Cover

Leseprobe

 

 

 

 

CHRISTIAN DÖRGE (Hrsg.)

 

 

EIN UNHEIMLICHES HAUS

- 13 SHADOWS, Band 57 -

 

 

 

Erzählungen

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

Algernon Blackwood: EIN UNHEIMLICHES HAUS 

Sven Kassau: DIE PARASITEN VON NINIGO 

Rainer M. Rostock: DIE VERGELTUNG 

Edward D. Hoch: EIN SCHWERT FÜR DEN SÜNDER 

W. J. Tobien: DIE ZEIT DER ANGST 

Draude Resleb: SEIN LEBEN, MEIN LEBEN 

Doris Grünning: ...UND SCHRECKEN FIEL ÜBER DAS LAND 

 

Das Buch

Das Haus gehörte zu den weitläufigen, düsteren Bauten, die jedermann unheimlich sind. Es entbehrte jeglicher Art von Schönheit. Auf einem kleinen Hügel gelegen starrten seine Fenster wie tote Augen in den Wald von Kent, unbeeindruckt von Wetter und Jahreszeit. Das Haus war im Winter trostlos, im Frühling düster und selbst im Sommer ohne jedweden Reiz. Kurz, es gehörte zu der Sorte von Häusern, die immer wieder in den Zeitungen angeboten werden und kaum einen Interessenten finden. Die Leute munkelten über das Haus, denn einer seiner Bewohner hatte in der düsteren Bibliothek Selbstmord begangen...

 

EIN UNHEIMLICHES LICHT, herausgegeben von Christian Dörge, enthält u. a. Horror-Erzählungen von W. J. Tobien, Doris Grünning und Sven Kassau.

EIN UNHEIMLICHES HAUS erscheint in der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht. 

  Algernon Blackwood: EIN UNHEIMLICHES HAUS

 

 

Das Haus gehörte zu den weitläufigen, düsteren Bauten, die jedermann unheimlich sind. Es entbehrte jeglicher Art von Schönheit. Auf einem kleinen Hügel gelegen starrten seine Fenster wie tote Augen in den Wald von Kent, unbeeindruckt von Wetter und Jahreszeit. Das Haus war im Winter trostlos, im Frühling düster und selbst im Sommer ohne jedweden Reiz. Kurz, es gehörte zu der Sorte von Häusern, die immer wieder in den Zeitungen angeboten werden und kaum einen Interessenten finden. Die Leute munkelten über das Haus, denn einer seiner Bewohner hatte in der düsteren Bibliothek Selbstmord begangen und ihm waren innerhalb der nächsten zwanzig Jahre noch weitere zwei gefolgt, ohne dass jemand gewusst hätte, welche Ursachen ihre Verzweiflung gehabt hatte. Nur der erste der drei Männer hatte die ganze Zeit in dem Haus gewohnt, während die anderen nur während des Sommers dort gelebt hatten. Als John Burley der gegenwärtige Besitzer, es schließlich betrat, haftete dem Haus das Odeur des Unheimlichen und Bösen an.

Unser nüchternes Jahrhundert hat wenig für Aberglauben übrig. Es hält die Leute, die an so etwas glauben, entweder für Dummköpfe oder Scharlatane. John Burley verschwendete keine Gedanken an die mysteriösen Geschichten, die über das Haus in Umlauf waren. Er war ein robuster Mann, der mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen stand.

Er war ein erfolgreicher Geschäftsmann, und was er anfalle, hatte einen realen Wert. Trotzdem hatte er seine eigene Art von Aberglauben, ohne den kein Mensch existieren kann, weil er dem mystischen Erbe der menschlichen Rasse zu sehr verbunden ist. Burley war überzeugt davon, dass seinen Geschäften kein Erfolg beschieden sein würde, wenn er nicht den Armen und Benachteiligten einen Anteil daran sicherte. Dieses Haus, das so lange in einem üblen Ruf gestanden hatte, erschien ihm sehr dafür geeignet, in ein Erholungsheim für Bedürftige verwandelt zu werden.

»Nur Feiglinge oder Narren bringen sich um«, sagte er wegwerfend, als die Sprache auf die anrüchige Vergangenheit des Hauses kam. »Ich bin weder das eine oder das andere.« Er stieß ein lautes, lärmendes Gelächter aus. In seiner Gegenwart schien eine solche Schwäche undenkbar. »Ich kann mir nicht vorstellen«, fügte er emphatisch hinzu, in welcher Verfassung ein Mann sich befinden muss, um auch nur an Selbstmord zu denken.

Er warf seinen Kopf in den Nacken. »Ich sage dir, Nancy, es ist entweder Feigheit oder gestörter Geist, der die Menschen dazu treibt, etwas Derartiges zu tun«, schloss er in bestimmtem Ton.

Er beschloss, zusammen mit seiner Frau, eine Nacht in dem Haus zu verbringen, um alle Gerüchte ad absurdum zu führen. Die Lokalblätter hatten die traurige Geschichte der Selbstmörder wieder aufgewärmt, als sie über den neuen Besitzer berichteten. Aber dieser lachte nur darüber.

»Wir müssen die Leute nehmen, wie sie sind, Nancy!«

Seine junge Frau hatte ihre eigenen Motive, dieses Abenteuer gutzuheißen. Und er sah keinen Grund, ihr nicht zuzustimmen. Er liebte sie und er nahm sie, wie sie war, als er sie spät im Leben gefunden hatte. In erster Linie schien sie davon überzeugt, dass er dadurch dem abergläubischen Gerede späterer Patienten und Pfleger die Spitze abbrechen würde, wenn er erst bewiesen haben würde, dass diese düsteren Gerüchte über einen möglichen weiteren Selbstmord verstummten. »Du wirst diesem dummen Gerede damit ein Ende bereiten«, sagte sie, »Stell dir vor, wenn später irgendetwas hier schief gehen sollte, wird man sagen, das Haus sei verhext. Das Heim würde von Anfang an einen üblen Start haben.«

»Und du glaubst, es würde nützen, wenn ich hier eine Nacht verbringe?«, vergewisserte er sich.

»Wenn man den alten Legenden Glauben schenken will, wäre der Fluch damit gebrochen«, erklärte sie.

»Nun, irgendjemand würde früher oder später in jedem Fall hier sterben«, warf er ein. »Das ist etwas, was wir gar nicht verhindern können.«

»Aber wir können verhindern, dass die Leute sagen, es sei jemand eines unnatürlichen Todes gestorben«, entgegnete sie mit Nachdruck.

»Du hast recht«, stimmte er zu. »Wir werden also zusammen Wache halten. Und ich werde mir ganz wie in den Flitterwochen vorkommen.« Er schien jetzt großes Interesse daran zu finden, doch seine Begeisterung sank rasch, als sie erklärte, zu dritt wäre diese Nachtwache sicherer.

»Und wer soll der Dritte sein?«, überlegte er nach einer Weile. »Ich könnte vielleicht Mortimer dazu bekommen«, fuhr er nach einer Pause des Nachdenkens fort. Glaubst du, er würde mitmachen?«

Sie schien zu überlegen. »Vermutlich, er ist ganz unternehmungslustig. Und es wird ihn wahrscheinlich interessieren«. Ihre Stimme klang gleichgültig.

»Und er wird uns mit seinen Geschichten die Zeit vertreiben«, fügte ihr Gatte hinzu.

Also wurde Captain Mortimer, ein lebenslustiger junger Mann, der noch dazu ein Vetter von Mrs. Burley war, eingeladen, an diesem mysteriösen Unternehmen teilzuhaben. Aber Captain Mortimer war jung und leidenschaftlich und Mrs. Burley war auch jung und dazu hübsch und unbefriedigt, und John Burley war ein nachlässiger und selbstgefälliger Ehemann.

Das Schicksal stellt seine Fallen überaus geschickt, und John Burley, der die Zusammenhänge nicht durchschaute, tappte blind hinein. Sie wählten für ihr Unternehmen eine der kürzesten Nächte des Jahres, den 18. Juni. Es würde also kaum mehr als drei Stunden wirklicher Dunkelheit geben. Nancy meinte nämlich, dass es genügen würde, nur während dieser Zeit Wache zu halten, nicht etwa von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang.

»Schön, machen wir es so!«, entschied Burley. »Mortimer ist ohnedies nicht gerade begeistert, weil er zu einem Ball gehen wollte.«

Er glaubte einen Funken von Enttäuschung in den Augen der Frau zu sehen. »Auf jeden Fall brauchte er nicht allzu viel Überredung«, fuhr er fort. »Er wird also kommen. Vermutlich hatte er ein Mädchen versetzt, aber es schien ihm nicht viel auszumachen.«

Sie hatten in der South Audley Street Tee getrunken und waren danach in den Waid von Kent gefahren. Sie setzten ihren Chauffeur in einem Dorfwirtshaus ab, nachdem sie ihm eingeschärft hatten, über den Zweck ihres Hierseins stricktes Stillschweigen zu bewahren und sie eine Stunde nach Sonnenaufgang an dem Haus abzuholen. »Er wird es bestimmt jedem erzählen«, sagte sein praktischer und zynischer Chef. »Die Lokalblätter werden die Geschichte morgen ausführlich bringen und damit wird es für allemal vorbei sein. Wir werden uns die Zeit schon irgendwie vertreiben, vor allem, wenn Mortimer sein Seemannsgarn spinnt.«

Er machte einen Rundgang durch das Haus, während Nancy und Mortimer in der Halle zurückblieben.

»Vier Stunden ist nicht viel, aber immerhin etwas«, flüsterte Mortimer, der zum ersten Mal, seit sie aufgebrochen waren, mit ihr allein war. »Es war wirklich reizend, dass Sie an mich gedacht haben. Sie sehen heute Abend wundervoll aus. Sie sind die bezauberndste Frau, die ich kenne!« Seine blauen Augen glühten vor hungriger Begierde, die er für Liebe hielt. Er sah aus, als sei er direkt von der See daher geweht worden. Seine Haut war sonnenbraun und sein blondes Haar von der starken Seeluft gebleicht. Er fasste sie an der Hand und zog sie hinaus in den sinkenden Abend, wo die Rhododendronbüsche in lebhaften Farben aufglühten.

»Aber ich habe ja gar nichts damit zu tun, Sie Dummer. Es war John, der den Vorschlag machte. Und nebenbei wollten Sie doch gar nicht kommen.«

»Aber natürlich, das war nur ein Vorwand. Oh, wirklich, meine Liebe, Sie sind zu köstlich.« Er küsste sie mit plötzlicher Leidenschaft. Sie sträubte sich zuerst dagegen, gab dann aber nach.

»Harry, Sie sind wirklich verrückt«, rief sie atemlos, als er sie endlich freigab. »Wie können Sie es bloß wagen, wo John doch Ihr Freund ist? Und nebenbei« – fügte sie mit einem raschen Seitenblick hinzu – »sind wir hier nicht sicher.«

In ihren Augen lag ein begehrliches Funkeln und ihre Wangen brannten. Sie wirkte wie das, was sie war, ein schönes, junges, begehrliches Tier, das bereit war, Leidenschaft zu geben und zu genießen. »Glücklicherweise«, fügte sie mit gesenkter Stimme hinzu, »vertraut mir mein Mann zu sehr, um einen Verdacht zu hegen.«

Mortimer lachte fröhlich. In seinen Augen lag Anbetung. »Nun, ein Kuss schadet doch nichts«, sagte er. »Er hat ohnehin seinen Kopf voll von Schiffen und Verträgen und all dem Kram«, beruhigte er sie. Sein Instinkt sagte ihm, dass es unklug sei, jetzt weiter in sie zu dringen. Vielmehr würde er ihr die Initiative überlassen.

Johns dröhnende Stimme brach in ihr Intermezzo. »Kommt«, sagte er gutgelaunt, »sehen wir uns doch den Garten an! Vor Sonnenuntergang werden wir dann Abendessen. Er lachte gut gelaunt und schob seinen Arm unter den Mortimers. »Komm, alter Junge, machen wir noch eine letzte Runde, ehe wir hingehen, und uns aufhängen!« Er streckte seine freie Hand nach seiner Frau aus.

»Oh, hör auf damit, John«, sagte sie heftig. »Ich mag solche Reden nicht, vor allem jetzt, wo es schon dämmrig wird!« Sie schüttelte sich, als ob ein kalter Schauer über sie hin rieselte.

John zog sie lachend in seine Arme und küsste sie just an der Stelle, wo sie vor zwei Minuten von Mortimer geküsst worden war. »Wir beide werden schon gut auf dich aufpassen, versicherte er gutgelaunt. Nancy und Mortimer wechselten über seinen breiten Rücken hinweg einen raschen Blick. Sie verstanden sich auch ohne Worte. Er hat nichts bemerkt, bedeutete dieser Blick, aber lass uns das nächste Mal vorsichtiger sein.

Es blieben noch etliche Minuten, ehe der riesige rote Sonnenball hinter den Hügeln versank. Das Trio wanderte schwatzend und lachend im Garten unter den Rosenbüschen einher. Es war ein wunderschöner Abend, windstill, warm und nach Rosen duftend. Doch vom nahen Wald herüber zogen sich lange Schatten, und die eine Seite des Hauses lag schon im Dunkeln. Da und dort flatterte noch ein Vogel auf und samtige Nachtfalter schwirrten über den Blütenkronen der Azaleen und Rhododendren.

»Kommt jetzt«, sagte John Burley plötzlich und wandte sich dem Haus zu. »Wir müssen hineingehen, ehe die Sonne versunken ist. Wenn wir schon hier sind, um einen vermeintlichen Fluch zu brechen, so müssen wir uns auch an die Bedingungen halten.«

Es gehörte zu Johns Eigenschaften, alles, was er anfasste, genau und gründlich zu tun.

So gingen diese drei ungleichen Geisterjäger, von denen keiner eine Ahnung hatte, was wirklich geschehen würde, in das Haus und stiegen die Treppe hoch in eine Art Salon, wo sie ihr Abendessen einzunehmen gedachten. Die Luft innen war dumpf und schwer. »Es riecht wie in einem unbenutzten Museum«, sagte Mortimer, »ich kann den Geruch erkennen.«

Sie sahen sich schnüffelnd um. Mrs. Burley sagte, sie hätte gern ein paar Rosen gepflückt und mitgenommen. Ihr Gatte war schön auf der Stiege, und Mortimer just hinter ihm, als sie plötzlich rief: »Aber ich will nicht die Letzte sein. Die Halle hinter mir ist so dunkel.«

Mortimer ergriff ihre ausgestreckte Hand und presste sie inständig, während sie hinaufstiegen.

Da ist eine Erscheinung, erinnere dich!«, sagte sie rasch, um Johns Aufmerksamkeit abzulenken. »Sie gehört irgendwie zur Geschichte. Die Erscheinung eines Mannes.« Ein winziger Schauer lief über sie hin.

»Nun, ich hoffe, wir werden sie sehen«, sagte ihr Mann trocken.

»Das hoffe ich nicht«, rief sie mit Nachdruck. »Sie soll sich nur zeigen, wenn etwas passiert!«

Burley sagte nichts, aber Mortimer meinte respektlos, es sei doch schade, wenn sie sich alle drei umsonst bemühten. »Aber schließlich wird uns Dreien bestimmt nichts zustoßen«, fügte er zuversichtlich hinzu. Mrs. Burley packte schweigend und in ihre eigenen Gedanken versunken belegte Brote und Weinflaschen aus. Ihr Mann trat ans Fenster und sah hinaus. Er wirkte irgendwie rastlos. »Das also ist der Platz«, sagte er »wo einer von uns...«

»John«, rief sie scharf, »bitte, sprich nicht davon!« Ihre Stimme klang schrill und ängstlich. Vermutlich begann die unheimliche Atmosphäre auf sie zu wirken. Draußen im sonnigen Garten war sie noch zuversichtlich gewesen, aber nun, da die Dunkelheit das Haus überschattete, konnte sie sich dem Gefühl des Unheimlichen nicht länger entziehen.

Burley kam zu ihr herüber und ergriff ihre Hände. »Entschuldige, Nancy«, sagte er. »Ich habe nicht daran gedacht. Weißt du, ich kann es nicht ernst nehmen. Es ist einfach für mich undenkbar, dass ein Mann...«

»Aber wozu dann davon reden?«, sagte sie leise. »Schließlich bringen sich die Leute doch für nichts um.«

»Wir wissen nicht über alles Bescheid, nicht wahr?«, kam ihr Mortimer zu Hilfe. »Aber Tatsache ist, dass ich halb verhungert bin und dieser Schinkentoast wirklich köstlich ist.« Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen Teller, während sich sein Schenkel unauffällig gegen den ihren presste.

Sie versetzte ihm einen sanften Stoß, der ihn warnen sollte, während ihr Mann in einem hastigen Zug sein Weinglas leerte. Nach dem Essen lehnte er sich behaglich in seinen Stuhl zurück und entzündete eine dicke Zigarre. »Erzähl uns von der Erscheinung«, bat er. »Ich habe noch nichts davon gehört.«

Sie rückte ihren Stuhl ein wenig zurück, fort aus der Reichnähe von Mortimers gefährlichen Beinen. »Ich weiß selbst nicht viel davon«, sagte sie. »Nur das, was in der Zeitung steht. Es soll ein Mann sein, und sein Aussehen wechselt.«

»Du meinst seihe Kleider?«, fragte ihr Mann interessiert.

Mrs. Burley lachte und sie schien erleichtert darüber. »Es heißt, dass er sich jedes Mal dem Mann zeigt, der sich...«

»Du meinst dem Mann, der stirbt?«

»Jaja, natürlich! Er soll sich immer in dessen Gestalt zeigen.«

»Hmh«, macht ihr Mann und blickte sie verwundert an.

»Es heißt, dass der Bursche jedes Mal sein eigenes Double sah, ehe er es tat«, fügte Mortimer erklärend hinzu.

Sie sprachen noch eine ganze Weile darüber, während Mortimers Aufmerksamkeit auf Nancy gerichtet war, die ihm von Minute zu Minute begehrenswerter erschien. John Burleys Aufmerksamkeit wandte sich wieder dem Fenster zu, von wo aus er die beiden in einer Art von geistiger Abwesenheit betrachtete. Er wanderte ruhelos und sichtlich gelangweilt in dem Raum umher. Auf seinem Gesicht lag ein gewisser Ausdruck von Resignation, den Nancy bisher nicht an ihm bemerkt hatte. Ein Windzug strich durch das Zimmer und liefe die Papiere auf dem Tisch aufflattern.

»Südwind kommt auf«, sagte Burley und schloss die eine Hälfte des Fensters. Er wandte den beiden den Rücken zu und Mortimer benützte die Gelegenheit, um einen langen Kuss auf Nancys Nacken zu pressen. Weder sie noch er bemerkten, dass das Innere des Raumes sich in den Fensterscheiben spiegelte. Burley schien nichts bemerkt zu haben, sondern blickte regungslos in die Nacht hinaus.

»Eine großartige Luft«, sagte seine dunkle Stimme, als er sich wieder umwandte. »Heute möchte ich auf See sein.«

Er gesellte sich wieder zu ihnen und rückte sich einen Stuhl zurecht. »Schön«, sagte er, »gehen wir auf unseren Posten! Mortimer, wir erwarten wilde Geschichten von dir. Richtige Gruselgeschichten mit Ketten und geköpften Männern und all dem. Wir wollen uns schließlich lang an diese Nacht erinnern!«

Sie rückten ihre Stühle zusammen und machten es sich für die Nacht bequem. Bald war der Raum von dickem Rauch erfüllt. Gelegentlich rüttelte der Wind an einem Fensterladen, und dann standen sie auf um nachzusehen. Mrs. Burley erklärte mit Entschiedenheit, sie wolle keine Gruselgeschichten hören. Ein leeres Haus, das einsam im Lande liegt, hat seine spezielle Atmosphäre, trotz der beruhigenden Anwesenheit zweier Männer. Es schien ihr auf einmal, als ob aus allen Winkeln gefährliche Schatten hervorkämen, die sich schwer auf sie alle legten. John Burley schien von dem Unheimlichen, das ihre Nerven beunruhigte, zu bemerken. Nancy warf des Öfteren einen prüfenden Blick auf ihn, seine scharfgeschnittenen Gesichtszüge schienen im Licht der Lampe noch ausgeprägter. Obwohl er äußerlich völlig ruhig wirkte, konnte ihr seine innere Unruhe nicht entgehen. Er schien ihr irgendwie verändert, ohne dass sie hätte sagen können, weshalb. Über sich selbst erstaunt, stellte sie fest, dass er auf eine Weise abgeklärt wirkte, wie sie es noch nie an ihm bemerkte.

Burley wandte sich an den Seemann. »Komm, erzähl uns etwas«, bat er. »Aber du weißt, keine Gruselgeschichten! Madam hat etwas dagegen!«

Mortimer erzählte eine Geschichte von einem alten Seemann, der in einer Hafenstadt lebte, in der freie Zimmer Seltenheitswert hatten und deshalb fabelhafte Preise erzielten. In seinem Haus gab es zwei hübsche Räume, in denen immer frische Blumen standen, aber er war nicht bereit, sie zu vermieten. Mortimer berichtete, dass es ihm schließlich gelungen sei, den Grund dafür herauszubekommen. »Sie gehören dem Südwind«, sagte der alte Bursche, ich halte sie frei, bis mein Mädchen zurückkommt. Sie ist damals mit dem Südwind zu mir gekommen...«

Es war eine merkwürdige Geschichte in solch einer Gesellschaft. Burley unterbrach ihn lachend. »Wir wollten eine Geschichte hören, aber du erzählt uns ein Märchen. Weifet du was, Mortimer, ich glaube du bist verliebt, und zwar in meine Frau!«

»Natürlich bin ich das«, sagte der junge Mann, »du weißt ja, ein Seemannsherz...!«

Das Gesicht der jungen Frau wurde abwechselnd rot und blass. Sie kannte ihren Gatten gut genug, um in seinen Augen und seinen Worten einen Unterton zu bemerken, der ihr nicht gefiel. Harry musste verrückt sein, eine solche Geschichte zu erzählen. »Nun, immerhin«, sagte sie leichthin, »ist sie besser als Gruselgeschichten.«

»Na schön«, stimmte ihr Gatte zu. »Meinetwegen. Aber das eine ist so verrückt wie das andere.« Sie verstand nicht ganz, was er meinte. »Wenn ein Mann wirklich verliebt ist«, fügte er in seiner direkten Art hinzu, und das Mädchen ihn betrogen hat, könnte ich mir eventuell vorstellen, dass...«

»John, um Himmels willen, fang bloß nicht zu predigen an!«, unterbrach ihn Nancy ungeduldig.

»Na schön, reden wir nicht weiter davon!«, stimmte er friedfertig zu. »Aber immerhin könnte ich mir vorstellen, dass ein Mann unter diesen Umständen wenig Gefallen an seinem Leben findet.«

»John, ich verabscheue dich, wenn du so weiter redest«, rief Nancy ärgerlich. Etwas an der Art, wie er es gesagt hatte, schockierte sie.

Burley gab keine Antwort. Er warf einen Blick auf die Uhr und stand auf.

»Schon zwei«, murmelte er. »Ich glaube, ich sollte einmal einen Rundgang durch das Haus machen. Immerhin wird es schon bald hell werden.«

Er lachte ein wenig. Der Ausdruck seines Gesichtes und der Ton seiner Stimme erleichterten sie. Er ging, und sie hörten seine schweren Schritte auf dem Korridor knarren.

Mortimer wandte sich augenblicklich zu Nancy. »Was hat er vorhin gemeint?« fragte er atemlos. »Er liebt dich doch gar nicht. Jedenfalls nicht so wie ich. Du gehörst zu mir, Nancy.« Er bedeckte ihr Gesicht mit Küssen.

»Oh, das habe ich nicht gemeint«, sagte sie leise.

Er gab sie für einen Augenblick frei. »Was sonst?«, flüsterte er. »Glaubst du, er hat uns draußen gesehen?« Er lauschte einen Moment in die Dunkelheit. Burleys Schritte waren in der Ferne zu hören.

Ein Windstoß seufzte durch den Raum und rüttelte an irgendeinem Fenster. Nancy erschauerte leicht. »Er ist anders als sonst«, sagte sie leise. »Hast du nicht bemerkt, wie unruhig er ist? Und dann, als er vorhin sagte, er könne verstehen, dass ein Mann unter bestimmten Umständen...« Sie unterbrach sich und sah Mortimer ins Gesicht. »Harry«, sagte sie entschieden, »das passt nicht zu ihm. Er sagt so etwas doch nicht ohne Grund.«

»Unsinn, er langweilt sich, das ist es. Und dir geht dieses Haus auf die Nerven.« Er küsste sie zärtlich.

Die Schritte kamen näher, und sie stieß ihn ein wenig zurück. »Du musst vorsichtig sein, Harry.« Sie warf sich in einen Ausbruch ungezügelter Leidenschaft erneut in seine Arme und verbarg ihr Gesicht einen Augenblick an seiner Schulter, dann riss sie sich los. »Ich hasse dich, Harry«, sagte sie heftig, »und mich dazu. Warum behandelst du mich bloß so?« Sie unterbrach sich hastig, strich eine. Haarsträhne aus ihrem Gesicht und trat ans Fenster.

Mortimer beobachtete sie mit überraschter Enttäuschung. »Ich glaube, du treibst ein Spiel mit mir«, sagte er böse. »In Wirklichkeit bist du in ihn verliebt.«

Sie wandte sich ihm mit einer ärgerlichen Bewegung zu.

»Er ist immer gut zu mir gewesen und hat mir niemals etwas vorgeworfen. Komm, gib mir eine Zigarette und hör auf den Bühnenhelden zu spielen! Meine Nerven sind am Ende, das ist es«, sagte sie schneidend.

Ihre Stimme klang scharf, und er bemerkte, dass ihre Lippen zitterten. Das taten seine Finger auch. Er stand noch neben ihr, mit dem Streichholz in der Hand, als John Burley zurückkam. Er ging geradewegs zum Tisch und schraubte die Petroleumlampe tiefer. »Sie hat geraucht«, bemerkte er. »Habt ihr es nicht gesehen?«

Mortimer wandte sich ihm zu. »Es war der Windzug, als du die Tür geöffnet hast«, warf er ein. Der große Mann sagte: »Aahh ja«, und streckte sich wieder in seinem Stuhl aus.

»Ich habe mir jeden einzelnen Raum angesehen«, berichtete er, »und ich muss sagen, das Haus ist für meine Zwecke sehr geeignet.« Er warf einen prüfenden Blick auf seine Frau, die ihren Platz wieder eingenommen hatte. »Leben werden innerhalb dieser Wände gerettet werden«, sagte er mit einem zufriedenen Unterton. »Natürlich werden auch einige Leute hier sterben, aber das ist der Lauf der Dinge.«

»Horch«, unterbrach ihn Nancy, »dieses Geräusch, was mag es sein?«

Ein schwacher Laut kam vom Korridor und ließ die drei plötzlich aufhorchen.

»Es ist der Wind«, sagte Burley ruhig, »unser kleiner Freund, der Südwind.«

Aber merkwürdigerweise sprangen alle drei auf. »Ich werde nachsehen«, sagte er. »Die Türen und Fenster stehen alle offen, damit die Farbe trocknet.« Doch er rührte sich nicht von der Stelle, sondern beobachtete eine weiße Motte, welche die Lampe umkreiste.

»Lass mich gehen«, sagte Mortimer eifrig. Er gestand sich ein, dass er sich einigermaßen unbehaglich fühlte. Aber zu seiner Verwunderung war es Nancy, die darauf bestand, zu gehen.

»Ich werde nachsehen«, sagte sie entschieden. »Ich habe diesen Raum nicht verlassen, seit wir gekommen sind, und fürchte mich nicht ein bisschen.«

Aber merkwürdigerweise machte auch sie keine Bewegung. Etwa fünfzehn Sekunden lang verharrten diese drei Menschen regungslos. Ein Blick in Mortimers Augen zeigte ihr, dass auch er diese leichte, unbeschreibliche Veränderung im Wesen ihres Mannes bemerkt hatte und dadurch beunruhigt war. Und plötzlich verachtete sie ihn, während sie gleichzeitig ein neues seltsames Verlangen nach ihrem Mann empfand. Etwas in dem Raum hatte sich verändert, empfand sie, so als wäre etwas Fremdes in den Raum gekommen. Ein leichtsinniges, leidenschaftliches junges Liebespaar und ein getäuschter Mann standen abwartend lauschend und einander beobachtend im Raum, der erfüllt schien von den Ängsten, Hoffnungen und Begierden, die jeden von ihnen erfüllten.

John Burley durchbrach die Stimmung. »Ja, geh nur, Nancy. Es gibt nichts zu fürchten, es ist nur der Wind.« Er redete, als ob er es glaubte.

Mortimer biss sich auf die Lippen. »Ich komme mit«, sagte er heftig. »Oder vielmehr, gehen wir doch alle drei. Ich glaube, es ist besser, wenn wir uns nicht trennen.«

Aber Mrs. Burley war schon an der Tür. »Nein, ich gehe allein«, sagte sie lachend. »Ich rufe euch, wenn ich Angst habe.«

Ihr Mann beobachtete sie schweigend von seinem Platz aus.

»Nehmen Sie meine Taschenlampe!«, sagte Mortimer und lief ihr nach. »Zwei sind besser als eine.«

Ihre Silhouette hob sich klar gegen die Dunkelheit des Korridors ab. Es war offensichtlich, dass sie gehen wollte. Ihre Nervosität war von einem stärkeren Gefühl überdeckt. Er hatte gehofft, auf dem Korridor ein geheimes Wort mit ihr wechseln zu können, aber er begriff, dass ihre Haltung es nicht zuließ.

»Die erste Tür rechts«, rief er. »Von daher kam das Geräusch. Rufen Sie uns, wenn Sie etwas bemerken!«

Er beobachtete, wie sie den Gang entlangschritt, wobei sie die Lampe vor sich hertrug. Mortimer trat in das Zimmer zurück, wo Burley eben eine Zigarre entzündete. Sein scharfgeschnittenes Profil zeichnete sich klar gegen den Lichtschein der Lampe ab. Mortimer konnte für einen Augenblick seinen Ausdruck erhaschen und er begriff, dass Burley gewünscht hatte, dass seine Frau gehen sollte. Für einen Augenblick vergaß Mortimer seine selbstsüchtige Leidenschaft. John Burley sah ihn an, mit einem Blick, der in seinem Innersten zu lesen schien, und Mortimer trat näher. Er bemühte sich, eine selbstsichere Miene zur Schau zu tragen. »Natürlich war es nur der Wind«, sagte er leichthin.

Er sprach schnell, um den anderen am Sprechen zu hindern. Er warf einen Blick auf die Uhr und fügte hinzu »Schon halb drei. Um dreiviertelvier wird die Sonne aufgehen. Es ist jetzt schon beinahe dämmrig. Diese kurzen Nächte sind nie wirklich dunkel, nicht wahr?«

Vom Nebenzimmer kam ein leises Geräusch. Er hob den Kopf und lauschte.

»Es ist nichts«, sagte Burley ruhig. »Nur meine Frau, die einen Augenblick mit sich allein sein möchte. Meine junge hübsche Frau. Wirklich, ich kenne sie besser als du. Komm her und mach die Tür zu!«

Mortimer gehorchte. Er schloss die Tür und kam zu dem andern Mann an den Tisch. Burley musterte ihn nachdenklich. »Weifet du was, Harry«, sagte er mit seiner ruhigen, tiefen Stimme. »Wenn ich wüsste, dass zwischen dir und meiner Frau etwas Ernsthaftes ist, würde ich wünschen, dass einer von uns hierbliebe, in diesem Haus. Tot, meine ich.«

Er stieß eine blaue Rauchwolke aus, während seine Zähne die Zigarre festhielten. Seine Finger waren ineinander verkrampft. Seine Augen hatten einen starren Ausdruck. »Ich vertraue ihr so vollkommen«, fuhr er fort, »dass mein Glaube an die Menschheit zerstört würde, wenn sie mich betröge. Und damit hätte das Leben für mich jeden Sinn verloren. Kannst du das verstehen?«

Mortimer nickte schweigend. Jedes Wort traf den jungen eitlen Gecken wie ein Schlag ins Gesicht. Er erkannte plötzlich das tiefe innere Wesen seines Rivalen. Ein halbes Dutzend von Antworten wirbelte durch seinen Kopf. Er konnte gestehen, die Schuld auf sich nehmen... aber jedes Wort erschien ihm angesichts der tiefen, selbstverständlichen Ruhe, die von seinem Gegenüber ausging, sinnlos. So stand er schweigend da und versuchte seine Fassung wiederzugewinnen.

Wenig später betrat Mrs. Burley das Zimmer. Sie sah das Gesicht ihres Gatten. Mortimer kehrte ihr den Rücken zu. In ihrer Stimme war ein atemloses kleines Gelächter. »Es ist alles in Ordnung«, sagte sie hastig. »Nur ein loser Balken in dem Zimmer nebenan!«

Die beiden Männer lachten, aber ihr Lachen klang sehr verschieden. »Ich hasse dieses Haus trotzdem«, fügte Nancy hinzu. »Und ich wünschte, wir hätten es nie betreten.«

»In dem Augenblick, in dem es hell wird, werden wir gehen«, tröstete sie Burley. »Noch eine halbe Stunde, dann ist’s vorbei. Komm Nancy, setz dich zu uns und iss einen Happen! Du siehst erschöpft aus!«

Er stand auf und schob ihr einen Stuhl zurecht. »Ich denke, ich werde noch einmal eine Runde machen«, sagte er dann. Vielleicht schaue ich in den Garten hinaus und sehe, ob es schon hell wird.«

Er brauchte keine halbe Minute, um das zu sagen, aber Mortimer schien es, als ob er nie wieder zu sprechen aufhören würde. Er war verwirrt und unglücklich, verabscheute sich selbst und die Frau, durch die er in diese Verwirrung geraten war.

Die Situation war schrecklich peinlich geworden. Er hatte niemals daran gedacht, dass der Mann, den er für seine Umwelt blind gehalten hatte, ein so feines Gefühl für die Zwischentöne menschlicher Beziehungen entwickeln könnte. Zweifellos liebte Nancy ihren Mann, und mit ihm, Mortimer hatte sie nur gespielt.

»Ich möchte gern mitkommen«, sagte er plötzlich. Mrs. Burley stand blass und unsicher zwischen ihnen. Sie wusste nicht recht, was sie von der Situation halten sollte.

»Aber nein, Harry«, sagte Burley freundlich. »Ich bin in fünf Minuten wieder da und möchte nicht, dass Nancy allein bleibt.«

Er ging, ohne sich umzusehen. Der junge Mann wandte sich Nancy zu, aber er kam ihr nicht nahe. Es war zum ersten Mal, dass er eine Gelegenheit nicht benutzte. Seine Leidenschaft war erloschen; das, was er für Liebe gehalten hatte, abgestorben. Er betrachtete die hübsche junge Frau vor sich mit einem leisen Staunen. Was hatte ihn bloß so unwiderstehlich zu ihr hingezogen? Jetzt wünschte er sich sehnlich, er hätte sie nie kennengelernt. John Burleys Worte brannten in seinem Gehirn.

Sie hatte Angst, das sah er ganz deutlich. Er fand schließlich seine Sprache wieder. »Was ist los mit dir«, fragte er leise. »Hast du da drüben etwas gesehen?« Der Ton seiner Stimme musste ihr klarmachen,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Authors/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Korrektorat: Mina Dörge.
Übersetzung: N. N.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 19.02.2022
ISBN: 978-3-7554-0806-2

Alle Rechte vorbehalten

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