantiert. Jetzt kamen sie nur noch herunter, um ihre Netze in der entfernten Ecke der Bucht auszulegen oder vielleicht um sich als Dienstpersonal der inzwischen festansässigen Siedler zu verpflichten. Es gab eine junge Indianerin in dem Haus, das James für sich und Letty gebaut hatte. Sie war es, die als erste Charlottes Interesse an dem Volksstamm geweckt und ihr mancherlei Geschichten erzählt hatte.

»Hast du gewusst, dass die Mestizen Mischlinge sind?«, wollte Charlotte wissen und stieß einen kleinen Schrei aus, als sie auf dem Steilhang ins Rutschen kam. »Sie stammen von frühen Verbindungen der Spanier und Portugiesen mit den echten Indianern ab. Der alte Macedo hat mir das gestern erzählt. Er ist der Anführer der Indianer, weißt du. Ich lerne jetzt einige Worte ihrer Sprache. Die Mestizen gerieten angesichts des europäischen Lebensstils so aus der Fassung, dass sie zu ihren primitiven Gewohnheiten zurückkehrten. Deshalb fingen die Europäer an, in ihnen nichts als reine Indianer zu sehen – und sie zu versklaven...«

Charlotte stolperte und wäre fast zu Boden gestürzt, aber James ergriff ihren Arm, um sie vor dem Fallen zu bewahren.

»Ich finde, dies ist das Schrecklichste von allem«, stieß Charlotte hervor. »Dass es in diesem Lande noch immer Sklaverei gibt. Und das in unserem Zeitalter! Es widerspricht den Verfügungen des Kaisers und den Grundsätzen der Kirche. Aber sie hält sich noch immer. Sklaverei...«

James Onedin wusste nur zu gut, dass die Sklaverei in Brasilien noch praktiziert wurde. Die diesbezüglichen Sitten und Gebräuche waren seinerzeit eine große Versuchung für ihn gewesen. Während der Bauzeit hatten sich die Arbeitskräfte als außerordentlich kostspielig erwiesen, und nachdem er etwa ein Jahr hindurch den Wanderarbeitern, die er herangezogen hatte, immer höhere Löhne zahlen musste, hatte er sich gefragt, ob er sich nicht, wie es angeblich die Siedler im Landesinneren taten, auf andere Weise eine Gruppe billiger Arbeitskräfte zulegen sollte. Von den Behörden war anscheinend kein Einschreiten zu erwarten, solange man nicht allzu viel Aufhebens davon machte. Was James schließlich von diesem Schritt abbrachte, war das plötzliche und überraschende Auftauchen eines britischen Kriegsschiffes, das ein brasilianisches Sklavenschiff in brasilianischen Hoheitsgewässern aufgebracht und seine Freigabe abgelehnt hatte, solange den Sklaven nicht offiziell ihre Freiheit zugestanden worden war.

Plötzlich erhob sich eine Staubwolke von der ungepflasterten Straße vor ihnen und nahm ihm die Sicht.

»Ich verstehe dieses Wetter nicht«, sagte er hustend zu Baines, der neben ihm ging. Die beiden Männer näherten sich den Schleppern und Baggern, die seine Schwester Isabel und die Frazer Company bei Beginn des Ausbaus von Port Baines zur Verfügung gestellt hatten. Isabel war jetzt mit dem in den Adelsstand erhobenen Daniel Fogarty verheiratet und lebte mit ihm und ihrem Sohn William in Australien, wo Daniels nicht unbeträchtlicher Besitz lag. »Dunkle Wolken hoch oben am Himmel, die sich kaum von der Stelle rühren, aber Böen in Bodennähe. Ich kann mich an solche Wetterlagen nicht erinnern.«

Und dann begann es zu regnen.

Baines hob sein breites Gesicht zum Himmel. Die dicken Tropfen, die zuerst nur vereinzelt fielen, durchnässten seine neue Jacke und die weißen Segeltuchhosen. »Habe so etwas erwartet«, bemerkte er gleichgültig. »Schon bei Tagesanbruch habe ich einen Sturm gerochen. Ich glaubte zuerst, ich träumte bloß, wieder auf See zu sein. Aber ich habe es gerochen, genauso wie ich vor vielen Jahren den Sturm gerochen habe, der der alten Orphir zum Verhängnis wurde. Es gibt Zeiten, wo man es in der Nase hat, was auf einen zukommt.«

»Die alte Orphir ging unter, weil sie in ein Tropengewitter geriet«, meinte James. »Aber jetzt liegen keinerlei derartige Anzeichen vor.«

»Es fing damals genauso an«, sagte Baines leise. »Der Wind erzeugte weiße Schaumkronen auf dem Wasser, aber in der Takelage war kein Lufthauch zu spüren.«

Sie suchten eiligst einen Unterschlupf, als der Regen an Stärke zunahm. Das wilde Toben der See konnte Baines nicht vergessen, dachte James bei sich. Er muss immer daran denken, wie ihm damals das Kommando entzogen wurde, und jetzt fürchtete er, dass ihm auch noch der endgültige Triumph mit diesem Hafen streitig gemacht werden könnte. James empfand plötzlich ein gewisses Mitleid für Baines, als sie gemeinsam in einem behelfsmäßigen Schuppen Zuflucht suchten, der in der Nähe der Dampfkräne, die für die Verladeeinrichtungen des Hafens aufgestellt worden waren, errichtet worden war. Er und der hünenhafte Seebär waren alte Gefährten, zuerst als Kapitän und Steuermann, dann als Reeder und Kapitän. Und jetzt waren sie – was eigentlich? Partner? Schicksalsgefährten?

Der Ausbau von Port Baines hatte für Baines ebenso viel wie für James bedeutet. Baines hatte sich sehr gefreut, als James den Vorschlag machte, den Hafen nach ihm zu benennen. Dann hatte ein gewisser Besitzerstolz ihn ergriffen, und er war an Land geblieben, um mit James die drei Jahre dauernden Planungsarbeiten zu teilen, die zur Errichtung der Hafenanlagen notwendig waren. Für James war alles ein geschäftliches Unternehmen – für Blaines wurde der Hafen in gewissem Sinn zum Höhepunkt, seines Lebens. Hier stand sein Name, deshalb lag hier auch sein Arbeitsplatz, und eines Tages wollte er hier zur letzten Ruhe gebettet werden. So entstand ein sauber abgezirkelter Kreislauf und nicht nur eine sinnlose gerade Linie, die sich wie ein Garn ausspinnen ließ. »Die ganzen feinen Herren sind dort unten im Rathaus«, murmelte Baines wenig glücklich vor sich hin. »Bin gespannt, wie sie das Wetter überstehen werden.«

Sein ungewöhnlich eleganter Anzug hatte durch den Regenguss erheblich gelitten.

»Irgendjemand wird die Leute vor dem Regen schon in Sicherheit bringen, keine Sorge.« James grinste breit. »Und Sie sehen prächtig aus, Mann! Ein kleiner Regenguss kann unserer Planung nichts anhaben. Ich bin fest entschlossen, auf Sie als den lebenden Schutzherrn von Port Baines einen Toast auszubringen, und Sie werden dann die Antwortrede halten. Sobald der Regen aufhört, gehen wir zum Rathaus.«

»Dort draußen«, sagte Baines. »Schauen Sie dort hinaus!«

Er wies mit einem Kopfnicken hinüber zu den Klippen hinter der Bucht, die jetzt durch den Regenvorhang nur noch undeutlich zu sehen waren. Riesige Wogen türmten sich wie Seeungeheuer auf und donnerten mit zunehmender Geschwindigkeit auf das Hafenbecken zu. Der Seegang war so gewaltig, dass er zu riesigen grünen und weißen Gischtwolken zerbarst, als das Wasser mit ungeheurer Kraft gegen die Felswände schlug.

»Die alte Orphir war die schönste Brigg, die ich je geführt habe«, meinte Baines nachdenklich. »Wenn Schiffe eine Seele haben, dann hatte sie es nicht verdient, dass ihr diese Seele auf jene Art und Weise aus dem Leib gerissen wurde. Haushohe Wogen, ein Aufbäumen von wenigen Stunden... und dann war sie nur noch ein Gerippe. Ein Gerippe an einer fremden Küste. Wenn das geschieht, stirbt auch im Menschen irgendetwas, Captain Onedin«, schloss James’ Schicksalsgefährte und blickte unverwandt zu den Klippen hinaus. »Und sein ganzes Leben lang kommt ihm der Anblick dieses Gerippes nicht aus dem Sinn...«

James wurde gegen den Mangobaum geschleudert und klammerte sich an den Stamm, um einen Halt zu finden. Der Sturm war jetzt genau über ihnen und riss die Rinde von den Bäumen; er schleuderte Äste, Erdreich, Sand und alles, was lose herumlag, hoch in die Luft. Es war fast so dunkel wie in der Nacht geworden. James hatte gerade die Stadthalle verlassen, wohin er sich in Begleitung von Baines unter großen Schwierigkeiten begeben hatte. Sie hatten die brasilianischen Notablen und die übrigen Gäste aus dem Handelswesen in einem panikartigen Zustand vorgefunden.

»Señor Capitáo, Señor Capitáo«, hatte ein rundlicher Portugiese in nasser und beschmutzter Uniform gejammert und dabei mit den Armen herumgefuchtelt. »Wo, bitte, gibt es in diesem wunderbaren Port Baines, das Sie so großartig erbaut haben, einen Schutz vor den Elementen? Betrachten Sie nur die Wände dieses – äh – Rathauses. Sie geben nach. Sie schwanken hin und her. Und das Dach, Señor- wird es über unseren Köpfen bleiben, glauben Sie das, oder wird es einstürzen und, bevor wir noch zur Jungfrau Maria beten können, über unseren unglückseligen Häuptern zusammenbrechen und uns alle ohne Gnade vernichten?«

James gab Befehl, dass die aufgeregte Menge aus dem gefährdeten Gebäude in die Gräben geführt wurde, die für die künftigen Lagerhäuser ausgehoben worden waren. Dort mochte es zwar nass sein, aber es bestand wenigstens keine Einsturzgefahr. Dringende Fragen, Forderungen und Proteste umschwirrten ihn in mindestens fünf Sprachen.

Die in der Bucht liegenden Schiffe tanzten wie groteske Korken an ihren Ankerketten auf dem Wasser- wie Spielzeugschiffchen an einer Schnur. Während er sich mit Mühe den Weg am Wasser entlang bahnte, hörte er das unheilvolle Krachen und Aneinandermahlen von Schiffsplanken, als zwei Schiffe kollidierten, und hatte gerade noch Zeit zu dem Gedanken: Gott im Himmel – ist das eines meiner Schiffe?, bevor ihn der Orkan wegen eines solch impertinenten Gedankens erfasste, hochhob und praktisch ins Wasser warf.

Eine der langen, solide gebauten Piers erzitterte und ächzte, als er sich verzweifelt bemühte, an ihr vorbeizukommen. Nein, betete er instinktiv und dachte an die mühevolle Arbeit, die sie hatten leisten müssen, um die erforderlichen Fundamente anzulegen, lass bitte die Piers bestehen, verschone sie, erspar mir das. Hinter ihm stieß jemand einen Schrei aus – ob aus Entsetzen oder Verzweiflung, wusste er nicht, es war ihm auch einerlei. All seine Gedanken richteten sich jetzt auf das Haus, das er gebaut hatte, und auf Charlotte und Letty.

Das Haus stand auf einer kleinen Anhöhe an der Westseite der Bucht. Hier waren nicht so viele Bäume gefällt worden, da dieses Gebiet als Wohnviertel vorgesehen war. Die riesigen mongubas, die stehengeblieben waren, schienen wild um sich zu schlagen, als wären sie von Dämonen besessen. James hatte sie unbedingt erhalten wollen, als er die Arbeitskräfte zum Bau der aus Ziegeln bestehenden Hazienda eingesetzt hatte, aber jetzt wirkten sie wie teuflische Ungeheuer aus der Unterwelt. Ein dicker Bananenbaum brach wie ein dünner Zweig zusammen und fiel mit Donnergetöse vor ihm über den Weg. Er sprang darüber, rannte stolpernd auf die langgezogene Veranda des Hauses zu und rüttelte an der schweren Eingangstür.

»Letty!«, schrie er. »Letty, um Himmels willen!«

Die Tür gab von seinen Schlägen nach und öffnete sich knarrend. Er war überrascht, dass sie nicht verriegelt gewesen war. Er stürzte ins Innere des Hauses. Irgendwelche Gegenstände fielen zu Boden; der Riegel musste also durch die Sturmböen gelockert worden sein, und jemand hatte anscheinend vergeblich versucht, Stühle und anderes Mobiliar auf der Innenseite der Tür zu stapeln, um sie gegen den Sturm zu sichern. Ein Fensterladen hing nutzlos an seinen Angeln vor dem Hauptfenster, und der Sturm heulte bis in den Raum hinein.

»Letty...!«

Sie erschien und umklammerte eine Stehlampe aus rotem Glas, die sie, wie er wusste, von ihrer Mutter geerbt hatte und die ihr stets besonders am Herzen lag. Ihr schmales Gesicht war bleich und abgespannt; über dem rechten Auge hatte sie einen kleinen Bluterguss. Sie hatte sich in den Innenraum zurückgezogen, weil sie hoffte, die dicken Wände würden sie schützen. Sie war verängstigt, bemühte sich aber, nicht nachzugeben.

»Hast du sie gefunden?«, rief sie. Ihre Stimme klang heiser, und sie blickte mit wilden Augen um sich. »Hast du sie gefunden?«

»Wen gefunden?«

»Charlotte! Ich bin vor Sorgen schon fast verrückt geworden. Sie ist verschwunden, James! Wohin ist sie gegangen? Wohin...?«

James starrte seine Frau an. Die Verzweiflung betonte noch ihre kantigen Gesichtszüge. Letty war nie eine Schönheit gewesen; die Heirat war nicht so sehr aus reiner Zuneigung, sondern eher aus Zweckmäßigkeit zustande gekommen. »Willst du damit sagen, dass Charlotte nicht hier ist?«, fragte er ungläubig. »Wohin ist sie gegangen?« Plötzlich überkam ihn sinnlose Wut. »Großer Gott, Frau, was hast du dir dabei gedacht, als du sie bei einem solchen Unwetter ins Freie gelassen hast?«

War denn Letty nicht immer noch die Gouvernante des Kindes? Bildete sie sich etwa ein, dass sie durch die Ehe von den einfachsten Aufsichtspflichten entbunden worden sei? »Ich habe die ganze letzte Stunde nichts weiter getan, als in der ganzen Siedlung, soweit es ging, die Luken dichtzumachen! Es ist ein Hurrikan, Letty! Ein irrsinniger Orkan! Es wird Tote geben, bevor noch der Tag zu Ende ist. Das kann ich dir sagen – wenn meine Tochter durch deine Nachlässigkeit...«

»Ich konnte sie nicht aufhalten«, warf Letty mit lauter Stimme ein. Sie schien am Rande eines hysterischen Anfalls zu stehen, und Tränen traten ihr in die Augen. Sie war offenbar zu lange allein im Haus gewesen, und dabei hatte ihre Angst in demselben Maße zugenommen, wie sich der Sturm zum Orkan gesteigert hatte. »Sie ist jetzt erwachsen und hört nicht mehr auf mich, wenn ich sie zurechtweise, so wie sie es früher als Kind getan hat. Sie hört einfach nicht mehr, James! Sie wollte gehen! Wegen der Indianer, sagte sie, wegen der Indianer...«

»Der Indianer...«

»Sie wollte sich vergewissern, dass ihnen nichts zugestoßen sei; denn wer kümmert sich sonst um sie dort oben in den Bergen, sagte sie. Ich versuchte es ihr auszureden und erklärte ihr, die Indianer wüssten sich bei ihrer Naturverbundenheit viel besser zu schützen als wir, aber Charlotte...«

»Gott im Himmel!« Ein Wutanfall, so unbezähmbar wie der draußen tobende Sturm, brach aus James heraus. »Mein Kind! Du hast mein Kind wegen dieser verdammten Indianer hinausgehen lassen...« Er bebte förmlich vor Zorn, was sonst nie bei ihm vorkam. Wenn das ganze Haus in diesem Augenblick über ihn eingestürzt wäre, hätte er weitergeredet und aus seinem Herzen keine Mördergrube gemacht. Wer war eigentlich diese Frau, die da vor ihm stand? Was war sie gewesen, bevor er ihr die Ehe und eine gesicherte Zukunft angeboten hatte? »Ich werde nicht dulden, dass du dich einfach über meine Wünsche hinwegsetzt, Letty! Du weißt, wie ich zu Charlottes Interesse an den Eingeborenen stehe. Ich habe es dir oft genug gesagt. Aber trotzdem bestehst du hartnäckig...«

»Unsinn, James, hör auf damit! Hör auf, mir Vorwürfe zu machen!« schrie sie zurück; auch sie hatte jetzt die Wut gepackt. »Ich weiß, ich habe dir nie viel bedeutet, aber es ist gemein von dir, mich so zu hassen. Gemein!«

»Dich zu hassen?« Trotz des um ihn herum tobenden Unwetters, trotz des beißenden Regens, den er noch auf dem Gesicht fühlte, war er schockiert. »Wovon redest du denn, um alles in der Welt?«

»Oh ja, ich weiß, ich bin nicht deine über alles geliebte Anne«, brachte sie unter Tränen heraus. »Das weiß ich ganz genau. Ich habe von Anfang an gewusst, dass ich es nie würde sein können.« Sie warf ihm einen bösartigen Blick zu. »War das der Grund, warum du mich geheiratet hast?« wollte sie wissen. Bitterkeit lag in ihrer Stimme. »Weil auch du gewusst hast, dass ich mit Sicherheit versagen würde? Weil du jemanden brauchtest, der dich in deiner Furcht bestätigen würde, dass alles Lebenswerte für dich dahin war – alles, außer Annes Geschenk an dich... Charlotte...?«

Der Sturm drang mit Urgewalt in den Raum, packte eine Kommode und stürzte sie um, als wäre sie aus Stroh. Die verzweifelte Letty merkte es kaum. Und trotzdem, dachte sich James, musste ihr dies ganz besonders nahegehen. Die Vernichtung ihrer kostbaren Sachen. All diese aus der alten Welt stammenden Möbel und Kunstgegenstände, auf deren Mitnahme sie von Anbeginn an bestanden hatte, falls sie ein Heim in der Wildnis einrichten sollte. Letty war die Sklavin ihrer Gesellschaft und von deren Konventionen.

»Wir sind nicht sehr glücklich geworden, James, findest du nicht auch?«, fragte sie. »Ich habe dich nicht glücklich gemacht, wenn du so willst. Aber hast du denn versucht, mich glücklich zu machen? Hast du dich jemals darum bemüht? Ich wurde lediglich in deinen Haushalt aufgenommen und über meine Pflichten informiert. Du hast mich über die halbe Welt geschleppt, als dir klar wurde, dass du mich hier brauchen würdest. Aber brauchst du mich wirklich, James?« Wieder war Bitterkeit in ihrer Stimme. »Oder bloß jemanden, der sich um Charlotte kümmert...?«

Sie war also eifersüchtig. Eifersüchtig auf seine Tochter. Der Wind heulte durch das Zimmer. Und er begriff, dass sie recht hatte, dass er ihr in den wenigen Ehejahren nur selten Freude bereitet hatte. Und wieder fielen ihm ihre scharfen und kantigen Züge auf. Anne, Anne. Warum hast du sterben müssen? Warum muss gerade diese unglückselige Frau die schlimmsten Folgen tragen?

»Ahoi!« Es war ein gewaltiger, widerhallender Schrei, der noch das Heulen des Sturmes übertönte. »Captain Onedin, Sir!« Baines stürzte zum offenen Fenster. Draußen war in dem Unwetter eine kleine Personengruppe zu erkennen. Zu ihr gehörte auch die mächtige Gestalt von Baines. Die anderen drei waren Mestizen, und sie trugen eine leblos scheinende Gestalt. »Ich wusste, dass Sie hier sein würden«, schrie Baines gegen den Wind. »Ich bringe schlimme Nachrichten, Sir. Miss Charlotte – sie ist verletzt!«

James rannte hinaus und war sich nur undeutlich bewusst, dass Letty ihm atemlos auf den Fersen blieb.

Er dachte bloß noch an den Tag, als Anne starb und er sich wütend darüber geärgert hatte, jetzt ein schwächliches Mädchen versorgen zu müssen. Ihm kam außerdem ins Gedächtnis zurück, wie Laetitia Gaunt als Gouvernante in seinem Haus erschien und ihm allmählich beigebracht hatte, der Tochter, die seine Frau ihm geschenkt hatte, Liebe entgegenzubringen. Und jetzt hatte sich das Blatt gewendet. Letty war an einem Punkt angelangt, wo sie anfing, sich gegen Charlotte zu stellen; und er hatte entdeckt-ja, Gott stehe ihm bei, aber so war es –, dass ihm seine Tochter wichtiger war als die Frau, die er geheiratet hatte.

»Wir tragen sie besser hinein, Sir«, rief Baines, als James auf die Gruppe zugerannt kam. »Ich hatte noch Glück, diesen Leuten hier zu begegnen. Sie hätten bestimmt nicht gewusst, wohin sie sich wenden sollten. Sie ist jetzt bewusstlos. Aber vorher hat sie Blut gespuckt...«

James hörte Letty einen Schrei unterdrücken, während er auf das aschfahle, reglose Gesicht seines Kindes hinabsah.

»Wie?«, fragte er. »Wie...?«

»Kann ich wirklich nicht sagen, Sir.«

»Die da...?« James fuhr herum und sah die Mestizen an – schattenhafte Gestalten, die in ihren Ponchos und breiten Hüten wie vom Wind zerzauste Vogelscheuchen aussahen. Sein Gesichtsausdruck wurde plötzlich ausgesprochen böse. »Bei Gott, wenn ich herausfinde, dass einer von diesen Kerlen irgendetwas damit zu tun gehabt hat...«

Einer der Indianer sprach einige unverständliche Worte. Er hatte offenbar begriffen, was James gesagt hatte, antwortete aber in seiner Muttersprache. Baines, der ein Gefühl dafür besaß, was andere Menschen ausdrücken wollten, ohne die in fremder Zunge ausgesprochenen Worte tatsächlich zu verstehen, nickte kurz. »Sie sagen, sie sei hinaufgestiegen, Sir, dort oben auf die Anhöhe. Dann habe der Wind sie plötzlich gepackt, und sie sei ausgerutscht. Das Gebüsch habe sie aufgefangen, sonst wäre sie bis zum Meer abgestürzt.«

Er zeigte auf die Berge, wo James vorher mit Charlotte gewesen war. James’ Augen wanderten zu dem Felsvorsprung, wo sie gestanden und sich über die Eisenbrücke, die die Schlucht überspannte, unterhalten hatten. Dann war ihm plötzlich, als unterliege er einer Sinnestäuschung. Die Brücke schien zu zittern.

Aber dann kam ihm wie ein Donnerschlag zum Bewusstsein, dass es keine Täuschung war. Die Brücke, die robuste und feste Brücke, die Port Baines mit dem reichen Binnenland verband, bebte in ihren Fundamenten. Sie schwankte hin und her.

Es war unglaublich. Er verbannte für den Augenblick alle Gedanken an Charlotte und starrte nur noch auf die große Eisenkonstruktion, die immer stärker zu erschauern schien. Die Brücke schwankte wie ein Rohr in dem heulenden Orkan. Dann begann sie sich langsam zu heben und wie ein Streichholz zu knicken; die Stützpfeiler lösten sich aus ihren Widerlagern an den Wänden, und die aus ihren Lagerungen gerissenen Einzelteile fielen auf den Boden der Schlucht hinab. In Sekunden, die ihm wie qualvolle Stunden vorkamen, wurde aus der Brücke, seiner Brücke, die mit seinem Geld erbaut worden war, ein sinnloses Gewirr von Metalltrümmern, die sich unten in der alles überwuchernden Vegetation auftürmten.

Als das Krachen sie auf der Veranda des Bungalows erreichte, klang es wie eine ferne, auf seltsame Weise langandauernde Explosion. Und der zutiefst erschütterte James Onedin konnte nur noch an zweierlei denken: Meine Tochter, Annes Kind, ist diesem mörderischen Orkan vielleicht zum Opfer gefallen. Und ich bin vernichtet. Ich bin an diesen Felsen gescheitert und untergegangen. 

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Lady Isabel Fogarty betrachtete das vertraute Wohnzimmer und nickte. Hier hatte sich nichts verändert. Die Möbel befanden sich zwar noch unter ihren Schonbezügen, aber sie erkannte deutlich ihre hohen Abbotsford-Stühle, die an dem gewohnten Platz standen, den Flügel in der Ecke und einen merkwürdigen, unförmigen Gegenstand, den sie für die Kredenz aus Nussbaum hielt, die sie immer so geliebt hatte.

Draußen hinter den breiten Fenstern hoben sich die Villen des Price’s Boulevard scharf gegen einen Gott sei Dank grauen Himmel ab. Isabel freute sich über die trübe Witterung. Sie hatte in der letzten Zeit zu viel blauen Himmel und Sonnenschein ertragen müssen. Sie konnte sich an Vormittage in dem geräumigen Haus erinnern, das Daniel in dem eleganten Balmain-Viertel von Sydney erworben hatte; beim Aufwachen hatte sie ein Stoßgebet zum Himmel gesandt, dass, wenn sie schon aufstehen müsse, die Sonne an diesem Tag nicht aufgehen würde. Die Hitze hatte natürlich auch etwas Gutes – und wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass ihr Ehemann Daniel hohe Temperaturen ebenso gut vertrug wie ihr Sohn William, aber Nebel, Dunst und dunkle Wolken schienen ihr auf geheimnisvolle Weise ein Gefühl der Geborgenheit zu bieten, und kühler Regen war ihr lieb und wert geworden. Es war schön, wieder in Liverpool zu sein.

Die rundliche Haushälterin, die sie während ihrer Abwesenheit in Australien behalten hatte, damit diese ein Auge auf das Haus hielt, das einstmals zum Besitz der Familie Frazer gehört hatte, begrüßte sie mit einem Knicks. »Verzeihung, Mylady – wollen Sie, dass der Tee heute hier serviert wird?«

»Nein, Mrs. Eccles, diesen Raum werde ich vorläufig nicht wieder eröffnen. Übrigens auch nicht das große Esszimmer. Bis auf weiteres werde ich alle Mahlzeiten im Frühstückszimmer einnehmen.«

»Heißt das, Mylady... ich wollte sagen, wegen der Schlafzimmer... soll ich oder soll ich nicht...« Die plumpe kleine Frau schien in Schwierigkeiten geraten zu sein.

»Was ist los, Mrs. Eccles?«

Mrs. Eccles holte tief Atem. Zu den Nachteilen ihrer Stellung gehörte die Tatsache, dass sie nie genau wusste, was sie eigentlich hätte wissen müssen. Aber diese Frau, die hier vor ihr stand, war von Geburt an kaum an das Leben der Aristokratie gewöhnt. Sie war bis zu ihrer Eheschließung

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Cyril Abraham/Bruce Stewart/Apex-Verlag/Successor of Cyril Abraham.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Korrektorat: Mina Dörge.
Übersetzung: Karl-Otto und Friederike von Czernicki (OT: The Onedin Line, Book 6: The Turning Tide).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 21.02.2022
ISBN: 978-3-7554-0820-8

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