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Leseprobe

 

 

 

 

F. R. LOCKRIDGE

 

 

Schluss der Vorstellung

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

SCHLUSS DER VORSTELLUNG 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

 

 

Das Buch

Das New Yorker Verleger-Ehepaar Pam und Jerry North weiß, dass es bei Byron Wilmots Party mindestens mit Gummispinnen und explodierenden Zigaretten rechnen muss - denn Byron ist nicht nur ein Spaßvogel, sondern auch der Hersteller von Scherzartikeln schlechthin.

Nur mit einem rechnete keiner, am wenigsten Byron selbst: dass man ihn noch in dieser Nacht erschießen wird, und keineswegs mit einer seiner Gummipistolen...

 

Der Roman Schluss der Vorstellung von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1953; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1969.  

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME. 

  SCHLUSS DER VORSTELLUNG

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Pamela North kam aus dem Badezimmer und sagte: »Gummispinnen.« Einen Augenblick starrte Gerald North noch vorwurfsvoll in den Spiegel und auf seine schwarze Smokingfliege. Seufzend zerrte er an dem einen Ende; er musste sie noch einmal binden. Dabei sagte er: »Immerhin sind die Spinnen aus Gummi«, während Pam sich so hinter ihn stellte, so dass er auch sie im Spiegel sehen konnte. Jerry - so nannte sie ihn am liebsten - betrachtete sie erfreut und meinte, sie sei wohl schon fix und fertig zum Ausgehen. »Bin ich auch, wirklich«, behauptete Pam. »Alles, was Zeit kostet, habe ich hinter mir. Das Anziehen dauert nur einen Augenblick.«

Sie setzte sich auf den Hocker vor ihrem Frisiertisch und zog sich die Strümpfe an. »Und Schlangen, mit Sprungfedern im Körper«, fuhr sie fort, befestigte ihre Strümpfe am Hüftgürtel, zog hochhackige Schuhe an und stieg dann zuerst mit dem einen, dann mit dem andern Bein in einen weißen Seidenschlüpfer. »Beim Binden müssen die Enden am Anfang gleich lang sein«, meinte sie. Jerry, der auch schon darauf gekommen war, knurrte nur, band den Knoten noch einmal und zog die Fliege fest.

»Weißt du bestimmt, dass Mr. Wilmot die Sache mit den Fensterscheiben allein verbrochen hat?«, fragte Pam, während sie den Büstenhalter zuhakte. »Mir ist, als wäre noch einer dabei gewesen.«

»Irgendjemand hat ihm bestimmt geholfen«, erwiderte ihr Mann. Er fand, dass seine Fliege jetzt gut saß, und wandte sich vom Spiegel ab. »Aber sogar zu zweit müssen sie fast die ganze Nacht zu tun gehabt haben.«

»Was sich manche Leute für Mühe machen«, sagte Pam, während sie das Kleid überstreifte und ihr Kopf wieder zum Vorschein kam... »Bloß um andere in Verlegenheit zu bringen. Spiegel herumzudrehen - so eine Schnapsidee!«

Jerry erklärte ihr jedoch, dass es gar keine Spiegel gewesen wären, obwohl Wilmot in seiner besten Zeit gerade mit Spiegelglas tolle Kunststücke exerziert hatte. Bei dem erwähnten Unfug hatte es sich um ein Spezialglas gehandelt - um Fensterscheiben, durch die man hinaussehen könnte, ohne selbst gesehen zu werden, da sie nur von einer Seite durchsichtig waren wie normales Glas. Wilmot hatte mit seinem Helfer zuerst den Nachtwächter bestochen und dann drei dieser Scheiben, die in großen Stahlrahmen auf ihre Verwendung in einem Neubau warteten, umgedreht. Dieser Neubau war das Heim eines Mädchencolleges in New England. Die Fenster wurden, wie vorgesehen, vor dem Gemeinschaftsduschraum im ersten Stock genauso eingebaut, wie sie an der Mauer lehnten. Es hatte mehrere Tage gedauert - Tage, an denen sich die Menschen auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig drängten -, bis der peinliche Spaß entdeckt wurde.

»Das ist ja allerhand!«, sagte Pam. »Mach mir doch mal den Reißverschluss zu!«

Jerry trat hinter seine Frau, zog den Reißverschluss zu und brachte die beiden winzigen Häkchen in die unglaublich zarten Ösen; dabei hatte er freilich das Gefühl, dass seine Finger maßlos ungeschickt wären. Er küsste Pam flüchtig auf den Nacken, sagte: »Fertig« und bekam seinen Dank. »Natürlich waren die beiden damals ziemlich jung - Wilmot, und wer sonst noch beteiligt war.«

»Das war er wohl nicht allein«, sagte Pam und ging zum großen Spiegel an der Tür. Sie drehte sich ein paarmal nach links und rechts und blickte erst über die eine, dann über die andere Schulter. »Gefall’ ich dir?«, fragte sie. Jerry nickte. »Frauen geben sich am meisten Mühe, wenn ein Mann in der Nähe ist«, sagte Pam. »Miss Shapiro ist allerdings auch prachtvoll, wenn keiner da ist.« Sie musterte sich wieder im Spiegel. »Zeige ich auch nicht zu viel?«, fragte sie. »Schließlich trete ich nicht beim Fernsehen auf.« Er fand sie reizend und sagte es ihr auch.

»Ich muss immer an die Gummispinnen denken«, sagte Pamela. »Im Smoking sehe ich dich zu gern. Die Fliege sitzt aller- dings-ein bisschen schief. Rechts muss sie etwas höher.« Jerry rückte sie zurecht, während sie sich vor dem Frisiertisch ihr glänzendes Haar bürstete. »Ich verstehe eigentlich nicht ganz, weshalb er uns eingeladen hat«, meinte sie und wandte dem Spiegel den Rücken zu. »Das begreife ich nicht - und auch nicht, warum wir hingehen.«

»Weil er uns schon lange kennenlernen wollte«, erklärte Gerald North. »Weil er eine Gesellschaft gibt, die vielleicht gerade für uns interessant ist. Und weil du gern das neue Kleid anziehen wolltest.«

»Wieso gerade für uns interessant?«, fragte sie, ohne die Bedeutung des neuen Kleides zu bestreiten. »Glaubst du denn, dass auch Schriftsteller kommen?«

»Du sagst »Schriftstellers als sprächst du von Gummispinnen«, antwortete Jerry. »Aber vielleicht hast du recht, dass ein paar kommen.« Vielleicht glaubte Mr. Byron Wilmot- der vor einigen Monaten das Penthouse auf dem Dach ihres Wohnblocks gemietet hatte dass ein Verleger den gesellschaftlichen Kontakt mit Autoren besonders reizvoll fände. Vielleicht plante er insgeheim auch nur einen seiner kleinen - seiner »berühmtem kleinen Scherze? Darüber hätten sie sich jedoch bereits unterhalten.

Gewiss, meinte Pamela, aber deshalb sei das Thema noch nicht unbedingt erledigt. Seit Mr. Wilmots höflicher Einladungsbrief vor drei Tagen gekommen war, hatten sie wiederholt darüber gesprochen. Ein Fest zum »Tage aller Narren«, wollte Mr. Wilmot geben, am Abend des i. April. Und er schrieb, er hoffe sehr, dass gerade Mr. und Mrs. North, von denen er schon so viel gehört habe, dieses Fest bei ihm sehr unterhaltsam finden würden. Schon vor Annahme der Einladung, aber auch später, hatten sie lange darüber debattiert. Vielleicht war Pamelas neues Kleid zum entscheidenden Faktor geworden, aber unbestreitbar spielte auch die Neugier eine große Rolle.

Sie hatten Mr. Wilmot bisher nur einmal gesehen, im Fahrstuhl, und sich bei dieser Gelegenheit flüchtig zugelächelt. Damals hatte nach ihnen ein Mann den Fahrstuhl betreten, der sehr dick war. - Pam bezeichnete den Fahrstuhl übrigens als »halbautomatisch«, da er tagsüber von einem Fahrstuhlführer bedient wurde - soweit nicht andere Mieter seine Dienste beanspruchten -, während er nachts auf »Selbstbedienung« umgeschaltet wurde. - Dieser Mann strahlte Wohlwollen aus, der Fahrstuhlführer sagte »Guten Abend, Mr. Wilmot«, und Gerald North und Frau lächelten ihn unverbindlich an. Diese gleichgültig freundliche Atmosphäre blieb bis zum vierten Stockwerk: die Norths schlängelten sich beim Aussteigen um Mr. Wilmot herum, der höflich seinen Bauch einzog oder zumindest eine entsprechende Bewegung andeutete, ehe der Fahrstuhl ihn zu seiner höher gelegenen, teureren Wohnung auf dem Dach des Hochhauses trug.

»So, das ist also der Wilmot«, hatte Gerald gesagt, als er den Schlüssel in die Wohnungstür steckte. »Ich möchte nur wissen, ob er schon jemals daran gedacht hat, ein Buch zu schreiben.«

Als Verleger interessierte sich Gerald North für alle Leute, die irgendwann einmal die Absicht hatten, ein Buch zu schreiben. Einerseits fühlte er sich von diesen Menschen angezogen, andererseits aber auch abgestoßen.

Als sie damals wieder in ihrer Wohnung waren, hatte sich Pam auf den Fußboden gehockt, umgeben von den siamesischen Katzen, die zu lange allein gewesen waren und sich jetzt mit ihr gern über diesen langweiligen Nachmittag unterhalten hätten. »Ja, meine Tini, Gin und Sherry, ihr Guten! Was ist denn? Tini! Lass sie doch zufrieden!«

Die Katze Martini fauchte verhalten und schlug nach dem rechten Ohr ihrer blaublütigen Tochter - warum, wusste nur sie selbst. Sherry zog sich zurück und blieb unverändert freundlich.

»Wenn es der richtige Wilmot ist«, hatte Jerry gesagt, »...und ich habe irgendwo auch gehört, dass er hier eingezogen sei -, dann ist er ein sagenhafter Mann. Byron Wilmot, die Seele abendlicher Gesellschaften. Erinnerst du dich?«

Pam blieb zwischen den Katzen sitzen, blickte aber hoch. Und da fiel es ihr wieder ein. »Ach, der Wilmot?«, sagte sie nachdenklich. »Meinst du, er lebt überhaupt noch?«

Allem Anschein nach wäre er ziemlich lebendig und in bester Verfassung, meinte Jerry. Freilich käme er ihm fast vor wie ein Fabeltier auf zwei Beinen.

»Ach, du glaubst, weil alles so - ich weiß nicht recht, aber weil alles so jungenhaft ist?«, fragte Pam. »Hat er etwa auch die Sache mit dem Schacht auf die Fifth Avenue gemacht?«

Jerry glaubte, das wäre er zwar nicht gewesen, aber sicher müsste er die munteren Geister bewundert haben, die sich - in einer lebensfrohen Zeit - Wegsperren, Schilder mit der Aufschrift Achtung, Erdarbeiten, passende Anzüge und Werkzeug besorgt und, nur zum Spaß, auf der oberen Fifth Avenue einen Schacht quer über einen Teil dieser großen Verkehrsader gebuddelt hatten, während ein verständnisvoller Polizist den Verkehr um sie herum dirigierte.

Erst als Wilmot älter wurde und zu körperlich anstrengenden Späßen weniger Neigung hatte, wurde er dann wohl zum Auftraggeber jener merkwürdigen Kellner, die bei Diners die Suppe verschütteten und Streit mit den Gästen begannen. Weit bekannt waren andere Streiche: der eine, bei dem er kurzerhand einen Schuhputzer in einen italienischen Edelmann verwandelt, und jener andere, bei dem er mit einem Komplicen und einer lebensgroßen Puppe eine Kindesentführung so echt vorgetäuscht hatte, dass sein Helfershelfer dabei angeschossen wurde.

Da ein Mann, der sich einen handgreiflichen Scherz erlaubt, sich im allgemeinen einer gewissen Toleranz erfreut - wenn auch meist bei jenen Leuten, die nicht Objekt seines Scherzes sind genoss Wilmot die freundliche, wenn auch mit Skepsis gemischte Achtung, die man jungen, aber trotzdem furchterregenden Doggen bezeigt. In seiner Gegenwart - so meinte man in weiten Kreisen - gäbe es stets etwas zum Lachen. Nie könnte man wissen, was für Streiche dieser Wilmot gerade wieder ausheckte. Dass seine Aktionen eigentlich über das erträgliche Maß hinausgingen, behaupteten nur die hartnäckigsten Spielverderber. Viele empfanden es als die gerechte Krönung allen Unsinns, dass er seine speziellen Scherze nicht nur ausführte, sondern sie letzten Endes auch pekuniär nutzbar zu machen wusste. Schon auf der Schule hatte er sich, als blutiger Laie noch, in grotesken Streichen versucht und das gleiche später beruflich betrieben. Als er mit dem Alter immer jovialer - und runder - wurde, eröffnete er den Neuheiten-Bazar, ein Unternehmen mit der Devise Alles für ein gesundes Gelächter.

Mr. Wilmot hielt es auch nicht für unter seiner Würde, schnell durchschaubare Scherzartikel anzubieten; und Leute, denen nichts über ein schallendes Gelächter ging, fanden in seinem Neuheiten-Bazar schlechthin alles: Ohrgehänge, aus denen kaltes Wasser spritzte, explodierende Zigarren, undichte Likörgläser, Weingläser, die beim Anfassen kläglich in kuriose Falten zusammenschrumpften, Toilettenpapierhalter, die beim Drehen eine Melodie spielten, falsche Tintenfässer oder Füllhalter, die nach hinten spritzten, scheußliche naturgetreue Spinnen aus Gummi und Schlangen, die sich in Windungen und Zuckungen vorwärts bewegten, Dolche mit zurückschnappenden Klingen und Blasen mit einer Flüssigkeit, die unbehaglich an Blut erinnerte, Pistolen, die harmlose Gemüter in Angst versetzten, oder Toilettensitze, die bescheidene Benutzer in eine peinliche Situation brachten. Amateurzauberkünstler fanden hier zahllose Geräte und Werkzeuge für Illusionstricks. Wer sich gern furchterregende Gesichtsmasken aufstülpte, konnte sich als furchtbarer Kinderschreck ausstaffieren, und Kostüme von geradezu abstoßend grotesker Wirkung gab es in dem Bazar nicht nur zu kaufen, sondern auch leihweise.

Eine erkleckliche Anzahl besonders origineller Neuheiten hatte Mr. Wilmot selbst entworfen; andere ließ er in eigener Regie herstellen. Zu seinen besten Zeiten gab es keinen Erfinder von realistischen Glasaugen (die man irgendwann in der Suppe fand) oder von künstlichen Narben (die man sich anklebte, um Abscheu zu erregen), der nicht zuerst, im Vertrauen auf Unterstützung seines Genies, zu Mr. Wilmot ging; Verkäufer gräulicher Marionetten liefen ihm die Tür ein.

Wilmot war häufig in seinem Geschäft anzutreffen, und immer strahlte er vor Vergnügen. Wenn er einem besonderen Kunden ein unerwartet zusammenklappendes Essbesteck zeigte, konnte er sich vor Lachen ausschütten, und der Kunde hatte manchmal das Gefühl, dass Wilmot sich kaum entschließen konnte, Gegenstände, die ihm so grenzenloses Entzücken bereiteten, überhaupt herzugeben. Jedenfalls ließ er sich schließlich doch zum Verkauf bewegen, und seine Angestellten, deren Zahl sich seit 1950 beträchtlich vergrößert hatte, hatten genügend zu tun. Das Geschäft war fast unabhängig von jeder Saison: natürlich ging es in den Tagen vor dem 1. April am lebhaftesten zu, aber auch vor Weihnachten steigerte sich der Umsatz beträchtlich. Um diese Zeit fand man dort sogar eine große Auswahl an harmlosem Kinderspielzeug.

Kurzum: Mr. Wilmot wurde wohlhabend, weil er glänzend in dieses Geschäft passte. Er hatte, im wahrsten Sinne des Wortes, den Ulk handgreiflich gemacht. »Lache, dann lacht die Welt mit dir«, pflegte er zu sagen, wenn er in philosophischer Stimmung war. Für das Privileg, dafür zu zahlen, gab es immer genügend Menschen. So konnte Mr. Wilmot sich ein Penthouse leisten und hoch über der Stadt seine Gesellschaften geben.

 

Pamela North legte prüfend eine Halskette um, nahm sie dann wieder ab und probierte eine andere. Jerry band im letzten Moment seine Fliege noch einmal, und Pam war auch endgültig angezogen. Reichlich spät verließen sie ihr. Schlafzimmer. Im Wohnzimmer erhoben sich die Katzen von ihren Ruheplätzen und gingen mit ihnen zur Tür. Pam schlüpfte durch den denkbar schmälsten Spalt hinaus, während Jerry die Tiere mit dem Fuß zurückschob. Sie murrten, und Sherry ließ alle Welt merken, dass ihr das Herz brechen wollte. Norths gingen zum Fahrstuhl hinaus.

Nach neun Uhr abends wurde der Fahrstuhl stets vollautomatisch. Als Jerry auf den Knopf drückte, kündigte sich sein Kommen durch den bekannten Spektakel an. Er stoppte, die Tür ging auf, und ein großer, dunkelhaariger Mann mit kurzgestutztem Schnurrbart wollte gerade herauskommen. Er stutzte aber sofort und fragte: »Doch nicht schon das Pent House? Ich muss mich geirrt...«

»Ist das die Möglichkeit!«, sagte Gerald North. »Art Monteath hier! Ich dachte, Sie seien in London oder sonstwo.«

Arthur Monteath fand das Zusammentreffen ebenso unglaublich, denn ausgerechnet hier den Norths zu begegnen, hatte er nun doch nicht erwartet.

»Aber, Mr. Monteath, wir wohnen doch hier«, sagte Pam. »Wir...«

Nach Ablauf der eingestellten Öffnungszeit wollte sich die Fahrstuhltür wieder schließen. Das Ehepaar North ging hinein, während Monteath zurücktrat.

»Sind Sie etwa auch bei Wilmot eingeladen?«, fragte er.

»Ja, gerade dahin wollen wir«, sagte Pam. »Trotz seiner Gummispinnen.«

Der Fahrstuhl sprang an, als wollte er diesen ganzen Unsinn abschütteln, den die Leute da redeten. Er musste - wie befohlen - endlich zum 12. Stockwerk.

»Ich hatte sowieso vor, mich mit Ihnen in Verbindung zu setzen«, sagte Monteath zu Jerry.

»Etwa ein Buch?«, fragte North in einem Ton, der Monteath zum Lachen brachte.

»Lassen Sie sich nicht bange machen; ich schreibe keins - aber mein Chef, der Botschafter«, erwiderte Monteath. »Ich rufe Sie deshalb noch an. Schließlich hatte ich keine Ahnung, dass Sie Wilmot auch kennen.«

Seufzend hielt der Fahrstuhl und ließ seine Tür aufspringen. Sie traten in den Korridor des 12. Stockwerks.

»Wir müssen noch eine Treppe höher«, sagte Pam, indem sie ihren Rock ein wenig vom Boden hob und auf die Treppe zuging, während Monteath und Jerry sie in die Mitte nahmen. »So richtig kennen wir ihn eigentlich nicht«, erklärte sie. »Nur vom Fahrstuhl, flüchtig. Und Sie?«

»Ich habe ihn jahrelang nicht gesehen«, erwiderte Monteath. »Früher bin ich mit ihm zusammen zur Schule gegangen.«

Pam blieb stehen. »Nun sagen Sie bloß noch, Sie hätten damals die Spiegelfenster mit umgedreht. Oder sind Sie vielleicht mit ihm...?«

»Nichts von alledem«, sagte Monteath mit reserviertem Lächeln. »Diese Dinge liegen mir nicht - leider.« Er schwieg einen Augenblick. »Ich weiß nicht einmal, ob ich ihn wiedererkennen werde, wenn ich ihn gleich sehe. Es muss schon - gut zwölf Jahre müssen es her sein, als wir zuletzt zusammen waren. Es kam mir ziemlich überraschend, dass er mich plötzlich...« Er ließ den Satz unvollendet. Pam drehte den Kopf, um ihm damit zu zeigen, dass sie ihm weiter zuhörte, doch Arthur Monteath beschränkte sich auf ein Lächeln. Ein diplomatisches Lächeln, dachte Pam, das gut zu ihm passte. Diplomatie war ja sein Geschäft, sofern man das ein Geschäft nennen kann. Er musste wohl sehr oft - und seit einer Reihe von Jahren - gemerkt haben, dass lächeln klüger war als reden.

»Sind Sie für längere Zeit wieder hier?«, fragte Jerry.

Monteath zuckte mit den Schultern. Das ließe sich noch nicht sagen. »Um neue Weisungen zu holen«, sagte er, als sie die Treppe zum Penthouse hinauf stiegen. »Vielleicht eine Beförderung, vielleicht auch nicht.«

»Waren Sie in London?«, wollte Jerry wissen.

»Unter anderem.« Monteath lächelte wieder. »Wir werden ziemlich viel herumgeschickt.«

Auf dem oberen Treppenabsatz standen sie vor einer ganz schlichten Tür; Jerry drückte auf den Klingelknopf. Zunächst rührte sich nichts. Plötzlich aber drang durch die Tür das Schreien einer gequälten, gemarterten und verzweifelten Frau: ein gellendes Schreien, das abebbte und dann erneut anschwoll. Pamela trat vor Entsetzen einen Schritt zurück und prallte gegen ihren Mann, der sie an den Schultern festhielt. Arthur Monteath, dessen Gesicht in der matten Beleuchtung fahl wirkte, flüsterte nur: »Mein Gott!«

Die Tür ging auf, und vor ihnen stand ein Mann, der seinen Kopf unter dem Arm trug. Dieser Kopf redete, während sich die Lippen bewegten. »Umgebracht hab’ ich sie gerade eben«, sagte er. »Einfach umgebracht hab’ ich sie.« Und wieder erklang das gellende Schreien. »Wollen Sie bitte hereinkommen?«, fragte der Kopf und nickte ihnen zu. Arthur Monteath flüsterte nur: »Mein Gott!«

»Mr. Wilmot erwartet uns«, sagte Pamela zu dem Kopf, der sogleich antwortete: »Dann werde ich Sie wohl hereinlassen müssen.«

Der Mann, der seinen Kopf unterm Arm trug, trat zurück, während ein beleibter Herr ihnen in der kleinen Diele entgegenkam. Er blickte den dreien nacheinander ins Gesicht und lachte schallend, indem er sich mit beiden Händen den Bauch hielt. Als er wieder fähig war zu sprechen, japste er: »Hat euch wohl einen ziemlichen Schrecken eingejagt, was?« Und wieder ertönte der gellende Schrei: er kam aus einem Koffergrammophon, das auf einem kleinen Tisch gleich hinter der Tür stand. »Abstellen, Frank«, befahl Byron Wilmot. »Und gleich wieder aufziehen.«

Der Körper legte seinen Kopf auf einen Tisch und ging an den Apparat. »Er sieht durch sein Oberhemd«, sagte Wilmot. »Wirkt verblüffend, was?«

Dann streckte er seinen Gästen beide Hände entgegen. »Bin entzückt, Mrs. North und Mr. North.« Er klopfte Arthur Monteath herzhaft auf den Rücken und sagte betont derb: »Mein guter alter Artie.« Monteath sah für einen Moment aus, als bezweifelte er nicht nur die Herzlichkeit, sondern die ganze Szene. »Wie geht’s uns denn, mein Junge?«, fragte Wilmot unbeirrt. »Der alte Artie mit den gestreiften Hosen!«

Monteath machte mit den Lippen ein kleines Geräusch, bis er endlich herausbrachte: »Wirklich reizend, dich wiederzusehen, Wilmot.« Und nach einer Pause: »Eine nette Begrüßung«, worauf ihm erklärt wurde, das wäre noch gar nichts. Wilmot umkreiste die drei wie ein Schäferhund und drängte sie förmlich in einen großen länglichen Raum, in dem drei Wände fast nur aus Glas waren. Dort befanden sich bereits zahlreiche Gäste. Ein Teil tanzte nach einer Musik, die unmittelbar aus der Wand zu kommen schien; andere standen herum oder saßen irgendwo mit einem Glas in der Hand. Jeder neue Gast wurde von Wilmot vorgestellt.

Auch Pamela und Jerry North sowie Arthur Monteath wurden mit allen Anwesenden bekannt gemacht: sie hörten Namen, sie lächelten, sie waren entzückt - auch Pamela North war entzückt, Jerry war bezaubernd liebenswürdig, und Arthur Monteath lächelte kühl verbindlich. Bestimmt behält er sämtliche Namen im Kopf, dachte Pam. Ich kann es einfach nicht, und Jerry auch nicht. Sie lernte einen Mann namens Jenkins kennen - oder hieß er Jameson? -, der zu ihr sagte: »Von Ihnen habe ich bestimmt schon gehört!« Ein hübsches Mädchen mit dunklem Haar und in einem weißen schulterfreien Abendkleid - hieß sie tatsächlich Writheman? - sagte: »Der liebe Mr. Wilmot versteht es wundervoll, ein Fest zu arrangieren, nicht wahr?« Aber der Herr, der vielleicht doch Jenkins hieß, wartete Pamelas Antwort gar nicht ab, und das Mädchen sagte: »Oh, Tommy - tatsächlich!« Bevor Pam ihr zustimmen konnte, dass Mr. Wilmot wirklich und wahrhaftig ein großartiger Gesellschafter wäre, war das Mädchen bereits zu ihrem Tommy verschwunden.

Frank, der jetzt seinen richtigen, wenn auch unbedeutenden Kopf auf den Schultern trug, stand plötzlich neben Pamela North und hielt ihr ruckartig ein mit Gläsern besetztes Tablett unter die Nase. Und als sie sagte: »Whisky und Wasser, bitte«, schien ihm das Tablett aus den Fingern zu rutschen, so dass die Gläser klirrend auf den grünen Fliesenboden fielen. Aber vom Fußboden prallten sie nur ab: Ihr Inhalt war keine Flüssigkeit, sondern ebenso unecht wie der Kopf, den Frank unterm Arm getragen hatte. Alles lachte - bis auf eine grauhaarige Dame, die entsetzt den Mund aufsperrte und offenbar auf kreischen wollte, sich dann aber doch noch zu einem Lächeln entschloss.

Am lautesten lachte Mr. Wilmot. Sein gerötetes Gesicht wurde knallrot vor Vergnügen. Aber dann sagte er: »Jetzt die richtigen Getränke, Frank.«

»Mach’s doch selbst, Wilmot«, fauchte Frank, doch auch das gehörte zu seiner komischen Rolle. Er brachte sie jedenfalls. Pam bekam ein Glas, das ihr bei jedem Schluck ein paar Tropfen übers Kinn schüttete, einerlei wie sie es hielt. Und das Glas von Monteath schien an einer Seite ganz zusammenzuschrumpfen.

Beide lächelten höflich und fanden sich damit ab.

»Auf alle Narren!«, rief Wilmot, sein Glas erhebend. »Lache, und die Welt lacht mit!«

Aber die Welt lachte nicht. Wieder schrillte der gequälte Schrei der Frau; unheimlich laut übertönte er das Stimmengewirr und die Musik. Es war wirklich nicht komisch. Obgleich die Gäste wussten, dass einst eine Schauspielerin diese Schmerzensschreie für eine Platte imitiert hatte und die Platte auf einer Scheibe lag, die ein kleiner Hebel in Bewegung setzte, gelang es niemandem, diese angstvollen Schreie lächerlich zu finden. Für einen Augenblick schienen alle Anwesenden wie versteinert: Die Tanzenden blieben, fast aus dem Gleichgewicht geratend, stehen, erhobene Gläser wurden nicht bis zum Mund geführt, und Gespräche verstummten mitten im Satz, als wäre jedes Wort zu viel.

Nur einen Moment dauerte es, bis sich jeder wieder gefangen hatte. Inzwischen lächelte Wilmot alle strahlend an, rief Frank zu, dass er es ihm heimzahlen werde, und ging vom Wohnzimmer in die Diele.

Die Tänzer setzten sich wieder in Bewegung, aber alle sahen ihm nach. Die Nichttänzer tranken und schwatzten wieder, aber auch sie warteten und hörten einander nur zerstreut zu. In der Diele verstummte das Geschrei und wurde von dem dröhnenden Gelächter Mr. Byron Wilmots abgelöst. Nichts auf der Welt, dachte Pam, konnte eigentlich so komisch sein, dass man derartig schallend darüber lachen könnte. Und als wisse die Musik, dass sie überflüssig wäre, brach sie jäh ab, so dass die Tänzer unvermittelt stehenblieben. Einen Augenblick hörte man eine einzelne Stimme in diesem gewaltigen Lachen, das gleichsam von einer Bühne ertönte, eine Frauenstimme, die gerade sagte: »...wäre der tollste Spaß, der...«

Aber dann schwieg diese Stimme, als wäre sie darüber erschrocken, dass sie allein hörbar gewesen war.

»Also schon wieder von dir«, drang eine andere, fremde Stimme aus der Diele. »Das hätte ich mir denken können.« Die Worte klangen zornig; die Stimme war gleichsam nackt vor Wut. Da er nicht wusste, dass man ihn verstehen konnte, war der Sprechende offen und unverhüllt, und wie um ihn zu schützen, sagte Pamela North rasch zu Monteath, was ihr gerade einfiel: Man hätte doch durch die breiten Fenster einen herrlichen Ausblick auf New York, nicht wahr? Gleich danach brandete jedoch Wilmots Gelächter wieder auf, und schließlich sagte er: »Also wieder einmal reingefallen, was? Ich dachte, du wärst...«

Doch schon wurde irgendwo klickend eine Nadel auf eine neue Platte gesetzt, und aus den im Raum versteckten Lautsprechern drang Musik durchs Wohnzimmer, so dass Wilmots weitere Worte im Rauschen der Töne untergingen. Wie auf ein Zeichen begannen wieder alle Gespräche im Raum.

Jerry war nicht verschwunden; er redete mit der grauhaarigen Dame, die beinahe aufgeschrien hatte, als die Gläser vom Tablett purzelten. Aber Pamela North und Monteath sprachen nicht miteinander. Monteath blickte, ganz undiplomatisch, nach der Tür zur Diele, und Pam, die ihn ansah, folgte seinem Blick. Er kniff die Augen ein wenig zusammen, schien auf irgendetwas zu warten und gespannt zu lauschen. Pam lauschte auch, und da sagte die unbekannte Stimme: »Jedenfalls bleibe ich hier - darauf kannst du dich verlassen.«

In diesem Augenblick kam ein schlanker Mann in den Zwanzigern - mit einem hageren, blassen Gesicht und schwarzem Haar durch die Diele herein, dicht gefolgt von Wilmot. In der Tür legte Wilmot dem jungen Mann seine fleischige Rechte auf die Schulter. Dieser drehte sich kurz um und blickte auf die Hand; Wilmot nahm sie nicht fort. Er sah sich strahlend um, und als er merkte, dass Pamela North und Arthur Monteath ihn beobachteten, richtete er sein Lächeln an sie. Es sah aus, als triebe er den schwarzhaarigen Mann, der keinen Gesellschaftsanzug trug, sondern im grauen Straßenanzug gekommen war, direkt auf sie zu. Das untere Ende seines schmalen blauen Schlipses hing lang unter dem oberen hervor. Wilmot legte seinem neuen Gast auch die andere Hand auf die Schulter und steuerte ihn zu Pamela North.

»Ich möchte Ihnen meinen Neffen vorstellen«, sagte er hinter dessen Rücken. »Clyde Parsons - Mrs. North. Die Frau von Gerald North, Clyde, damit du Bescheid weißt!« Nach diesen Worten kicherte Mr. Wilmot. »Ich muss dem Jungen schnell etwas zu trinken holen; er hat einen tüchtigen Schrecken gekriegt. Ach so - das ist Arthur Monteath. Clyde war der Ansicht, ich läge im Sterben.«

Mit seinen fleischigen Händen schob er Clyde dicht vor die beiden und verschwand.

»Verzeihung«, sagte Parsons. Seine Stimme klang jetzt leise. »Er hat mich zum besten gehalten - schon wieder.« Er zog sein Jackett zusammen und knöpfte es zu. Seine Finger griffen nach der Krawatte. »Ich bin überhaupt nicht richtig angezogen«, sagte er.

Darauf ließ sich wenig erwidern, aber Clyde Parsons erwartete auch keine Antwort.

»Ich hatte von der ganzen Sache keine Ahnung«, fügte er hinzu. Offenbar fühlte er sich bedrückt und hielt eine Erklärung für nötig. »Ich bekam eine Nachricht, er wäre krank und wollte mich hier haben. Ich sollte ihm helfen...« Er schwieg kopfschüttelnd. Eine schwarze Haarsträhne fiel ihm in die Stirn, und er schob sie zurück. »Einer seiner Scherze, seiner verdammt komischen Scherze«, sagte er.

»Ihr Onkel scherzt wohl sehr gern«, bemerkte Pam. Mir ist es wirklich peinlich, dachte sie. Clyde Parsons blickte sie an, als habe er von ihr etwas anderes erwartet.

»Verzeihung«, sagte er, »vielleicht ist es tatsächlich sehr ulkig. Aber darüber brauchen Sie sich wohl keine Gedanken zu machen, nicht wahr? Ich...«

Gerade in diesem Moment kam Wilmot zurück. Er hatte ein gefülltes Glas in der Hand, das er Parsons mit der Aufforderung hinhielt, es sofort auszutrinken. Es würde ihm guttun. Parsons betrachtete mit einem langen Blick erst das Glas, dann Wilmot, bevor er mit seltsam heftiger Bewegung das Glas nahm und gierig einen Schluck trank. Fast sofort bekam sein Gesicht wieder etwas Farbe.

»Ich führe dich herum«, bot ihm Wilmot an, indem er seinem Neffen wieder eine Hand auf die Schulter legte. Parsons schien zu zögern, trank noch einen Schluck und sagte mit vollkommen veränderter Stimme: »Warum auch nicht, Onkel Byron?«

»Weiterhin viel Spaß«, nickte Wilmot zu Pam North und Monteath, während er Parsons vor sich herschob.

»Na ja«, meinte Monteath, »Wilmot ist ganz...« Er unterbrach sich, blickte Pam an und lächelte ein wenig. »Viel verändert hat er sich nicht; der Junge hat es nicht leicht.«

»Kannten Sie ihn?«

»Nein, aber gehört habe ich schon von ihm«, erwiderte Monteath. »Wollen Sie nicht tanzen?« Das bedeutete: Schluss mit diesem Thema. Also tanzten sie.

Eine ganze Weile ging es bei dem Fest ulkiger zu, als die Gäste vielleicht erwartet hatten. Zwar konnte sich Frank als merkwürdiger Butler hin und wieder richtig in Szene setzen, aber allmählich wurden seine Tricks - die kuriosen Speisen und Getränke, die er servierte, seine vergnügt vorgebrachten Beleidigungen und die vielen unwahrscheinlich klingenden Dialekte, in denen er sprach - durch ihre ewige Wiederholung fast langweilig. Ununterbrochen strömte die Musik aus den verborgenen Lautsprechern, und Frank zauberte trotz seines verrückten Benehmens auch jedes echte Getränk mit Alkohol herbei, das verlangt wurde. Nach einer Stunde etwa merkte Pamela, dass sie mehr trank als gewöhnlich, aber das ergab sich zum Teil auch daraus, dass es Wilmot Spaß machte, im Verlauf des Abends alle Getränke in halbkugelförmigen Gläsern servieren zu lassen, in denen man so leicht nichts übriglassen kann.

Wie Pam vorausgesehen hatte, traten auch hin und wieder Gummispinnen in Erscheinung. Als Mr. Wilmot mit ihr tanzte, saß ihm plötzlich - und ohne dass er es scheinbar merkte - eine grüne Eidechse auf dem einen Smoking-Ärmel, die hinauf- und herabkletterte. Es passierte auch, dass Mr. Wilmot scheinbar etwas notieren wollte und der Füllhalter, den er aus der Tasche zog, ganz zufällig einen beträchtlichen Strahl schwarzer Flüssigkeit auf Gerald Norths weiße Hemdbrust spritzte. Und es passierte ferner, dass dieser schwarze Fleck schon bald nach Jerrys ärgerlichem Protest fast ganz wieder verschwunden war.

Freilich erschien einige Wochen später anstelle des schwarzen ein schwacher brauner Fleck, eine Erinnerung an einen recht merkwürdigen Abend und - an Mr. Byron Wilmot.

Nach der Ankunft Clyde Parsons’ passierte allerdings für gut eine Stunde nichts Auffallendes mehr. Dann aber ertönte aus der Diele wieder das qualvolle Schreien.

Diesmal fiel es jedoch kaum auf. Einige Gäste hatten es wohl -überhaupt nicht gehört. Die Unterhaltung war inzwischen lauter geworden und der Schrei dadurch übertönt worden. Pam und Jerry, die zum ersten Mal zusammen tanzten, hörten ihn nur nebenbei. Pam bemerkte, dass Wilmot- der jetzt, besonders im Nacken, wirklich sehr rosig aussah - zur Diele hinüberging. Gleich darauf wurde sein dröhnendes Lachen hörbar, und dann führte er auch schon zwei Personen ins Wohnzimmer.

Im Türrahmen blieben die beiden stehen: die Hexe hob zwei schlanke Hände vor ihr entsetzlich hässliches Gesicht. Aber Wilmot stand dicht hinter ihnen: er hatte seine Hände auf die Rücken der beiden gelegt. So schob er den jungen Mann in Spielhöschen und weißen Söckchen, der einen Lutscher in der Faust hielt, und die Frau mit der mächtigen Hakennase und dem groben weißen Haar, das strähnig unter der spitzen Hexenhaube heraushing, mitten ins Zimmer. Die Musik brach ab, und Wilmot erhob seine Stimme.

»Ich möchte Sie alle mit diesem Paar bekannt machen«, schrie er, immer wieder auflachend. »Mr. Baker, der Wunderknabe, und die bezaubernde Miss Evitts.« Er kam hinter ihnen hervor, schlug sich vor Vergnügen auf die Schenkel und lachte dröhnend. »Sie scheinen sich eingebildet zu haben, sie müssten unbedingt verkleidet kommen«, sagte er zu jedem, der ihm zuhörte, und wollte sich vor Lachen ausschütten.

Baker, dem Wunderknaben, war keineswegs zum Lachen zumute. Er hatte ein freundliches, volles Gesicht, das jetzt, da er in seiner lächerlichen Verkleidung als pausbäckiger kleiner Knabe vor den Gästen stand, wohl vor Zorn, blutrot geworden war. Zuerst schien er die Hand erheben und mit dem Lutscher zuschlagen zu wollen, doch legte er seine freie Hand um die Schultern der Frau.

Sie war noch jung, und das schwarze Hexenkleid konnte ihre jugendlichen Formen nicht ganz verbergen, so grotesk auch die riesige falsche Nase und die Falten der Fettschminke ihr Gesicht entstellten. Obgleich der junge Mann die Frau an den Schultern hielt, hatte Pam sogar aus der Entfernung den Eindruck, dass ihr schlanker Körper zitterte. Von den Gästen lachte jemand hysterisch auf.

»Mr. Wilmot«, flüsterte Jerry seiner Frau ins Ohr, »ist ein Schweinehund ersten Ranges.«

Pam sagte: »Die Armen.« Sie wollte zu ihnen gehen, doch schon beim ersten Schritt hielt Jerry sie fest. »Das würde die Sache nur verschlimmern«, meinte er. Vielleicht hat er recht, dachte sie und blieb bei ihm.

Der junge Mann in dem Spielhöschen rang sich jetzt ein Lachen ab und brachte es fertig, mit ziemlich beherrschter Stimme zu sagen: »Ich glaube, die Verulkten sind wir, Mr. Wilmot. Sie haben uns schön reingelegt.«

Auch hierüber lachte Wilmot wieder und schlug Baker auf die Schulter. »So ist’s fein«, sagte er. »Holt euch was zu trinken. Frank kann euch beim Umziehen helfen.«

Die Frau schüttelte zuerst ihren grotesken Kopf, doch Bakers Griff um ihre Schulter wurde härter. Er beugte sich zu ihr und flüsterte ihr etwas zu. Nach einer Weile nickte sie, und da sie offenbar Bescheid wusste, ging sie durch die Tür am anderen Ende des Zimmers, die - wie Pamela inzwischen schon entdeckt hatte - zu den Baderäumen führte. Einen Augenblick blieb Baker noch stehen und beobachtete sie; ganz impulsiv ging Pam die paar Schritte bis zu ihm. Zuerst sah er sie ausdruckslos an, dann lächelte er langsam und traurig.

»Ich finde es gemein«, sagte Pamela North.

»Tja«, erwiderte Baker, »aber so ist Mr. Wilmot eben. Er hatte uns nämlich gesagt, es sei ein Kostümfest, und schrieb uns vor, was wir anziehen sollten.« Wieder lächelte er. »Wir sind nämlich bei ihm angestellt«, erklärte er Pam. »Es ist...« Er brach ab. Frank war mit einem Likörglas erschienen. Baker dankte dem Butler und nahm das Glas offensichtlich nur mit Misstrauen; dann nippte er daran, wollte es niedersetzen und betrachtete es noch einmal. »Ach so«, sagte er, »eins von denen.« Damit nippte er noch einmal an der Flüssigkeit, den Blick in den Hintergrund des Raumes gerichtet. Sein Gesicht verhärtete sich wieder vor Zorn.

Jerry kam herbei mit der typischen Miene des Mannes, der es für richtig hält, jetzt nach Hause zu gehen. »Glaubst du nicht auch, Pam, dass wir...«, fing er an, schwieg aber gleich, weil sie seinen Arm berührte. Miss Evitts kam aus dem hinteren Korridor und schritt durch das lange Zimmer auf sie zu. Sie trug noch das Hexenkleid, doch die spitze Haube, das graue Haar und die Hakennase hatte sie abgelegt. Bakers Miene veränderte sich: Der Zorn wich einem Ausdruck herzlicher Freude, und als Miss Evitts näher kam, lächelte auch sie. Es war ein sanftes Lächeln, doch Pamela North erkannte dahinter einen versteckten Kummer. Sie war gewiss sehr empfindlich und leicht zu kränken und hatte ein recht zartes und sensibles Gesicht. Das Haar war braun, ein sanftes Braun, stellte Pam fest. Und sehr große Augen hatte sie. Sie errötete, als sie den Norths vorgestellt wurde, während ihre schlanken Hände unruhig über den Stoff des formlosen schwarzen Kleides hin und her glitten.

Sie hieß Martha Evitts und war Mr. Wilmots Sekretärin. »Er - er hat verlangt, dass wir dies anziehen.« Sie war nicht schön, eigentlich nicht einmal hübsch zu nennen. Ihr Alter? Vielleicht Ende der Zwanzig, schätzte Pam. Soweit sich erkennen ließ, musste sie zwei oder drei Jahre älter sein als Baker, der sie anschaute und eine Schönheit an ihr zu entdecken schien, die andere nicht sahen.

Die beiden sind reizend, dachte Pam, und Mr. Wilmot ist genau das, was Jerry behauptet. Und in ihrem eigenen Wortschatz, der, wie sie gern zugab, nicht nur Harmloses enthielt, fand sie mehrere Adjektive, die Jerry dem von ihm gebrauchten Kraftausdruck gern noch hätte zufügen können.

Gleichzeitig revidierte sie ihre bisherige Meinung über Byron Wilmot. Sie hatte ihn nur für - nun, für unreif gehalten, einen in Erwachsenenformat gebrachten kleinen Jungen, der einmal, vor langer Zeit, am Allernarrentag, andere kleine Knaben überredet hatte, an Sahnebonbons zu knabbern, die aus Schmierseife bestanden. Aber er schien doch gefährlicher zu sein und bösartiger, als sie geglaubt hatte. Falls Martha Evitts einmal vergessen sollte, dass sie einige Jahre älter war als der Mann, der ihr so unvorsichtig offen seine Liebe zeigte, würde Mr. Wilmot schon für eine Abschwächung dieser Gefahr sorgen. Sie wurde als ältliche Frau, er als Kind in Spielhöschen präsentiert. Ich finde das Ganze immer ekelhafter, dachte Pam und wandte sich an Jerry: »Ich glaube, wir wollen jetzt doch lieber...«

Aber dann schrie wieder eine Frau auf. Diesmal kam der Schrei jedoch nicht von dem Grammophon im Vorraum: Er klang noch gequälter und echter. Das hübsche dunkelhaarige Mädchen in dem weißen Kleid stand mitten auf der Tanzfläche, deutete auf eine der zur Terrasse führenden Flügeltüren und stieß ein langgezogenes »Oh-h-hih!« aus, als wollte sie vor Angst überschnappen.

Hinter der Tür war deutlich ein Mann zu sehen, der den Hut tief ins Gesicht gezogen hatte. Er hielt einen Revolver in der Hand - wie einen schwarzen Finger, der den Tod anzeigte.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Der Mann auf der Terrasse bewegte sich nicht, obwohl er den Schrei gehört haben musste, doch in dem großen Gesellschaftszimmer geriet alles in Bewegung, in hastige, vielfache Bewegung. Pam wurde von Jerrys Händen herumgewirbelt; er riss sie hinter sich. Baker packte Martha Evitts und zog sie auf den Fußboden. Die eben noch so würdevolle grauhaarige Dame warf sich ebenfalls zu Boden, griff einen Stuhl und suchte ihn als Schutzschild zwischen sich und die Flügeltür zu ziehen. Ein Herr schrie etwas und wollte, eine Frau hinter sich her zerrend, hinauslaufen.

Alles war in großer Verwirrung, fand Pam, die hinter Jerry hervorblickte. Es war, als hätte jemand heißes Wasser in einen Ameisenhaufen gegossen.

Bis auf zwei Lampen ganz hinten im Raum ging das Licht aus, doch die Musik spielte weiter, eine Melodie

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Richard Orson Lockridge/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Dr. Arno Dohm (OT: Curtain For A Jester.)
Satz: Apex-verlag.
Tag der Veröffentlichung: 01.02.2022
ISBN: 978-3-7554-0668-6

Alle Rechte vorbehalten

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