Cover

Leseprobe

 

 

 

 

ADRIAN DOYLE

&

TIMOTHY STAHL

 

 

BLUTVOLK, Band 50:

Die dritte Weissagung

 

 

 

Roman

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Die Autoren 

 

Was bisher geschah... 

DIE DRITTE WEISSAGUNG 

Vorschau auf BLUTVOLK, Band 51: DUNKLE ROMANZE 

von ADRIAN DOYLE und TIMOTHY STAHL 

Glossar 

 

Das Buch

Von den Menschen weitgehend unbemerkt, geschehen mysteriöse, erschreckende Dinge. Unglücksfälle, deren wahre Bedeutung man verkennt. Naturphänomene, die nicht natürlichen Ursprungs sind. Erscheinungen, die keiner zu deuten vermag...

Doch all dies hat einen Sinn, wurde vor vielen Jahren von Kindeshand in drei Prophezeiungen niedergeschrieben. Die beiden ersten haben sich bereits bewahrheitet. Die dritte steht nun, kurz vor dem Millennium, vor ihrer Erfüllung! 

 

BLUTVOLK – die Vampir-Horror-Serie von Adrian Doyle und Timothy Stahl: jetzt exklusiv als E-Books im Apex-Verlag.

Die Autoren

 

Manfred Weinland, Jahrgang 1960.

Adrian Doyle ist das Pseudonym des deutschen Schriftstellers, Übersetzers und Lektors Manfred Weinland.

Weinland veröffentlichte seit 1977 rund 300 Titel in den Genres Horror, Science Fiction, Fantasy, Krimi und anderen. Seine diesbezügliche Laufbahn begann er bereits im Alter von 14 Jahren mit Veröffentlichungen in diversen Fanzines. Seine erste semi-professionelle Veröffentlichung war eine SF-Story in der von Perry-Rhodan-Autor William Voltz herausgegebenen Anthologie Das zweite Ich.

Über die Roman-Agentur Grasmück fing er Ende der 1970er Jahre an, bei verschiedenen Heftroman-Reihen und -Serien der Verlage Zauberkreis, Bastei und Pabel-Moewig mitzuwirken. Neben Romanen für Perry-Rhodan-Taschenbuch und Jerry Cotton schrieb er u. a. für Gespenster-Krimi, Damona King, Vampir-Horror-Roman, Dämonen-Land, Dino-Land, Mitternachts-Roman, Irrlicht, Professor Zamorra, Maddrax, Mission Mars und 2012.

Für den Bastei-Verlag hat er außerdem zwei umfangreiche Serien entwickelt, diese als Exposé-Autor betreut und über weite Strecken auch allein verfasst: Bad Earth und Vampira.

Weinland arbeitet außerdem als Übersetzer und Lektor, u. a. für diverse deutschsprachige Romane zu Star Wars sowie für Roman-Adaptionen von Computerspielen.

Aktuell schreibt er – neben Maddrax – auch an der bei Bastei-Lübbe erscheinenden Serie Professor Zamorra mit.

 

 

Timothy Stahl, Jahrgang 1964.

Timothy Stahl ist ein deutschsprachiger Schriftsteller und Übersetzer. Geboren in den USA, wuchs er in Deutschland auf, wo er hauptberuflich als Redakteur für Tageszeitungen sowie als Chefredakteur eines Wochenmagazins und einer Szene-Zeitschrift für junge Leser tätig war.

In den 1980ern erfolgten seine ersten Veröffentlichungen im semi-professionellen Bereich, thematisch alle im fantastischen Genre angesiedelt, das es ihm bis heute sehr angetan hat. 1990 erschien seine erste professionelle – sprich: bezahlte - Arbeit in der Reihe Gaslicht. Es folgten in den weiteren Jahren viele Romane für Heftserien und -reihen, darunter Jerry Cotton, Trucker-King, Mitternachts-Roman, Perry Rhodan, Maddrax, Horror-Factory, Jack Slade, Cotton Reloaded, Professor Zamorra, John Sinclair u. a.

Besonders gern blickt er zurück auf die Mitarbeit an der legendären Serie Vampira, die später im Hardcover-Format unter dem Titel Das Volk der Nacht fortgesetzt wurde, und seine eigene sechsbändige Mystery-Serie Wölfe, mit der er 2003 zu den Gewinnern im crossmedialen Autorenwettbewerb des Bastei-Verlags gehörte.

In die Vereinigten Staaten kehrte er 1999 zurück, seitdem ist das Schreiben von Spannungsromanen sein Hauptberuf; außerdem ist er in vielen Bereichen ein gefragter Übersetzer. Mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen lebt er in Las Vegas, Nevada. 

  Was bisher geschah...

 

 

 

  Wie aus dem Nichts erscheint am 28. September 2000 ein mysteriöses Haus an der Paddington Street in Sydney. Der Polizeipathologe Darren Secada findet darin die Halbvampirin Lilith Eden, die nach ihrem großen Kampf gegen die Mächte der Finsternis zwei Jahre lang dort schlief. Secada bringt sie in seine Wohnung, verfolgt von Seven van Kees, einer Reporterin des Sydney Morning Herald. Diese wird Zeuge, wie zwei unheimliche Gestalten in die Wohnung eindringen – und von Lilith, die sich in eine Fledermaus verwandelt, zur Strecke gebracht werden.

Es sind Vampire! Doch dies ist eigentlich unmöglich. Lilith weiß, dass Gott selbst die Alte Rasse vom Antlitz der Erde getilgt hat. Darren stellt fest, dass diese Wesen seit Jahren tot sind; sie verschwanden damals aus ihren Gräbern. Und nun setzt sich der aufgehaltene Verwesungsprozess fort. Was ist geschehen in den zwei Jahren, die Lilith schlief?

Doch bevor sie sich um diese Frage kümmern kann, braucht sie ein Zuhause – das Haus in der Paddington Street. In dessen Kellergewölben hat sich jedoch eine monströse Bedrohung eingenistet: durch Magie mutierte Ratten, die viele der Polizisten töten. Lilith stellt sich der Gefahr. Es gelingt ihr nicht nur, die Ratten zu vernichten, sie gewinnt auch das Vertrauen des Einsatzleiters, Chefinspektor Chad Holloway. Durch ihn kommt sie an den Polizeichef von Sydney heran und »überzeugt« ihn hypnotisch, die Truppen abzuziehen.

Lilith bleibt keine Zeit, Atem zu holen. Sie entdeckt über dem Sydneyer Zoo einen magischen Wirbel, und als sie das Phänomen untersuchen will, wird sie von aus Tierteilen zusammengesetzten Chimären angegriffen. Zwar bleibt sie Sieger, doch wer die Untat begangen hat, ist ungewiss. Sie erfährt auch nicht, dass die Urheber über ein Pergament verfügen, das man nur berühren muss, um ihnen zu Diensten zu sein. Und dass sie einem höheren Ziel folgen, welches sie mit der »Erfüllung der Zeichen« umschreiben...

Für Seven van Kees ist das Leben mittlerweile zur Hölle geworden. Sie hat sich Hals über Kopf in einen Fremden verliebt – um, nachdem sie mit ihm geschlafen hat, festzustellen, dass er längst tot war und nun seinen zweiten, diesmal endgültigen Tod findet! Sie vertraut sich Darren Secada an. Gleichzeitig merkt sie, wie sich irgendetwas in ihr verändert. Und erfährt schließlich... dass sie schwanger ist!

Lilith wird unterdessen die Einladung eines Sydneyer Multimillionärs überbracht. Max Beaderstadt steht hinter der Gruppe, die für die Chimären im Zoo verantwortlich zeichnet – und er möchte Lilith für seine Ziele gewinnen. Als sie sich weigert, will er sie töten. Das aber verhindert der Angriff eines Konkurrenten; bei dem Kampf kann Lilith entkommen. Zuvor aber erweckt Beaderstadt steinerne Gargoyles zum Leben und hetzt sie auf die Angreifer. Was ist das Geheimnis um diesen Mann...?

DIE DRITTE WEISSAGUNG

 

 

 

 

 

»Habe keine Angst, mein Kleines, denn ich bin die Muttergottes, die zu dir spricht, und ich bitte dich, diese Botschaft der ganzen Welt zu verkünden: Über die Menschheit wird eine große Züchtigung kommen, noch nicht heute und noch nicht morgen, aber zur Wende ins nächste Jahrtausend. Die Kirche wird sich verfinstern. Helle Flammen werden aus den Gemächern des Vatikans schlagen. Die Zeit der Zeiten wird kommen – und damit das Ende...«

Fragment der dritten Weissagung

 

Epilog

Die dunklen Jahre

 

Am 28. Juni 1914 kam der österreichisch-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand bei einem Attentat in Sarajewo ums Leben. Dieses Ereignis gilt als Auslöser des 1. Weltkrieges. Rund einen Monat später befahl Russland als unmittelbar beteiligte Macht die allgemeine Mobilmachung seiner Truppen. Tags darauf erklärte Deutschland zunächst dem russischen Reich, wenig später auch noch Frankreich den Krieg. Ein Jahr später hatte die Hysterie bereits ganz Europa angesteckt. Dabei sollte es nicht bleiben. Die USA, Mittel- und Südamerika, China, Siam und etliche andere »Exoten« ergriffen Partei und schürten die anfänglich noch überschaubaren Kriegsherde zu einem gewaltigen Flächenbrand, der die Welt an den Rand des Abgrunds trieb.

Zu Land, zu Wasser und in der Luft wurde dieser Krieg ausgetragen.

Auch unzählige Konferenzen und Vermittlungsversuche konnten nicht verhindern, dass das schreckliche Schlachten vier lange, dunkle Jahre andauerte.

Und gewiss nicht einer der als Krüppel oder seelische Wracks heimkehrenden Soldaten ahnte, dass nicht nur erbarmungslose Staatsoberhäupter Schuld trugen an dem Sturm, der über die Welt gewandert war, sondern jene, die ihr Los seit Urzeiten bestimmten.

Die Grauen Eminenzen, die heimlichen Drahtzieher im Hintergrund. Die wahrhaft blutsüchtigen, blutrünstigen Verbrecher...

 

 

Pedrograd, Winter 1914/15

Wie radikal sich die Landschaft verändert hatte, konnte wohl nur ermessen, wer diesen Flecken Erde mit eigenen Augen geschaut hatte, bevor eine Stadt hierher gepflanzt worden war.

Noch zwei Jahrhunderte zuvor hatten sich an dieser Stelle die Sümpfe des Newa-Deltas erstreckt. Ein riesiges, den Säugetieren – und also auch den Menschen – feindlich gesinntes Areal, in das eine Stadt zu setzen nur einem Wahnsinnigen oder Menschenverächter einfallen konnte.

Die Frau, die sich zu später Stunde durch die froststarre, nächtliche Kälte bewegte, als würden die Unbilden des Winters sie nicht anfechten, wusste jedoch verlässlich, dass Peter der Große – kein anderer hatte die Sümpfe unter unmenschlichen Bedingungen trockenlegen lassen und die fähigsten Baumeistern der Alten Welt beauftragt, dort ein architektonisches Juwel aus dem Boden zu stampfen – nichts von beidem gewesen war. Nur eben ein schwaches Menschlein, das den Einflüsterungen desjenigen, der ihn zum Bau dieses gewaltigen Denkmals animiert hatte, nicht gewachsen gewesen war...

Irina blieb kurz stehen. Der eisige Wind blies wie ein jenseitiger Odem in ihr Gesicht, das ebenso wie ihr rötlich braunes Haar unter der fellgefütterten Kapuze ihres Umhangs verborgen lag. Die Kälte biss in ihre schwach durchblutete Haut, und es gefiel ihr. Es gefiel ihr stets, diesen Körper, der schon einmal aufgehört hatte zu atmen, zu spüren. Sie war mindestens so gierig nach dem Leben, das wieder in ihr pulsierte, wie nach dem Leben derer, unter denen sie sich zu behaupten gelernt hatte. Indem sie eine perfekte Symbiose mit ihnen eingegangen war...

Ihre Augen fanden das schwache Licht, das auch von Nacht und Sturm nicht auszurotten war. Es hatte sich mit den Schatten verwoben, als läge die Stadt unter einem schimmernden Gazetuch, das die Häuser, Bäume und Brücken wie Spinngewebe miteinander vernetzte.

Trotz der Schönheit und trotz der Heerscharen pochender Herzen darin hatte sich Irina nie wirklich heimisch in dieser Stadt gefühlt, vor deren Toren sie damals mit einer Gruppe anderer Kinder getauft worden war. Blutgetauft vom legendären Hüter des Lilienkelchs, der etwa ein Vierteljahrhundert nach der Sippengründung von Pedrograd – damals noch St. Petersburg – verschwunden war. Zusammen mit dem magischen Instrument der Fortpflanzung, auf das alle Macht der Alten Rasse fußte.

Der Hüter reiste nicht mehr. Seit 188 Jahren hatte ihn kein Vampir mehr zu Gesicht bekommen, und alle Hilferufe, alle dringenden Botschaften, die von den Oberhäuptern der Sippen in die Welt hinausgetragen wurden, weil sie den Fortbestand ihrer Familien gefährdet sahen, waren ungehört verklungen. Es kursierten Gerüchte, aber niemand wusste genau, was dem Hüter widerfahren war, dass er sich nicht mehr zeigte.

Ebenso rätselhaft war das Schicksal des Unheiligtums selbst. Der Lilienkelch galt als verschollen. Die Sippe von St. Petersburg gehörte zu den Letztgetauften. Wenige Jahre später verlor sich jede Spur.

Es würde noch eine lange Zeit brauchen, bis sich die Folgen dieses Verlusts tatsächlich bemerkbar machen würden. Aber der Niedergang der heimlichen Herrscher dieses Planeten schien unausweichlich.

Es sei denn...

Es sei denn, jemandem gelänge es, den verlorenen Kelch wiederzufinden und die Rolle des Hüters zu übernehmen, dachte Irina.

Sie sann oft darüber nach, wie es wäre, wenn sie in die Fußstapfen der Legende treten würde. Wenn es ihr gelänge, den dunklen Gral der Vampire ausfindig und ihrem Volk wieder nutzbar zu machen.

Es war ein heimlicher Traum. Verbunden mit der Sehnsucht, in die Welt hinauszuziehen und diese kalte Stadt, die ihr oft wie aus Eisen gegossen schien, für immer hinter sich zu lassen.

Für immer...

Auch Irinas Existenz haftete dieses vielversprechende »Für immer« an. Aber die Vampirin hatte der Ewigkeit stets misstraut.

Sie lächelte. Das durchkühlte Fleisch formte eine Grimasse, die all jene erschreckt hätte, unter denen sich Irina die meiste Zeit ihres Daseins herumtrieb. Wenn sie nicht gerade an den schattigen Ufern der Newa im Gras lag und dort im Dickicht dem Rauschen des mächtigen Stromes lauschte, der sich unbeeindruckt vom Wandel der Zeiten zeigte.

Nach einer Weile setzte sie ihren Weg fort.

Unter der Kruste vermeintlicher Stille, die die Stadt umhüllte, herrschte allenthalben Unruhe. Eine Nervosität, die nicht erst fühlbar geworden war, seit der Zar vom Balkon des Winterpalastes aus Russlands Eintritt in den großen Krieg erklärt hatte. Das war, erinnerte sich Irina, letztes Jahr im Juli geschehen. Schon im darauffolgenden Monat war der Name der Stadt in Pedrograd geändert worden...

Sie beschleunigte ihre Schritte. Sie hätte die Randgebiete der Stadt auch – und ungleich schneller – auf ledrigen Schwingen erreichen können. Doch sie hatte die Transformation in eine Fledermaus immer als ihrer Art unwürdig empfunden und nutzte diese Möglichkeit nur in seltenen Fällen.

Einmal kam ihr eine Patrouille entgegen. Die Stiefel der Soldaten hämmerten ein Lied des Terrors in die Stille der Nacht. Irina blieb unter einer Eiche stehen und wartete ab, bis die Kriegsknechte vorübermarschiert waren.

Niemand nahm Notiz von ihr, und unbehelligt erreichte sie die Peripherie der Stadt, wo die Arbeiterfamilien in überfüllten Baracken zusammengepfercht lebten, während der Adel in seinen Häusern und Palästen in verschwenderischem Prunk schwelgte.

Nicht mehr lange, wenn die Bemühungen der ansässigen Sippe fruchteten. Und wer mochte es bezweifeln?

Am Vortag war Irina einem jungen Arbeiter zu der Stelle gefolgt, die sie jetzt wieder aufsuchte. Sie verbrachte eine Menge Zeit damit, sich ihr Essen auszusuchen, und seit Tagen quälte sie das Verlangen, wieder einmal richtig aus sich herauszugehen. Wieder einmal dem schrecklichen Fieber, das seit Anbeginn dieses geschenkten zweiten Lebens in ihr brannte, freien Lauf zu lassen.

Meist mussten die Sippen die Spuren ihrer Gelage akribisch verwischen, damit die Obrigkeit und auch die Bürger nicht hinter das Geheimnis ihrer Existenz kamen.

Hier jedoch, das hatte die Vergangenheit bewiesen, wurden Gewaltakte, und mochten sie noch so grausam sein, hingenommen.

Irina klopfte gegen die Tür der Baracke, hinter deren verhangenen Fenstern kein Licht mehr brannte. Anfangs schien auch niemand das Klopfen zu hören. Doch Irina ließ nicht nach, und irgendwann öffnete sich die Tür unter wüsten Flüchen.

Ein grobschlächtiger Mann – nicht der hübsche Junge ihrer Wahl – stierte mit weit aufgerissenen Augen, die dennoch nichts sehen konnten, ins Dunkel, und eine Stimme, noch lahm vom Schnaps, der die Kehle hinabgeronnen war, krächzte: »Verschwinde, Elender! Verschwinde, oder ich schlag' dir den Schädel ein...!«

Er hatte nicht einmal begriffen, dass eine Frau vor ihm stand.

Irina hegte deshalb keinen Groll. Sie tötete ihn, ohne nachzudenken. Ihre Hand war nicht länger die Hand, die zärtlich streichelte. Sie war eine tödliche Waffe mit rasierklingenscharfen, überlang hervorstehenden Nägeln, und ein einziger dieser Nägel genügte, den Hals des Betrunkenen von einem Ohr zum anderen aufzuschlitzen. Das Blut platzte wie eine Fontäne aus dem prallvollen Gefäß. Irina wich nicht aus. Die Nässe durchdrang ihre Kleidung und verteilte sich auf dem Boden, noch bevor der röchelnd nach vorn Kippende die Erde erreicht hatte.

Irina lenkte ihn mit ausgestrecktem Arm an sich vorbei und trat dann über ihn hinweg durch die offenstehende Tür, hinter der in diesem Moment die Stimme einer schlaftrunkenen älteren Frau ertönte: »Was ist da los? Sergej? Schmeiß die Tür zu, sonst bekommst du einen Tritt! Gottverfluchter Hurensohn! Die Asche im Herd ist kalt, und wenn du nicht gleich...«

Irina schloss die Tür von drinnen.

Es gefiel ihr, zu sehen, ohne gesehen zu werden. Es war, als bewegte man sich im hellen Tageslicht mit einer Tarnkappe unter den Leuten.

Es war... aufregend. Immer noch, nach so vielen Jahren.

Rasch sondierte sie das Innere der Baracke, in der es keine Zwischenwände gab, nur einen einzigen Raum, an dessen Fußboden sich Lager an Lager reihte, nur getrennt durch Tücher, die an gespannten Leinen aufgehängt waren und die Illusion einer Privatsphäre schufen.

Sie hausen wie Tiere, dachte Irina ohne Mitleid.

Dann fand ihr Blick den Gesuchten. Er schlief. Der Lärm hatte ihn nicht zu wecken vermocht. Wahrscheinlich hatte die Arbeit in der Munitionsfabrik ihn völlig ausgelaugt. Selbst ein in unmittelbarer Nähe angefeuerter Gewehrschuss hätte wahrscheinlich Mühe gehabt, ihn aus seinem tiefen Schlaf fahren zu lassen.

Irina ging auf ihn zu.

Die verhärmte Frau (seine Mutter?), die sich von einer zerwühlten Pritsche aufrichtete, rief: »Wer ist da? Sergej?«

Vermutlich hatte sich ihr Mann noch nie im Leben so katzenhaft leise und geschmeidig bewegt, wie Irina es gerade tat.

»Sergej ist draußen geblieben«, flüsterte sie. Und schickte ein böses Lachen hinterher.

Die Frau erstarrte. Nicht Angst, nur namenloses Staunen breitete sich über ihre Züge. Vor einer Frau – einer jungen Frau, wie nicht nur Irinas Äußeres, sondern auch ihre Stimme vorgaukelte – hätte sich diese leidgewohnte Frau niemals gefürchtet.

»Wer, zur Hölle, schleicht da herum?«

»Die Herrin der Hölle«, antwortete Irina launig. Ohne Umweg ging sie zu dem Schläfer und setzte sich neben ihm auf die Matratze.

»Verschwinde, Hure!« zischte die Frau im Dunkel. Ihre Hand fuchtelte herum, suchte nach der Dose Schwefelhölzer, die neben einer Lampe am Kopfende ihres Bettes stand. »Ich weiß nicht, wo er dich aufgegabelt hat, aber du lässt meinen Sohn in Ruhe weiterschlafen, sonst werde ich dir...«

Irina wartete nicht ab, bis das Zündholz fauchend die Dunkelheit zerriss.

Sie missachtete die Warnung der Mutter und weckte den Sohn. Zog ihn spielerisch leicht wie eine Puppe zu sich heran –

– und biss zu.

Als die Flamme auflohte, mochte es für die aufgebrachte, füllige Frau, fünf Schritte vom Geschehen entfernt, so aussehen, als wäre ihr Sohn in einem innigen Kuss mit diesem... Flittchen vereint.

Wutentbrannt entzündete sie die Lampe und wuchtete dann ihren schweren Körper in die Höhe, um wankend auf das Paar zuzugehen.

»Wassily, du verdammter –«

Der Rest des Fluchs blieb ihr im Halse stecken. als sie die Wunde am Hals ihres Sohnes gewahrte. Irinas Lippen konnten die zerfetzte Stelle nicht völlig umschließen. Zu ungezügelt, zu temperamentvoll war sie zu Werke

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Adrian Doyle/Timothy Stahl/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 14.02.2022
ISBN: 978-3-7554-0776-8

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