ELISABETH WINTERHALDER
DIE GLOCKEN DER HEIMAT
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DIE GLOCKEN DER HEIMAT
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Das Buch
Martin Buchner liebte seine Heimat, den Buchenhof. Doch als die Mutter starb, war es mit dem Glück und dem Frieden vorbei: Der Vater heiratete eine sehr viel jüngere Frau, die keinen guten Einfluss auf ihn ausübte. Hinter ihr stand ihr Bruder Leonhard, der nur auf seinen Vorteil bedacht war und der sie geschickt als Werkzeug zu benutzen wußte.
Martin hatte eine heftige Auseinandersetzung mit Leonhard, und als dieser kurz darauf mit einer Schussverletzung aufgefunden wurde, hielt man Martin für den Täter und verurteilte ihn zu einer Gefängnisstrafe.
Nach zwei Jahren wird Martin Buchner auf Bewährung entlassen. Die Heimat ist ihm verschlossen, der Vater ist tot und hat ihn enterbt. Verbittert und menschenscheu zieht sich Martin auf ein kleines Anwesen zurück. Durch die junge Regina erfährt er nach langer Zeit der inneren Erstarrung das erste Glück - und bald darauf wieder bittere Enttäuschung: Menschen und Erinnerungen aus der Vergangenheit tauchen auf und bringen Unruhe und Gefahr...
Mit Die Glocken der Heimat legt Erfolgs-Autorin Elisabeth Winterhalder einen ebenso dramatischen wie romantischen Heimat-Roman vor.
DIE GLOCKEN DER HEIMAT
Erstes Kapitel
»Nummer 23.740 zum Direktor!«, ruft der wachhabende Aufseher dem Beamten zu, der auf dem B-Flügel seinen Dienst verrichtet.
Der Wachtmeister wiederholt den Befehl, die Hände an die Hosennaht gelegt. Er steht am Geländer und sieht zu dem Kollegen hinunter, der am Befehlsstand der kreisrunden Zentrale sitzt, wo alle Fäden zusammenlaufen.
Hier in dem großen Männergefängnis, das über achthundert Insassen birgt, ist ein ständiges Kommen und Gehen. Jetzt ist Nummer 23.740 an der Reihe. Martin Buchner heißt er und stammt aus einem Gebirgsdorf an der deutsch-österreichischen Grenze.
Wachtmeister Fritsche hat den Buchner gern. Er ist willig und hält sich von den übrigen abseits. Freilich war das nicht immer so. Am Anfang, vor zwei Jahren, als er ins Gefängnis kam, da hat er oft Schwierigkeiten gemacht. Tagelang ließ er das Essen unberührt, und nachts hämmerte er an seine Zellentür. Er, der immer unter freiem Himmel gewesen war, der nur Berge und Wälder kannte, war plötzlich in enge sechs Quadratmeter eingeschlossen. Kein Wunder, dass er sich vorkam wie ein gefangenes Tier der Wildnis. Es hatte ein paar Monate gedauert, bis er sich in sein Schicksal gefunden hatte; aber auch später wich der Schatten nicht von seinem Gesicht, das zuerst braun und gesund aussah, dann aber fahl und blass wurde. Der Buchner war fünf Monate in Einzelhaft. Dann wurde er in den großen Arbeitssaal verlegt, in dem Körbe und Taschen aus Stroh und Weiden geflochten wurden. Seine Finger waren geschickt und fleißig. Er sah ein, dass er mit Widerspenstigkeit nicht weiterkam. Und so bildete sich zwischen ihm und den Aufsehern ein leidliches Verhältnis, indem einer auf den anderen Rücksicht nahm.
Die Beamten hatten es ebenfalls nicht leicht. Sie waren in der Minderzahl gegenüber den Gefangenen, unter denen sich Renitente, Kranke und Asoziale befanden. Wenn einer keine Schwierigkeiten machte, dann war man schon heilfroh darüber. Deshalb wurde dem Buchner auch wegen guter Führung das letzte Drittel seiner Strafe auf Bewährung ausgesetzt.
Und jetzt ist der Wachtmeister auf dem Weg, um Buchner zum Direktor zu holen, der ihn entlassen wird.
Fritsche, ein bulliger, untersetzter Mann mit einem roten Gesicht und breiten Händen, hakt den Schlüsselbund von seinem Ledergürtel. Es hat ein Gewicht von einigen Pfund und enthält alle Schlüssel, die auf dem B-Flügel notwendig sind. Er geht den langen, hallenden Korridor hinunter, der mit großen Steinquadern bedeckt ist und auf einer Seite von einem eisernen Gitter, auf der anderen Seite von mehreren Dutzend Zellentüren eingesäumt wird. In jeder Tür ist in Augenhöhe ein rundes Guckloch, der sogenannte Spion, durch das man die Gefangenen beobachten kann.
Martin Buchner ist heute Morgen nicht mehr zur Arbeit in den Gemeinschaftssaal geführt worden. Er befindet sich jetzt in seiner Schlafzelle und gilt bereits als sogenannter Abgang, wie es in der Gefängnis-Sprache heißt. Das sind jene Häftlinge, die entlassen werden, nachdem sie vorher durch den Gefängnisarzt auf ihren Gesundheitszustand untersucht worden sind und ihre Abrechnung erhalten haben. Der Wachtmeister sperrt mit einem großen Schlüssel die eiserne Tür auf. Die Zelle ist klein und von einer auffallenden Sauberkeit. Der Boden glänzt, das Bett ist an der Wand hochgeklappt, das Aluminiumgeschirr in dem Holzbord schimmert. Der Gefangene ist von dem niedrigen Schemel aufgestanden, als Fritsche eintrat. Er steht nun in abwartender Haltung vor dem Wärter.
Buchner ist groß, mindestens einen Meter achtzig. Die Gefängnishaft vermochte diese hagere Gestalt nicht zu beugen. In dem schmalen, gutgeschnittenen Gesicht liegen die dunklen Augen, in denen eine schwermütige Melancholie zu spüren ist. Die kräftige, gerade Nase, der zusammengepresste Mund, das eckige Kinn lassen dieses Gesicht aus der Masse der anderen hervortreten.
»Buchner, packen Sie jetzt Ihre Sachen zusammen, und kommen Sie mit zum Herrn Direktor. Von da geht es in die Abgangszelle. Sie kommen nicht wieder hierher zurück.«
Schweigend gehorcht der Gefangene. Er rollt das dreiteilige Besteck in die grobe Serviette, nimmt Handtuch, Seife und Zahnbürste und wendet sich zum Gehen. Ein einziger, letzter Blick fliegt noch durch den Raum, in dem Buchner zwei Jahre zugebracht hat, eine Zeit, die er wie durch ein Wunder überstanden hat.
Der Wachtmeister lässt den Gefangenen vor sich hergehen. Er schließt die eisernen Gittertüren auf, die nach unten führen. Sie überqueren den A-Flügel, an dessen Ende eine helllackierte Tür zum Verwaltungstrakt des Gefängnisses führt. Hier ist alles anders. Grüne Blattpflanzen schmücken die breiten Fenster, die Türen zu den Büros sind nicht verschlossen.
Buchner legt sein Päckchen auf ein Fensterbrett. Der Wachtmeister klopft an die Tür, an der ein schwarzbemaltes Schild hängt: Direktor Hügel. Drinnen sagt eine dunkle Stimme: »Herein!« Fritsche öffnet die Tür einen Spalt und steckt den Kopf dazwischen.
»Herr Direktor, der Gefangene Buchner ist zur Entlassung vorgeführt.«
»Gut. Lassen Sie ihn eintreten!«, sagt der Direktor, der hinter dem mächtigen Schreibtisch sitzt.
Der Wachtmeister schiebt den Gefangenen vor sich her und schließt hinter ihm die Tür, an der er stehen bleibt. Buchner geht bis zum Schreibtisch.
Der Direktor ist etwa Ende Fünfzig. Sein Haar ist schneeweiß, seine Augen blickten ernst, aber nicht unfreundlich. Er deutet auf den Stuhl vor dem Schreibtisch.
»Setzen Sie sich, Herr Buchner.«
Der Gefangene zuckt zusammen. Herr Buchner - so ist er nicht mehr genannt worden seit jenem Tag, als sie das Urteil über ihn gesprochen haben. Von da ab war er nur noch eine Nummer, die registriert wurde, eine Nummer zwischen hundert anderen, eingeschlossen in Stein und Eisen.
Buchner setzt sich auf den Rand des Stuhles, die Knie eng zusammengestellt, den Blick auf den Mann gerichtet, der vor ihm in den Akten blättert.
»Sie werden morgen früh entlassen, Herr Buchner. Der Rest Ihrer Strafe ist auf Bewährungsfrist ausgesetzt worden, weil Ihre Führung tadellos war. Aber vergessen Sie nicht, dass Sie dieses Jahr verbüßen müssen, sobald Sie sich nur das Geringste zuschulden kommen lassen. Denken Sie also immer daran, dass diese Gefahr über Ihnen schwebt.«
Buchner hat den Kopf gesenkt.
»Ich denke schon dran«, sagt er mit dunkler Stimme, die spröde und ungewohnt klingt. Er hat so lange mit niemandem mehr gesprochen, nur ein paar Worte, die während der Arbeit notwendig waren; im Übrigen ist er dem Schweigen ausgesetzt gewesen, das in diesen Mauern nistet.
»Wo gehen Sie nach Ihrer Entlassung hin?«, fragt ihn der Direktor. »In Ihre alte Heimat können Sie ja nicht mehr, die ist Ihnen doch versperrt?«
»Ja, die haben jetzt die anderen«, erwidert der Gefragte. »Ich möchte auch nicht mehr hin«, setzt er hinzu. »Ich gehe nach Höhenberg, das ist hundert Kilometer von meinem Heimatort entfernt, mitten im Chiemgau. Dort hat mir ein Onkel, der vor ein paar Monaten gestorben ist, ein kleines Anwesen vermacht.«
»Richtig, ich erinnere mich. Hier steht es ja«, sagt der Direktor, der mit Arbeit überlastet ist. »Da haben Sie ja noch Glück gehabt, dass Sie wieder von vorn anfangen können.«
Buchner antwortet nicht. Seine Hände liegen schwer und farblos auf den Knien.
»Die Abrechnung ist bereits erfolgt. Das Geld, das Sie hier verdient haben, wird Ihnen heute noch ausgezahlt. Morgen früh können Sie mit dem ersten Zug um sieben Uhr vom Bahnhof abfahren. Ich hoffe, dass Sie sich zurechtfinden werden, und wünsche Ihnen alles Gute. Mögen Sie nie in dieses Haus zurückkehren!«
Buchner hält die Unterredung für beendet. Er steht auf. Der Direktor reicht ihm die Hand. »Nochmals: alles Gute!«, murmelt er.
»Danke«, erwidert Buchner.
Der Wachtmeister öffnet die Tür für den Gefangenen. Es geht zwar nicht mehr zurück in den Gefängnistrakt, aber trotzdem muss Buchner noch einmal in eine Zelle, die im Souterrain liegt. Hier werden ihm seine Kleider ausgehändigt, die er gegen Quittung in Empfang nimmt. Sie riechen nach Mottenpulver und fühlen sich seltsam leicht an gegen das schwere Drillichzeug, das er jetzt langsam auszieht. Eine letzte, kurze Untersuchung, ob er nicht verbotene Nachrichten hinausschmuggelt, dann wird er in die Abgangszelle geschoben, in der bereits seine Abendsuppe mit einem Stück Schwarzbrot auf dem Klapptisch steht.
Buchner, in einem weißen Leinenhemd, die dunkle Hose mit dem Gürtel festgeschnallt, die übrigen Sachen auf dem Arm, taumelt in den Raum.
Hier hat es angefangen. Hier unten verbrachte er die erste Nacht, als man ihn zum Strafvollzug einlieferte. Und jetzt ist es die letzte Nacht, in der er wiederum kein Auge schließen wird, wie damals.
Er weiß noch alles ganz genau. Nie hätte er gedacht, dass er diese Zeit lebend überstehen würde. Er, der nur die Natur, seinen Wald und die Freiheit kannte, war wie ein Tier, das man plötzlich hinter Gitter sperrte.
Die Tür öffnet sich noch einmal, und der Aufseher, diesmal ein jüngerer Beamter, bringt ihm den braunen Koffer herein.
»Hier sind Ihre übrigen Sachen. Gute Nacht! Sie werden ja nichts mehr brauchen?«
Nein, er braucht nichts mehr, nichts in diesem Hause, in dem er zwei seiner besten Jahre verbracht hat! Es ist kühl hier unten, obwohl draußen Sommer ist. Buchner zieht die Weste und die Jacke an. Sie sind ihm zu weit geworden. Er hat kein Gramm Fett mehr am Körper. Langsam steckt er die verschiedenen Gegenstände in die Taschen, das Feuerzeug, die Geldbörse, das Taschenmesser.
Er klappt den Koffer auf. Es ist nur eine Garnitur Wäsche drinnen, die er seinerzeit in das Gefängnis mitgebracht hat, eine Lodenpelerine und ein Paar Schuhe. Alles andere ist auf dem Buchenhof zurückgeblieben, dort, wo seine Heimat ist, die er nun für immer verloren hat.
Aber er wird kein Stück zurückverlangen oder holen. Nie wieder wird sein Fuß die Schwelle betreten, auf die andere jetzt ein Anrecht haben. So vieles hat sich in diesen zwei Jahren verändert, sein ganzes Leben ist in eine andere Bahn gekommen. Buchner setzt sich an den Tisch, aber er isst nicht. Er schiebt die Schüssel mit der braunen Linsensuppe zurück, angeekelt von ihrem Geruch. Nur das dunkle Brot zerbricht er zwischen den Fingern und isst es langsam auf.
Vor ihm liegt das schmale Karteikärtchen, das bisher in seiner Zelle gehangen hat und das seine Nummer, das Datum des Strafbeginns und das Vergehen enthält, das er begangen hat.
Nr. 23.047, liest er, eingeliefert am 18. 6. 1957 wegen §§ 223 f. StGB. Er kennt diese Daten und Nummern schon auswendig, er hat sie ja lange genug vor Augen gehabt.
Er weiß jetzt, dass schwere Körperverletzung im Strafgesetzbuch unter § 223 f. aufgeführt ist. Er wird die Nummer, die er beinahe zwei Jahre getragen hat, nie mehr in seinem Leben vergessen. Ein strahlender Juni-Tag war es, als er hierherkam. Man hatte ihn aus dem Gerichtsgefängnis der Großstadt, wo man seinen Fall verhandelt hatte, in die niederbayrische Strafanstalt transportiert. Und morgen wird er als freier Mann diesen Ort verlassen. Aber es ist keine Freude in ihm. Er ist wie zerbrochen. Wie ein Schatten liegt es auf seiner Seele. Die Zukunft ist dunkel und hinter einem Vorhang verborgen.
»Sie haben Glück gehabt«, hat der Direktor zu ihm gesagt.
Glück, dass Onkel Johann gestorben ist und ihm sein Besitztum vermacht hat? Ja, wenn man es so nimmt, dann ist das vielleicht ein Glück.
Martin Buchner kann sich kaum noch an den Bruder seiner verstorbenen Mutter erinnern. Er war nur einmal als Halbwüchsiger zu Besuch dort und weiß nur noch, dass ihm das kleine Gütchen ein mitleidiges Lächeln entlockt hat. Gemessen an dem stattlichen Buchenhof war es ein Besitz, wie ihn bei ihnen die Taglöhner hatten. Aber in seiner Lage muss er froh sein, dass er irgendwo unterkriechen kann. Höhenberg liegt weit genug vom Berchtesgadener Land entfernt. Dort wird ihn niemand kennen, selbst wenn sie von seinem Prozess gelesen haben sollten. Zum Glück sind die Welt und mit ihr die Menschen raschlebig und vergesslich. Er wird in Höhenberg ein neues Leben anfangen, ein stilles, bescheidenes Leben wie ein Einsiedler. Er wird vergessen, was man ihm angetan hat. Er braucht niemand, denn er hat die Einsamkeit kennengelernt. Das einzige, was ihm fehlen wird, das ist der Wald, in dem er von Kind an zu Hause gewesen ist. Mit achtzehn Jahren hat er den ersten Stutzen in der Hand gehalten, und seither ist er der Jagd verfallen gewesen. Der Vater hat ihn gewähren lassen; er selbst schoss nicht auf Tiere, dafür aber lag dem Sohn das Jagdfieber im Blut.
Martin wirft sich auf die aufgeklappte Pritsche und denkt nach. Plötzlich ist alles wieder da:
Der große, stattliche Buchenhof mit seinen weiten Wäldern und den sauber angelegten Feldern und Wiesen. Das gepflegte Vieh weidete auf den Almen, die zum Buchenhof gehörten, die Pferde waren die schönsten weit und breit, und wenn man vor die Tür trat, dann sah man in das weite Land, eingerahmt vom Wildwasser und von den Bergen, zum Tal hinunter aber sanft abfallend; ein Herrensitz, der seit Jahrhunderten in der Familie Buchner war.
Die Mutter stammte aus der Ramsau. Sie war eine stille, arbeitsame Frau, die viel zu früh dahinging. Der Vater, ein kraftstrotzender Vierziger, blieb mit dem fünfzehnjährigen Martin allein. Zehn Jahre lang kannten sie nichts anderes als den Hof und die Arbeit. Sie hatten einen alten Knecht, eine Stallmagd und die Burgl, die im Haus werkte. Sie war schon der verstorbenen Bäuerin in der Küche zur Hand gegangen. Jetzt war sie über sechzig Jahre alt und von der Gicht und dem Rheuma zusammengeschrumpft. Als sie sich eines Tages niederlegen musste, wussten Vater und Sohn, dass sie nicht wieder aufstehen würde.
An ihre Stelle trat Eva Holzner, und damit begann das Unglück. Die Eva war ein bildsauberes Geschöpf, aber berechnend und schlau. Sie hatte die allererste Jugend schon hinter sich, und keiner war ihr gut genug gewesen. Eva kam aus kleinen Verhältnissen, daher wollte sie hoch hinaus. Der stolze Buchenhof gefiel ihr, wie ihr auch der stattliche Witwer gefiel, der schon einen heiratsfähigen Sohn hatte. Aber an dem war der Eva nichts gelegen. Sie hatte lange genug gewartet, jetzt wollte sie nicht mehr warten.
Leonhard Holzner, ihr Bruder, musste ihr nicht erst sagen, welche Vorteile der Buchenhof brachte. Sie hatte das allein in den vier Monaten herausgefunden, seit sie hier wirtschaftete. Sie kannte die Vorzüge und Schwächen des Bauern, und sie verstand es, diese Schwächen auszunützen.
Martin war wie vor den Kopf geschlagen, als ihm der Vater eröffnete, dass er wieder zu heiraten beabsichtigte, dass aber Martins Ansprüche dadurch nicht beeinträchtigt würden.
Der Sohn, bisher mit dem Vater im besten Einvernehmen lebend, versuchte nicht, ihn umzustimmen. Er sah ein, dass es dafür bereits zu spät war. Jetzt konnte er sich auch die häufigen Besuche Leonhards auf dem Buchenhof erklären. Er durchschaute das Spiel der Geschwister. Die Holzners, die ewig Geldsorgen hatten, konnten sich damit retten. Leonhard, der noch die Eltern ernähren musste, war ein Hansdampf in allen Gassen. Er handelte mit Vieh und mit Bauernhöfen, er spielte den Heiratsvermittler und betätigte sich als Holzaufkäufer, ohne dass er dabei zu Geld kam. Vielleicht saß er zu viel in den Wirtschaften herum, prahlte und log, verführte die Mädchen und spielte sich als Schwager des reichen Buchenhofers auf.
Martin erfuhr davon. Sein Grimm gegen Leonhard erhielt neue Nahrung. Schon einmal waren sie in der Öffentlichkeit aneinander geraten, und Martin hatte dem anderen damit gedroht, er würde ihm einen Denkzettel geben.
Das Leben auf dem Buchenhof ging seinen Gang weiter, aber es war nicht mehr dasselbe wie früher. Eva, jetzt die Herrin, hielt das Gesinde knapp und sparte am Essen. Für sie selbst war nichts zu kostbar und zu teuer. Butter- und Eiergeld waren schon ein paar Tage nach der Abrechnung ausgegeben. Martin argwöhnte, dass Eva ihrem Bruder Geld zusteckte; aber es war nicht seine Sache, hier einzuschreiten. Das musste der Vater tun.
Der alte Buchner jedoch, der sich bald selbst sagen musste, dass er eine Torheit begangen hatte, schwieg. Er versuchte zwischen Frau und Sohn zu vermitteln, doch hier war eine Kluft, die einfach nicht zu überbrücken war. Martin verachtete Eva. Er sah in ihr die Ursache alles Übels. Die Dienstboten wechselten jetzt häufig auf dem Hof. Mitunter blieb die Arbeit liegen, wenn zu wenige Kräfte zur Hand waren. Eva dünkte sich zu gut, Bauernarbeit zu verrichten. Zwischen ihr und Martin begannen die ersten Auseinandersetzungen, als sie mitten in der Ernte in die Stadt fuhr, obwohl jede Hand gebraucht wurde. Leonhard, der nun beinahe jeden Tag auf dem Buchenhof zu Gast war, hetzte seine Schwester auf. Und dann kam jener Unglücksabend, der Martins Leben auf eine furchtbare Weise ändern sollte.
Er war nach einem arbeitsreichen Tag nach Hause gekommen und fand lediglich eine Schüssel mit kalter Milch vor. Eva hatte es vorgezogen, zu einem Tratsch ins Dorf hinunterzugehen. Statt etwas Warmes und Kräftiges für die Leute zu kochen, hatte sie ihnen nur Brot und Milch hingestellt. Der Altknecht murrte, die Magd schlug sich ein paar Eier in die Pfanne, und der Buchenhofer hielt sich an dem Geräucherten schadlos. Martin ließ die Milch stehen. Er steckte sich nur ein Stück Brot in die Tasche, nahm sein Gewehr und ging in den nahen Wald, um sein aufgeregtes Gemüt zu beruhigen. Der Vater tat ihm leid. Er war mit dieser Heirat hereingefallen, das konnte ein Blinder sehen. Die Frau taugte nichts. Sie hatte sich zuerst verstellt, aber jetzt zeigte sie ihr wahres Gesicht.
Langsam kletterte Martin auf den Hochstand. Allmählich wurde er ruhig. Das Rauschen der Bäume, die Schatten, die sie warfen, das Bild des Waldes, das ihm von Jugend an vertraut war, ließen seine Erregung abklingen. Vögel lärmten in den Zweigen, der wilde Holunder duftete, und von den Almen herunter klangen die Glocken des weidenden Viehs. Martin freute sich darauf, das Wild zu beobachten, das abends hier vorüberwechselte. Auf einmal hörte er lautes Pfeifen. Er zog die Stirn in Falten und fluchte. Das fehlte ihm noch! Irgendein Nichtjäger, der das Wild vergrämte. Einer, der wie ein Elefant durch das Gebüsch stampfte.
»Halt’s Maul!«, rief Martin verärgert hinunter, als sich im Dickicht etwas bewegte.
Der Mann, der nun aus dem Schutz der Bäume heraustrat, hob den Kopf. Es war Leonhard Holzner. »Seit wann darf man im Wald nicht pfeifen?«, fragte er frech. »Er gehört dir schließlich noch nicht. Schon eher meiner Schwester, die deinen Vater geheiratet hat.«
Diese Worte brachten Martin zur Weißglut. Er stieg vom Hochstand herunter und ging auf den anderen zu.
»Ich rate dir, nimm deinen ungewaschenen Mund nicht zu voll! Was ich von dieser Heirat halte, das weißt du ja. Aber alles könnte besser bei uns stehen, wenn du nicht immer daherkämst, um deine Schwester aufzuhetzen.«
»Ich hetze sie nicht auf, ich gebe ihr nur Ratschläge«, erklärte Leonhard hämisch.
»Die kenne ich, deine Ratschläge. Solltest sie besser bei dir anwenden, dann würdest du nicht dauernd um Geld zu deiner Schwester kommen.«
»Geht es dich was an?«, höhnte der andere. »Ist es vielleicht dein Geld?«
»Im gewissen Sinne ja. Du weißt, dass ich der Hoferbe bin, trotz der Heirat und deiner Nachhilfe. Bei uns hat es bisher keine solchen Geschichten gegeben, wie sie bei euch üblich sind. Und deshalb rate ich dir, lass dich nicht mehr auf dem Buchenhof sehen, wenn dir daran gelegen ist, dass du gesund bleibst.« Martin hatte sich in Zorn geredet. Er stand breitbeinig da, das Gewehr im Anschlag. Die beiden Männer sahen sich wütend in die Augen.
»Das könnte dir so passen, mich wie einen Hasen abzuknallen!«, sagte Leonhard. »Nur weil ich dir nicht in deinen Kram passe, und weil du die Eva selber gerne...«
Er kam nicht zu Ende, denn Martin hatte eine jähe Bewegung gemacht und den Finger am Hahn losgelassen. Der Schuss ging über den Kopf Leonhards hinweg, der sich duckte.
»Noch ein Wort...!«, drohte Martin.
»Hast das Kügerl ja schon rausgelassen«, erwidert der andere. »Ich werde es mir merken, was für einer du bist. Könnt’ schon sein, dass sich mal die Gendarmerie für dich interessiert.«
»Ich habe keine Lust mehr, mir dein Gewäsch anzuhören«, antwortete Martin, der plötzlich alle Wut in sich verrauchen fühlte und nur noch Trauer im Herzen spürte. Trauer und Mitleid um den Vater, dem nicht zu helfen war. Er ging an Leonhard vorbei, ohne ihm einen Blick zu schenken, und schlug den Weg heimwärts ein.
Eine halbe Stunde später saß er in der Stube und zündete sich eine Pfeife an. Er hatte sie noch nicht ausgeraucht, als der Hauptwachtmeister mit seinem Motorrad dahergebraust kam. Ohne Gruß betrat er die Stube, in der außer Martin noch der Altknecht sich aufhielt.
»Buchner, Sie werden ja wissen, weshalb ich komme«, sagte der junge Gendarm forsch. »Liefern Sie Ihr Gewehr aus und kommen Sie mit mir! Ich muss Sie verhaften.«
Martin legte die Pfeife aus der Hand. »Mich verhaften? Warum denn?«
»Das werden Sie schon wissen. Machen Sie keine langen Geschichten!«
»Oho! So schnell geht das nicht. Zuerst will ich hören, was mir zur Last gelegt wird.«
»Stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind! Sie wissen es besser als ich.«
Martin stampfte mit dem Fuß auf.
»Jetzt wird es mir aber zu bunt. Heraus mit der Sprache!«
Der Gendarm sah ihn hintergründig an. »Mann, spielen Sie doch kein Theater! Sie haben den Holzner Leonhard im Wald angeschossen, und er kann von Glück sagen, dass er Ihrem Mordanschlag entgangen ist.«
»Was?! Ich soll - Das ist ja nicht möglich! Ich habe über seinen Kopf hinweggeschossen. Er war kerngesund, als ich ihn verließ.«
»Das können Sie hernach alles zu Protokoll geben. Jetzt muss ich Sie mitnehmen, verstanden?«
Der Altknecht war inzwischen in den Stall gegangen, um den Bauern zu holen, der ein lahmendes Roß betreute. Jetzt kam der Buchenhofer herein in die Stube.
»Was gibt es denn da?«, fragte er barsch.
Der Gendarm berichtete kurz. Leonhard Holzner war vor einer halben Stunde im nahen Mühltal - so hieß das Waldstück, das zum Buchenhof gehörte - angeschossen worden. Der Verletzte hatte Martin Buchner als Täter genannt. Der Schuss war in die Schulter gedrungen und hatte das Armgelenk verletzt. Man konnte es als Glück bezeichnen, dass Leonhard von seiner heimkehrenden Schwester rechtzeitig gefunden worden war. Während man ihn sofort in das nächste Krankenhaus brachte, machte sich einer der Gendarmen auf den Weg, um Martin zu verhaften.
»Das ist ausgeschlossen«, sagte der alte Buchner, nachdem er sich den Bericht angehört hatte. »Mein Sohn tut so etwas nicht.«
»Ihr Sohn gibt doch zu, über Holzners Kopf geschossen zu haben«, widersprach der Beamte.
Martin versuchte, dem Vater die Sache zu erklären, aber er wurde sofort vom Wachtmeister unterbrochen.
»Sie können alles, was Sie in dieser Sache vorzubringen haben, dem Untersuchungsrichter sagen«, ordnete er an. »Jetzt müssen Sie sofort mit mir kommen.«
Er ließ ihm keine Zeit, ein paar Sachen zu holen, sondern drängte Martin rasch hinaus. Franz Buchner, der Vater, blieb an der Seite seines Sohnes.
»Es muss sich alles als ein Irrtum herausstellen«, beruhigte ihn Martin. »Ich bin es nicht gewesen, Vater. Entweder hat sich der Leonhard geirrt, oder er wusste nicht mehr, was er in seinem Zustand sagte.«
Vater und Sohn nahmen stumm voneinander Abschied.
Martin musste auf dem Soziussitz Platz nehmen. In rasender Fahrt ging es nach Reichenhall zum Amtsgerichtsgefängnis, wo bereits der vernehmende Polizeioffizier wartete.
Martin, der noch immer nicht begriff, in welchen Strudel von Verwicklungen er da plötzlich hineingeraten war, beteuerte seine Unschuld. Er beteuerte sie auch später vor dem Untersuchungsrichter und bei Gericht. Aber seine Aussage stand gegen die des Verletzten, der eine Zeitlang in bedenklichem Zustand darniederlag. Der linke Arm musste amputiert werden.
Die Indizienbeweise sprachen gegen Martin. Es gab genug Zeugen, die gehört hatten, wie er Leonhard bedrohte. Die Aussage Evas gab schließlich den Ausschlag. Sie beschwor, dass Martin ihren Bruder auf Schritt und Tritt verfolgt hätte, und dass sie schon immer befürchtet hätte, es könnte einmal etwas Schlimmes zwischen den beiden geschehen. Schließlich wurde Martin die abgefeuerte Patrone aus seinem Gewehr zum Verhängnis. Mit derselben Patrone war Leonhard angeschossen worden.
Dass er angesichts dieser Beweise noch leugnete, brachte Martin um den letzten Rest Sympathie. Als der einarmige Leonhard als Kronzeuge gegen ihn auftrat und genau schilderte, wie der Angeklagte mit dem Gewehr auf ihn losgegangen war, wurde es mäuschenstill im Saal. Martin überlief es eiskalt. Er begriff, dass er verloren war, und dass alles, was immer er auch sagte, keinen Glauben finden würde. Sogar sein Vater, der bisher seine Unschuld verteidigt hatte, brach zusammen, als man den Sohn zu drei Jahren Gefängnis verurteilte. Dabei hatte man Martins bisherige Unbescholtenheit und einen gewissen Erregungszustand als strafmildernd berücksichtigt.
Martin hörte schweigend das Urteil an. Er beschwor seinen Verteidiger, gegen das Urteil Revision einzulegen, aber selbst der Anwalt gab ihm den Rat, die Strafe anzunehmen und es nicht auf das Äußerste ankommen zu lassen.
»Die Beweise sind gegen Sie, Herr Buchner«, sagte er beschwörend. »Sie sind noch gut weggekommen. Ich weiß nicht, ob eine Revision nicht eine Verschlechterung Ihrer Lage mit sich bringen würde.«
»Sie glauben mir also auch nicht?«, schrie Martin gequält auf. »Ich bin unschuldig! Bei Gott, ich bin unschuldig!«
Aber Richter und Gefängnisbeamte hatten diesen Satz schon zu oft gehört, als dass sie davon beeindruckt worden wären.
Martin Buchner nahm nur einen letzten, höhnischen Blick seines Feindes mit auf den Weg, als man ihn in das Gefängnis zurückbrachte.
Das alles erlebt Martin an diesem warmen Juni-Abend in der engen, kühlen Zelle. Er liegt auf der Pritsche und starrt durch das kleine Fensterviereck hinauf zu dem sternenübersäten Himmel. Wie oft hat er in diesen Monaten den Himmel angefleht und um ein Wunder gebeten! Aber in unserer Zeit geschehen keine Wunder mehr.
Er hat gehofft, dass sich sein Hass auf Leonhard Holzner mit der Zeit legen würde. Aber es ist nur noch schlimmer geworden. Er darf nicht an dieses feiste, gemeine Gesicht denken, das ihn um Heimat und Ehre gebracht hat. Er darf ihm nie begegnen, sonst geschieht wirklich ein Unglück! Oft hat er sich ausgemalt, wie er nach seiner Freilassung diesen Mann suchen will, um ihm heimzuzahlen, was er an ihm verbrochen hat. Aber er weiß, dass dann die Bewährungsfrist verwirkt ist. Er giert nach der Freiheit, und dieses Verlangen ist genauso stark wie der Hass, den er im Herzen trägt. Wer wird Sieger bleiben in diesem Kampf?
Die Nacht ist hereingebrochen. In dem großen Haus aus Zement und Eisen werden Geräusche laut. Die Wachen gehen durch die langen, hallenden Korridore. Hin und wieder läutet jemand nach dem Wärter, und das Gellen dieser Glocken schrillt durch das Haus, das trotz der dicken Mauern hellhörig ist.
Martin hat seine Uhr aufgezogen und schaut von Zeit zu Zeit auf das Leuchtziffernblatt. Die Uhr ist noch ein Geschenk seines Vaters, den er seit seinem Strafantritt nie mehr gesehen hat.
Er war sechsundzwanzig Jahre alt, als sie sich trennten. Jetzt ist er achtundzwanzig. Aber wieviel ist in diesen zwei Jahren geschehen, wieviel Erleben, wieviel Unglück ist in diese kurze Zeitspanne hineingepresst worden!
Martin schlingt die Arme um die hochgezogenen Knie und versinkt wieder in sein Grübeln, das ihm den Schlummer raubt.
Zweites Kapitel
Damals, an jenem Abend, hatte das Unglück für Martin seinen Anfang genommen und ihn nicht wieder losgelassen. Drei Monate war er in der Strafanstalt, da erreichte ihn die Nachricht, dass sein Vater beim Holzfällen im Wald tödlich verunglückt war.
Sie hatten ihm das Geschehen so spät mitgeteilt, dass er nicht mehr zur Beerdigung hätte kommen können, selbst wenn man ihn dafür beurlaubte. Natürlich hatten das Leonhard und seine Schwester veranlasst. Sie wollten keinen Zuchthäusler unter den Trauergästen.
Martin verlor mit dem Vater das einzige, das er noch besessen hatte. Er wusste nicht, wie es werden sollte, wenn er nach seiner Strafverbüßung den Hof übernehmen würde.
Aber dieser Sorge wurde er bald enthoben. Der Vater hatte ein neues Testament gemacht und den Sohn enterbt. Alles gehörte jetzt der Witwe, dieser jungen Frau, die sich so geschickt auf den Hof und in das Herz des Buchenhofers geschlichen hatte. Diese Nachricht schmetterte Martin vollends nieder. Er war außer sich. Sein Vater hatte ihn enterbt, obwohl er nie eine Andeutung davon gemacht hatte, dass sein erstes Testament ungültig sein sollte. Martin konnte nicht daran glauben, dass der Vater einer solchen Handlung fähig gewesen sein sollte. Aber was half das? Er musste den Verdacht, der ihn beschlich, auch beweisen. Bloße Beschuldigungen, dass hier ein übles Spiel gegen ihn getrieben worden wäre, reichten dafür nicht aus. Er ließ einen Anwalt kommen, diesmal einen anderen, und betraute ihn mit der Angelegenheit. Aber auch dieser kam nicht weiter. Es war wirklich ein zweites Testament vorhanden, in dem der alte Buchner seine Frau als Alleinerbin einsetzte. Dieses Testament war gültig und unanfechtbar.
Martin verstand die Welt nicht mehr. Sein Vater, auf den er fest vertraut hatte, jagte ihn von Haus und Hof! Das Anwesen, das seit Jahrhunderten in der Familie gewesen war, geriet nun in fremde Hände. Nie und nimmer hätte Martin das von seinem Vater angenommen. Das Weib musste ihn richtig verhext haben, sonst wäre das nicht möglich gewesen. Der Vater hatte trotz des Urteils zu seinem Sohn gestanden. Er hatte ihn noch einmal besucht, ehe Martin fortkam. Und dieser letzte Händedruck des alten Buchners war ehrlich und männlich gewesen. Kein Falsch lag darin.
Was war also in der Zwischenzeit geschehen? Martin konnte es nicht ergründen. Ihm waren die Hände gebunden. Er musste schweigend erdulden, was an Unglück über ihn hereinbrach. Dass sich die blonde Haslinger Loni mit dem Forstgehilfen verheiratete, berührte ihn kaum noch. Martin hatte die Loni gern gesehen, und er war ihr ebenfalls nicht gleichgültig gewesen. Sie waren miteinander zum Tanz gegangen und hatten sich unter dem Sternenhimmel geküsst. Vielleicht wäre die Loni einmal Bäuerin auf dem Buchenhof geworden, wenn alles seinen glatten Weg gegangen wäre. Aber welches Mädchen will schon einen Vorbestraften, auf den die Leute mit Fingern zeigen? Die Loni entschied sich für den anderen, und das war auch gut so. Diese letzte Enttäuschung ging dem Martin kaum mehr unter die Haut. Aber er wird in Zukunft keiner Frau mehr Glauben schenken.
Martin hörte in der Zeit seiner Gefangenschaft nur selten eine Nachricht aus seiner Heimat. Hin und wieder ließ ihm der alte Zeisering, sein Firmpate, eine Botschaft zukommen.
»Die Eva hat den Hof verpachtet und ist weggezogen. Man sagt, sie ist in München. Auch der Leonhard lässt sich nicht mehr sehen...«
Den Hof verpachtet! Es lief Martin eiskalt über den Rücken, als er den Brief las. So weit war es also mit dem Buchenhof gekommen. Jetzt hatten sie ihn in den Händen, aber sie konnten ihn nicht halten. Fremde Leute wirtschafteten darauf, und die Heimat war für immer verloren.
Der Martin wurde noch stiller und in sich gekehrter.
Er wusste nicht, wie er diese Zeit überstand. Sein Anwalt machte Gnadengesuche für ihn, die er gleichgültig unterschrieb. Was konnte ihm noch das Leben bieten? Er war von heute auf morgen arm geworden. Er konnte nur noch als Taglöhner oder Bauernknecht in Dienst gehen, aber er würde nie mehr ein freier Herr sein, wie er es auf dem Buchenhof gewesen wäre.
Da starb der achtundsechzigjährige Onkel Johann, der Kleinbauer in Höhenberg. Johann Fischer war ein eingefleischter Junggeselle, der zeit seines Lebens nur mit Aushilfskräften sein Anwesen bewirtschaftete. Martin wusste nicht, ob der Onkel eine Ahnung von seinem jetzigen Aufenthalt hatte, ja, er war nicht einmal sicher, dass er überhaupt von seinem Fall erfahren hatte.
Der Onkel hatte sein Testament schon vor Jahren gemacht und nichts mehr daran geändert. Sein einziger Erbe sollte der Sohn seiner jüngsten Schwester sein, Martin Buchner.
Die Nachricht hatte wie ein Blitz in den jungen Mann eingeschlagen. Er war so vernichtet, so ge- demütigt gewesen, dass ihm dieses bescheidene Erbe jetzt wie das große Los dünkte, das er plötzlich gewonnen hatte. Freilich war mit dem Erlenhäusel kein Staat zu machen, und wahrscheinlich war das Anwesen in der Zwischenzeit noch
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Elisabeth Winterhalder/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx/123rf.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 18.12.2021
ISBN: 978-3-7554-0314-2
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