GLYNN CROUDACE
Die Schwarze Viper
Roman
APEX CRIME CHEFAUSWAHL, BAND 2
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DIE SCHWARZE VIPER
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Das Buch
Das Flugzeug tauchte über der Wüste auf. Plötzlich - ein greller Blitz...
Der Beobachter nickte zufrieden. Sein Zeitplan hatte auf die Sekunde genau geklappt.
Er fuhr zur Absturzstelle. Der Pilot war tot. In seiner Tasche steckte ein Vermögen: Diamanten!
Der Roman Die Schwarze Viper der britischen Schriftstellerin Glynn Croudace (* 22. April 1917) erschien erstmals im Jahr 1969; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr (unter dem Titel Das Zeichen des Mörders).
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME CHEFAUSWAHL.
DIE SCHWARZE VIPER
Erstes Kapitel
Gleich geht’s los, dachte er, im nächsten Augenblick schon.
Unwillkürlich beugte er sich vor, hielt den Atem an und wischte sich die schweißnassen Handflächen an der Hose ab. Er starrte angestrengt auf den Fleck blauen Himmels, der eine Lücke in den Bergen im Nordosten ausfüllte. Die Berge standen schmutzig-gelb in der Nachmittagssonne da, kahle unbelebte Felsbänder ohne jede Spur von Pflanzenwuchs. Erdbeben hatten in grauer Vorzeit diese wilde Architektur hochgetürmt. Die scharfen Kanten wurden jetzt durch die Entfernung gemildert und in weichere Schatten getaucht. Rasiermesserscharfe Grate und zackige Spitzen flimmerten geisterhaft in der Hitze, die über dem verbrannten Wüstenstrich lag.
Der Mann rührte sich nicht. Er strengte nur Augen und Ohren an. Rings um ihn standen gleich einem uninteressierten Publikum eine Gruppe von grotesken, mannshohen Bäumen mit fleischigen Dornen, die nirgendwo sonst auf der Welt wuchsen - nur in dieser ausgetrockneten Bergwüste Südwestafrikas, gleich nördlich des Oranjeflusses. Die Bäume waren fast das ganze Jahr über verdorrt und blattlos und sahen in der Dämmerung wie versteinerte menschliche Wesen aus. Gelegentlich brachten sie, sozusagen zum Ausgleich für ihre Hässlichkeit, zarte purpurfarbene Blüten hervor, die wie Fingerhüte aussahen.
Der Mann zwischen den Bäumen warf einen besorgten Blick auf seine Uhr. Noch neunzig Sekunden.
Der Erfolg seines Unternehmens hing ganz und gar von Lieutenant Colonel Sinclair Pitts Pünktlichkeit ab, eines ehemaligen Kampffliegers, der jetzt Geschäftsführer und Chefpilot der Orange River Airlines war, einer Chartergesellschaft, die für die weitverstreuten Farmen und Bergwerke von Groß-Namaqualand arbeitete.
Noch sechzig Sekunden.
Schweißperlen standen ihm auf der Oberlippe. Er leckte sie mit der Zunge weg, sein Blick klebte förmlich an dem Bergeinschnitt.
Plötzlich ein Lichtblitz!
Er glaubte schon, sein Plan sei gescheitert und bei seiner sorgfältigen Zeiteinteilung sei etwas schiefgegangen. Aber dann blitzte es wieder auf, und seine verkrampften Muskeln entspannten sich ein wenig. Der Lichtblitz war nichts weiter als die Reflektion des Sonnenlichts in der gebogenen Scheibe der Cessna 182. Der Lieutenant Colonel war, wie üblich, auf die Sekunde pünktlich.
Die kleine Maschine schwebte in einer Höhe von etwa hundertzwanzig Metern über dem Boden durch den Bergeinschnitt mit Kurs auf Oranjemund. Sie kam geradewegs aus den Bergen - von der Mine der Unicorn Diamond Company - und führte die Monatsproduktion an Diamanten mit sich, die über die Firma De Beers auf den Markt gebracht werden sollte.
Die Unicorn Diamond Company war unabhängig von der Vereinigung der Consolidated Diamond Mines, die den Muschelkalk an der Küste abbaute. Die Steine dieser Mine unterschieden sich von den Schwemmland-Diamanten, die in den Muschelterrassen gefunden wurden. Das Bergwerk der Unicorn nahm in Südwestafrika eine einmalige Sonderstellung ein: Es handelte sich um einen Vulkanschlot nach Art der Kimberley-Mine, dessen Blauerde zu einer Art schmutzigem Gelb verwittert war. Die Edelsteine aus diesem Schlot gehörten zu den kostbarsten der Welt.
Man vermutete, dass die Küstendiamanten einst durch einen viel mächtigeren Oranjefluss von ähnlichen Vulkanschloten im Landesinnern in prähistorischen Zeiten ins Meer gespült worden waren. Im Laufe der Jahrmillionen hatte die heftige Brandung des südlichen Atlantik ungezählte Karat-Brocken an die Küste zurückgeschleudert und sie mit einer dicken Sandschicht bedeckt.
Der Mann hob die rechte Hand, bis sie sich in gleicher Höhe mit seinem Gesicht befand. Dann warf er immer wieder einen hastigen Blick auf den Sekundenzeiger seiner Uhr, versuchte aber gleichzeitig, die heranschwebende Maschine nicht aus den Augen zu verlieren.
Inzwischen hörte er bereits das Propellergeräusch und konnte den grünen Rumpf mit den leuchtend orangefarbenen Flecken an der Nase und den Flügelspitzen erkennen. Diese fluoreszierenden Farbflecke sollten dafür sorgen, dass die Suchtrupps das Wrack leichter finden konnten, falls die Maschine zu einer Notlandung in der Wüste gezwungen war.
Der Mann mit der Uhr lächelte.
Nur noch zehn Sekunden - fünf...
Er ließ den rechten Arm sinken und konzentrierte seine ganze Aufmerksamkeit auf die Cessna. Plötzlich kippte die Nase der Maschine nach unten weg. Das Leitwerk brach ab, und ein kleines weißes Wölkchen hing in der Luft. Die Entfernung war so groß, dass er den dumpfen Knall der Explosion nicht hören konnte.
Die Maschine stürzte - zuerst langsam wie ein verwundeter Vogel, der mit ausgebreiteten Schwingen herabsinkt und das blasse Grün des Bauchs sehen lässt, dann trudelte sie immer schneller dem Boden entgegen. Das Dröhnen brach ab, als der Pilot den Motor abstellte, vermutlich um die Brandgefahr zu verringern. Im Schweigen der Wüste stand der Mann auf Zehenspitzen da und beobachtete, wie sich das Flugzeug mit der Nase in den Sand grub.
Eine Staubwolke wurde hochgewirbelt - kein Rauch, keine Flamme. Nach ein paar Sekunden drang ganz schwach der Knall der Explosion an sein Ohr.
Bis jetzt war alles planmäßig verlaufen.
Seine Augen blitzten, als er den Hügel zu der Stelle hinunterlief, wo er seinen Landrover zurückgelassen hatte. Es gab hier keine Straße, nur den geschwärzten, rauen Boden, durch den sich die Grate des darunterliegenden Felsens wie die ausgebleichten Gerippe von wilden Tieren aus der Vorzeit bohrten. Die Landschaft ringsum war so öde wie auf einem toten Planeten. Es gab kein Wasser und keinen Humus, und es schien ausgeschlossen, dass die Erde hier irgendeine Form von Leben tragen konnte. Dennoch leuchteten da und dort die rosa Früchte des Immergrüns, und in kleinen Spalten, wo sich der Tau hielt, wuchsen blattlose Kakteen, die wie Steine aussahen.
Der ausgeglühte Boden knirschte unter den Reifen des Landrovers. Der Mann am Steuer fuhr vorsichtig, wich den Felsbrocken aus und ließ den Wagen behutsam durch die tiefen Mulden rollen. Bald war er nur noch eine halbe Meile von dem Flugzeugwrack entfernt. Er konnte es auf der Nase stehen sehen - ein Flügel war abgebrochen. Es war kein Lebenszeichen zu bemerken.
Er ließ seinen Landrover in einer Mulde zurück, wo er halb verborgen kaum zu sehen war, und ging zu Fuß weiter. Ab und zu blieb er stehen und blickte sich um. Er hatte die Absturzstelle gut gewählt. Im Umkreis von fünfzehn Meilen gab es hier keine Straße; die höllische Gegend wurde von Mensch und Tier gemieden.
Einmal glitt eine gelbe Kobra über seinen Weg. Seine Faust schloss sich um den Griff der winzigen Bernardelli-Pistole, die er in der Hosentasche trug. Diese Pistole war vermutlich die kleinste Fünfundzwanziger, die je hergestellt worden war. Sie war nur 41/8 Zoll lang und wog nicht mehr als neun Unzen. Das Magazin fasste fünf Patronen.
Die Schlange bewegte ihren Kopf dicht über dem Boden hin und her. Es war ein kleines Ziel. Dennoch war er sicher, den Kopf treffen zu können, wenn auch vielleicht nicht mit dem ersten Schuss, sondern mit dem zweiten oder dritten. Er hatte sich angewöhnt, instinktiv zu zielen, indem er Kimme und Korn außer Acht ließ und den Pistolenlauf sozusagen als verlängerten Zeigefinger betrachtete. Auf diese Weise konnte man rasch und genau schießen. Er empfand Abscheu vor Schlangen, ja er hasste sie so sehr, dass sie ihm die liebste lebende Zielscheibe waren.
Die Schlange verschwand zwischen Felsbrocken. Er schob die Pistole wieder in die Hosentasche. Das Gewicht der Waffe an der Hüfte beruhigte ihn.
Aber er hatte jetzt an wichtigere Dinge zu denken als an gelbe Kobras. Er sah sich um. Es war schon ein Wunder, dass die Biester hier überhaupt etwas zu fressen fanden. Sie nährten sich von Eidechsen, kleineren Schlangen und den winzigen Känguruhratten, die er im Scheinwerferlicht manchmal nachts über den Weg hüpfen sah.
Er ging weiter. Auf dem harten steinigen Boden hinterließ er keinerlei Fußspuren.
Die Maschine war in der Nähe eines Felsbrockens abgestürzt. Er hob den Kopf und zog den Geruch des ausgelaufenen Benzins ein. Er sah, wie die Benzindämpfe zitternd aufstiegen.
Die ihm zugewandte Tragfläche war abgerissen. Dabei war auch der größte Teil des Kabinendachs mit weggebrochen. Den Piloten hatte es seitlich nach vorn geschleudert, er war mit dem Kopf gegen das Armaturenbrett geprallt. Aus einer tiefen Schnittwunde sickerte Blut. Sein linkes Bein war über dem Knie gebrochen, und der Knochen hatte die Muskeln durchstoßen. Das Khakihemd und die Shorts waren blutgetränkt.
Der Begleiter des Piloten mochte etwa dreißig Jahre jünger sein. Er trug Lederjacke und Jeans. Es war einer der Wächter aus dem Bergwerk. Über der Schulter hatte er eine Ledertasche hängen, und er trug eine Pistole in einem Halfter an der Hüfte. Auch ihn hatte der Aufprall nach vorn geschleudert, aber seinem kräftigen Körper waren keine Verletzungen anzumerken.
Als der Mann ihn jedoch anstieß, um an die Tasche heranzukommen, kippte der Kopf kraftlos auf die rechte Schulter. Die Lider des jungen Mannes waren halb geöffnet - offenbar hatte er sich das Genick gebrochen.
Der Mann mit der Bernardelli-Pistole kümmerte sich nicht um die beiden, sondern öffnete den Verschluss der Ledertasche und nahm ein mehrfach versiegeltes Päckchen heraus, das er prüfend in der Hand wog.
Diamanten.
Im vergangenen Jahr hatte die durchschnittliche Monatsproduktion der Mine ungefähr einhundertzwanzigtausend Rand ausgemacht. Er prüfte noch einmal das Gewicht des Päckchens und schob dabei nachdenklich die Lippen vor. Der Wert mochte ungefähr fünfzigtausend Pfund Sterling betragen.
Der Aufwand hatte sich gelohnt. Zwei Menschen waren ums Leben gekommen, aber er hielt jetzt die Früchte seiner peinlich genauen Planungsarbeit in der Hand.
Auch Lieutenant Colonel Pitt war immer für eine manchmal fast schon pedantische Planung gewesen. Bei seinen Charterflügen hatte er streng auf Pünktlichkeit geachtet, und er konnte zu jeder Minute des Tages haargenau sagen, wo sich seine sechs Maschinen gerade befanden. Er war immer genau um 14.30 Uhr von dem improvisierten Flugplatz hinter dem Minengelände gestartet und hatte um 14.38 Uhr nach dem Durchfliegen des Bergeinschnitts eine geringfügige Kurskorrektur vorgenommen, um dann in gerader Richtung nach Oranjemund zu fliegen.
Und genau um 14.38 Uhr war die raffinierte kleine Zeitbombe, die er in den Schwanzteil der Cessna geschmuggelt hatte, explodiert.
Der Mann schob das versiegelte Diamantenpäckchen in sein Hemd und trat ein paar Schritte zurück. Durch das lange Warten in der prallen Sonne und die aufsteigenden Benzindämpfe hatte er Kopfschmerzen bekommen. Außerdem war seine Aufgabe erfolgreich beendet, und er wollte so rasch wie möglich von hier weg.
Doch eine Aufgabe blieb ihm noch, bevor er ging: Er musste die Fingerabdrücke unkenntlich machen, die er vielleicht hinterlassen hatte. In der Nähe der Kabine fand er eine Zeitung. Er wickelte sie locker um einen Stein. Dann zog er sich bis auf sichere Entfernung von dem Wrack zurück und nahm eine Streichholzschachtel aus der Hosentasche. Als er gerade eines der Hölzchen anreißen wollte, stöhnte der grauhaarige Pilot auf.
Bis jetzt war das gleichmäßige Tropfen des auslaufenden Treibstoffs das einzige Geräusch in der Stille gewesen. Das unerwartete Stöhnen klang übermäßig laut. Der Mann griff nach seiner Pistole. Es war durchaus möglich, dass auch der Pilot bewaffnet war, und er wollte jetzt kein unnötiges Risiko eingehen.
Es gelang dem Piloten, seinen Oberkörper über dem Armaturenbrett aufzurichten. Er blinzelte gequält durch das über sein Gesicht strömende Blut und wandte sich dem Mann zu, der links von dem Flugzeugwrack stand.
Die Lippen des Piloten formten das Wort: »Hilfe!«
Ungerührt riss der Mann das Streichholz an. Eine Flamme zischte auf. Er hielt das brennende Hölzchen an das zusammengeknüllte Papier und wartete, bis es Feuer gefangen hatte. Der Pilot hob einen Arm, als wollte er sein Gesicht schützen, und seine Lippen formten lautlos ein paar Silben.
»Nein!«, schrie er schließlich, als die Todesangst ihm neue Kraft verlieh. »Nein, um Himmels willen! Nein!«
Aber der andere warf mit einer wohlberechneten Handbewegung den brennenden Papierball mit dem Stein darin in die Benzindämpfe. Flammen zischten auf. Mit dumpfem Dröhnen schlugen sie über dem Rumpf zusammen. Der benzingetränkte Boden war ein einziges Feuermeer, über dem dunkler Rauch aufstieg.
Der Mann mit den Diamanten zog sich Schritt für Schritt von der Stätte des Todes zurück. Da explodierte der nun fast leere Benzintank. Die zweite Hälfte der Tragfläche brach ab. Ganz beiläufig hob der Mann mit den Diamanten einen Stein auf. Er kratzte etwas an einen nahegelegenen Felsen.
Es war nur ein formloses Gekritzel, aber fast jeder in ganz Südafrika wusste, was dieses Zeichen zu bedeuten hatte: Es war das Mal eines Mannes, der vor keinem Mord zurückschreckte; das eitle Signum eines verrückten Kriminellen mit einer Vorliebe für kostbare Steine.
Die Presse hatte diesem Mann den Beinamen Schwarze Viper gegeben.
Zweites Kapitel
Sie stand am Fenster und versuchte, nicht über das nachzugrübeln, was geschehen war, sondern sich in Gedanken stattdessen lieber mit anderen Dingen zu beschäftigen. Zum Beispiel mit diesem Hochtal, das eingebettet zwischen den Berggipfeln lag. Vor zehn Jahren war es praktisch noch unbekannt gewesen, von Pavianen bewohnt, die überall ihre Losung hinterließen, mit den vertrockneten Scheren der Skorpione übersät und von winzigen, trittsicheren Berggemsen bevölkert, die ein warnendes Signal pfiffen, wenn sich ein Leopard anschlich.
So war’s gewesen, und nun sah das Land ganz anders aus.
Da stand das Hotel, ein eckiges, zweistöckiges Gebäude, solide erbaut aus warmem, rosafarbenem Stein, das Blechdach silbern gestrichen, damit es einen möglichst großen Teil der Sonnenstrahlen reflektierte. Und hier oben war die Mine.
Sie sah hinüber zu dem ordentlich angelegten Gebäudekomplex am oberen Ende des Tals und betrachtete ihn, als sehe sie ihn zum ersten Mal. Irgendwie musste sie sich ablenken. Es war nur wichtig, nicht an das entsetzliche Ereignis von gestern zu denken.
Da waren die mit Stacheldraht eingezäunten Flächen, eine in die andere geschachtelt, die Fertighäuschen der weißen Angestellten im äußeren Quadrat, und die Baracken der Ovambo-Arbeiter im nächsten. Dann die Büros und die scheunenartigen Gebäude mit der Diamantenwäscherei, schließlich die Mine selbst.
Es war eine Tagebaumine: ein vulkanischer Durchbruchschlot, gefüllt mit blauem Ton, in dem die aus den feurigen Tiefen der Erde ausgespienen Diamanten eingebettet lagen. Dieser blaue Ton, der von oben abgebaut, pulverisiert, mit Wasser vermischt und aufgelöst wurde, musste von allen festen Bestandteilen gesäubert werden - Diamanten und auch Stücke von wertlosem Gestein -, bis er schließlich weggeworfen wurde. Er zerfiel an der Luft zu schmutzigem Gelb und war zum Befestigen des kleinen Rollfeldes verwendet worden, das auf halbem Weg zwischen dem Hotel und der Mine lag.
Die zusammengerollte Zeitung, die sie in den Händen hielt, zerriss unter ihren nervösen Fingern. Man konnte der Wirklichkeit nicht entfliehen. Ihre Gedanken kehrten immer wieder zu dem Ereignis zurück wie vom weiten Flug erschöpfte Tauben zu ihrem Schlag.
Ihre Gedanken kreisten um diesen Landestreifen. Um die Flugzeuge, die darauf niedergingen und starteten, um die Tragödie vom vergangenen Nachmittag.
Mit brennenden Augen wandte sie sich vom Fenster ab und sah in den Spiegel an der Schranktür gegenüber. Normalerweise betrachtete sie ihr Spiegelbild nur ungern. In einer Art Reflexbewegung zog sie ihre dunklen, dichten Augenbrauen zusammen. Aber heute war es ihr gleichgültig, wie sie aussah. Sie war keine Schönheit und würde nie eine sein - in dieser Hinsicht machte sie sich nichts vor. Sie brachte es fertig, sich ganz objektiv zu sehen. Ihre Gesichtszüge waren zu grob, ihre Figur zu kräftig. Neben ihren Zeitgenossinnen im Minirock kam sie sich etwas ungeschlacht vor. Ihr Vater, dem sie immer sehr nahegestanden hatte, hatte sie seinen großen Lausbuben genannt. Von ihm aus gesehen war das zwar ein liebevoller Ausdruck, aber der Name passte so genau, dass er kein Kompliment mehr war.
Sie sah auf ihre Uhr und merkte, dass es fast Viertel nach zwei war. Rasch fuhr sie sich mit einem Kamm durch ihr dichtes, dunkles, gewelltes Haar, legte einen Hauch Lippenstift auf und ging nach unten.
Die Tür zu dem kleinen Schreibzimmer stand ein Stück offen - eine Einladung zum Eintreten. Trotzdem klopfte sie und wartete.
»Herein.«
Sie trat ein und schloss die Tür hinter sich. Wie immer in Gegenwart eines Fremden kam sie sich auch diesmal unbeholfen und linkisch vor. Sie schluckte, dann fand sie ihre Sprache wieder. Der Mann hinter dem Schreibtisch hatte sich erhoben.
»Guten Tag«, sagte sie. »Mein Name ist Pitt - Britannia Pitt.« Sie beobachtete ihn dabei genau und wartete auf die unvermeidliche Reaktion, die hochgezogenen Augenbrauen, das verstohlene Lächeln. Es war schon ein lächerlicher Taufname, das wusste sie selbst. Aber sie hatte ihn auch unter ganz besonderen Umständen bekommen. Ihre eigene Spannung wurde ihr bewusst, und sie gab sich verzweifelt Mühe, locker und gefasst zu bleiben.
»Guten Tag, Miss Pitt.« Er hatte eine tiefe, disziplinierte, sympathische Stimme. »Es tut mir leid, dass wir uns unter so schmerzlichen Begleitumständen kennenlernen müssen. Ich bin Captain van Ryn von der Kriminalpolizei.«
Sie bemerkte, dass er sich nicht ganz zu seiner vollen Größe aufgerichtet hatte. Sein Gesicht war knochig und verwittert, die Nase kräftig und das Kinn zu ausgeprägt, um symmetrisch zu wirken. Er hatte die hellblauen Augen des Südafrikaners, aber das rostrote Haar stammte vermutlich von irgendeinem schottischen Vorfahren, einem Schullehrer vielleicht, der vor langer Zeit in das Land gekommen war.
Sie traf zwar Lukas van Ryn zum ersten Mal, aber sie wusste eine Menge über ihn. Er gehörte zu der neuen Art von Polizeibeamten und hatte eine Universität absolviert. Er mochte Ende Zwanzig sein und kam von einer kleinen Farm im Oranje-Freistaat. Es war nicht einfach gewesen sich zu dieser Stellung emporzuarbeiten.
Sie selbst stammte aus einer der englischsprechenden Familien, die seit eh und je im Land eine führende Rolle gespielt hatten. Sie war die Enkelin des alten Jingo Jack, eines wohlhabenden und etwas exzentrischen Zuckerbarons aus Natal, der ihr aus lauter Patriotismus während des Krieges den Namen Britannia gegeben hatte. Sie musste sich alle Mühe geben, ihre anerzogenen Vorurteile gegenüber den Buren zu unterdrücken.
»Bitte, nehmen Sie Platz, Miss Pitt«, sagte er mit seiner ruhigen, beherrschten Stimme.
»Danke.«
Er setzte sich ebenfalls, stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und verschränkte die Finger unter dem Kinn. Seine Hände waren schmal und lang und wirkten eleganter als sein schlaksiger Körper.
Vorsichtig begann er: »Die Opfer des Unfalls wurden bereits nach Karasburg überführt. Es ist Ihnen doch klar, dass eine Untersuchung stattfinden muss?«
Sie nickte und biss sich auf die Lippen.
Es entstand eine kleine Pause, die nur vom fernen Tuckern der Dieselmaschine in der Mine unterbrochen wurde.
Dann sah sie ihn an. »Sind die beiden verbrannt?«
»Ja.« Die hellblauen Augen betrachteten sie ernst.
»Ist die Maschine nach dem Absturz in Flammen aufgegangen, Captain van Ryn?«
Er zögerte: »Das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen.«
»Aber die Diamanten fehlten. Es wird von Sabotage gesprochen. Die Cessna soll angeblich durch eine Art Zeitbombe zum Absturz gebracht worden sein. Der Diamantendieb könnte doch die Maschine angezündet haben, um alle Beweise zu beseitigen.«
Er stützte sein kräftiges langes Kinn in die Hände und sah sie gerade an.
»Miss Pitt«, sagte er nach einer Weile, »Ihnen gegenüber befinde ich mich in einer schwierigen Lage. Da Sie die Tochter des verstorbenen Piloten sind, schulden wir Ihnen Sympathie und Achtung, und Sie haben ein Recht darauf, alle Einzelheiten zu erfahren, die mit dem Tod Ihres Vaters in Zusammenhang stehen. Ich wäre bereit, Ihre Fragen zu beantworten, allerdings...« Er brach ab.
»Was wollen Sie damit sagen, Captain van Ryn?« Sie fühlte sich in ihrer Berufsehre getroffen. Sie wusste, was nun kam, und nahm allen Mut zusammen, um sich notfalls gegen ihn zu behaupten.
»Sie müssen das verstehen«, fuhr er fort, und seine Stimme schien jetzt kühler, offizieller zu klingen. »Was ich Ihnen sage, ist vertraulich.«
Ihre Augen wurden enger. »Soll das heißen, dass ich nichts davon veröffentlichen darf?«
»Das meinte ich damit.«
Sie beugte sich in ihrem Stuhl vor. »Aber ich bin doch schließlich Reporterin.«
»Genau.« Seine Stimme war ausdruckslos. »Ich bin bereit, mich mit Ihnen als der Tochter des Toten zu unterhalten, aber nicht mit der Journalistin.«
»Das ist doch lächerlich.« Ihre Selbstbeherrschung drohte zusammenzubrechen. Sie musste blinzeln. »Ich bin mehr als nur die Tochter, Captain van Ryn. Verstehen Sie nicht, dass ich zu den Opfern der Schwarzen Viper gehöre? Dieser Mann hat meinen Vater ermordet - wegen einer Handvoll Diamanten -, und ich habe nicht die Absicht, ihm das durchgehen zu lassen.«
»Wir wollen auch nicht, dass er davonkommt, Miss Pitt«, sagte er freundlich. »Ich glaube, Sie sollten uns lieber vertrauen.«
Sie stand auf und wusste plötzlich nicht, wohin mit ihren Händen.
»Ich möchte Sie nicht kränken, Captain van Ryn«, stieß sie mühsam hervor, »aber die Schwarze Viper raubt und mordet schon seit acht Monaten, und es ist der Polizei bisher nicht gelungen, etwas dagegen zu unternehmen. Die Öffentlichkeit wird immer ungeduldiger. Sie hat ein Recht darauf, vor dem Mann geschützt zu werden. Meine Zeitung bietet eine Belohnung von fünftausend Rand für jede Information, die zur Verhaftung und Aburteilung des Verbrechers führt.«
»Das hört man gern«, bemerkte er trocken.
»Ich bin auf meinen eigenen Wunsch hin ausschließlich mit den Nachforschungen im Fall Schwarze Viper beauftragt worden.«
Er runzelte die Stirn. »Das höre ich weniger gern.«
»Darf ich fragen, warum?«
»Weil es sich bei dem Mann nicht um einen üblichen Verbrecher handelt. Menschenleben bedeuten ihm nichts. Sollte er den Verdacht schöpfen, dass Sie irgendwelche Informationen über ihn erhalten haben, die ihm gefährlich werden könnten, so wird er nicht zögern, auch Sie zu töten.«
»Ich bin bereit, dieses Risiko einzugehen«, antwortete sie ruhig.
»Aber soll ich deshalb auch bereit sein, das zuzulassen? Diese Frage macht mir Sorgen. Und ich habe gerade jetzt schon genug Sorgen, Miss Pitt, ohne mich auch noch um Sie kümmern zu müssen.«
»Ich kann selbst auf mich aufpassen und brauche Ihre Hilfe bei meinen Nachforschungen nicht.«
Er zuckte die Achseln. »Ich kann Sie nur bitten, mir nicht in die Quere zu kommen.«
Sie betrachtete ihn kalt, obgleich sie wegen ihrer eigenen Kühnheit Herzklopfen bekam. »Dann weiß ich wenigstens, woran ich bin, Captain van Ryn.«
Er stand auf. »Wir wissen nun beide, woran wir sind«, sagte er.
Drittes Kapitel
Als Britannia Pitt gegangen war, sank Lukas van Ryn auf seinen Stuhl zurück und starrte auf die Schreibunterlage vor sich. Die Unterhaltung hatte bei ihm ein Gefühl der Unzufriedenheit hinterlassen. Er hatte sich dabei nicht sehr geschickt verhalten. Er hätte mehr Sympathie zeigen müssen, aber die Einstellung der jungen Frau hatte ihm das schwergemacht. Dieser alberne, hochtrabende Stolz! Sie hätte sich an irgendeiner Schulter ausweinen sollen, das wäre besser gewesen.
Er schüttelte den Kopf. Es war schon alles sehr traurig.
Die Tatsache, dass sie Mitarbeiterin des Sensationsblattes Sunday Beacon war, machte die Lage noch schwieriger. Es war sein Grundsatz, und auch der Grundsatz seiner Dienststelle, der Presse keine Informationen zu geben, die sich nachteilig auf ein schwebendes Verfahren auswirken könnten. Man konnte sicher sein, dass die Schwarze Viper jede über ihn gedruckte Zeile sehr genau las. Das geschah zum Teil aus Selbstschutz, zum Teil aber auch aus Eitelkeit. Die meisten Kriminellen sind eitel und klopfen sich selbst auf die Schulter dafür, dass es ihnen gelungen ist, die Polizei zu überlisten. Warum würde er sonst auch überall sein makabres Zeichen hinterlassen?
Sie hat sehr schöne Augen, dachte er.
Stirnrunzelnd richtete sich Lukas in seinem Stuhl auf und versuchte, sich auf die Schwarze Viper zu konzentrieren. Aber es stimmte schon, Britannia Pitt hatte Augen wie Saphire, und die langen dunklen Wimpern unterstrichen noch ihre Schönheit.
Er konnte sie sich als Lady auf irgendeinem irischen Hochmoor vorstellen, so wie auch ihr Großvater ein echter Gentleman gewesen war. Bis zu seinem Tod im Jahr 1940 war der alte Jingo Jack eine der umstrittensten Gestalten in der südafrikanischen Politik gewesen.
Als unabhängiger Abgeordneter in Natal hatte sich Jack Pitt die Abneigung der afrikanischen Buren zugezogen. Er war Föderalist zu einer Zeit, als die meisten gemäßigten Politiker für ein Vereinigtes Südafrika eintraten. Es hatte ihn nicht im Geringsten gestört, dass die Föderation längst tot war.
Doch dann schüttelte Lukas van Ryn den Kopf. Er hatte jetzt keine Zeit für Extremisten, gleichgültig von welcher Seite sie kamen. Die Politik in Südafrika war immer schon eine Mischung aus Blut und Patriotismus gewesen, und man konnte ihr nicht aus dem Weg gehen. Nur wenn man ein wenig von den Hintergründen dieser Politik verstand, konnte man eine Frau wie Britannia Pitt begreifen. Die Einwohner Natals rühmten sich, englischer zu sein als die Engländer, und in dieser Atmosphäre war Britannia zur Welt gekommen. Natürlich hatte das auf ihre Ansichten abgefärbt. Im Haus ihres Großvaters war der Burenkrieg vermutlich nie ganz beendet worden.
Er erhob sich von seinem Schreibtisch und trat hinüber ans Fenster. Sind wir schließlich nicht alle die Opfer und Produkte unserer Umgebung?, überlegte er.
Das Dröhnen eines Hubschraubers über dem Tal ließ die Fensterscheibe erzittern. Einen Augenblick später kam die Maschine in Sicht. Die Rotorblätter blitzten in der Sonne, der groteske Schatten hüpfte über Felsen und Mulden hinüber zum Landeplatz.
Eine Weile hing der Hubschrauber über der Rollbahn aus gelblichem Lehm in der Luft, dann glitt der Schatten zögernd vor, bis er unter die Maschine kroch wie ein verirrtes Küken unter die Henne. Der Hubschrauber war gelandet.
Das Brüllen des Motors erstarb, der blitzende Kreisel wurde langsamer, die Rotorblätter drehten sich zögernder und blieben schließlich stehen. Ein kräftig gebauter Mann stieg aus, sprach ein paar Worte mit dem Piloten, winkte ihm zu und ging weg.
Lukas van Ryn starrte immer noch zur Rollbahn hinüber. An der einen Ecke stand ein Wellblechgebäude mit einer Benzinpumpe.
Ein Flugzeug, das etwa am Rand des kleinen Flugplatzes vor dem Gebäude stand, konnte vom Hotel aus nicht gesehen werden.
Er betrachtete den Talboden. Das unebene Gelände mit den vielen verstreuten Felsbrocken und den tiefen Rillen bot vollkommene Deckung. Jeder hätte Gelegenheit gehabt, eine Zeitbombe ungesehen in die Maschine des Lieutenant Colonels zu praktizieren, und zwar entweder vom Hotel aus oder auch von der Mine her. Und dennoch erschien es wahrscheinlicher, dass die Bombe in Karasburg an Bord geschmuggelt worden war, wo die Chartergesellschaft ihren Hauptsitz hatte.
Über dieses Problem dachte Lukas nach, als er das Hotel verließ und mit seinen scheinbar lässigen, aber langen Schritten zum Landeplatz hinüberging. Er wollte hören, was sein Kollege, Lieutenant Hans-Oskar Franke vom Diamantendezernat, zu berichten hatte.
Franke trug Zivil, aber an ihm wirkte der gestärkte, khakifarbene Anzug wie eine Uniform. Dieser Eindruck wurde noch von der schrägsitzenden Baskenmütze auf dem kurzgeschnittenen Haar verstärkt.
Sie blieben auf halbem Weg zwischen dem Landestreifen und dem Hotel, wo niemand sie belauschen konnte, stehen.
»Etwas Neues, Lieutenant?«, fragte Lukas freundlich.
»Vielleicht, vielleicht auch nicht«, brummte der andere.
Er hatte eine unfreundliche Art, die schon fast grob wirkte. Vermutlich liegt es daran, dass er immer noch Lieutenant ist, dachte Lukas. An seiner Tüchtigkeit und Energie war nicht zu zweifeln. Aber vielleicht hatte der gebürtige Deutsche auch noch andere Sorgen: Er war nach dem Krieg
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Glynn Croudace/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Norbert Wölfl und Christian Dörge (OT: Blackadder).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 10.02.2022
ISBN: 978-3-7554-0753-9
Alle Rechte vorbehalten