ROBERT LORY
DRACULAS GOLDSCHATZ
- 13 SHADOWS, Band 55 -
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DRACULAS GOLDSCHATZ
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Das Buch
In der Nähe von Draculas Schloss machen Arbeiter eine Entdeckung, die ihnen das Blut in den Adern gefrieren lässt: Sie finden die Leichen eines jungen Paares - grauenvoll zugerichtet, mit zerfetzten Kehlen. Die Bluttat zeigt deutlich die Handschrift eines Vampirs. Aber dieses Mal... kann Graf Dracula seine Hände in Unschuld waschen.
Der Schlüssel zu dem bestialischen Mord liegt in den Geheimgängen unter Draculas Schloss verborgen. Doch bis Professor Harmon ihn gefunden hat, fließt erneut das Blut Unschuldiger...
DRACULAS GOLDSCHATZ von Robert Lory (= Lyle Kenyon Engel) wurde in Deutschland erstmals im Jahr 1975 als VAMPIR-HORROR-TASCHENBUCH Nr. 19 veröffentlicht.
DRACULAS GOLDSCHATZ erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht.
DRACULAS GOLDSCHATZ
Erstes Kapitel
Ursprünglich waren es drei Paare gewesen, die an jenem Sonntag im Januar vom Dorf Arefu den Weg zur Bergkuppe hinaufgestiegen waren. Der Nachmittag war schön gewesen, kalt aber windstill, und die jungen Leute trugen dicke, warme Kleidung. Oben hatten sie zu Füßen der Burg ein Picknick veranstaltet und den Ausblick über das Tal zu ihren Füßen genossen.
Seit fast einer Woche hatte es in der Gegend nicht geschneit, aber aus dieser Höhe waren die Dächer des Dorfs und die der größeren Stadt Piteschti einige Kilometer flussabwärts noch immer mit reinem, weißem Schnee überzuckert, ebenso wie die Hügel und Vorberge, die auf der anderen Seite des rasch strömenden Arges lagen, der unweit von hier das Gebirge verließ, um in südöstlicher Richtung der Donau zuzustreben.
Vielleicht war es das gleichmäßige Fließen, das die Gedanken des jungen Stelian beschäftigte. Er saß ein wenig abseits vom Lagerplatz auf einer breiten Felsbank und starrte träumerisch nach Süden. Er stammte nicht aus dieser Gegend, sondern war aus Valea Mare im Osten hierhergekommen. Die Ruinen der Burg hatten ihn in dieses Tal gezogen – die Ruinen und die Arbeit, die kräftigen jungen Männern hier geboten wurde.
Stelian war kräftig. Er hatte ein derbes, hübsches Gesicht, das den Mädchen von Arefu zu gefallen schien. Das Mädchen, das still an seiner Seite saß, hieß Ilona; aber in diesem Augenblick zeigte Ilona zunehmend Anzeichen von Unruhe und Nervosität, ja von Furcht.
Die Idee hatte ihr von Anfang an nicht gefallen. Als ihre Gefährten beschlossen hatten, ins Dorf zurückzukehren, wäre sie nur zu gern mitgegangen, denn die Sonne war bereits im Begriff gewesen, jenseits der westlichen Kämme zu versinken. Aber Stelian hatte nein gesagt. Es war noch Bier da, und die Aussicht war so viel schöner als die im Inneren irgendeines verräucherten Gasthauses. »Außerdem können wir hier allein sein, Ilona, und ich bin gern mit dir allein hier oben.«
Allein mit ihm zu sein, war auch ihr Wunsch, doch nachdem die anderen gegangen waren und das purpurne Abendrot rasch zu verblassen begann, wurde sie ängstlich.
»Ich verstehe nicht«, sagte sie. »Jeden Arbeitstag bist du hier oben. Warum willst du jetzt unbedingt bleiben?«
»Magst du mich nicht, Ilona?«, war seine Antwort. »Natürlich mag ich dich, Stelian. Hätte ich dich begleitet, wenn es anders wäre?«
»Aber ich meine mögen in einer besonderen Art, etwas mehr als zwischen Freunden. Verstehst du, was ich meine?«
»Ja, aber...«
»Also lass dich noch mal fragen, schöne Ilona: Magst du mich – in der Art, wie ich es meine?«
»Ja«, antwortete sie und blickte auf ihre Hände.
»Das gefällt mir«, sagte er. »Wollen wir ein kleines Feuer machen? Ich glaube, es wird sehr schnell kalt, nachdem nun die Sonne...«
»Nein! Kein Feuer. Wir müssen gehen, Stelian. Wir dürfen nicht länger bleiben.«
Sie stand auf. Er blieb sitzen, wo er war, nur seine Hand folgte ihrer Bewegung. Der Griff seiner Finger an ihrem Handgelenk war sanft, aber fest. »Du tust mir weh!«, klagte sie.
»Das ist nicht wahr«, sagte er, ließ aber los. »Warum sollten wir nicht noch ein wenig hierbleiben, Ilona?«
»Der Abstieg ist im Dunkeln schwierig.«
»Auch nicht viel schwieriger als bei Tag, und schau hinauf – wir haben einen schönen Vollmond, der unseren Weg beleuchten wird.«
Sie folgte seinem Blick.
»Vielleicht ist das nur ein Vorwand, um einem Erlebnis aus dem Wege zu gehen, das dir keine Freude macht.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Stelian. Es ist nur, dass du nicht verstehst. Du...«
»Was verstehe ich nicht? Frauen?« Er lächelte und griff wieder nach ihrer Hand. Als seine Finger sie berührten, schaute er sie erstaunt an. Ihre Hand war wie Eis.
Wieder schüttelte sie den Kopf. »Nein, das meine ich nicht. Ich glaube nur, dass du diesen Ort nicht verstehst, nicht weißt, was mit diesem Berg und den Ruinen dort auf seinem Gipfel ist. Du bist nicht von hier, Stelian. Du weißt nicht...«
Er lachte. »Ich weiß mehr, als du mir zutraust, Mädchen. Obwohl ich nicht aus eurem Dorf bin, vergisst du, dass ich mit Männern arbeite, die hier wohnen. Sie reden oft – zu oft, finde ich – von den Legenden, die mit diesem Berg zu tun haben, dem Berg Draculas, dem Schloss Draculas. Ich habe alle diese Geschichten gehört. Sie sind nicht geheim – denk nur an diesen Herrn Conescu.«
»Wenn du es weißt, warum bestehst du dann darauf...«
»Was ich weiß, ist, dass es gewisse alte Geschichten gibt, Ilona, Geschichten, die aus dem vorigen Jahrhundert stammen. Ob etwas daran ist, kann ich nicht sagen, aber ich glaube nicht an sie. Vampire!«
Das Mädchen erschrak bei dem Wort. »Du solltest nicht so leichtfertig darüber reden«, sagte sie. »Psst! Was war das?«
Der junge Mann lachte wieder. »Das war ein Wolf, Ilona, nichts weiter.« Er zog sie näher zu sich und legte seine Arme um sie. »Hörst du – da ist er wieder.«
Das langgezogene Heulen war unverwechselbar. Es war ein trauerndes Heulen, das allmählich absank und die Abendstille wie eine Klinge durchschnitt. Wie eine eiskalte Klinge.
»Wölfe können gefährlich sein«, sagte das Mädchen hastig.
»Aber es ist bekannt, dass sie das Feuer fürchten, nicht wahr?«
»Ja.«
»Darum schlage ich vor, dass wir eins machen – ein großes, wenn du willst.«
»Können wir nicht einfach gehen?«, bat das Mädchen.
»Ich würde lieber bleiben. Da sind noch drei Flaschen Bier, und die könnten wir gemütlich hier am Feuer trinken. Gemeinsam, weißt du. Aber wenn du ohne mich ins Dorf hinuntergehen möchtest...«
»Nein! Bitte lass mich nicht allein gehen!«
Er drückte das Mädchen ein wenig fester an sich und murmelte in ihr Haar: »Dich allein gehen lassen? Nein, das würde ich nicht tun – niemals! Ich möchte dich hier bei mir haben. Kannst du das nicht verstehen?«
Ihr Zittern war jetzt nicht mehr nur eine Sache der Stimme, sondern ihres ganzen Körpers.
»Ja, ja, Stelian. Ich verstehe dich, aber du – kannst du nicht begreifen, dass ich Angst habe? Angst um mein Leben und um deines?«
Er seufzte, dann sagte er leise: »Ich beginne zu begreifen, Ilona, aber glaub mir, wir haben nichts zu befürchten. Ich sagte dir schon, ich kenne die Geschichten über diese Gegend.«
»Ja.«
Das durchdringende Heulen eines Wolfs, näher jetzt, durchbohrte die Nacht und übertönte ihre leise Antwort.
»Hast du das gehört, Ilona? Den Wolf? Nun, wenn du die Geschichten kennst, dann solltest du wissen, dass du nichts zu fürchten hast.«
Sie sah ihn stirnrunzelnd an. »Wie meinst du das?«
»Die Wölfe – oder der Wolf, wenn es nur einer ist. Aber das wird kaum der Fall sein, denn Wölfe kommen in Rudeln, nicht wahr? So ist es. Jedenfalls lautet eine Legende dieser Gegend, dass die Wölfe sich nicht heranwagen, wenn der Vampir hier ist. Ist das nicht so?«
»Das ist eine von den Geschichten, ja.«
»Nun, da hast du es«, sagte er mit einem Achselzucken. »Die Wölfe sind hier.«
»Kennst du die ganze Geschichte?«, fragte sie. Sie war jetzt ein wenig ruhiger, doch ihre Stimme bebte noch immer. »Hat man dir erzählt, dass seit achtzig, neunzig Jahren überhaupt keine Wölfe mehr auf diesem Berg gesehen wurden? Und hast du gehört, dass dieser Dracula irgendwo in der Nähe der Ruinen begraben sei und dass die Wölfe das Wissen von diesem Dämon, der sie beherrschen kann, von Generation zu Generation weitergeben? Darum ist der Berg ohne Wölfe geblieben.«
»Aber nun sind sie hier, nicht wahr?«
»Das ist wahr«, sagte sie nachdenklich. »Es ist sonderbar, aber es ist wahr. Nach all diesen Jahren, nach beinahe einem Jahrhundert, sind sie zum Berg zurückgekehrt. Sie kamen vor vier oder fünf Monaten, sagen die Leute, als sei das Böse, dass den Ort verflucht hatte, irgendwie entfernt worden.«
Stelian lachte. »Meine Gedanken, Ilona. Wenn es jemals etwas Böses gab, das diesen Berg verflucht hatte, dann ist es fort.«
»Fort«, wiederholte sie. »Aber vielleicht hat ein anderes Böses seinen Platz eingenommen.«
»Damit meinst du Herrn Conescu und seine Nichte. Aber nur weil er ein Abkömmling des Grafen ist – einer, der sehr weit von seiner Linie im Stammbaum entfernt ist – kannst du ihn nicht kurzerhand für böse erklären. In den Legenden gibt es nichts, was darauf schließen ließe, dass Vampirismus sich in Familien vererbt.«
»Aber ja, Stelian! Oft greift der Vampir seine Angehörigen als erste an. Das ist eine historische Wahrheit, weil es Teil des Fluchs ist, der die Liebe eines Vampirs in tödlichen Hass verwandelt. Ich könnte dir viele Geschichten erzählen, in denen...«
Er verschloss ihre Lippen mit einem Zeigefinger. »Ich habe auch von diesen alten Geschichten gehört, Ilona, aber hier und heute will ich nur soviel sagen, dass Herrn Conescus Nichte eine schöne, stattliche und elegante Frau ist – für einen wie mich vielleicht ein bisschen zu alt und ein wenig zu mager. Vielleicht ist sie auch in ihrem Benehmen etwas seltsam, aber das hat damit nichts zu tun. Und Radu Conescu ist ein strenger Vorgesetzter und manchmal ziemlich unfreundlich, aber das kann er sich wahrscheinlich leisten, denn er zahlt einen guten Lohn.«
»Damit ihr Löcher in den Berg bohrt. Warum, Stelian? Warum lässt er diese Arbeit machen?«
»Es soll mit archäologischen Untersuchungen über den Ursprung der Burg und des Geschlechts zusammenhängen, von dem abzustammen er behauptet. Mehr weiß ich nicht, und mehr will ich auch nicht wissen.«
Wieder heulte ein Wolf durch die Nacht. Ein zweiter antwortete.
»Es hört sich an, als kämen sie näher«, sagte das Mädchen. »Bitte, Stelian, lass uns doch...«
Er seufzte, dann erhob er sich aus der Hocke und zog sie mit auf die Füße. »Also gut, wenn es sein muss. Wir werden kein Feuer machen und auf die Romantik verzichten, von der ich geträumt hatte; wenigstens heute Abend. Stattdessen werden wir uns in ein überfülltes Gastzimmer setzen – das heißt, wenn du vorhast, den Abend mit mir zu verbringen. Ich nehme an, du hast keine andere Verabredung, die du einhalten möchtest?«
Das Mädchen kicherte ein wenig. Nun, da er versprochen hatte, dass sie diesen unheimlichen Ort verlassen würden, konnte sie es sich leisten.
»Es gibt keinen anderen, das weißt du gut, Stelian. Ich werde mein Bestes tun, dir das zu beweisen, sobald wir... Aber Stelian! Wohin gehst du? Warum hinauf?«
Er hielt die Bierflaschen hoch. »Im Wirtshaus gibt es genug davon. Diese drei Flaschen will ich mir für die Arbeitspausen morgen reservieren. Trotz Schnee und Kälte kommt man oft ins Schwitzen; die Flaschen werden mir dann zustatten kommen.«
»Dann lass sie hier liegen!«, drängte sie.
Er schüttelte seinen Kopf. »Nein, wenn es schneien würde oder wenn der Wind den Schnee am Boden verweht, hätte ich es nicht leicht, sie wiederzufinden. Aber da oben, zwischen den Ruinen, gibt es viele gute Verstecke. Dort bringe ich sie bis morgen unter.«
Er wandte sich um und ging entschlossen den Weg aufwärts zu den Ruinen. Ilona blieb nichts übrig, als ihm zu folgen, was sie im Laufschritt tat. Es war nicht ganz leicht, den Berg hinaufzukommen, denn die Steigung machte manchmal fast vierzig Grad aus, und der Weg war verschneit und eisig. Trotzdem bewegte sich Stelian mit der Sicherheit einer Gämse, und Ilona kam bald außer Atem und musste stehenbleiben. Aber sie fürchtete zurückzubleiben, und als das Heulen des Wolfs sich wiederholte, eilte sie weiter, so schnell sie konnte.
Stelian hatte bereits die mehrfach gestaffelten Felsterrassen überwunden, die den Osthang wie Bollwerke vorzeitlicher Götter durchzogen, angelegt, um das Tal gegen die unheiligen Dämonen abzuschirmen, die auf dem Berggipfel gefangen waren. Als auch Ilona die Felsbänke überwunden hatte, blickte sie zum Berggipfel hinauf und verstand besser als je zuvor, warum dieser Ort gefürchtet und gemieden wurde.
Schloss Dracula.
Der Mond schien auf den ungeheuren Trümmerhaufen, dem bleiche Mauerreste, geborstene Türme und Zinnen entragten, zerstört von Feuer, Erdbeben und geduldig und unablässig wirkenden Kräften von Natur und Zeit. Unirdisch sah das Bauwerk aus, ein Monument seiner selbst inmitten der düsteren Schneelandschaft, einer Schneelandschaft, die von den Spuren der vielen Männer beschmutzt war, die an den Hängen gearbeitet hatten – Spuren, die jetzt wie Armeen gigantischer Kräfte aussahen, die um einen steinernen Altar schwärmten, dessen Bedeutung längst vergessen war, aber ihnen allein bekannt blieb. Schloss Dracula war ein Altar, ein Monument, das den zerstörerischen Angriffen des Menschen und der Natur immer wieder standgehalten hatte und sich noch immer auf der Kuppe des Berges hielt. Nie zuvor hatte Ilona sich so nahe an diesen alten Steinhaufen herangewagt.
»Stelian!«
Auf ihren Ruf wandte er sich um. Er war nur etwa zehn Meter entfernt, aber auch das war ihr noch zu weit. Sie rannte stolpernd durch den Schnee zu ihm, erreichte seine Seite und seine Arme.
»Bitte, Stelian...«
»Gleich, mein Liebling, nur einen Moment. Wir haben nur noch fünfzig Meter oder so, und dann...«
»Mich friert, Stelian. Es ist so kalt hier...«
»Auch darum werde ich mich kümmern – zur rechten Zeit.« Er lachte munter. »Komm, lass uns zu den Steinen gehen, wo die Mauer eingestürzt ist. Komm mit.«
Er versuchte sie sanft mitzuziehen, aber ihre Füße waren wie festgewurzelt, und es bedurfte einiger Kraftanstrengung, bevor er sie von der Stelle brachte.
Das wird nicht gut ausgehen, dachte sie. Er wird uns ins Verderben bringen. Als er sie aufwärts und zum eingestürzten Burgtor zog, geriet sie fast in Panik. Lieber Gott, dachte sie, er wird uns beide umbringen!
Und dann waren sie da. Durch eine breite Bresche in der großen Wand stiegen sie ins Innere und fanden sich auf dem verschneiten, aber blankpolierten Steinboden einer ehemaligen Eingangshalle. Nun waren sie dort, wo der Dämon selbst gelebt und getötet hatte.
Als Stelian ihre Seite verließ, um seine Bierflaschen zu verstecken, sah sie sich furchtsam um. Das Mondlicht veränderte die Mauern in einer so seltsamen und unheimlichen Weise, schien diesen alten steinernen Stufen, die zu den Resten der Wehrgänge hinaufführten, ein geheimnisvolles Leben einzuhauchen. Dann blickte Ilona auf und sah den Mond.
»Stelian! Der Mond – es ist Vollmond!«
Der junge Mann kam wieder an ihre Seite. »Der Vollmond ist auch der Mond der Liebenden, Ilona.«
»Nicht hier!«, sagte sie, ohne ihn anzusehen. »Nicht – oh, mein Gott!«
Stelian folgte ihrer Blickrichtung zu einer Stelle auf der Treppe, wo das Mondlicht weiß auf Gemäuer und Schnee lag. Aber noch etwas anderes war dort im blassen Schein zu sehen.
»Warum seid ihr gekommen?«, fragte die Frau.
Sie schien nicht von dieser Welt zu sein, und die beiden jungen Leute rissen weit die Augen auf. Als ob Sommer wäre und nicht der tiefste Winter, trug die Frau nur ein leichtes, weißes Gewand, das im Mondlicht schimmerte und ihr eine gewisse unheimliche Anmut verlieh. Doch ihre Stimme hatte die Schärfe der kalten Jahreszeit, und in ihrem Ton lag eine Geringschätzung, die sich im Ausdruck ihrer Augen und ihres Mundes wiederholte.
Stelian überwand seine Bestürzung zuerst. Sowohl er als auch Ilona hatten die Frau erkannt; beide hatten mit der unfreiwilligen Lähmung des Schocks reagiert, aber nun fand er die Fassung wieder. Seine Worte klangen ihm seltsam hohl in den Ohren.
»Madame Conescu, was machen Sie hier? Die Nacht wird kalt und Sie sind kaum dafür gekleidet. Vielleicht wollen Sie meinen Mantel nehmen und mit uns ins Dorf gehen? Wenn Ihr Onkel wüsste, wo Sie sind, würde er sich sicherlich Sorgen machen...«
Ihr Lachen schnitt ihm das Wort ab. Es war ein höhnisches, überlegenes Lachen. »Mein Onkel? Du wagst es Mutmaßungen anzustellen, welche Gedanken meinen Onkel beschäftigen? Seine wirklichen Gedanken würden dich erstaunen, Dummkopf!« Sie zeigte mit einem langen Finger auf die beiden. »Ich habe euch eine Frage gestellt, Tölpel! Beantwortet sie so vernünftig wie ihr könnt. Warum seid ihr hier?«
Ilonas Geist war in Aufruhr. Bier! Mehr war es nicht, nur drei unbedeutende Flaschen Bier. Stelian hatte im Scherz gesagt, dass er sie wie einen Schatz verbergen wolle...
»Schatz«, sagte sie.
»Schatz«, sagte die Frau auf der Treppe. »Schatz. Das ist gut. Glaubt ihr so schlau zu sein, dass ihr ihn entdecken könnt? Wirklich?«
Der junge Mann runzelte die Brauen. »Sehen Sie, Madame Conescu, wenn Sie mich erklären lassen – vielleicht unterwegs zum Dorf...«
Die Frau in Weiß lächelte. »Aber wir gehen nicht ins Dorf hinunter, nein, wir nicht! Ich werde später zu meinem Onkel gehen, aber erst nachdem ich mich mit dir und deinem Mädchen beschäftigt habe.«
Stelian blickte sie misstrauisch an. »Beschäftigt, sagen Sie? Wie meinen Sie das?«
»Du hast mich gehört, Dummkopf! Ihr werdet diesen Ort nicht lebendig verlassen. Vielleicht wird es anderen zur Warnung dienen, vielleicht nicht. Ich bin philosophisch in dieser Sache, denn es ist mir gleichgültig, wie viele Tote aus der Dummheit der Lebenden resultieren.«
Stelian stieß Ilona zu der Mauerbresche, durch die sie gekommen waren. »Vorwärts!«, zischte er.
»Bewegt euch nicht«, befahl die Frau auf der Treppe.
Ilona fand ihr Gleichgewicht wieder, stand still und starrte in die Augen der anderen – es waren Augen, in denen ein wildes Feuer brannte, ein feuriger Wahnsinn. Und dann öffnete die Frau weit den Mund und entblößte ihre Zähne. Nichts Ungewöhnliches war an diesen Zähnen, obwohl sie verhältnismäßig groß zu sein schienen und die Bewegung ihrer Lippen ihnen das Aussehen verliehen, als – wüchsen sie...
»Nein!«, brüllte Stelian. »Sie wollen uns Angst machen – ist es das? Aber das wird Ihnen nicht gelingen, Madame Conescu. Ich bin nämlich nicht von hier und teile nicht die abergläubische Angst der Leute unten im Dorf. Ich glaube nicht an die Legenden des Gemäuers und ich glaube nicht an die sogenannten Vampire, die hier angeblich gehaust haben. Ich weiß, dass Sie eine gewöhnliche Frau sind, die zudem im Kopf nicht ganz richtig ist. Den ganzen Weg vom Dorf heraufzukommen, in dieser Kleidung – welcher vernünftige Mensch würde das tun? Bei dieser Kälte muss einem ja das Blut in den Adern...«
»Blut?«, fragte die Frau in Weiß. »Ah, ja. Irgendwie könnte man schon sagen, dass das Blut in meinen Adern gefriert. Ich werde es erwärmen müssen, nicht wahr?«
Sie begann die Treppe herunterzukommen, langsam und ohne Eile. Ilona wollte schreien, aber irgendwie konnte sie es nicht – genauso wenig wie sie zu laufen vermochte. Sie wusste es nicht, aber sie war angesichts der Gefahr noch nie tapfer gewesen, schon als Kind, als sie sich einmal einer Schlange gegenübersah...
Lieber Himmel! Das Gesicht dieser anderen Frau – es sah aus, als ob sie eine Schlange sein könnte! Ihre Zähne sahen aus, als ob...
Aber das konnte nicht sein! Nur weil sie an diesen unheiligen Grafen gedacht hatte, der früher hier gelebt hatte...
»Bleiben Sie stehen!«, warnte Stelian. »Ich halte es nicht für ehrenhaft, eine Frau zu schlagen, aber wenn Sie...«
»Du willst mich schlagen?«, sagte die Frau lachend. Sie hatte den ebenen Boden zu Füßen der Treppe erreicht und war nur noch sieben Meter von ihm und dem Mädchen entfernt. »Mich schlagen? Deine Hände kämen nicht dazu! Nein, sie werden sehr beschäftigt sein, deine Kehle zu schützen, glaubst du das?«
Als sie näherkam, lag Stelian eine trotzige Antwort auf den Lippen. Aber er hatte keine Möglichkeit, sie anzubringen. Was sie sagte, trat ein.
Seine Hände fuhren an seine Kehle.
Er versuchte zu schreien, aber es kam kein Laut.
Ilona brachte einen Schrei heraus, aber er half ihr nichts.
Zweites Kapitel
»Noch immer an der Arbeit, Professor Thorka?« Alexandru Thorka blickte von seinem mit Papieren bedeckten Tisch zur offenen Tür des Büros. Er war ein stämmiger Mann Mitte Siebzig, aber sein Alter war etwas, an das seine Kollegen an der Universität Bukarest selten dachten. Wache graue Augen und ein gern lächelnder Mund, eingerahmt von einem dichten grauen Bart, lebhafte Bewegungen und eine ungebrochene Lust am akademischen Disput ließen den vielseitigen Gelehrten zehn Jahre jünger erscheinen als er war. Alexandru Thorka war Archäologe, aber er war viel mehr als das: ein fast universal gebildeter Gelehrter mit weitreichenden Verbindungen und einem fotographischen Gedächtnis. Sein breites Wissen und eine unersättliche Neugierde für alles, was er nicht verstand, machten ihn zu einem nicht immer bequemen Lehrer und Kollegen. Aber wie andere über ihn dachten, bekümmerte ihn wenig. Sein sparsam möbliertes Büro war eines der größten, das auf dem Universitätsgelände zu finden war; kein Dekan einer anderen Abteilung konnte mit einem ähnlich geräumigen Arbeitszimmer aufwarten.
»Nun, stehen Sie doch nicht so da, Matei. Kommen Sie herein«, sagte der alte Mann zu dem Dozenten, der noch immer auf der Schwelle stand.
»Ich möchte nicht stören, Herr Professor«, sagte der jüngere Mann. »Ich sah nur das Licht und wunderte mich, denn es ist schon spät.«
Thorka lachte. »Sie wollten also nachsehen, ob der alte Mann am Ende nicht einen Herzanfall erlitten hat, nachdem er den ganzen Tag in seinen Papieren wühlte. Ich verstehe gut, Matei, aber wie Sie sehen können, pumpt das alte Herz noch immer zufriedenstellend. Kommen Sie trotzdem herein, ich habe einen ausgezeichneten Cognac, der Ihnen schmecken wird.«
Matei lächelte. Der Gedanke an einen Cognac war ihm willkommen. Auch er hatte diesen Abend lange gearbeitet, und seine Knochen konnten die Wärme gebrauchen.
Matei setzte sich auf eine Kante des großen Schreibtischs und überflog die Papiere, während Thorka den Cognac und zwei Gläser aus einem Schrank hinter seinem Drehsessel holte. Ein Gegenstand, der die Aufmerksamkeit des jüngeren Mannes besonders fesselte, war ein Zeitungsausschnitt, von dem er nur die Überschrift lesen konnte. Er war im Begriff, etwas darüber zu sagen, als Thorka ihm ein Glas reichte.
»Und was hält sie solange in Ihrem Büro fest, Matei? Sie haben doch eine hübsche junge Frau und zwei nette Kinder, oder sind es sogar drei?«
»Drei, Herr Professor«, erwiderte Matei, überrascht, dass der alte Mann ein persönliches Interesse für seine Familiensituation zeigte. Die beiden hatten einander nie sonderlich viel zu sagen gehabt. Aber es hieß, dass Alexandru Thorka die Leute an der Universität beobachte und die staatlichen Behörden ihn oft nach seiner Meinung fragten, wer wohl am besten für diese oder jene Stelle geeignet wäre, wenn auf höherer Ebene ein Posten frei wurde. Hatte der alte Mann auch ihn beobachtet?
Er nippte vom Cognac. Thorka hatte nicht übertrieben. Er war ausgezeichnet. »Ich hatte Übungsarbeiten durchzusehen, Professor Thorka«, sagte Matei. »Das hat mich länger aufgehalten, als ich erwartet hatte.«
»Ah, ja«, sagte Thorka verständnisvoll, »ich habe fast vergessen, wieviel Mühen der Erzieher hat, der sich durch Tausende von studentischen Gedanken hindurcharbeiten muss und nur dann und wann auf einen wirklich fruchtbaren stößt. Manchmal wünscht man sich wirklich, man hätte einen anderen Beruf ergriffen, ist es nicht so?«
Matei nickte. »Besonders in diesem Jahr. Es ist ein Jammer, dass Fragen des Stils heutzutage an den Schulen so vernachlässigt werden. Tatsächlich gibt es nur wenige Studenten, die ihre Gedanken halbwegs klar ausdrücken können.«
Sie erhoben ihre Gläser und tranken. Thorka griff zur Flasche und füllte Mateis Glas auf. »Trinken wir auf die Hoffnung, dass ein erneuertes Interesse an stilistischen Fragen kommen möge. Hier – es gibt keinen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Lyle Kenyon Engel/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx/Pixabay.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Korrektorat: Mina Dörge.
Übersetzung: Walter Brumm (OT: Dracula's Gold).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 04.02.2022
ISBN: 978-3-7554-0694-5
Alle Rechte vorbehalten