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Leseprobe

 

 

 

 

CHRISTIAN DÖRGE (Hrsg.)

 

 

DIE SCHWARZE WITWE

- 13 SHADOWS, Band 56 -

 

 

 

Erzählungen

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Connie Sellers: DIE SCHWARZE WITWE 

John Keefauver: SANTHOMEA 

Robert Bloch: DIE GLEICHE WELLENLÄNGE 

Henryk van Bergen: TODESLUST 

Edward W. Ludwig: DER UNSICHTBARE MANN 

Gabriele Kramer: ORDENTLICHES LEBEN 

N. N.: ALTE ZEUGNISSE 

Edogawa Rampo: DER REISENDE 

Dominique Arly: DIE ABSCHEULICHEN 

H. P. Lovecraft: DIE RATTEN IN DER WAND 

Doris Grünning: DER LEICHENSCHMAUS 

Diethard van Heese: MEIN FREUND, DER BLUTEGEL 

Sven Ove Kassau: RÄCHENDES BLUT 

Hella Unruh: DER ANDERE 

W. J. Tobien: PHÄNOMEN DER ANGST 

J. E. Weigand: NEBEL 

H. G. Schneider: DER TODESKAVALIER VON MONTMARTRE 

Clifford Ball: BRENNE, WERWOLF! 

Hella Unruh: DER NEUNZIGSTE GEBURTSTAG 

 

Das Buch

Sie war fast nackt. Glitzernde Pailletten bedeckten die Papillen ihrer Brüste. Die Schamhaare waren rasiert. Eine dünne Schnur umspannte die Taille. Von ihr zog sich ein schmales schwarzes Band über die Vulva und verschwand zwischen den Hinterbacken.

Auf dem Kopf saß eine enge Kappe mit wippenden Federn.

Sie wartete neben dem Bett.

Larimer musste gleich aus dem Bad kommen. In wenigen Minuten würde er tot sein.

 

DIE SCHWARZE WITWE, herausgegeben von Christian Dörge, enthält 19 Horror-Erzählungen u.a. von Dominique Arly, Diethard van Heese und Clifford Ball.

DIE SCHWARZE WITWE erscheint in der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht. 

  Connie Sellers: DIE SCHWARZE WITWE

 

 

Sie war fast nackt. Glitzernde Pailletten bedeckten die Papillen ihrer Brüste. Die Schamhaare waren rasiert. Eine dünne Schnur umspannte die Taille. Von ihr zog sich ein schmales schwarzes Band über die Vulva und verschwand zwischen den Hinterbacken.

Auf dem Kopf saß eine enge Kappe mit wippenden Federn.

Sie wartete neben dem Bett.

Larimer musste gleich aus dem Bad kommen. In wenigen Minuten würde er tot sein.

Madeion hob die Mundwinkel im Vorgefühl ihres Triumphes. Es konnte nichts fehlgehen. Das Kleid – oder was sie so zu nennen wagte – würde Larimer erregen. Er würde glauben, dass sie mit ihm ins Bett gehen wollte. Seit Wochen wartete er darauf. Die Aussicht würde ihn verrückt und unvorsichtig machen.

Madeion hob das Kissen auf dem Bett noch einmal an. Da lag die dünne Drahtschlinge mit den hölzernen Handgriffen. Eine Garotte. Madeion hatte mit ihr trainiert. Ein einziger Augenblick würde genügen.

Sie bedeckte das todbringende Ding wieder mit dem Kissen. Larimer durfte sie nicht zu Gesicht bekommen.

Larimer war ein vorsichtiger Mann. Vielleicht lag es daran, dass sein Haus fern jeder Siedlung am Ende der Welt stand. Vielleicht lag es auch daran, dass er als Forscher mit bissigen und giftigen Spinnen und Käfern umging. Vielleicht war er aber auch nur vorsichtig, weil er so viel Bargeld im Hause hatte.

So viel Bargeld! Madeion durfte nicht daran denken. Tausende und Tausende Bucks lagen im Safe, für Madeion unerreichbar. Sie hatte einmal geglaubt, dass dieses Geld weite Reisen, Luxushotels, Pelze, Juwelen bedeuten würde. Aber sie hatte nach der Hochzeit nur eine Reise gemacht: hierher in dieses einsame Haus am Rand der Sümpfe.

Und das Geld war nicht für Madeion bestimmt, sondern für vielbeinige Insekten und haarige Spinnen, die unheimliches Geld kosteten, weil sie schwer zu fangen waren. Madeions Mann hatte das Haus am Rand der Sümpfe mit diesen ekelhaften Biestern angefüllt. Er hütete sie eifersüchtig wie das Geld im Safe.

Aber nicht mehr lange. Ahnungslos stand er unter der Dusche und ließ das Wasser auf sich herniederprasseln. Madeion kannte das Programm, das sich mehrmals am Tage wiederholte: duschen, Zähne bürsten, Hände waschen, Nägel säubern. Der vorsichtige kleine Mann hatte eine panische Angst vor Dreck und Infektionen.

Madeion lächelte. All seine Angst würde in wenigen Augenblicken vorbei sein. Er mochte so vorsichtig sein, wie er wollte, bald würde er sie sehen – in ihrem Kostüm, und dann würde er an nichts anderes mehr denken können als an sie. Die Lust würde seinen Verstand wegblasen, und das würde der Anfang seines Endes sein.

Sie lauschte zum Badezimmer hinüber. Die Dusche war abgestellt. Jetzt war Nummer zwei des Programms an der Reihe: Zähneputzen und Gurgeln. Das geschah wie immer langsam und rhythmisch.

Der Rhythmus erinnerte Madeion an die Musik, zu der sie mit diesem Kostüm im Scheinwerferlicht gestanden hatte. »Madeion, die Spinnenfrau!« Vor dem Hintergrund eines silbernen Spinnennetzes tanzte sie langsam und sexy... Aber das war schon lange her.

Wie so viele kleine Mädchen hatte sie sich zu Anfang auf ihren jungen, gut gewachsenen Körper verlassen und beim Ausziehen ein bisschen herumgehopst. Aber damit kassierte man höchstens eine Flasche Champagner, vielleicht mal ein gutes Essen und ein paar Scheinehen. Madeion wollte mehr.

Sie hatte in Chicago eine Stripperin gesehen, die arbeitete mit Schlangen. Aber dazu brauchte man Kapital. In New Orleans trat eine andere mit Tauben auf. Damit lockte man aber höchstens einmal einen senilen Bock. Tollen Erfolg hatte in New York ein dicker Pummel, der sich wie ein Gorilla mit Fell behängen hatte, zu dem er nur Büstenhalter und Hüftgürtel trug.

Madeion war auf die Spinne gekommen. Kostüm und Dekoration hatten alles Geld verschlungen. Einem schwulen Fixer hatte sie etwas Stoff besorgt; dafür hatte er ihr ein paar Tanzschritte beigebracht.

Die Nummer hatte ihr tolle Komplimente eingebracht. Aber länger als sechs Wochen hatten sie nicht in der Bourbonstreet vorgehalten. Dann musste sie froh sein, eine kurze Tournee durch Kuba erwischen zu können. Und in Panama war sie dann in einer zweitklassigen Bude hängengeblieben.

Madeion dachte schon ans Saufen, da tauchte eines Nachts Larimer Decker auf. Er saß an einem Nebentisch und starrte sie an wie die anderen Männer auch. Sein Anzug sah nach nichts aus, er hatte keine Brillanten im Schlips oder in den Manschettenknöpfen. Er saß nur da und starrte.

Im Badezimmer stürzte gurgelnd und schmatzend das Wasser in den Abfluss. Dann Stille. Jetzt bearbeitete er seine kleinen Hände und die kurzgeschnittenen Fingernägel.

Madeion hätte sich in Panama nie an den Tisch des kleinen unscheinbaren Yankees gesetzt, wenn nicht ein Kellner den Besitzer der Bruchbude gefragt hätte, was ein Entomologe oder weiß-der-Teufel-was sein könnte. Dabei zeigt er auf den kleinen Mann am Nebentisch.

Der Budicker verbesserte den Kellner. Madeion hörte zum ersten Mal das Wort Entomologe. »Das ist so ʻn Insektenheini. Hat klotzig viel Geld und bezahlt den Boys jede Summe, wenn sie ihm aus dem Urwald Spinnen und so ʻn Zeug anbringen.«

Madeion hatte davon nur klotzig viel Geld verstanden. Wenn Perez, der Boss, so was sagte, dann stimmte das auch.

Sie betrachtete den Mann etwas genauer und gewann mehr und mehr die Überzeugung, dass aus diesem Schüchterling die Bucks herauszuziehen sein mussten, die sie für eine Heimfahrt nach New York brauchte.

Sie glitt an seinen Tisch heran und setzte sich neben ihn. Sie war darauf gefasst, dass er eine Hand auf ihr Knie legen würde; vielleicht könnte er sogar versuchen, an ihrem Schenkel hochzukrabbeln. Aber Madeion wurde überrascht.

Er fasste sie nicht einmal an. Es schien ihm ganz egal zu sein, ob sie ihm ihr Bett anbot oder nicht. Er sah sie nur scheinbar gedankenlos an und bezahlte ihre Drinks.

Madeion wurde nervös. Sie trank vielleicht ein wenig zu hastig den kalten Tee mit dem hochprozentigen Rum runter. Bald lachte sie beschwipst.

Da ließ er die Katze aus dem Sack. Er wollte eine private Show in seinem Hotelzimmer. Sie sollte ihr Kostüm mitbringen. Für Musik konnte er sorgen; er besaß einen Plattenspieler.

Er legte fünfzig Dollar auf den Tisch und versprach weitere fünfzig Dollar, wenn die Show vorbei war. Da wusste Madeion, dass er nicht alle Tassen im Schrank hatte. Sie sagte ja.

Madeion ging zum Fenster und sah hinaus. Das Haus wurde von einem hohen Zaun umgeben. An den Ecken ragten hohe Stangen, die Antennen und krauses Drahtzeug trugen, was Einbrecher abschrecken sollte. Madeion verstand nichts davon.

Natürlich hatte der Tanz im Hotelzimmer damals zunächst so geendet, wie sie das erwartet hatte: er hatte sie aufs Bett gezogen. Aber dann kam es anders.

Sie brauchte sich nicht auszuziehen. Er spielte an ihrem Kostüm herum, streichelte und drückte sie und stöhnte dabei. Immer wieder versicherte er, dass sie die erste sei. Dabei lief er rot an und lächelte irr.

Und dafür zahlte er hundert Mäuse.

Am nächsten Abend kam er wieder in ihr Lokal, sah sich den Tanz an und ging mit ihr ins Hotel. Und wieder alberne Fummelei und hundert Piepen.

Madeion rechnete sich aus, wie oft sich das wiederholen musste, bis das Geld für die Überfahrt zusammengekommen war. Dabei kriegte sie es mit der Angst, er könnte plötzlich genug haben und sie sitzen lassen.

Das durfte nicht geschehen. Madeion musste sich etwas einfallen lassen.

Am dritten Abend machte sie einen Versuch. Sie hatte sich eine besonders zweischläfrige Schallplatte besorgt und führte ihm im Hotelzimmer ein so heißes Balzprogramm vor, das einen Säulenheiligen weich gemacht hätte. Mister Decker wurde wild und griff nach ihr. Da schaltete sie aber ab und zeigte sich völlig abgeneigt. Das führte zum Ziel.

Die Hochzeit war schnell vorübergegangen. Aus der Spinnenfrau war Mrs. Larimer Decker, die Frau des wohlhabenden Entomologen geworden. Statt einer Hochzeitsreise waren sie hier an den Rand der Sümpfe gefahren. Larimer wollte seiner Frau seinen Reichtum, das Haus voller Spinnen und Käfer zeigen.

Madeion hatte bald herausgefunden, dass ihr Mann keinen Cent an seine Frau verschwenden würde. Daraus hatte sie ihre Konsequenz gezogen: sie hatte sich nie wieder im Spinnenkostüm gezeigt, und getanzt hatte sie vor ihm schon gar nicht.

Mit Genugtuung stellte Madeion fest, dass der kleine Spinnendompteur sehr darunter litt. Damals, in der ersten Nacht im Hotelzimmer von Panama, hatte er gejubelt: »Du bist die erste!« Heute wusste sie, dass der kleine Eierkopf impotent war. Er musste Madeions Körper im Spinnenkostüm sehen und betasten dürfen, um sich wenigstens bescheiden seines männlichen Geschlechtes erfreuen zu dürfen.

Madeion sah auf die Badezimmertür. Gleich musste Larimer eintreten. Er ahnte noch nicht, dass die wochenlange Abstinenz plötzlich zu Ende sein sollte.

Der Türknopf drehte sich. Larimer trat ein, klein und sauber.

Als er sie sah, blieb er mit offenem Mund stehen.

Madeion drückte den Schalter des Plattenspielers herunter. Ein Crescendo schwoll aus dem Nichts auf. Madeion begann langsam zu tanzen, zu locken.

Er starrte sie an. Seine Wangen röteten sich. Er hob die Hände und setzte einen Fuß vor. Madeion hatte leichtes Spiel. Alles war bereit.

Nur gelegentlich kam ein Lieferwagen zu dem einsamen Haus mit Lebensmitteln und Bedarf für das Labor. Wenn man Larimers Leiche finden würde, wäre Madeion weit weg. Es gab viele Orte in Südamerika, wo niemand fragte, woher eine schöne junge Frau ihr Geld hatte, wenn es nur genug Geld war.

Wie hypnotisiert griff Larimer nach Madeions Brüsten. Madeion wich langsam zurück bis zum Bett.

Dann ließ sie sich fallen. Ihr Kopf lag auf dem Kissen. In diesem Augenblick ging die Musik zu einem harten Beat über, als wäre es so einstudiert worden. Larimer beugte sich über Madeion, die ihre Arme nach ihm ausstreckte. Ihr Mund öffnete sich und schimmerte feucht.

Larimer drückte sich an sie heran. Seine Hände wanderten über den nackten Körper.

Madeion hob die Arme und griff gelassen unter das Kopfkissen. Plötzlich zog sie die Drahtschlinge hervor und warf sie mit einer einzigen Bewegung um Larimers Hals.

Er richtete sich auf. Sie zog kraftvoll zu. Der dünne Draht schnitt sich tief in die Halshaut ein. Seine Augen traten heraus. Aus dem Mundwinkel sickerte Blut.

Ein paar Augenblicke lang versuchte er zu kämpfen. Er bäumte sich auf. Die Hände griffen verzweifelt nach dem Ding, das ihm die Luft abschnitt.

Aber bald lief ein Schauder über seinen Rücken. Die Beine reckten sich. Ungläubig starrten seine Augen die Frau an, als er starb.

Madeion löste sich von ihm und stieß den Körper an, sodass er aus dem Bett heraus auf den Boden rollte.

Sie stand auf und ging zum Kleiderschrank. Sie holte ein Reisekostüm heraus. Die Koffer warteten bereits unten im Wagen. Morgen würde sie in einer großen Stadt sein, wo sie den Wagen in einer Garage zum Überholen abgeben würde. Er würde nie abgeholt werden.

Sie riss den Flitter vom Leib und legte das Reisekostüm an, nahm Handtasche und Hutschachtel auf und verließ das Schlafzimmer.

Ruhig atmend ging sie die sich lang windende Treppe hinunter. Unten stand der Käfig mit der scheußlichen Tarantel, die Larimers Lieblingsobjekt gewesen war. Madeion holte eine eiserne Stange und tötete das verhasste Biest.

Armer, kleiner Larimer, Entomologe mit einer Vorliebe für Spinnen. Wenn er jetzt sehen könnte, wie seine Frau eines seiner Tierchen umgebracht hatte, wäre er wahrscheinlich wahnsinnig geworden.

Die lieblichen Tierchen! Madelon würde es genießen, das Haus in Brand zu stecken und damit das ganze ekelhafte Ungeziefer zu verbrennen. Aber das Vergnügen durfte sie sich nicht gönnen. Der Brand hätte Neugierige angelockt. Madeion wollte Vorsprung gewinnen.

Sie ging durch die Halle, vorbei an einer Unzahl von großen und kleinen, haarigen und nackten Spinnen vorbei, die in Glaskästen krabbelten. Jeder der Kästen trug ein sauber beschriftetes Etikett.

Damit war das Haus angefüllt, in allen Räumen, auf allen Fluren, im Keller und auf dem Boden: Glaskästen mit krabbelndem Viehzeug und alle sauber etikettiert.

In der Bibliothek schob sie ein Bild zurück, sodass die runde Safetür zum Vorschein kam. Eine Lampe flammte auf, eine Alarmglocke schlug an. Wenn schon! Der kleine Geizhals konnte nichts mehr hören und sehen. Er hatte sich verrechnet. Der Feind kam von innen.

Er hatte Madeion Zusehen lassen, wenn er den Safe benutzte.

Mit einem langen Stock hatte er Berge von Banknoten hineingeschoben, weil er sich die Hände nicht beschmutzen wollte.

Nun, Madeion ekelte sich nicht vor schmutzigem Geld. Sie betätigte das Sicherheitsschloss. Es war eines der ersten Unternehmungen gewesen, als sie das Haus betreten hatte, dass sie sich in den Besitz der Safekombination gesetzt hatte. Es war nicht schwer gewesen, den weltfremden Eierkopf zu überlisten.

Als sie den Safe öffnen wollte, bemerkte sie das Etikett, das auch hier auf einem Pappanhänger aufgeklebt am Schloss hing. In Larimers zierlicher Schrift stand darauf LATRODECTUS MACTANS.

Schnell hatte Madeion die Kombination eingestellt, das Nickelrad gedreht und die Tür aufgezogen.

Als erstes quoll ihr ein strenger Geruch entgegen. Aber das bemerkte sie nur flüchtig, da sie gleich fasziniert war von den aufgeschichteten Stößen von Banknoten, die den Safe fast ganz füllten.

Mit beiden Händen griff sie hinein und zog zwei Bündel heraus. Dabei fühlte sie ein Kribbeln und Jucken. Sie sah auf die Hände und stieß einen Schrei aus.

Eine große Zahl von kleinen

Spinnen wimmelte auf ihren Händen. Sie spürte, wie die Tierchen in ihre Haut bissen. Der Schmerz durchzog rasend schnell die Arme bis zur Schulter. Mehr nahm sie nicht mehr wahr.

Sie war schon nicht mehr bei Bewusstsein, als sie das Geld fallen ließ und die Tiere von den Händen abzustreifen versuchte. Sie sank zu Boden.

Vom Nickelrad der Safetür löste sich der Pappanhänger mit dem sauber beschrifteten Etikett. Er fiel zu Boden und legte sich auf die Hüfte der toten Mrs. Larimer Decker.

Auf der Vorderseite des Etiketts stand bekanntlich: LATRODECTUS MACTANS.

Jetzt war die Rückseite zu lesen: Die Latrodectus-Spinnen gehören zu den giftigsten Arten. Am bekanntesten sind Latrodectus lugubris und Latrodectus mactans. Sie werden x cm lang, sind schwarz, auf der Unterseite rot. Sie kommen vorwiegend in Amerika vor. Der Volksmund nennt sie Schwarze Witwe. 

 

 

 

 

  John Keefauver: SANTHOMEA

 

 

Ich hörte das Wort zum ersten Mal auf einer Ostasienreise. Ich hielt es gleich für einen Frauennamen, ja, ich möchte sagen: für den Namen einer ganz bestimmten Frau.

Santhomea – so dachte ich – müsste ein Mädchen mit einer milchschokoladenfarbenen Haut sein, klein und breithüftig, mit ebenholzschwarzen Haaren und Augen wie Kastanien, die im Tau glänzen, mit einer weichen Stimme und einem kichernden Lachen, kurz, eine junge kambodschanische Frau, die dem ausländischen Touristen für ein paar Piaster die geheimnisvolle Tempelstadt Angkor noch geheimnisvoller macht.

Mir war so eine Frau begegnet. Später erst erfuhr ich, dass es eine alte Legende um eine Santhomea gibt. Und dann wurde mir einmal ein Mädchen gezeigt, das entsetzlich verstümmelt und entstellt war und das Santhomea hieß.

Santhomea...

Ich bin ihr begegnet vor dem großen Tempel von Angkor in einer dunklen Nacht. Ich hörte ihre Stimme und sah nur einen Schatten, den Umriss einer Gestalt. Wenn sie nicht gesprochen hätte, wäre sie mir gar nicht aufgefallen. Ich hätte sie nicht kennengelernt und wäre um eine entsetzliche Erinnerung ärmer, die mich seitdem in mancher Nacht als Alptraum verfolgt.

Ich war gerade in Angkor angekommen und im Hotel De La Paix gegenüber den Tempelruinen abgestiegen. Ich hatte viel über die einsame Ruinenstadt des Königreichs der Khmer im kambodschanischen Dschungel gelesen und noch mehr gehört von Touristen und Wissenschaftlern, die der Zauber der alten Stadt nie wieder losgelassen hatte. Ich machte mich daher sofort auf, wenigstens noch einen Blick auf den größten Tempel, den Angkor Wat, zu werfen. Aber die Nacht war so dunkel, dass nichts zu erkennen war.

Trotzdem lief ich etwa hundert Meter in die Finsternis hinein, wo ich die Ruinen vermutete. So kann einen die Neugier plagen. Ich bemerkte die Polizisten nicht, die mir erstaunt nachsahen. Ich hatte überhaupt keine Polizisten gesehen.

Dann wurde mir aber doch die Unsinnigkeit meines nächtlichen Ausflugs bewusst. Ich blieb stehen und wollte zum Hotel zurückkehren. Da hörte ich die weiche Stimme einer Frau.

Sie sprach zuerst Französisch. Als sie keine Antwort bekam, versuchte sie es mit akzentuiertem Englisch.

»Brauchen Madame Hilfe?«

Die Stimme war weich, ein wenig zärtlich und doch ängstlich, sodass ich zuerst glaubte, ihre Besitzerin sei ein kleines Mädchen, das irgendwelche Schwierigkeiten hätte.

»Hier ist keine Madame«, sagte ich. »Brauchen Sie Hilfe? Stimmt etwas nicht?«

Ich hörte ein schwaches Geräusch, dann einen leichten Seufzer. Er klang, als ob die Sprecherin enttäuscht sei. Dann sah ich zu meiner Rechten einen hellen Schemen.

»Keine Madame hier?«, fragte sie.

Ich glaube, wenn ich nun zurückdenke, dass es diese drei Wörter waren, die mir bewiesen, wie enttäuscht sie war, dass keine Frau da war, dass ich ein Mann war. Ich war in einem gewissen Sinne selbst enttäuscht, sie enttäuscht zu haben.

»Nein, hier ist keine Madame. Ich bin allein.«

»Schade. Ich wollte Madame Angkor Wat zeigen.«

»In dieser Dunkelheit?«

»Ich sehe im Dunkeln.«

Diesen Worten war etwas vorangegangen, das wie ein leises Lachen klang.

Sie blieb vor mir stehen, aber es war so dunkel, dass ich eigentlich nur drei Dinge wahrnahm: dass sie klein war, fast dreißig Zentimeter kleiner als ich, dass es ein Mädchen oder eine Frau war, von der ich nur eine ruhige, etwas

zärtliche Stimme wahrnahm, und dass sie enttäuscht war.

»Sie sind allein, Monsieur?«, fragte sie ein wenig ängstlich. »Bestimmt?«

»Ja.«

»Madame ist im Hotel?«

»Keine Madame ist im Hotel.«

Wieder ein Seufzer der Enttäuschung.

»Ich führe jede Nacht durch Angkor«, sagte sie. »Aber Madame muss auch kommen.«

»Ich bin allein.«

»Es tut mir leid, aber ich führe keinen Mann allein durch Angkor.«

»Muss Madame dann am Tag kommen?«

»Ich führe nur in der Nacht.«

Sobald sie sicher war, dass keine Frau in der Nähe war, schien sie es eilig zu haben, wegzukommen; ihre Angst schien sich zu steigern. Sie wollte in der Dunkelheit verschwinden, aber dann blieb sie plötzlich stehen.

»Sie sind erst heute nach Angkor gekommen, Monsieur?«

Ich sagte ihr, dass ich von Bangkok vor einer Stunde oder so nach Angkor geflogen wäre. Ich hätte ihr auch noch erzählen können, dass ich ein junger Augenarzt in Kalifornien war, der gerade die Universität verlassen hatte und zwei oder drei Wochen Urlaub machen wollte, ehe er mit der praktischen Arbeit begann, aber sie unterbrach mich. Sie wollte, wie es schien, eine für sie wichtige Sache wissen: ob ich lange genug in Angkor gewesen sei, um mit irgendjemandem von der Behörde zu sprechen. Ob sie mir irgendetwas erzählt hätten, etwas über ein Gerücht, das in Angkor umging? Hätte ich etwas Schreckliches über Angkor gehört?

Als ich ihr sagte, dass ich nichts gehört hatte, schien sie sich zu beruhigen. Und ehe sie mich verließ, nahm sie meine Hand und legte sie auf ihr Gesicht, über ihre Augen. Ich dachte damals, es handele sich um einen kambodschanischen Brauch, um eine kambodschanische Sitte. Meine Hand berührte etwas, das sich wie ein Schleier anfühlte, und es war ziemlich merkwürdig, denn ich hatte keine verschleierten Frauen in Kambodscha gesehen.

Fast automatisch – vermutlich, weil es mein Beruf war – glitt ich mit meinen Fingerspitzen gegen ihre Augen, als ob ich sie prüfen wollte. Sofort schlug sie meine Finger beiseite, meine Hände flogen hoch; Ich berührte den Schleier über den Augen und spürte irgendetwas Hartes, als ob sie eine Binde fest um den Kopf gewickelt hätte.

Aber in diesem Bruchteil einer Sekunde, in dem ich in den Stoff griff, schien irgendetwas nachzugeben. Ich war mir wegen der Dunkelheit und Schnelligkeit, mit der alles geschah, nicht sicher. Mir war, als ob sich irgendetwas unter dem Stoff gelöst hätte und auf den Boden gefallen wäre, ein kleiner Gegenstand, vielleicht eine Münze oder eine Murmel.

Sie stieß einen lauten Schrei aus und rannte davon. Die Geräusche entfernten sich in Richtung auf die Ruinen.

Kaum hatte sie mich verlassen, als eine Gruppe kambodschanischer Polizisten auf mich zukamen. Sie gingen so leise, dass ich mir ihrer Anwesenheit erst bewusst wurde, als mir jemand mit einer Taschenlampe ins Gesicht leuchtete.

»Monsieur?«, sagte einer, und dann stellte er eine Frage in Französisch. Ich antwortete in Englisch, und dann fragte er mich in gebrochenem Englisch, ob alles in Ordnung sei, ob ich jemanden gesehen hätte, jemanden, der sich meiner Meinung nach verdächtig benommen hätte.

Ich wusste nicht, warum ich ihnen meine Begegnung mit der jungen Frau verschweigen sollte. Ich erwähnte ihren Schleier. Zu meiner Überraschung wollten sie wissen, in welche Richtung sie gegangen und wie lange das her sei. Kaum hatte ich es ihm gesagt, als sie erregte Schreie ausstießen und zu den Ruinen liefen.

Die Begegnung mit einer Frau, die nur Frauen führte und nur bei Nacht, dazu das offensichtliche Interesse der Polizei an ihr, hatten mich so neugierig gemacht, dass ich schnell in mein Hotel zurückging und den Mann an der Rezeption fragte, was eigentlich los sei.

Er war, um es milde auszudrücken, betroffen, als er hörte, dass ich nicht wusste, wer sie war.

Als ich erwähnte, dass sie einen Schleier getragen hätte, erblasste er.

Er war ein kleiner, drahtiger, olivenfarbener Kambodschaner, dem der westliche Anzug sehr gutstand, und der fließend Englisch mit einem leichten französischen Akzent sprach und offensichtlich ein wohlerzogener Mann war.

Aber als ich ihm von meiner Begegnung mit Santhomea berichtete, erschienen Schweißtropfen auf seiner Stirn; er verlor seine professionelle Ruhe, und einen Augenblick lang glaubte ich, er würde die Vordertür des Hotels verschließen, wenigstens sah es so aus. Ich erklärte ihm, dass ich gerade in Angkor angekommen sei und keine Ahnung von dem hätte, was ihn offensichtlich so sehr erschreckte. Meine Erklärung schien ihn nicht zu beeindrucken; so wie er musste die ganze Welt wissen, was kürzlich in den Ruinen geschehen war. Ich erzählte ihm, dass ich in den Zeitungen nichts darüber gelesen hätte, was immer es auch war, und dass ich seit meiner Ankunft in Angkor mit niemandem gesprochen hätte, ausgenommen mit der Frau vor dem Tempel. Und ich fragte ihn, ob er mir vielleicht erzählen würde, was eigentlich los sei.

Ich brauchte ihn nicht zu drängen. Offensichtlich war es eine Sache, die ihn seit Wochen beschäftigt hatte. Er begann sofort mit einer Legende.

Vor Jahrhunderten besaß ein armer Holzschnitzer zwölf Töchter, mit denen er in einem Wald in der Nähe von Angkor lebte. Da es für ihn unmöglich war, sie alle zu ernähren, führte er die zwölf eines Tages tief in den Wald hinein und verließ sie. Sie wurden jedoch bald von einem Hauptmann in der Armee des Königs von Angkor entdeckt, der sie in die große Stadt Angkor Thom brachte, wo sie zu so ungewöhnlich schönen Frauen aufwuchsen, dass der König sie alle zwölf heiratete.

Die Schwestern lebten glücklich mit dem guten König und wären vielleicht auch glücklich gestorben, wenn nicht eine seiner anderen Frauen maßlos eifersüchtig gewesen wäre; es gelang ihr schließlich, den König davon zu überzeugen, dass ihm alle zwölf untreu geworden wären. Und sie konnte den König beschwatzen, dass er, um sie zu bestrafen, ihnen die Augen herausreißen lassen sollte. Nach dieser grausamen Operation, die die Königin selbst vorgenommen hatte, wurden die Schwestern auf – die Spitze eines nahegelegenen Hügels, Pnom Bak Kheng, gebracht und dort in einer Höhle dem Hungertod preisgegeben.

Aber zwei Dinge liefen anders, als die Königin es sich gedacht hatte. Aus irgendeinem Grunde hatte die Königin übersehen, dass es einer der Schwestern gelungen war, ein Auge vor dem Messer der Königin zu retten. Sie konnte für sich selbst sorgen und fand auch für ihr Baby genügend Nahrung, um leben zu können.

Das Baby, dem man den Namen Rothisen gegeben hatte, wuchs zu einem hübschen jungen Mann auf.

Irgendwann berichtete ihm seine einäugige Mutter von der grausamen Tat der Königin, und der junge Mann ging rachesuchend zum Palast des Königs und stach der Königin die Augen aus, dann brachte er sie in den Wald und verließ sie, und seit dieser Zeit wandert sie dort umher und fleht die Götter um Hilfe an, um sich rächen zu können.

Ich hatte der Legende ungeduldig zugehört und versucht, den Portier immer wieder zu unterbrechen, um ihn zu fragen, was das mit Santhomea zu tun hatte.

Ich versuchte es wieder: »Aber was hat das alles mit der augenblicklichen Situation zu tun?«

»Sehr viel«, antwortete er. »Jedenfalls glaubt man das. Sehen Sie, Monsieur, während der letzten Wochen sind viele Frauen in den Ruinen verschwunden. Man fand sie nach einigen Tagen, sie waren alle tot, Monsieur, und allen hatte man die Augen ausgestochen.«

»Ja, aber sicherlich wollen Sie nicht...«

»Einen Augenblick, bitte, Monsieur. Freunde von zweien dieser toten Frauen sahen, wie sie in den Ruinen verschwanden. Die Männer waren zu weit entfernt, um ihnen zu helfen, doch nahe genug, um das Ungeheuer sehen zu können, diesen wahnsinnigen Mörder.«

»Ja, aber Sie glauben doch sicherlich nicht, dass der Mörder, dieser Mann, irgendetwas mit der Legende zu tun hat, die Sie mir erzählten.«

»Der Mörder ist kein Mann, Monsieur. Der Mörder ist eine Frau. Die Zeugen identifizierten sie absolut sicher als Frau.«

»Aber die Geschichte, die Sie mir erzählten, ist doch eine alte Legende. Sie sind ein intelligenter Mann, Sir. Sicherlich glauben Sie nicht –«

»Monsieur, bis jetzt sind elf Frauen getötet worden. Man hat ihnen zweiundzwanzig Augen herausgeschnitten. Erinnern Sie sich an die Legende? Die verrückte Königin schnitt zwölf Frauen die Augen aus. Aber einmal misslang es ihr, einem Mädchen konnte sie nur ein Auge herausschneiden. Jeder Mensch in Kambodscha kennt diese Legende. Und das Ungeheuer kennt diese Geschichte natürlich auch, sie weiß, dass sie noch zwei weitere Augen braucht.«

»Ja, aber –«

»Hören Sie, Monsieur! Auf jeder Leiche hinterließ das Ungeheuer einen Zettel, auf dem immer die Worte standen: Ich, Santhomea, muss mich rächen. Monsieur, der Name der legendären Königin war Santhomea. Heute Nacht haben Sie mit ihr gesprochen – oder mit einer Frau, die glaubt, dass sie Santhomea sei.«

Draußen vor dem Hotel wurde geschossen. Der Portier nahm mit einem Schrei eine Taschenlampe vom Pult, lief durch den Vorraum und durch die Vordertür hinaus auf die Ruinen zu. Ohne nachzudenken, folgte ich ihm.

Der Pförtner führte mich über die Straße zu einem fünf Stockwerk hohen, steinernen, großen Tempel. Wir hörten Schüsse, Fußtritte, Schreie. Der Mann neben mir lief mit größter Geschwindigkeit, er kannte sich in dem Tempelbezirk genau aus.

Dann sah ich in etwa zweihundert Meter Entfernung Lampen, die alle auf einen Punkt gerichtet waren. Die Waffen schwiegen.

Als wir die Gruppe erreichten, sah ich auf dem steinernen Boden das Mädchen liegen, mit dem ich noch kurz zuvor gesprochen hatte. Ich glaubte wenigstens, dass es diese Frau war; denn diese Frau trug einen Schleier, einen sarongähnlichen Umhang.

Blut tropfte aus ihrem langen, dunklen Haar. Sie war tot.

Der Pförtner sprach aufgeregt mit einem der Polizisten in einer Sprache, die ich nicht verstand. Der Polizist ließ das Licht seiner Taschenlampe über den Tempel tanzen, er gestikulierte und sprach schnell. Als er fertig war, erzählte mir der Clerk, die Frau sei von oben aus dem Tempel auf den Boden herabgestürzt.

Die Scheinwerfer der Polizisten hatten sie gerade erreicht, als sie an den Rand einer Terrasse hoch über ihnen gekommen wäre. Ohne Zweifel war sie von dem Licht der Scheinwerfer geblendet worden, als sie in den Tod gesprungen war.

Aber sie irrten sich.

Während ich zusah, wie der Polizist im Licht der vielen Taschenlampen den Schleier von dem Gesicht des Mädchens zog, bemerkte ich, dass sie älter war, als ich geglaubt hatte. Dennoch war sie auch jetzt noch, im Tode, schön.

Ihre Haut war ziemlich hell, sie hatte ein rundes Gesicht, sie war eine typische Kambodschanerin.

Ich konnte ihre Augen nicht sehen, sie waren von einer Art Verband bedeckt, und ich wusste, dass es das war, was ich unter dem Schleier gespürt hatte, als ich ihr Gesicht berührte. Diese Binde lief um ihren ganzen Kopf herum.

Der Polizist, der den Schleier entfernt hatte, zog ein Taschenmesser aus seiner Tasche. Er schnitt die Binde von ihrem Gesicht – und ich sah etwas, das ich niemals wieder vergessen werde.

Ich bin jetzt wieder zu Hause in San Francisco und habe meine Praxis als Augenarzt begonnen. Und – Gott möge mir verzeihen... jedes Mal, wenn ich die Augen eines Patienten sehe, denke ich – ich sehe es! – an das Gesicht dieses geistesgestörten, kambodschanischen Mädchens – was man mit ihm gemacht hatte.

Als die Binde sich durch den Schnitt des Polizisten löste, kam irgendetwas – ich konnte nicht sehen, was – aus der linken Augenhöhle des Mädchens und rollte ihre Wange hinunter auf das Blut, das sich auf den Steinen ausgebreitet hatte. Die beiden Augenlider des Mädchens waren zugenäht. Offensichtlich hatte man das schon vor Jahren getan; die Lider waren mit den Augenhöhlen verwachsen.

Irgendwann in ihrer Jugend hatte man dieses Mädchen grausam geblendet. Blind und verloren, war sie von dem Tempel, in dem sie sicherlich den größten Teil ihres Lebens zugebracht hatte, heruntergestürzt in den Tod.

Ich konnte mir ihre schreckliche Existenz vorstellen. Ohne Zweifel war sie, geistesgestört, während der Jahre, die sie blind im Dschungel gelebt hatte, mehr und mehr zu der Überzeugung gekommen, Santhomea zu sein, die blinde Santhomea, die wahnsinnige Königin, die seit Jahrhunderten rachesuchend, den Verlust ihrer eigenen Augen betrauernd, durch die Wälder irrt. Und so war dieses Mädchen zu einer zweiten Santhomea geworden, die elf Frauen, einer nach der anderen, die Augen herausgeschnitten hatte – zweiundzwanzig Augen.

Mit einem Stock zeigte einer der Polizisten im Blut auf einen Gegenstand, der aus Santhomeas Augenhöhle herausgefallen war. Ich sah, was es war, und kannte

nun die ganze Geschichte Santhomeas, die tot vor mir lag.

Die unglückliche, geistesverwirrte Kreatur konnte Legende und Wirklichkeit nicht mehr voneinander trennen. Mit dem Unglück der Königin hatte sie auch ihre Hoffnung auf sich genommen. Sie wollte wieder sehen, und so tötete sie elf Frauen, schnitt ihnen die Augen aus, legte die Augäpfel in ihre eigenen leeren Höhlen und umschlang sie mit einer festen Binde.

Als ich im Dunkel ihre Binde abtastete, löste sich etwas hinter dem Verband und fiel zu Boden.

Ich kann Santhomea nicht vergessen.

Im Dunkeln höre ich manchmal ihre weiche Stimme.

»Brauchen Sie Hilfe, Madame? Ich sehe im Dunkeln.«

Und dann lacht sie leise...

 

 

 

 

  Robert Bloch: DIE GLEICHE WELLENLÄNGE

 

 

Er erwachte, und der Alptraum begann.

Es war genauso, wie es hier gedruckt steht.

Normale Menschen pflegen von einem Alptraum aufzuwachen. Selwyn aber war Schriftsteller, und von einem solchen darf man auch schon mal etwas erwarten, das nicht normal ist.

Gehen wir also nochmals an die Sache heran: Selwyn erwachte, und der Alptraum begann. Das heißt, dazwischen war noch etwas. Der Briefträger hatte die Klingel gedrückt. Das bedeutete: es ist etwas im Briefkasten.

Das konnte ein Scheck von einem Agenten oder irgendeiner Redaktion sein. Oder Druckfahnen zur Korrektur oder die Aufforderung, eine neue Story zu schreiben. Jedenfalls war das Klingelzeichen ein Zeichen des Lebens. Denn alles Leben kam für den Schriftsteller Selwyn durch den Briefkasten.

Er schlüpfte in die Sandalen und warf den Bademantel über. Das würde er fraglos nicht so eifrig getan haben, wenn er gewusst hätte, was im Briefkasten eingetroffen war.

Er überschlug sich fast, als er die Treppe hinunterlief. Er öffnete wie in Trance die Tür, die Hand glitt in den Briefkasten hinein und holte einen großen Umschlag heraus. Selwyn riss ihn auf und betrachtete ahnungsvoll das Manuskript.

Er las den Begleitbrief und fand seine dunkle Ahnung bestätigt. Es war ein Alptraum. Wieder mal. Der Alptraum lautete:

Lieber Selwyn,

es tut mir leid, wir können auch diese Story nicht nehmen. Haggerty meint, es sei eine ausgezeichnete Sache, aber er hat in der letzten Woche die gleiche Idee von Tarleton Fiske gekauft und mit einem Scheck honoriert.

Das passiert jetzt schon zum vierten Mal. Stimmtʼs? Ich vermute, dass es sich um eine Art Gedankenübertragung handeln muss. Vielleicht versuchen Sie mal etwas anderes. Ja? Es tut mir sehr leid.

Selwyn setzte sich auf die unterste Treppenstufe. Ja, das war ein Alptraum am hellen Tag. Zum vierten Mal. Zum vierten Mal hatte Al Harrison abgelehnt. Zum vierten Mal in zwei Monaten, in denen er eine Geschichte an seinen Agenten geschickt hatte. Jede Geschichte war zu einem anderen Herausgeber gegangen, aber die Ablehnungen glichen sich immer – ein anderer Schreiber hatte gerade eine gleiche Geschichte über das gleiche Thema mit dem gleichen Schluss geschrieben.

Der Schreiber hieß in jedem Fall Tarleton Fiske.

Selwyn hatte niemals von ihm gehört, bis vor zwei Monaten. Soweit er wusste, hatte der Mann niemals eine Geschichte veröffentlicht. Selwyn hatte in den Jahrbüchern auf der Bibliothek nachgesehen und seinen Namen nicht gefunden. Außerdem war Selwyn seit einem Dutzend Jahren in diesem Geschäft; wenn Tarleton Fiske etwas veröffentlicht hätte, dann wäre es ihm bestimmt nicht entgangen. Entweder war es ein Neuling und alles ein Zufall oder...

Oder sein Name war ein Pseudonym. Ein Pseudonym für jemanden, der sich Zugang zu Selwyns Manuskripten verschaffte und sie abschrieb. Ein Pseudonym für eine schmutzige Ratte. Wie Al Harrison vielleicht.

Vielleicht? Es gab keinen Zweifel mehr. Es musste so sein. Es war unmöglich, dass zwei Autoren die gleichen Dinge einfielen. Er wusste, wie sein Verstand arbeitete, woher seine Ideen kamen, und kein Mensch konnte wissen, was er zu schreiben beabsichtigte.

Nein, es war Al Harrisons Werk. Es war die einzige Antwort, die einen Sinn ergab; einen bösen Sinn, aber er war noch besser als ein Alptraum.

Und so schrieb Selwyn einen Brief und trennte sich von seinem

Agenten. Dann schrieb er einen anderen Brief an Dick Holland, der an der Küste wohnte. Holland hatte sich schon einmal bemüht, seine Arbeiten zu vertreiben, vor allem aber hatte er ihn bewegen wollen, für den Film zu schreiben.

Fünf Tage später holte Selwyn aus dem Briefkasten einen Luftpost-Eilbrief. Dick Holland schlug ihm vor, sofort hinzukommen. Wenn auch die Filmarbeit in den großen Studios nachgelassen hätte, gebe es doch bei den kleinen Produzenten eine Menge Arbeit, besonders für Horror-Filme. Und ein gutes Drehbuch würde sofort den Durchbruch für Selwyn bedeuten. Vielleicht hätte er, der neue Mann in diesem Geschäft, auch neue Ideen. Wenn er hinkam, konnte er sie diktieren und schreiben, und die ganze Aktion konnte starten.

Selwyn setzte sich sofort in seinen Wagen. Während der Nächte in den Motels arbeitete er auf der Schreibmaschine. Als er schließlich in Hollands Büro ankam, konnte er ein vollständiges Treatment mit dem Titel Teufels Ausflüge vorlegen.

»Prächtig!«, sagte Dick Holland. »Das ist alles, was wir brauchen, es wird wie ein Donnerwetter wirken. Geschichten mit dem Satan sind modern, und außerdem wird es kein Vermögen kosten, die Sache zu verfilmen. Ich werde sofort zur Associated gehen. Unterdessen sehen Sie sich ein paar Drehbücher an. Irgendetwas in mir sagt mir, dass Sie auf dem besten Wege sind zu Ihrem Drehbuch.«

Selwyn ging zu seinem Motel zurück und las die Drehbücher durch, die Holland ihm gegeben hatte, und wartete auf seinen Anruf. Er kam, ehe die Woche herum war.

»Eine verdammte Geschichte«, sagte Holland zu ihm. »Pritzlaff, das ist unser Mann bei der Associated, war von der Idee begeistert. Aber gerade vor ein paar Tagen haben sie ein Manuskript gekauft, das fast wie eine Kopie Ihres Treatments aussieht. Direkt aus der Hölle von einem Kerl namens Tarleton Fiske. Haben Sie jemals von ihm gehört?«

Da war es wieder. Selwyn hatte nicht die Absicht, sich zu erschießen oder zusammenzubrechen, denn das war es, was die meisten taten, wenn sie einen gespenstischen Alptraum nicht loswerden. Er versuchte, die Sache Dick Holland zu erklären, und Holland war entsetzlich aufgeregt. Selwyn musste ihm versprechen, sofort den Arzt aufzusuchen, den Holland ihm empfahl. Es war ein Psychiater namens Dr. Rossiter.

Dessen Couch war gut gepolstert, aber Selwyn kam sie wie eine Folterbank vor, besonders, nachdem er erzählt hatte, was er vermutete.

»Sehen Sie es denn nicht? Zuerst war es bloß ein gewöhnlicher Fall von Plagiat, aber jetzt kann es das doch nicht sein. Es mag schizophren klingen, sofern man es nicht parapsychologisch betrachtet. Es kann doch nicht ein Doppelgänger sein. Es gibt keine Doppelgänger.«

»Das ist erwiesen«, erklärte Dr. Rossiter. »Aber haben wir irgendeinen Beweis, dass der Mann nicht die Gedanken eines anderen lesen kann?«

»Beweis? Was für einen Beweis wollen Sie denn noch? Dieser Mann, wer er auch ist, hat seit Monaten meine Geschichten geschrieben und sie verkauft, ehe ich es tun konnte. Genügt das nicht?«

»Nicht unbedingt.« Dr. Rossiters Stimme war sanft. »Alles Schöpferische, die sogenannten Inspirationen, kommen doch vom Denken. Die Komponenten entwickeln sich aus einem Reservoir von Eindrücken, die das Unterbewusstsein einlagert. Andere Menschen außer Ihnen können diese Eindrücke aus derselben Quelle bekommen. Es gibt Augenblicke, in denen zwei Menschen fast gleichzeitig zu einem gleichen Entschluss kommen. Es gibt eine Menge Beispiele, nehmen wir nur die Erfindung des Films, des Dampfschiffs...«

Selwyn schüttelte den Kopf. »Mir fallen meine Storys meistens ein, wenn ich schlafe«, sagte er. »Ich habe das vorher noch keinem erzählt, aber es ist die Wahrheit. Ich schreibe meine Einfälle nicht – ich träume sie.«

Dr. Rossiter nickte. »Genauso war es bei Coleridge. Oder bei der Mary Shelley.«

»Ja, aber ihnen hat niemand ihre Träume gestohlen!«

»Bitte«, sagte Dr. Rossiter, »ich kann Ihnen versichern, dass es dafür eine völlig logische Erklärung gibt. Große Geister laufen...«

Selwyn lief.

Er lief aus der Praxis von Dr. Rossiter. Er lief zu dem Motel, in dem er in Hollywood wohnte. Er lief den ganzen Weg nach Tia Juana und betrank sich eine Woche lang.

Als er wieder nüchtern war, fühlte er sich besser. Vielleicht hatte der Doktor recht. Er musste recht haben, wenn es nicht wirklich ein Alptraum war. Und er konnte nicht in einem Alptraum leben. Er konnte nicht leben, arbeiten und schreiben.

Aber Selwyn musste schreiben, er brauchte Geld, um zu leben. Doch er hatte eine Idee und wollte diese Idee durchführen. Er wollte einen Science-Fiction-Roman schreiben, denn seit ein paar Jahren beschäftigte er sich mit Horror- und Science-Fiction-Ideen. Er hatte eine Menge Notizen gesammelt. Natürlich waren es Notizen nach seinen Träumen, aber er wollte es dennoch noch einmal versuchen.

Und so zog Selwyn in ein billiges Motel um, das nicht weit von Venice entfernt war, und vergrub sich dort einen ganzen Monat lang. Dann fuhr er zu Dick Holland.

Holland war glücklich, ihn so gutaussehend zu finden, und noch glücklicher, als er das Manuskript Mein Kumpel, das Monstrum bekam.

»Ich werde es sofort zum Lektorieren an das New Yorker Büro schicken. Sowie ich etwas höre, rufe ich Sie an.«

Selwyn verbrachte die drei Wochen bis zu dem Anruf, ohne die Schreibmaschine anzurühren; er lag fast jeden Tag am Strand, und er wurde gesünder und primitiver. Er hatte keine Träume mehr und glaubte nicht mehr an ein mysteriöses Unterbewusstsein.

Und dann kam der Anruf, und Holland sagte: »Ich begreife das alles nicht. Ajax hat das Manuskript gelesen und mir erklärt, er hätte das gleiche Manuskript vor zwei Tagen angekauft und bezahlt. Kennen Sie einen Mann namens Tarleton Fiske?«

Der Alptraum! Aber irgendwie berührte es Selwyn nicht mehr. Er war völlig ruhig. Er legte auf, dann rief er Ajax in New York an und ließ sich Tarleton Fiskes Adresse geben.

Im Grunde genommen war er gar nicht überrascht, dass die Stelle, von der Tarleton Fiske seine Manuskripte aufgegeben hatte, nur dreißig Meilen von seinem Haus entfernt war. Seltsam war nur, dass dieser Mann auch jetzt in seiner Nähe wohnte.

Er fuhr nach Laguna Beach, um sich den Herrn einmal anzusehen.

Er glaubte sicher, mit ihm fertig zu werden.

Tarleton Fiske wohnte in einer geräumigen Hütte hoch über dem Meer im Süden der Stadt. Er war ein kleiner Mann mit einem fremdartigen Gesicht und schrägen Augen. Im Halbdunkel des Zimmers konnte man ihn für einen Mulatten halten. Aber Selwyn wusste, dass er das nicht war. Er hatte zu lange über diese Sorte von Lebewesen nachgedacht und Romane daraus gezimmert. Sendboten von irgendeinem Stern! Supergehirne, die sich den Menschen überlegen wähnten. Nun, man würde ja sehen.

Selwyn musste ziemlich laut schreien, denn das Geräusch der Wellen vor dem Haus war sehr stark. »Doktor Rossiter hatte recht. Es gibt erwiesenermaßen auf Erden keine Telepathie. Daher musste jemand aus einer anderen Welt kommen.«

Fiske nickte mit unbeweglichen Augen. »Wenn Sie das erraten haben, überrascht es mich, dass Sie es gewagt haben, hierher zu kommen. Haben Sie keine Angst, dass ich auch jetzt Ihre Gedanken lesen könnte?«

Selwyn war seiner Sache sicher. »Nicht jetzt!«, erklärte er. »Das weiß ich genau. Ihre telepathischen Fähigkeiten beruhen darauf, dass Sie Kontakt mit schlafenden Gehirnen aufnehmen können. Tagsüber bekommen Sie mit den hellwachen Gehirnen keine Verbindung. Ich kenne den eigentlichen Zweck Ihres Aufenthaltes auf der Erde nicht...«

»Fragen Sie nicht danach!«, warnte der Mann eindringlich. »Es ist besser für Sie.«

»Auf jeden Fall ist es mir egal«, konterte Selwyn lächelnd. »Bleiben wir bei der Sache! Selbst ein Feind der Menschheit muss auf Erden essen und trinken. Dafür braucht er Geld. Sie sind auf den schlauen Gedanken gekommen, mein Gehirn im Schlaf anzupeilen und mir die Geschichten zu stehlen, die ich gerade träumte. Sie konnten sie leicht manipulieren, da sie meistens von außerirdischen Wesen, dem Teufel und ähnlichen Kreaturen handelten, Figuren, die Ihnen bestens bekannt sein dürften.«

»Ich bedaure sehr, dass Sie sich gar nicht dafür interessieren wollen, warum ich auf der Erde bin«, sagte Fiske und tat bekümmert. »Sie beschäftigen sich doch in Ihren Erzählungen mit uns und unseren Unternehmungen. Sie sollten die ungewöhnliche Gelegenheit begrüßen, einmal mit einem von uns...«

Selwyn unterbrach ihn brüsk: »Sie können mir nichts erzählen, was ich nicht spielend erfinden könnte.« Er steckte die Hände in die Taschen. »Unser Gespräch wird sehr kurz sein. Ich habe mich vorbereitet.«

Er zog einen Revolver aus der Tasche.

Fiske war schneller. Er zog und schoss. Im gleichen Augenblick schmetterte eine Ozeanwelle an die Grundmauern der Hütte.

Bevor Selwyn das Denken für immer einstellen musste, schoss ihm noch der Gedanke durch den Kopf: »Natürlich wusste er, dass ich ihn erschießen wollte. Ich hab es doch in der letzten Nacht geträumt...«

 

 

 

 

  Henryk van Bergen: TODESLUST

 

 

Das monotone Prasseln des Regens hat sich übergangslos mit dem Ächzen und Rauschen der alten Bäume vereint.

Dunkle Grabmale tauchen manchmal drohend als bizarre Silhouetten im Schweben der Dunstschleier auf.

Ein schwarzer Vogel schwingt schwerfällig auf und verschwindet lautlos in der Regenwand.

Totenstille.

In der Nähe des Todes gaukelt die trostlose Natur flüsterndes Leben vor.

Ein dunkler Schatten löst sich aus dem allgemeinen Grau. Er zögert, verharrt, schleicht dann aber doch am Wegrand entlang.

Ein Knacken aus dem wassertriefenden Gebüsch. Die Schattengestalt steht wie angewurzelt. Tastende Finger wischen eine Haarsträhne aus dem bleichen Gesicht.

Der unheimliche Mann bewegt sich weiter. Wie eine Marionette. Das Regenwasser fließt ununterbrochen über das unbewegte, wächserne Gesicht. Der Mann bleibt stehen, sieht sich um.

Er ist allein, allein inmitten des steinernen Waldes von Grabmalen längst vergessener Toter, der einzige Lebende.

Er geht weiter. Die trübe Wand aus Nebel und Regen verdunkelt sich für wenige Sekunden. Plötzlich zerreißt sie. Der unheimliche Friedhofsbesucher hat sein Ziel erreicht. Er hält vor der verwitterten Mauer der alten Leichenhalle.

Neben dem Eingangsportal hängt eine verwitterte Schrifttafel. Aufgeregt huschen die geröteten Augen des Mannes über die ungelenken Buchstaben.

Merklich beruhigt nickt er zufrieden.

Zitternd streckt sich sein Arm aus. Quietschend bewegt sich die rostige Eisenklinke. Die Tür ist jedoch verschlossen.

Hastig versucht es der Unheimliche noch einmal. Vergebens. Ruckartig wendet er sich um. Ein Schrei gellt auf. Das Echo ersäuft in der Regenwand. Der Mann scheint von inneren Krämpfen geschüttelt. Er muss sich beruhigen.

Dann umschleicht er mit schleppenden Schritten das Gebäude.

Auch die Hintertür ist verschlossen.

Der Atem des Mannes rasselt erregt. Er sieht sich auf dem schlammigen Boden um, entdeckt einen Stein. Er bückt sich, umklammert den Stein, schnellt wie an Fäden hochgerissen auf und wirft den Stein in ein Seitenfenster.

Das Prasseln des Regens verschlingt das Klirren der zerspringenden Scheibe.

Die Hände des Unheimlichen klammern sich am Rahmen des Fensters fest. Die Finger zerknacken die Glasscherben. Sekunden später vermischen sich die Regentropfen mit dem Blut, das von den Händen über die Unterarme rinnt. Doch der Mann scheint keinen Schmerz zu verspüren.

Mit einem Ruck zieht er sich hoch und steht im nächsten Augenblick keuchend in einem kleinen, muffigen Innenraum.

Der rasselnde Atem verstummt, als die umherhastenden Blicke des Mannes an einer halbgeöffneten Tür hängenbleiben.

Lautlos huscht er hindurch und gleitet eine kurze, steile Treppe hinunter.

Als er seine Hand vom hölzernen Geländer löst, bemerkt er die dunkle Spur, die er auf dem schartigen Holz hinterlassen hat. Er begreift nicht und betrachtet seine zerfetzten Handflächen.

Er lässt unbeeindruckt die Hände sinken und geht auf eine weitere Tür zu. Hastig stößt er sie mit einem Fuß auf.

Die Leichenkammer!

Der Anflug eines Lächelns huscht über das ausgemergelte Gesicht. Endlich!

Das wächserne Antlitz der aufgebahrten Frau strahlt Frieden und Tod aus.

Der Mann tritt heran. Seine zitternden Finger berühren die weiße Seide der Leichendecke, verkrallen sich in ihr und reißen sie mit einem Ruck beiseite.

Er stößt einen gurgelnden Schrei aus. Er ist voll Gier, voll Lust, aber es ist

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Authors/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Korrektorat: Mina Dörge.
Übersetzung: Christian Dörge und N. N. (Originalzusammenstellung).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 04.02.2022
ISBN: 978-3-7554-0696-9

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