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Leseprobe

 

 

 

 

ROBERT LORY

 

 

DRACULAS TODESTROMMELN

- 13 SHADOWS, Band 53 -

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DRACULAS TODESTROMMELN 

Erstes Kapitel  

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

 

Das Buch

Die Trommeln verkündeten, dass etwas geschah. Zuerst wechselten die Trommeln außerhalb des Kellerraums ihren Rhythmus, aber gleich darauf folgten ihnen die im Raum und passten sich an.

Es gab verschiedene Reaktionen. Einige Männer runzelten verdrießlich die Stirn – wohl weil das Unternehmen am Altar jetzt nicht mehr in Gang kam – aber auch sie nahmen rasch den Gesichtsausdruck ihrer Brüder und Schwestern an, der von persönlichen Gemütsbewegungen frei war. Die allgemeine Haltung spiegelte Ehrfurcht, eine Mischung aus Respekt und Schrecken, und es wurde ganz still, als die Mitglieder der Gemeinde zurück an die Wände drängten.

 

DRACULAS TODESTROMMELN von Robert Lory (= Lyle Kenyon Engel) wurde in Deutschland erstmals im Jahr 1974 als VAMPIR-HORROR-TASCHENBUCH Nr. 25 veröffentlicht.

DRACULAS TODESTROMMELN erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht. 

  DRACULAS TODESTROMMELN

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel 

 

 

 Das neunzehnjährige Mädchen hatte es vielleicht herausgefordert, aber die Antwort der zahnlosen Alten kam in ihrer Eindeutigkeit und Schärfe dennoch unerwartet. Der knochige Finger zeigte genau zwischen die Augen des jungen, von blondem Haar eingerahmten Gesichts, und die Stimme der alten Frau klang giftig.

»Sie lassen Finger davon, Missy, Sie hören? Sie spielen beim Golfspiel oder beim Tennis, vielleicht. Sie schwimmen oder liegen einfach am Strand wie die anderen weißen Leute. Aber ich warnen Sie, Missy. Sie treten auf Schlange, Missy, und Schlange Sie beißen! Sie verstehen?«

Jenny Harmon rührte sich nicht. Ihr Mund war offen und genauso rund wie ihre Augen, als die alte schwarze Frau ihren welken Finger auf sie gerichtet hielt und böse in ihre blassblauen Augen starrte. Sie stand noch immer unbewegt, als sich die Alte umdrehte und die Küche verließ. Dann stieg eine brennende Röte in ihre Wangen, und das Blau ihrer Augen wurde dunkler, als sie hinausmarschierte, ihren Gastgeber zu suchen.

Sie fand ihn in dem großen Herrenzimmer des Landhauses.

Atwood Garth war Anfang oder Mitte Sechzig, ungefähr im gleichen Alter wie Jenny Harmons Onkel. Die beiden Männer hatten einander vor vielen Jahren gut gekannt, doch war die Verbindung später abgerissen. Aber Jenny, obwohl sie den Engländer nie gesehen hatte, hatte sich an seinen Namen erinnert. Und da sie wusste, dass er einen schönen, herrschaftlichen Landsitz an der Küste Jamaicas besaß, hatte sie nicht lange gezögert, ihm zu schreiben und ihr Anliegen vorzutragen. So großartig hatte sie ihre Idee gefunden, dass es ihr nicht einmal in den Sinn gekommen war, ihren Onkel zu konsultieren. Garth hatte ihren ausführlichen Brief mit einem Telegramm beantwortet:

 

HABE IHREN ONKEL GESPROCHEN.

ER UND ICH FINDEN UNTERBRECHUNG DES STUDIUMS BEDENKLICH. TROTZDEM SIND SIE WILLKOMMEN SOLANGE SIE WOLLEN.

HERZLICHST, GARTH.

 

Herzlichst. Das Wort beschrieb das Aussehen und die Umgangsformen des alten Mannes, der nichts von der eisernen Härte und zuweilen fanatischen Wildheit hatte, die ihren Onkel Damien auszeichneten. Er war von mittlerer Größe, sein graues Haar spärlich. Ein behäbiger Bauch deutete auf Mangel an Bewegung und ein verwöhntes Leben hin, wohlversorgt von Dienern. Er sah wie ein vermögender Mann aus, und auch das verband ihn mit Jennys Onkel, dessen Reichtum allerdings noch größer sein musste. Obwohl Professor Damien Harmon seit mehr als fünfunddreißig Jahren an einen Rollstuhl gefesselt war, hatte er immer noch den gespannten Ausdruck, die scharfe Wachsamkeit eines aktiven Mannes. Atwood Garth dagegen war ein weicher Mensch – nicht weich im Sinne von schwammig, sondern im Sinne von Freundlichkeit und Güte. Nicht dass Onkel Damien unfreundlich und kalt gewesen wäre. Gewiss, gelegentlich konnte er beides sein. Um Nutznießer seiner Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft zu werden, musste man erstens ein Mensch nach seinem Geschmack sein und zweitens bereits alles Menschenmögliche getan haben, sich selbst aus den Schwierigkeiten zu befreien, die einem zu schaffen machten. Waren diese Voraussetzungen gegeben, so pflegte Damien rückhaltlos zu helfen. Nur war es Hilfe im Stil einer spartanischen Phalanx, die vorwärtsstürmend alle Widerstände und Hindernisse durchbricht, und nicht eine verständnisvolle, behutsame Art von Unterstützung.

Verständnis. Auch ein Wort, das Atwood Garth gut beschrieb. Ebenso wie Liebenswürdigkeit und augenzwinkernde Gemütlichkeit, die seine Züge aufhellten, als sie nun hereinkam. Er nahm die Pfeife aus dem Mund und klopfte herabgefallene Asche von seiner Hausjacke. Dann legte er das Buch, in dem er gelesen hatte, auf den kleinen französischen Intarsientisch neben seinem ledernen Ohrensessel und hob ein Cognacglas.

»Leisten Sie mir Gesellschaft? Er ist ausgezeichnet«, sagte er.

»Nein, vielen Dank. Für mich ist es ein wenig früh.« Tatsächlich war es zwei Uhr nachmittags.

Atwood Garth nickte. »Für jemanden in Ihrem Alter ist es früh. In meinem Alter braucht man solche Rücksichten nicht mehr zu nehmen. Man möchte sich nichts entgehen lassen, weil man weiß, dass die Zeit abläuft. Aber Sie sehen so aufgeregt aus, liebes Kind? Hatten Sie eine Begegnung mit der einheimischen Fauna? Einer Spinne vielleicht, oder einer Schlange?«

Die letzten Worte der alten Negerin über eine Schlange und ihren Biss waren noch frisch in Jennys Gedächtnis, und sie sagte aufgebracht:

»Mr. Garth. Sie beschäftigen eine alte Frau. Ihre Zähne – ich meine, sie scheint keine mehr zu haben. Ich kenne ihren Namen nicht, aber...«

»Ich weiß, wen Sie meinen. Sie haben eine Beschwerde über Loala?«

»Sie...«

»Sie mag Sie nicht«, sagte er. »Ich bin mir dessen bewusst, Kind. Wenn ich geahnt hätte, wie blond Sie sind, hätte ich Sie am Betreten der Insel gehindert. Loala schätzt uns Bleichgesichter nicht, fürchte ich. Viele von ihren Leuten empfinden genauso. Und ich muss sagen, ich kann ihnen keinen Vorwurf machen, wenn ich an die historischen Tatsachen denke.«

»Es ist nicht bloß Loala, Mr. Garth. Manchmal habe ich den Eindruck, für diese Leute ein Gegenstand ihres Hasses zu sein...«

Er hob die Hand. »Einzelheiten, liebes Mädchen. Sie wünschen hier Studien nachzugehen, nicht wahr? Sind Sie nicht deshalb nach Jamaica gekommen – um Studien zu treiben?«

»Nun ja. So könnte man sagen.«

»Also sehen wir uns die Details an. Wer ist die Person, deren Hass Sie zu fühlen meinen? Eli, mein Diener?«

»Oh nein. Er ist immer sehr nett zu mir. Ich meine, manchmal sieht er mich so seltsam an, aber das ist wohl nicht anders zu erwarten. Ich dachte mehr an das große schwarze Mädchen. Eula »Ah. Euleila«, sagte er mit verständnisvollem Nicken. »Ich habe es selbst bemerkt, an der Art und Weise, wie sie uns die Mahlzeiten serviert. Ja, Euleila ist Ihnen nicht wohlgesonnen, Jennifer. Aber sagen Sie mir, worauf führen Sie ihre Abneigung zurück?«

»Ich – ich weiß es nicht.«

»Jennifer«, sagte er. »Denken Sie nach.«

»Nun... sie ist, so kann man es wohl bezeichnen, ziemlich schön.«

»Und?«

»Und, nun, ich nehme an...«

»Sie nehmen an, dass Euleilas feindselige Gefühle Ihnen gegenüber auf Eifersucht beruhen? Eine junge Frau, die eine andere, in ihrer Art ebenso attraktiv aussehende junge Frau aus Konkurrenzgründen nicht ausstehen kann? Meinen Sie das?«

»Ja«, sagte Jenny leise.

»In diesem Fall irren Sie sich, Jennifer.« Atwood Garth nahm einen Schluck aus seinem Cognacglas und begegnete Jennys Blick mit der Ruhe überlegenen Wissens.

»Da irren Sie sich gründlich«, sagte er.

»Vor zwei Tagen sind Sie hier angekommen«, sagte er. Jenny saß jetzt in einem der drei Ledersessel, die einen Halbkreis vor dem offenen Kamin des Herrenzimmers bildeten. »Vor zwei Tagen. Und was haben Sie in dieser Zeit getan?«

»Sie wissen, was ich getan habe. Nichts – ich habe nichts gesagt, dass irgendjemanden hätte beleidigen...«

Er hob sein Glas in einer Gebärde, die sie zum Verstummen brachte.

»Oh, ich glaube, ich muss Sie schon korrigieren. Begreifen Sie nicht? Sie kamen mit einer Mission hierher. Sie sind keine Touristin, die nach Jamaica gekommen ist, um sich der Sonne und des Sandstrands unter Palmen zu erfreuen, auch fahren Sie nicht weiter nach Kingston, um dort die Andenkengeschäfte leerzukaufen. Nein, Sie sind eine ganz andere Art Besucherin, nicht wahr?«

»Ja, natürlich. Ich erklärte Ihnen in meinem Brief, warum ich nach Jamaica kommen wollte – warum ich bereit war, ein Semester zu unterbrechen.«

»Um den Voodoo-Kult zu studieren«, ergänzte er.

»Ja.«

»Um den Voodoo-Kult zu studieren«, sagte er wieder. »Um eine Arbeit zu schreiben, die sich mit der Wirklichkeit des Voodoo-Kults beschäftigt. So ungefähr waren Ihre Worte. Mit der Wirklichkeit des Voodoo-Kults. Sie haben mir nie klargemacht, was Sie damit meinten. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir jetzt eine Erläuterung zu geben – nur um einen alten Mann zu erbauen?«

»Es macht mir absolut nichts aus. Ich dachte nur, Sie seien nicht interessiert.«

»Vielleicht bin ich nicht interessiert, Kind. Aber versuchen wir es trotzdem.«

»Nun, parallel zu den Vorlesungen über Kulturanthropologie, die ich besuchte, habe ich viele Bücher darüber gelesen – alles, was ich über den Voodoo-Kult, seine Praktiken, seine Herkunft und seine Glaubensinhalte finden konnte. Keine dieser Darstellungen konnte mich zufriedenstellen. Obgleich sie Rituale beschrieben und einige Effekte der mit dem Kult verbundenen schwarzen Magie erwähnten, gibt es keine hinreichende Erklärung – für mich hinreichend, muss ich sagen –, wie einige erwähnten Resultate Zustandekommen.«

»Und um das herauszubringen, sind Sie nach Jamaica gekommen, nicht wahr? Warum zum Beispiel eine in den Fuß einer Puppe gesteckte Nadel im Fuß eines bestimmten Menschen Schmerz verursachen sollte.«

»Das ist ein Teil davon, ja. Unter anderem würde ich gern eine Antwort auf dieses Phänomen finden.«

»Das haben vor Ihnen schon viele kluge Köpfe versucht, meine Liebe.«

Nach kurzem Zögern antwortete sie: »Mit allem schuldigen Respekt, Mr. Garth – mein Kopf hat es noch nicht versucht. Ich denke, dass ich eine Erklärung finde, wenn es mir gelingt, ein paar von diesen Vorgängen direkt und aus der Nähe zu beobachten.« Garth sah sie an und nickte. »Sie sagen, Jennifer, dass Sie viel über den Voodoo-Kult gelesen haben. Dann müssen Sie auch wissen, dass nicht jeder bei den rituellen Handlungen willkommen ist.«

»Ich weiß das. Darum entschied ich mich für Jamaica. Es gibt andere Inseln in Westindien, wo der Kult noch reiner und unverfälschter als hier existieren soll, aber auf Jamaica gibt es jemand, der mir möglicherweise helfen und mich mit Leuten in Verbindung bringen kann...«

»Damit bin ich gemeint, nehme ich an.«

»Ja, Sir. Da Sie schon so lange hier leben...«

»Da ich schon so lange hier lebe«, unterbrach er, »habe ich einiges über die Menschen und ihre Wesensart gelernt. Ich habe beispielsweise gelernt, dass sie keine Außenseiter schätzen, die ihre Nase in ihre Kultgewohnheiten stecken. Sie sind erst seit zwei Tagen mein Gast, aber sämtliche Mitglieder meines Haushalts sind sich sehr wohl des Zweckes Ihrer Anwesenheit bewusst. Sie können von Frauen wie Loala und Euleila nicht erwarten, dass sie begrüßen, was in ihren Augen unbefugte Schnüffelei eines reichen weißen Mädchens ist. Voodoo ist für diese Leute sowohl eine Sache des persönlichen Glaubens als auch des rassischen Erbes, in dem Bestandteile der alten animistischen Kulte Afrikas weiterleben. Vor langer Zeit fragte ich mal einen alten Mann, der für mich arbeitete, was das Voodoo-Ritual ihm bedeute. Würde es Sie interessieren, zu erfahren, was er mir antwortete?«

»Selbstverständlich.«

»Er sagte: Mr. Garth, Sie haben viel Geld, also sind Sie ein glücklicher Mann. Ich habe Voodoo, und das ist, was mich glücklich macht. Das waren seine Worte. Verstehen Sie jetzt, warum Sie hier nicht die Beliebtheit genießen, die Sie aufgrund Ihrer Erscheinung und Ihrer Persönlichkeit bei Ihren Kommilitonen gewonnen haben?«

Jenny erwiderte Garths Lächeln. »Aber ich meine es doch nicht böse, wirklich nicht.«

»Meinen Sie?«

»Nein, natürlich nicht. Ich habe nicht die Absicht, irgendjemandem Schaden zuzufügen.«

»Nun, so sehen Sie es. Aus dem Blickwinkel dieser Leute nimmt es sich so aus, als wollten Sie ihnen jeden nur denkbaren Schaden zufügen. Sie geben zu, dass Sie die Rituale studieren und erklären wollen, wie die angenommenen Wirkungen Zustandekommen. Jamaica ist ein Staat mit einer Analphabetenquote von nur zweiundvierzig Prozent – aber unter den Anhängern des Voodoo-Kults liegt der Anteil der Analphabeten wesentlich höher. Darum misstrauen sie den Symbolen, die für uns alltägliche Kommunikationsmittel sind. Aber nicht nur das. Sie haben gesagt, dass Sie die magischen Geheimnisse des Voodoo-Kults erklären wollen. Wenn Sie das tun und Ihre Sache gut machen, dann sehen diese Leute sich mit dem möglichen Verlust der Macht konfrontiert, die der Kult für sie hat. Sicherlich ist Ihnen bekannt, dass der erfahrene Voodoo-Priester eine ungeheure magische Macht ausübt.«

»Ja. Ich weiß, dass in Haiti...«

»Ein ausgezeichnetes Beispiel. Aber auf Trinidad und Tobago und in der ganzen Karibik gibt es Männer, deren Macht und Einfluss, wenn auch nicht vergleichbar mit denen des verstorbenen Papa Doc Duvalier, noch heute Faktoren darstellen, die von den Regierungen berücksichtigt werden müssen. Auch hier auf Jamaica ist das nicht anders, obwohl die Behörden es mit aller Entschiedenheit leugnen würden. Wie dem auch sein mag, Sie machen sich an etwas zu schaffen, das diese Leute als ihr heiliges Mysterium ansehen – und gleichgültig wie Sie selbst dazu stehen mögen, in den Augen der Einheimischen wollen Sie ihnen Schaden zufügen.«

»Damit wollen Sie sagen, dass ich nicht hätte kommen sollen?«

Atwood Garth schüttelte den Kopf. »Damien Harmons Nichte ist in meinem Haus immer willkommen«, sagte er lächelnd.

»Dann meinen Sie, dass ich meine beabsichtigten Forschungen aufgeben sollte?«

Sein rundes, gütiges Gesicht wurde ernst. »Das würde ich allerdings sagen. In genau diesen Worten – wenn ich den Eindruck hätte, dass es etwas nützen würde.« Er seufzte. »Aber ich kenne Ihren Onkel, und in der kurzen Zeit, die Sie hier sind, habe ich Sie auch schon etwas kennengelernt. Nein, Jennifer, ich werde nicht sagen, dass Sie Ihre Forschungen aufgeben sollten. Ich halte nichts von vergeblichem Zureden, und wenn Sie die dickköpfige Hartnäckigkeit der Harmons geerbt haben, was ich annehme, wäre es sinnlos. Sie von Ihrem Vorhaben abbringen zu wollen. Aber ich denke, dass ich Ihnen eine letzte Warnung geben sollte.«

Er hielt inne und leerte sein Cognacglas. Nachdem er es zurückgestellt hatte, begann er seine Pfeife neu zu stopfen.

»Jennifer, wie Sie sicherlich wissen, stellte die Schlange ein im Voodoo-Kult häufig vorkommendes rituelles Symbol dar. Ich meine es gut mit Ihnen, wenn ich Ihnen rate, nicht auf die Schlange zu treten.«

»Sonst-?«

»Ja. Es ist mehr daran: die zweite Hälfte des einheimischen Sprichworts.«

»Ich habe die zweite Hälfte gehört«, sagte sie ihm mit ruhiger Stimme.

Als ihr der Inhalt des Gesprächs wieder durch den Kopf ging, blickte Jenny unwillkürlich über die Schulter. Die Bewegung unterbrach den gleichmäßigen Rhythmus ihrer Schwimmbewegungen, und nach kurzem Husten drehte sie um und schwamm zurück zum dunklen Ufer, das hinter der mondbeschienenen Oberfläche des Meeres schwarz aufragte. Natürlich war niemand am Strand. Sie hatte nicht wirklich erwartet, jemanden zu sehen. Es war bloß, dass...

Also, man konnte gewiss nicht sagen, dass Atwood Garth heute Nachmittag hilfreich gewesen wäre. Aber was hätte er tun sollen – aus seinem Sessel aufspringen und die alte Frau und das schwarze Mädchen auf der Stelle entlassen? Das wäre zweifellos eine unangemessene Reaktion gewesen. Andererseits hätte der Zwischenfall beim Abendessen einen Entlassungsgrund geliefert. Aber hatte auch Mr. Garth gesehen, dass es Absicht gewesen war? Während Jenny nun zum Ufer zurückschwamm, dachte sie über die Szene nach.

Es war nicht wirklich eine Szene gewesen, obwohl sie eine daraus hätte machen können. Das schwarze Mädchen Euleila hatte Fruchtsalat in Jennys Schoß geschüttet – absichtlich! Gewiss, sie hatte sich sehr entschuldigt, aber ihre schwarzen Augen hatten die Entschuldigung Lügen gestraft. Hass hatte darin geschimmert. Hass und ein befriedigtes Vergnügen, dass es ihr gelungen war, das Kleid der weißen Missy zu ruinieren. Als Euleilas Arbeitgeber hätte Mr. Garth sicher...

Was hätte er tun sollen?

Er hatte sie gewarnt. Er hatte ihr sogar Gelegenheit gegeben, ihr Verhältnis zu dem Hauspersonal in Ordnung zu bringen.

»Haben Sie über unser Gespräch nachgedacht?«, hatte er sie gefragt. »Haben Sie beschlossen, das Projekt aufzugeben, das Sie hierhergebracht hat, und sich statt dessen für die Vernunft und einen schönen Urlaub in der Sonne und am erfrischenden Meer entschieden?«

Sie hätte sagen können, ja, sie habe sich dafür entschieden. Das hätte sie tun und damit künftige Unannehmlichkeiten vermeiden können. Vielleicht hätte sie sich nach dem Rat ihres Gastgebers gerichtet, wäre da nicht der harte und feindselige Blick des schwarzen Serviermädchens gewesen. Dieser Blick hatte jenes Feuer in ihr geschürt, das Atwood Garth gemeint haben musste, als er von der Dickköpfigkeit der Harmons sprach.

»Ich bin nicht der Typ, der während des Semesters Urlaub macht, Mr. Garth«, hatte sie erwidert. »Nein, ich habe mir vorgenommen, morgen mit meinen Nachforschungen zu beginnen.«

Die Sache mit dem Fruchtsalat hatte sie in ihrer Entschlossenheit noch bestärkt. »Ich lasse mich nicht einschüchtern!« Das war die stumme Botschaft, die ihr Blick dem spöttischen schwarzen Mädchen mitteilte.

»Ich denke nicht daran«, sagte sie zu sich selbst, als sie mit gleichmäßigen Arm- und Beinbewegungen zum Ufer zurückschwamm, und sie musste lächeln. Atwood Garth hatte recht. Sie war wirklich wie ihr Onkel Damien. Die Ähnlichkeit war groß, wie es schien. Und sie war stolz darauf.

»Wir lernten uns damals in den dreißiger Jahren kennen«, hatte Garth ihr beim ersten gemeinsamen Abendessen erzählt. »Schlimme Ereignisse standen am Anfang unserer langjährigen Freundschaft. Wir teilten eine gemeinsame Erfahrung, eine medizinische. Sehen Sie diese Narbe an der Seite meines Kopfes?«

Sie war ihr schon aufgefallen. Anders als der Rest seines runden, allmählich kahl werdenden Kopfes, ließ sich das Narbengewebe nicht von der karibischen Sonne beeindrucken.

»Tausende von Kilometern trennten Ihren Onkel und mich, aber unsere Ärzte waren ständig miteinander in Verbindung. Ihr Onkel bekam seine Metallplatte ins Schädeldach, weil er im Polizeidienst Mut bewiesen hatte. Leider verlor er bei dem gleichen Abenteuer sein Gehvermögen. Er ist noch immer an den Rollstuhl gefesselt, nicht wahr?«

»Ja, und daran wird sich wohl nichts mehr ändern. Und Sie, Mr. Garth? Wie kamen Sie...«

Er hatte gelacht. »Ich schäme mich fast, es zu sagen. Nein. In meinem Alter sollte man sich nicht mehr schämen. Ich – äh – fiel von einem Pferd.«

»Dessen braucht man sich nicht zu schämen, nicht wahr?«

Er hatte ihr lustig zugezwinkert. »Das ist wahr, aber das betreffende Pferd war das gutmütigste und zahmste Geschöpf im Reitstall meines Vetters, und ich muss überdies zugeben, dass es zum Zeitpunkt meines Unfalls ganz still stand.«

Das war freilich weit von der Dramatik entfernt, durch die ihr Onkel zu seiner Schädeldachprothese gekommen war. Er hatte in den Polizeidienst gehen wollen. Obwohl er eine aussichtsreiche akademische Karriere vor sich gehabt hatte und außerdem mehr ererbten Reichtum besaß als er jemals würde ausgeben können, hatte er sich entschlossen, sein Leben der Verbrechensbekämpfung zu widmen. Unzufrieden mit der Büro- und Papierarbeit, die man dem jungen Praktiker der Kriminalpsychologie zugewiesen hatte, war Damien Harmon auf eigene Faust und entgegen seinen Anweisungen zur aufregenderen Tätigkeit eines Ermittlers übergegangen. Solchen Ambitionen hatte dann das Bleirohr eines Gangsters ein Ende gemacht. Den zertrümmerten Schädel hatten die Ärzte wieder zusammenflicken können, doch das zerschmetterte Rückgrat konnte nicht repariert werden. Seit jenem Tag im Jahre 1938 hatte Damien Harmon den Rollstuhl nur noch verlassen, um ihn mit dem Bett zu vertauschen. Aber das hatte ihn nicht daran gehindert, seine Ziele weiter zu verfolgen. Es gab Geschichten...

Es waren Geschichten über seinen brutalen Privatkrieg gegen das Verbrechen, den er außerhalb der Legalität und mit seinen eigenen Methoden führte, und Jenny konnte sich nie entscheiden, ob sie daran glauben sollte oder nicht. Ihr schauderte bei der Vorstellung, dass ihr Onkel selbst zu einem von Rachsucht besessenen Verbrecher geworden war. Doch andererseits wünschte sie beinahe, dass es so sei. Irgendwie wollte sie glauben, dass der hakennasige Mann mit der weißen Mähne und den breiten Schultern tatsächlich das geheimnisumwitterte Leben führte, das die Legenden ihm zuschrieben. Und manches sprach dafür, dass etwas Wahres daran war. Zum Beispiel die Leute, mit denen er sich umgab.

Sie kannte Carmelo Sanchez bereits seit vier Jahren, als er in den Dienst ihres Onkels getreten war. Er war – das musste sie ihm zugestehen – ein aufregender Mann. Und im vergangenen Herbst, als sie in San Francisco Schwierigkeiten hatte, waren noch zwei andere aufgetaucht, die ihr entschieden unheimlich vorkamen, obwohl sie diesen Eindruck nicht genau begründen konnte: die Frau, die sich Ktara nannte und dieser Graf. Yula hatte er geheißen. Ja, Graf Yula.

Jenny fröstelte. Graf Yula. Ein seltsamer Mann, ein Mann, dessen Erscheinung und Haltung sie aus der Fassung bringen konnte, obgleich es ihr sonst an Selbstsicherheit nicht fehlte. Sie hatte damals vermutet, dass er auch in ihrem Onkel und in Sanchez ein gewisses Unbehagen erzeugte. Aber er hatte geholfen, als er benötigt worden war, und sie war ihm dafür dankbar. Wie war es dann aber möglich, dass seine Gegenwart so beklemmend und irgendwie bedrohlich wirkte? Vielleicht hatte es mit seinen Augen zu tun, deren Pupillen einen rötlichen Schimmer zu haben schienen. Und mit den langen weißen Zähnen, die er beim Lächeln entblößt hatte...

Sie schüttelte das Gefühl ab, holte tief Atem und tauchte mit dem Kopf unter die Wasseroberfläche, als ihre Arme und Beine in schnellem Kraulrhythmus zu arbeiten begannen, der sie rasch zum Strand tragen würde. Aber als sie im Geist den Takt zu ihren Armschlägen zählte, wie es ihre Gewohnheit war, kam sie zweimal hintereinander aus dem Konzept, und nach dem zweiten Mal hielt sie inne und hob das Gesicht aus dem Wasser. Irgendetwas stimmte nicht.

Der Rhythmus stimmte nicht.

Die Reaktion auf die Beanspruchung ihres Körpers war ein erfrischendes Gefühl erhöhter Vitalität und Kraft. Der Puls pochte in ihren Schläfen und gab ihr das momentane Gefühl, eine organische Maschine zu sein, die auf einer primitiven Ebene funktionierte und keine intellektuellen Bedürfnisse hatte. Ein animalisches Wohlbefinden durchströmte sie, so elementar war die Kraft dieses Blutes, das in ihr pulsierte. Und doch...

Es war nicht ganz das dumpfe, rhythmische Pochen in ihren Schläfen, das sie kannte.

Einen Augenblick lang dachte sie, etwas mit ihrem

Herzschlag sei nicht in Ordnung. Hatte sie sich überanstrengt? Sie glaubte es nicht, aber...

Nein. Das Ungewohnte, Fremdartige, die rhythmische Unregelmäßigkeit war nicht in ihr. Es war ein äußeres Phänomen. Und als der Pulsschlag ihres Blutes sich beruhigte, erkannte sie, dass der Rhythmus, den sie mit dem ihres Körpers verwechselt hatte, vom Land herüberkam.

Trommeln.

Obgleich sie die Trommeln schon öfter gehört hatte, und obwohl ihr Körper genug Zeit gehabt hatte, sich an die Wassertemperatur zu gewöhnen, schauderte sie. Woran lag das? Am besonderen Rhythmus? Nein. Sie hatte zu Hause Aufnahmen von Voodoo-Trommeln gehört, und wenn ihr auch ein archaisches Element aufgefallen war, ein emotionales Etwas, das sich nicht in rationale Feststellungen übertragen ließ, hatte sie doch nicht diese vibrierende Unruhe gefühlt, diesen dumpfen, gebrochenen Rhythmus, der ihr aus irgendeinem Grund verkehrt vorkam. Sie hatte auch während der Nächte, die sie auf der Insel verbracht hatte, Trommeln gehört, aber die Geräusche hatten sie anders als jetzt berührt. Und dann glaubte sie auf einmal zu wissen, woran sie war.

Das Trommeln war lauter, als sie es bisher gehört hatte. Lauter und näher. Es war beinahe so, als ob...

Als ob die Trommler gleich dort drüben wären – mitten in der schwarzen Waldkulisse hinter dem Strand, auf den sie zuschwamm. Das war natürlich albern, wahrscheinlich eine Sinnestäuschung, hervorgerufen durch die Stille des Abends. Jenny wusste genug über Psychologie, um zu wissen, dass das Unbewusste alle möglichen Vorstellungsbilder ins Bewusstsein projizieren kann. Beruhte darauf nicht ihre gesamte Theorie über den Voodoo-Kult und seine, magischen Kräfte? Er hatte viel mit Suggestion, Glaubensheilungen und dergleichen zu tun. Suggeriert man einem Kranken eindringlich genug, dass er geheilt werden wird, so kann es tatsächlich zu einer spontanen Selbstheilung kommen. Suggeriert man demselben Kranken umgekehrt, dass er nicht zu retten sei und sterben werde, so wird er mit einiger Wahrscheinlichkeit tatsächlich sterben. Dabei kam es auf die Überzeugungskraft der Aussage und den Glauben des Zuhörers an.

Aber was glaubte sie?

Ihr Onkel Damien Harmon hatte eine große Bibliothek, die fast zur Hälfte dem Themenkreis des Okkultismus gewidmet war. Einmal, als sie ihn gefragt hatte, warum er sich mit solch abergläubischem Zeug beschäftige, hatte er sie lange und nachdenklich angesehen. »Solche Dinge in Frage zu stellen, ist intelligent, Jennifer«, hatte er gesagt. »Sie aber von vornherein als unsinnig abzutun, ist die Höhe der Dummheit.«

Nun, diesen Fehler beging sie nicht. Sie war auch für andere Erklärungen als die der Psychologie offen – einschließlich solcher, die von den meisten wissenschaftlich Gebildeten rundweg abgelehnt wurden: dass Voodoo wirkte, weil die

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Lyle Kenyon Engel/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Korrektorat: Mina Dörge.
Übersetzung: Walter Brumm (OT: The Drums Of Dracula).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 13.01.2022
ISBN: 978-3-7554-0520-7

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