BILL KNOX
Der Geschmack
des Beweises
Roman
Apex Crime, Band 273
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DER GESCHMACK DES BEWEISES
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Das Buch
Jede Ware braucht Reklame. Ob man aber mit Mord für einen guten schottischen Whisky werben kann?
Inspektor Colin Thane von der Kriminalpolizei in Glasgow sieht die Sache anders. Er hat allerdings nichts gegen Whisky, aber durchaus etwas gegen Mörder...
Der Roman Der Geschmack des Beweises von Bill Knox (* 1928 in Glasgow; † März 1979) erschien erstmals im Jahr 1965; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr (unter dem Titel Whisky floss in Strömen).
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
DER GESCHMACK DES BEWEISES
Erstes Kapitel
Im Flügel C des Gefängnisses von Barlinnie waren die Untersuchungsgefangenen untergebracht. Das Sprechzimmer befand sich im Erdgeschoss - ein kleiner, nackter Raum, in dem der scharfe Duft des Desinfektionsmittels gegen den schalen Geruch langer Jahre ankämpfte.
Inspektor Colin Thane, der Chef der Kriminalaußenstelle Glasgow-Millside, stand am Fenster und beobachtete einige Gefangene, die langsam über den Hof trotteten. Als der Trupp um die Ecke verschwand, blickte Thane auf die Uhr. Er war in das alte, graue, festungsartige Gebäude am Rande von Glasgow gekommen, um mit zwei Gefangenen zu sprechen.
Der erste war gerade in seine Zelle zurückgebracht worden. Als Geschäftsführer eines Filialbetriebs hatte er ein flottes Leben geführt - zu Lasten des Spesenkontos. Nun war er wegen Betrugs und Unterschlagung angeklagt. Er saß erst eine Woche in Untersuchungshaft, doch er wirkte gebrochen und um Jahre gealtert. Thane hätte ihn fast nicht wiedererkannt.
Der Inspektor verspürte ein leichtes Mitleid mit ihm, doch der nächste Fall lag völlig anders. Frank Humbie war bereits fünfmal vorbestraft und ertrug den Gefängnisbetrieb mit der Gelassenheit eines Urlaubers in einem überfüllten Feriencamp.
Am Morgen hatte die Vorführung beim Ermittlungsrichter nur eine Minute gedauert. Humbie wurde beschuldigt, am 4. Juni gemeinsam mit einer oder mehreren Personen in die Räumlichkeiten der Glen Ault Whiskylikör Company, 392 Wood Street, Millside, eingedrungen zu sein, den dort befindlichen Geldschrank mit Gewalt geöffnet und 3.000 Pfund daraus entnommen zu haben.
Die Polizei hatte eindeutige Beweise seiner Schuld in Händen, aber Thane musste trotzdem mit dem Mann sprechen.
Die Tür öffnete sich, der Inspektor drehte sich um.
»Humbie, Sir.« Der Constable trat zur Seite, um den Mann im rotbraunen Kordanzug der Untersuchungsgefangenen vorbeizulassen.
»Ich rufe Sie, wenn ich fertig bin«, sagte Thane. Er wartete, bis der Constable gegangen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, dann nickte er Humbie zu. »Setzen Sie sich, Frank.«
Der Mann nahm am Tisch Platz. Thane bot ihm eine Zigarette an, Humbie zündete sie mit den eigenen Streichhölzern an.
»Danke.« Er lehnte sich zurück. »Schon einige Jahre her, seit wir uns zuletzt gesehen haben, Mr. Thane.«
»Fast vier Jahre«, pflichtete der Inspektor bei. Damals hatte Humbie achtzehn Monate für räuberischen Diebstahl erhalten. »Ich hatte geglaubt, Sie wären zur Vernunft gekommen.«
»Ich?« Humbie war klein und untersetzt. Er war sechsundvierzig, hatte schütteres blondes Haar, breite, derbe Hände. Wenn er lächelte, nahm das vierschrötige Gesicht mit den kleinen Augen einen zynischen Ausdruck an. »Ich habe doch bis jetzt überhaupt noch nichts gestanden.«
Thane seufzte, nahm sich eine Zigarette. Schweigend stand er da, und sein Gesicht zuckte ungeduldig. Er wollte hier fertig werden, um an dem Essen der Golfmannschaft des Polizeiamts Millside teilzunehmen. Im Anschluss daran fand das halbjährliche Spiel gegen die Mannschaft des Präsidiums statt. Und nun schien Humbie sich auf die Hinterbeine stellen zu wollen!
»Na schön.« Thane zog sich einen Stuhl heran, setzte sich dem Gefangenen gegenüber an den Tisch. »Frank, Sie werden langsam leichtsinnig. Bei Ihren Vorstrafen ist es eine geradezu polizeiwidrige Dummheit, bei der eigenen Firma einzubrechen.«
Der Fall lag verhältnismäßig einfach. An diesem Donnerstagmorgen war der Revierbeamte bei sanftem Nieselregen durch die Wood Street patrouilliert. Dabei war ihm ein Wagen begegnet, in dem zwei Männer gesessen hatten. Da nach Mitternacht in dieser Gegend nur höchst selten Autos verkehrten, hatte sich der Constable die Zulassungsnummer notiert. Wenige Minuten später hatte er das offene Fenster im ersten Stock des Bürohauses der Glen Ault Company entdeckt. Der Nachtwächter des danebenliegenden Lagerhauses hatte nichts Verdächtiges bemerkt. Der Constable hatte trotzdem mit dem Polizeiamt Millside telefoniert und auf diese Weise erfahren, dass der Wagen, den er gesehen hatte, als gestohlen vorgemerkt war. Alles Weitere verlief dann routinemäßig.
Die Beamten der Kriminalbereitschaft, die sich daraufhin das Bürogebäude näher angesehen hatten, stellten fest, dass die Rückwand des Geldschranks aufgeschlitzt worden war. Die Männer des Erkennungsdienstes, die kurz danach eintrafen, waren nicht sonderlich überrascht, als die Werkzeugspuren am Holzrahmen des gewaltsam geöffneten Fensters nicht mit denen auf dem Sims übereinstimmten. In die dünne Rückwand des altmodischen Safes hatte man ein Loch gebohrt, das Loch dann mit einem Brecheisen erweitert. Wie erwartet, waren am Geldschrank keine Fingerspuren gefunden worden. Trotzdem suchten die Beamten weiter, denn viele Verbrecher ließen die Vorsicht außer Acht, sobald sie mit der eigentlichen Arbeit fertig waren.
Neben dem Geldschrank hatte man im Direktionsbüro auch noch ein Schränkchen aufgebrochen, das Flaschen und Gläser enthielt. Eine geöffnete, teilweise geleerte Whiskyflasche stand daneben auf dem Fußboden. Die Flasche war abgewischt worden, doch der Flaschenverschluss, den man im Papierkorb fand, enthielt deutliche Fingerabdrücke. Man brauchte im Präsidium nicht lange zu suchen, dann hatte man herausgefunden, dass sie von Frank Humbie stammten.
Der gestohlene Wagen war inzwischen im Norden der Stadt entdeckt worden. Steuerrad und Armaturenbrett waren sauber abgewischt. Ebenso die aufgebrochene Geldkassette, die auf dem Vordersitz lag. Aber in der Polsterung des Sitzes fand man ein Taschenmesser mit abgebrochener Klinge, und die Spuren an der Kassette verrieten eindeutig, dass sie mit diesem Messer geöffnet worden war. Der Griff bestand aus schwarzem Horn, in einem silbernen Beschlag war das Monogramm D. D. eingraviert.
»Douglas Dalziel«, sagte Thane nachdenklich. »Sie kennen ihn, nicht wahr?«
»Dougie, den Angestellten aus dem Büro?« Frank Humbie nickte zurückhaltend. »Er wohnt ganz in meiner Nähe. Warum?«
»Er ist heute Morgen nicht zur Arbeit erschienen, und er ist in der vergangenen Nacht auch nicht zu Hause gewesen.« Thanes Finger trommelten ungeduldig auf den Tisch. »Frank, wir wollen keine unnötige Zeit vergeuden. Sie arbeiten als Lastwagenfahrer bei Glen Ault. Gestern Abend kamen Sie zwei Stunden zu spät von Ihrer Tour zurück - so spät, dass nur noch der Nachtwächter anwesend war, der Sie in den Hof ließ, wo die Wagen abgestellt werden.«
»Ich hatte eine Panne«, brummte Humbie. »Kann ich etwas dafür, wenn sich der Kolben der Treibstoffpumpe festfrisst?«
»Ach nein?«, fuhr Thane ihn an. »Der gesamte Motor ist mit einer dicken Dreckschicht bedeckt, also seit Wochen nicht mehr angerührt worden. Nein, Sie hatten jemanden im Wagen versteckt, als Sie gestern Abend auf das Firmengelände fuhren - jemanden, der einen Schlüssel besaß, mit dem er durch die Hintertür ins Büro gelangen konnte. Als es dunkel war, half er Ihnen durch das geöffnete Fenster herein.«
Frank Humbie grinste unverschämt. »Klingt direkt überzeugend. Das Dumme ist nur, dass meine Frau beschwören kann, dass ich bereits vor elf zu Hause war.«
»Das tut sie immer«, erwiderte Thane ungerührt. »Nein, Ihre Verurteilung bereitet mir keinen Kummer - die Fingerabdrücke genügen als Beweis vollkommen. Ich will Dalziel, und ich möchte das Geld zurück, und zwar möglichst schnell!«
»Und dazu soll ich Ihnen Glück wünschen?«, meinte Humbie gedehnt.
»Immer der alte Spaßvogel, wie?« Thane zuckte die Achseln. »In der vergangenen Nacht haben Sie jedenfalls Pfuscharbeit geleistet. Aber Sie haben dreitausend Pfund aus dem Safe geholt, und ich mag es gar nicht, wenn man in meinem Bezirk solche Dinger dreht.« Er fuhr sich mit dem Daumen über das Kinn. »Meine Leute haben in Ihrer Wohnung lediglich das Haushaltgeld gefunden. Das bedeutet, dass die Moneten entweder gut versteckt sind, oder dass sie Dalziel hat.«
»Fragen Sie doch Dalziel!« Humbie starrte auf die weißgetünchte Wand.
»Das habe ich auch vor.« Thane lächelte sarkastisch und warf seinen Köder aus. »Schade, dass Dalziel verschwunden ist, wie?« Er runzelte spöttisch die Stirn. »Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, Frank. Es war ja keine schlechte Idee, dass er das Geld aufbewahren sollte. Er ist nicht vorbestraft, der Verdacht würde also nicht sofort auf ihn fallen - besonders, wenn Ihr Trick mit dem Fenster geklappt hätte. Wahrscheinlich entschloss er sich zur Flucht, als er entdeckte, dass er sein Taschenmesser im Wagen hatte liegenlassen.« Thane schüttelte den Kopf. »Seine Flucht war gewiss nicht geplant. Pech für Sie, Frank. Er besitzt nun dreitausend Pfund Bargeld - während Sie für mindestens drei Jahre hinter Gittern verschwinden.«
»Wenn ich Ihnen jetzt helfe, ihn zu finden, wäre das natürlich etwas anderes?« Humbie verzog sein vierschrötiges Gesicht. »Dieses Risiko nehme ich auf mich. Ich habe nichts zu sagen.« Er schob den Stuhl zurück und stand auf, drückte die halbgerauchte Zigarette aus und steckte sie in die Tasche. »Fertig?«
»Für den Augenblick schon.«
Frank Humbie hämmerte gegen die Tür. Der Constable öffnete, Humbie salutierte spöttisch und verschwand.
Sergeant Philip Moss, Thanes Assistent, hatte einen schweren Tag, aber er war es gewohnt, den Blitzableiter für die schlechte Laune anderer zu spielen. Der Magen knurrte ihm, als er von seinem Schreibtisch aufblickte.
»Frank befindet sich auf Grund eines richterlichen Befehls in Untersuchungshaft, Mrs. Humbie. Selbst wenn ich wollte, könnte ich daran nichts ändern.«
»Wo ist Ihr Chef, Mr. Thane?« Jean Humbie war eine schlanke, streitlustige, rothaarige Enddreißigerin. Sie saß steif auf dem Besucherstuhl, umklammerte die Handtasche auf ihrem Schoß. Das saubere, aber altmodische blaue Kostüm war ihr bestes Stück. Das kesse weiße Hütchen hatte sie in der vergangenen Woche beim Sommerschlussverkauf erstanden. Sie war wütend, und sie gab sich keine Mühe, es zu verbergen.
»Inspektor Thane ist nicht da.« Moss musterte sie verstohlen, und die Kriminalbeamten am anderen Ende des Raums grinsten schadenfroh. »Er könnte Ihnen auch nichts anderes sagen. Leider haben wir Beweise für die Schuld Ihres Mannes, und nun muss das Ge-, rieht entscheiden.«
»Beweise!« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Frank hat sich seit Jahren nichts zuschulden kommen lassen. Er hat mir versprochen, keine Dummheiten mehr zu machen. Ich habe ihm klipp und klar gesagt, dass sonst Schluss ist mit uns. Ich könnte es nicht mehr ertragen. Und er hat sich danach gerichtet - regelmäßige Arbeit und regelmäßiger Lohn. Seit einem reichlichen Jahr ist er jetzt bei Glen Ault.«
»Und davor?«
»Na ja, am Anfang war es nicht so einfach für einen Mann wie Frank. Meist nur Gelegenheitsarbeit. In seinem Alter findet man nicht mehr so leicht eine feste Anstellung.« Sie biss auf die Unterlippe. »Hören Sie: Sie behaupten, dass dieser Wagen heute Morgen gegen eins vom Büro von Glen Ault weggefahren ist, oder?«
»Um diese Zeit wurde er von dem Revierbeamten gesehen.«
Sie warf den Kopf zurück. »Frank war aber schon eine halbe Stunde früher zu Hause. Das kann ich beschwören.«
»Er war also um halb eins zu Hause?« Moss lächelte nachsichtig. »Als Sergeant MacLeod Ihren Mann heute Morgen festnahm, behauptete Frank, bereits seit elf Uhr gestern Abend zu Hause gewesen zu sein. Also, sagen Sie lieber die Wahrheit, Mrs. Humbie.«
Sie errötete. »Hm - ich habe gelogen. Ich dachte, Frank hätte tatsächlich etwas ausgefressen. Schließlich bin ich seine Frau, und da...«
»Und eine Frau versucht natürlich, ihren Mann in Schutz zu nehmen«, beendete Moos den Satz.
»Na, würde Ihre Frau das vielleicht nicht tun?«
Moss schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht verheiratet.«
»Ach so.« Sie schien diese Tatsache durchaus nicht überraschend zu finden. »Aber es ist die reine Wahrheit: Frank kam um halb eins nach Hause - eine halbe Stunde, bevor das Auto in der Wood Street gesehen wurde. Dann kann er es doch nicht gewesen sein!«
Moss nahm einen Bleistift und kritzelte gedankenverloren auf dem Notizblock herum. »Hat ihn noch jemand gesehen? Jemand, der Ihre Angaben bestätigen kann?«
Zögernd schüttelte sie den Kopf.
»Wir wissen, dass Frank erst gegen acht Uhr von seiner Tour zurückkam. Ist er danach zum Essen nach Hause gekommen?«
»Nein. Mittwochs geht er immer gleich nach Newton zum Hunderennen.«
»Die Rennbahn in Newton schließt aber um zehn«, gab Moss zu bedenken.
»Lassen Sie mich doch ausreden!«, fuhr sie den Sergeant an. »Schrecklich, dass einen heutzutage niemand zu Ende reden lassen will. Als Frank nach Hause kam, erzählte er mir, dass er zwei Pfund gewonnen hätte. Anschließend hat er dann noch einen Bekannten getroffen, mit dem er ein paar gehoben hat, und weil er das Geld gewonnen hatte, trank er natürlich ein paar Glas über den Durst.« Jean Humbie lächelte schief. »Frank weiß genau, dass er mir so nicht unter die Augen treten darf, deshalb legte er den größten Teil des Weges zu Fuß zurück, um nüchtern zu werden.«
»Hat er Ihnen gesagt, wen er getroffen hat?«
Sie nickte. »Ja, einen gewissen Dalziel. Er arbeitet im Büro von Glen Ault.«
Moss räusperte sich. »Wir haben bereits von ihm gehört, Mrs. Humbie.«
»Dann werden Sie ihn nach Frank fragen?«
»Wir suchen Dalziel schon.« Moss legte den Bleistift weg. »Seit gestern Abend hat ihn niemand mehr gesehen. Leider.«
»Verstehe.« Die Frau wurde blass, und ihre Hände umklammerten die Handtasche noch fester. »Vielleicht war es ja dieser Dalziel und ein Unbekannter, und diese beiden haben alles so arrangiert, dass es aussieht, als wäre Frank es gewesen?« Sie musterte den Sergeant ängstlich. »Aber mein Frank ist eben vorbestraft...«
»Das ist nicht ausschlaggebend.«
»Ach nein!«, fuhr sie auf. »Frank war es nicht. Dafür werde ich Ihnen den Beweis bringen.«
»Wie denn?« Moss hob beschwörend die Hände. »Mrs. Humbie, Sie kennen ja die Tatsachen nicht...«
»Aber ich kenne Frank.« Sie stand auf, und ihre Augen blitzten hasserfüllt. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und rauschte aus dem Büro.
Phil Moss blickte ihr nach. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, hörte er vom anderen Ende des Raums unterdrücktes Lachen, und er fuhr herum.
»Was ist los? Habt ihr nichts zu tun?«
»Äh...« Der eine Beamte schluckte schwer.
»Dann kümmert euch gefälligst um eure Arbeit!« Eine steile Falte erschien auf seiner Stirn, dann öffnete er das oberste Schreibtischfach und rumorte in den Pillenschachteln herum. Schließlich wählte er eine weiße, rautenförmige Tablette.
Der letzte Rest der nach Pfefferminz schmeckenden Tablette aus Aluminiumglycinat zerging gerade im Mund des Sergeant, als die Tür schwungvoll geöffnet wurde. Moss blickte auf, und sein Gesicht hellte sich etwas auf.
»Da sind Sie ja rechtzeitig fertig geworden, Colin.«
»Wenn ich Glück habe, komme ich gerade noch zum Spiel zurecht.« Thane nickte den beiden anderen Beamten zu, dann musterte er Moss stirnrunzelnd und grinste. »Kommen Sie mit, Phil. Und dann erzählen Sie mir, wo Sie der Schuh drückt.«
Der Inspektor ging in sein Zimmer voran - ein bescheiden möblierter Raum, von dem aus man auf die alten Wohnhäuser von Millside und die in den Himmel ragenden Kran-Arme des Hafens blickte.
»Schließen Sie die Tür, Phil.« Thane stülpte seinen Hut auf den Garderobenständer und trat in die kleine Kammer, die neben dem Waschbecken auch noch ein Feldbett enthielt. »Während ich mich umziehe, können Sie mir berichten.«
Wasser plätscherte in das Waschbecken, und Moss schloss die Tür.
»Was haben Sie in Barlinnie erreicht?«, fragte er.
»Ich bin zufrieden.« Thane hatte Jackett und Krawatte abgelegt, rollte die Hemdsärmel auf. »Kinhorn sagt, Sie hätten recht. Die restlichen Schecks aus dem letzten Heft hat er nicht mehr verwendet. Er hat sie verbrannt.«
»Fein.« Moss blickte aus dem Fenster. »Und was ist mit Humbie?«
»Unser alter Freund Frank?« Thanes Stimme klang amüsiert. »Manchmal wünschte ich, wir könnten es wie beim Militär machen und einen Mann einsperren, wenn er aus Trotz schweigt. Frank rückt nicht mit der Sprache heraus. Ich habe angedeutet, dass Dalziel mit der Beute geflohen ist, und das schien ihm nicht sehr zu gefallen.« Der Inspektor plantschte im Wasser. »Fassen wir ihn noch zwei Tage in Untersuchungshaft schmoren, dann wird er seinen Mund schon auf machen.«
»Mrs. Humbie war hier.«
»Oh!« Das Plätschern hörte kurz auf. »Was hatte sie denn zu sagen?«
»Eine Menge.« Moss berichtete über die Unterredung.
»Was halten Sie davon?«, fragte Thane, während das Wasser in den Abfluss gurgelte.
»Das Übliche. Sie versucht natürlich, ihren Mann vor dem Gefängnis zu bewahren.«
»Nicht doch - ich meine, dass Humbie erwähnt hat, er sei mit Dalziel zusammen gewesen.«
»Gott, damit wollte sie doch nur das Alibi ihres Mannes glaubwürdiger machen.« Moss lachte kurz auf. »Sehr plump, aber wir sollen eben glauben, dass der Einbruch von Außenstehenden verübt wurde. Das beweisen ja auch die vorgetäuschten Spuren am Fenster.«
»Möglich. Frank Humbie war noch nie sehr helle. Hat eigentlich bei Glen Ault jemand die Whiskyflasche identifiziert?«
»Flasche und Verschluss«, erwiderte Moss. »Anscheinend hatte der Direktor festgestellt, dass sich jemand an seinen Flaschen vergriff. Er markierte deshalb den jeweiligen Stand mit einem Strich auf dem Etikett. Außerdem hatte er sein Monogramm in den Verschluss gekratzt.«
»Und was ist mit dem Nachtwächter, Phil?«
»Den haben wir als ersten überprüft. Ein harmloser, ehrlicher alter Mann. Ist schon glücklich, wenn er etwas Geld für Bier und Tabak hat.«
»So, das wär’s.« Colin Thane trat wieder ins Büro. Statt des grauen Straßenanzugs trug er jetzt ein dickes kariertes Hemd zu einer hellbraunen Hose. Er schlüpfte in das braune Tweedjackett und klopfte die Taschen ab. »Haben Sie eine Zigarette?«
»Ja.« Moss brachte eine zerknitterte Packung zum Vorschein, zündete sich ebenfalls eine Zigarette an. »Aber noch haben wir Dalziel nicht.«
»Dalziel - und das Geld.«
Die beiden befreundeten Beamten bildeten ein ungleiches Paar. Thane war jünger als sein Assistent, besaß eine Frau und zwei Kinder und bewohnte am Stadtrand ein Einfamilienhaus. Er war Anfang Vierzig, reichlich einen Meter achtzig groß und kräftig gebaut. Das zerfurchte Gesicht unter dem dichten schwarzen Haar verriet meist gute Laune. Er hatte zwar ein paar Pfund Übergewicht, bewegte sich aber mit der Geschmeidigkeit eines ehemaligen Sportlers. Moss hingegen sah eher wie ein kleiner Angestellter aus. Er wies knapp die für Polizeibeamte vorgeschriebene Mindestgröße auf, war schlank und hatte ein schmales Gesicht. Sein genaues Alter hütete er wie ein strenges Geheimnis. Nur die Personalakte hätte Auskunft geben können, aber er musste bereits Mitte Fünfzig sein. Seine Laune hing ganz davon ab, wie er sich gerade fühlte, und sein Magengeschwür, das er hegte und pflegte und auf keinen Fall operieren lassen wollte, war stadtbekannt.
»Ich habe mal eine Flasche Glen-Ault-Likör zu Weihnachten bekommen«, erinnerte sich Thane. »Mary schmeckte dieses Zeug. Die meisten Liköre sind ihr zu süß, aber der Glen Ault ist herber. Dafür aber auch reichlich teuer.«
»Ich habe das Zeug auch probiert«, brummte Moss. »Hätte mir fast ein Loch in den Magen gebrannt.«
Thane nickte voller Mitgefühl. Manchmal ging ihm Phil Moss mit seinem schütteren blonden Haar, mit den ausgebeulten Anzügen und zerknitterten Kragen ziemlich auf die Nerven. Andererseits nahm ihm Moss all die zermürbende Kleinarbeit ab und stand auch bei einer Straßenschlacht seinen Mann.
Thane hingegen war ein Draufgänger, verließ sich oft auf seine Intuition. Er sah durchaus die Notwendigkeit von Dienstvorschriften ein, er nahm auch weitgehend die Hilfe der Kriminaltechniker in Anspruch, aber wenn es die Umstände erforderten, dann handelte er, ohne an die Folgen zu denken.
Nun, der Einbruch bei Glen Ault unterschied sich kaum von tausend anderen Einbrüchen. Thane trat an den Aktenschrank, zog das unterste Schubfach auf und nahm die Schachtel mit dem halben Dutzend Golfbällen heraus, die er sich am Morgen besorgt hatte.
»Was wissen wir eigentlich bis jetzt über Dalziel, Phil?«
Moss blies eine Rauchfahne ins Zimmer. »Er ist sechsundzwanzig Jahre alt und arbeitet seit sechs Monaten bei Glenn Ault als Fakturist. Dalziel wohnt in der Shannon Street bei einer Familie zur Untermiete - das ist die neue Siedlung drüben in Fortrose.«
Thane nickte. Fortrose war die neue, von der Stadt errichtete Wohnsiedlung. Sie hatte die Einwohnerzahl im Bereich des Polizeiamts Millside um weitere zehntausend anwachsen lassen, und wenn das Bauvorhaben endlich abgeschlossen sein würde, dürften abermals zehntausend Bürger hinzukommen.
»Wie steht es mit den persönlichen Verhältnissen?«, fragte der Inspektor.
»Seine Familie wohnt in der Gegend von Aberdeen. Ich habe die Grafschaftspolizei bereits per Fernschreiber verständigt, damit man aufpasst, ob er dort auftaucht. Der zuständige Constable sagt, dass Dalziel es als Halbwüchsiger ziemlich wild getrieben hat, später aber keinen Grund zur Klage gab. Seine Angehörigen sind ehrliche Leute. Soll ich noch mehr in Erfahrung bringen?«
»Das eilt nicht.« Schließlich war das Fahndungsersuchen bereits an alle Polizeidienststellen durchgegeben worden. »Aber ein Foto könnten wir gebrauchen.«
»Wir haben bereits eins«, antwortete Moss. »Ich habe am Nachmittag einen Beamten losgeschickt. Dalziel hat sich ein paarmal mit einem Mädchen aus dem Büro getroffen, sie hat uns ein Foto überlassen. Es ist zwar nur ein Schnappschuss, aber im Labor frisiert man das Bild noch etwas.«
»Gut.« Thane blickte auf die Uhr. »Besser, ich mache mich jetzt auf den Weg. Wollen Sie nicht doch noch mitkommen?«
»Ich soll meilenweit im Gras herumstapfen und zusehen, wie Männer, die angeblich erwachsen sein wollen, mit einem Schläger auf einen winzigen Ball losdreschen?« Der Sergeant fand diese Idee geradezu lächerlich. »Dafür fehlt mir jegliches Verständnis. Übrigens - ich habe mal von einem Mann gehört, der am letzten Grün tot zusammenbrach. Die Anstrengung war zu groß gewesen.«
»Wahrscheinlich war es ihm nicht gelungen, den Fall zu putten.« Thane verspürte große Lust, die Geschichte von dem Golfspieler zu erzählen, der mitten im Schlag einhielt und die Mütze zog, weil gerade der Leichenwagen mit dem Sarg seiner Frau vorüberfuhr - doch für solche Scherze war Phil Moss nicht zu haben.
Jede Seite stellte acht Spieler, die jeweiligen Gegner wurden ausgelost. Das Golfmatch zwischen dem Präsidium und dem Polizeiamt Millside wurde stets mit größter Vehemenz ausgetragen. Die Beamten aus Millside wollten den Schreibtischhockern vom Präsidium zeigen, was eine Harke ist, während die Beamten aus dem Präsidium ihren Kollegen vom Polizeiamt beweisen wollten, dass Intelligenz über rohe Muskelkraft triumphierte.
Man wählte den Highrigg-Kurs, und beide Parteien wurden durch einige Zuschauer lautstark unterstützt. Thane hatte doppeltes Pech: er musste als letzter vom Tee abschlagen und außerdem gegen einen zwanzigjährigen Polizeianwärter spielen, der beiläufig erwähnte, vor zwei Jahren bei der Meisterschaft von Westschottland ins Semifinale gelangt zu sein.
Bei der Wende war Thane mit drei Löchern im Rückstand. Er hatte einen seiner neuen Bälle verloren, seine Laune war auf dem Nullpunkt angelangt, und er verfluchte die raffiniert angelegten Sandbunker. Dass ihn sein Gegenspieler mit Sir titulierte und mit größtem Respekt behandelte, besserte seine Stimmung ebenfalls nicht. Beim vierzehnten Grün trieb er den Ball durch einen Hook nach links in ein Gehölz und durfte auch ihn abbuchen. Zum Schluss musste er sich geschlagen bekennen. Und doch verspürte er eine gewisse Erleichterung, weil nun alles vorüber war, als er zum Clubhaus ging, wo die Mannschaft des Präsidiums bereits mit der Siegesfeier begonnen hatte.
»Haushoch verloren!«, brummte Inspektor Campbell, der statt seiner Uniform alte Knickerbocker trug, und blickte Thane finster entgegen. »Henderson und Wilson haben gewonnen, Barland hat unentschieden gespielt. Alle übrigen...« Er zuckte resigniert die Schultern. »Was möchten Sie trinken, Colin?«
Thane betrachtete den Flaschenvorrat in den Regalen. Da er großen Durst verspürte, entschied er sich für ein Glas Lagerbier. Drüben bei der Tür präsidierte die massige, rotgesichtige Gestalt von Kriminaldirektor William Buddha Ilford, der Chef der Glasgower Kriminalpolizei, bei der Siegesfeier seiner Leute. Immer lauter ging es zu, immer dichter wurde der Tabaksqualm. Thane nickte mit süßsaurem Gesicht Ilford zu, dann nahm er sein Glas in die Hand und unterhielt sich mit Campbell - einem ruhigen Mann, der das Aufstellen von Statistiken wie einen mystischen Kult betrieb.
Thane hatte sich gerade entschlossen, nach Hause zu fahren, als er seinen Namen hörte. Der weißbejackte Barkeeper kam auf ihn zu.
»Da ist ein Sergeant Moss am Telefon, Sir - er sagt, es sei sehr dringend.«
Thane trank sein Glas aus, folgte dem Mann hinter die Bartheke und spürte, wie sich alle Blicke auf ihn richteten. Die laute Unterhaltung erstarb, als er den Hörer in die Hand nahm.
»Ja, Phil?«
Moss’ Stimme klang ernst. »Böse Nachricht, Colin. Am besten kommen Sie sofort.«
»Wo sind Sie?« Thane wandte den Kopf zur Seite, Buddha Ilford stand neben ihm und zog fragend eine Braue hoch.
»Ich bin in der Wohnung von Frank Humbie«, antwortete Moss. »Seine Frau ist tot. Ein Verwandter fand sie vor einer knappen halben Stunde. Ich bin gerade hier eingetroffen.«
»Tot? Was ist passiert?« Thane merkte, wie ringsum tiefe Stille eintrat. Er löste den Hörer etwas vom Ohr, damit Kriminaldirektor Ilford mithören konnte.
»Schwer zu sagen. Anscheinend ist sie erstickt. Die ganze Wohnung ist auf den Kopf gestellt worden. Den Erkennungsdienst habe ich bereits verständigt, und Doktor Williams muss auch jeden Augenblick eintreffen. Die Adresse ist 160 Gradient Terrace. Haben Sie Ihren Wagen dabei?«
»Ja. Einen Moment.« Er nahm den Bleistift, den Ilford ihm reichte, und notierte sich die Adresse auf einen Bierdeckel. »In Ordnung, Phil. Ich bin in ungefähr fünfzehn Minuten bei Ihnen. Halten Sie so lange die Stellung.« Er legte den Hörer auf und wandte sich mit grimmigem Gesicht an Ilford. »Jean Humbie, Sir. Die Frau von Frank, den wir heute Morgen wegen des Geldschrankeinbruchs verhaftet haben.«
»Nach seinem Komplicen haben Sie die Fahndung bereits eingeleitet. Wie hieß er gleich - Dalziel, nicht wahr?« Buddha Ilford runzelte die Stirn - in seinem Gedächtnis wühlte er die Berichte durch, die er im Laufe des Tages erhalten hatte. »Und das Geld haben Sie auch noch nicht gefunden.«
Thane nickte.
»Hm.« Ilford wandte sich an die Anwesenden. »Unser geselliges Beisammensein ist zu Ende. Dan...«
Chefinspektor Dan Laurence, der Leiter des Erkennungsdienstes, setzte sein Glas ab und trat heran. Er hatte schlohweißes Haar und trug einen dicken Pullover.
»Ihre Leute haben zu tun, Dan.«
»Dann werde ich mich lieber auf den Weg machen und ihnen auf die Finger sehen«, brummte Laurence.
»Brauchen Sie sonst noch jemanden?«, fragte Ilford.
»Danke. Erst muss ich die näheren Einzelheiten wissen.« Thane zählte seine Zigaretten, ließ sich vom Barkeeper noch zwei Päckchen geben und warf einige Münzen auf die Theke.
»Halten Sie Verbindung mit mir«, sagte Buddha Ilford. »Sie können mich zu Hause anrufen.«
Thane nickte kurz. Für einen Augenblick hatte seine Aufmerksamkeit der bauchigen Flasche aus bernsteinfarbigem Glas gegolten. Er brauchte das Etikett nicht zu lesen - Glen Ault Whiskylikör war allgemein bekannt. Nun sah es ganz so aus, als würden die Zeitungen auch noch kostenlose Reklame für diesen Likör machen - dank eines Mordes.
Zwanzig Minuten später parkte Colin Thane seinen kleinen, gebraucht gekauften Austin hinter den Polizeifahrzeugen, die vor dem hohen Wohnblock in der Gradient Terrace standen. Der Inspektor, der einen geliehenen Regenmantel über seine Golfkluft gestreift hatte, stieg aus und wartete, bis Dan Laurence ebenfalls aus dem Wagen geklettert war.
Das Haus war auf einem langen, steilen Hügel errichtet worden, der den Mittelpunkt der neuen Wohnsiedlung bildete. Die Dunkelheit war hereingebrochen, unter ihnen blinkten die Lichter der Großstadt. Heftige Windstöße fegten durch die Straße, und die Neugierigen, die sich angesammelt hatten, zogen fröstelnd die Schultern hoch.
Am Hauseingang stand ein uniformierter Constable, der beim Näherkommen der beiden Kriminalbeamten salutierte.
»Die Wohnung ist im zwölften Stock, Sir«, meldete er. »Die Fahrstühle sind im Erdgeschoss. Ich nehme an, dass die Leute vom Erkennungsdienst damit fertig sind.«
»Das möchte ich ihnen jedenfalls geraten haben«, brummte Dan Laurence, als sie den Korridor mit den gelben Wänden und den Neonröhren entlanggingen. »Ich möchte nämlich nicht wie eine Gämse herumklettern.«
Die beiden Fahrstühle hatten einen gemeinsamen Rufknopf. Dan Laurence presste den Daumen darauf, die Kontroll-Lampen auf der Anzeigetafel flammten auf, und wenige Sekunden später glitt die rechte Tür mit einem leisen Zischen zurück. Der Rücken eines Beamten vom Erkennungsdienst wurde sichtbar. Der Mann, der gerade von der hinteren Wand die Fingerabdrücke abnahm, blickte sich um und nickte gutgelaunt.
»Kommen Sie ruhig rein, Chef. Bei den Schaltknöpfen ist es sowieso sinnlos. Tausende von Menschen scheinen den Lift benutzt zu haben.«
Thane und Laurence traten ein, und als der Fahrstuhl nach oben glitt, blickte sich der Chefinspektor um. »Und wie steht es sonst?«
»Sämtliche Wände sind voller Fingerabdrücke, und im anderen Lift ist es das gleiche.« Der Beamte seufzte. »Was sollen wir damit machen, Chef?«
Laurence zuckte die Achseln. »Schützen Sie die Abdrücke mit Kunststoff-Folie. In einem großen Wohnhaus kann man ja nicht beide Fahrstühle blockieren. Geben Sie einen Lift zur Benutzung frei, während in dem anderen die Aufnahmen gemacht werden, und wenn der Fotograf dort fertig ist, nehmen Sie den zweiten vor.«
»Wollen Sie denn alle Fingerabdrücke haben?« Der Mann schluckte schwer bei diesem entsetzlichen Gedanken. »Es sind mehrere Hundert!«
»Dann machen Sie sich schleunigst an die Arbeit«, brummte der Chef des Erkennungsdienstes. »Sonst wird es eine lange Nacht für! Sie.«
Die Fahrstuhltür glitt zurück, Thane und Laurence stiegen aus. Der Kriminalbeamte blickte ihnen nach, dann machte er sich leise fluchend an die Arbeit.
Vor der Tür zu Humbies Wohnung stand ein uniformierter Constable. Die kleine Diele war vollgepackt mit der Ausrüstung des Erkennungsdienstes. Durch die Tür des ersten Zimmers drang Stimmengemurmel. Thane trat ein und wurde von dem weißen Licht einer Fotoleuchte geblendet.
»Halt!«, rief Phil Moss vom Fenster herüber.
Thane blieb stehen, hörte das Klicken des Kameraverschlusses, dann stieg der schmächtige Polizeifotograf von einem Stuhl und gab durch ein Handzeichen zu verstehen, dass er für den Augenblick fertig sei.
Außer Moss und dem Fotografen befanden sich noch drei Beamte im Zimmer. Der eine gehörte zum Erkennungsdienst, der zweite nach Millside, und in der Ecke stand - wie immer makellos in dunklem Anzug, weißem Kragen und dezenter Seidenkrawatte - Dr. Williams, der Polizeiarzt.
Das Zimmer war einfach eingerichtet. Auf der einen Seite stand eine Anrichte, ein Klapptisch und einige Stühle, auf der anderen Seite, bei dem großen Fenster, dessen Vorhänge nicht zugezogen waren, befand sich eine mit Plüsch bezogene Couch, und ihr gegenüber - als teuerster Einrichtungsgegenstand - ein Fernsehschrank mit einer 53er Bildröhre. Das Fernsehgerät war von der Wand abgerückt, die Rückwand war abgenommen.
Davor lag Jean Humbie. Ihr schmales Gesicht schien unverletzt, das rote Haar war kaum zerzaust. Sie lag halb auf dem Rücken, halb auf der linken Seite, der linke Arm angewinkelt unter dem Körper.
»Sie trägt noch dieselbe Kleidung wie heute Nachmittag«, stellte Phil Moss fest, als Thane zu ihm trat. »Sie ist höchstens eine Stunde tot.«
»Das ist allerdings nur eine rohe Schätzung«, warnte Dr. Williams und beugte sich noch einmal zu der Frau hinab. »Bis jetzt sind noch keine Anzeichen der Totenstarre festzustellen. - Nun, Thane, wer hat gewonnen?«
»Das Präsidium.« Thane sah sich im Zimmer um, prägte sich jede Einzelheit ein. Es herrschte ein ausgesprochenes Chaos. Die Schubkästen der Anrichte waren auf dem Boden ausgeleert worden, auf der Couch lagen Bücher und Geschirr.
»Die übrige Wohnung sieht genauso aus«, erklärte Moss. »Jemand hat hier wirklich gründliche Arbeit geleistet.«
Thane nickte. »Und man braucht wohl nicht lange zu raten, wonach er gesucht hat. Ob er es gefunden hat?«
»Sieht so aus«, meinte Moss bedächtig. »Möchten Sie sich, nicht zunächst die Tote anschauen?«
»Dürfte sehr interessant für Sie sein«, versprach Dr. Williams, der sich neben die Leiche hockte. »Auch für Sie, Dan.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich habe so etwas noch nicht gesehen. Gewiss, es handelt sich um eine gewaltsame Erstickung, aber das ist noch nicht die ganze Geschichte.« Er räusperte sich. »Meist bietet sich das übliche Bild: blasses Gesicht, starrer Blick, hervortretende Zunge, blutiger Schaum vor dem Mund.«
Der junge Kriminalbeamte schluckte schwer und blickte angestrengt aus dem Fenster.
»Aber hier?« Der Polizeiarzt schüttelte den Kopf. »Wir bemerken zunächst nur den bläulichen Schimmer um die Lippen, obwohl Fingerspitzen und Zehen ebenso verfärbt sind.«
»Das kommt vor.« Thane strich sich über das Kinn. »Und was ist hier nun so außergewöhnlich?« Er betrachtete wieder die Tote. Die bläuliche Verfärbung der Lippen war deutlich erkennbar. Auf dem Boden lag ein rotverschmiertes Papiertaschentuch - Dr. Williams hatte den Lippenstift abgewischt.
»Sie wirkt aber ganz friedlich«, murmelte Moss. Jean Humbies Gesicht war entspannt, sah seltsam jugendlich aus, und der verbitterte Zug um ihren Mund war verschwunden.
»Ja.« Chefinspektor Laurence beugte sich tiefer und runzelte die Stirn. »Und worauf sollen wir nun besonders achten?«
»Da ist ein ganz winziger Kratzer - dicht neben der Nase«, meinte Thane und verwünschte im Stillen die Geheimniskrämerei des Polizeiarztes. »Und am Kinn sind ebenfalls zwei gerötete Stellen. Quetschungen?«
Er blickte sich irritiert um. Keine Kissen oder Decken waren zu sehen.
»Blutunterlaufene Stellen - und am Hinterkopf werden Sie noch eine größere Quetschung finden«, erläuterte Dr. Williams. »Es ist das Musterbeispiel eines sogenannten Burking. Mund und Nase werden zugehalten, die Brust zusammengepresst.«
Phil Moss stöhnte auf. »Und das nennt man Burking?«
»Richtig - Burke und Hare, die beiden Leichendiebe.« Thane schnippte mit den Fingern. »Eines Tages hatten sie es satt, die Toten auf den Friedhöfen auszugraben, und um die Anatomie weiter beliefern zu können, beschafftem sie sich die Leichen auf eine sehr einfache Weise.«
»So ist es. Es dauerte nur ungefähr drei Minuten, dann hatten sie wieder einen Leichnam für die Anatomie.« Dr. Williams erhob sich. »In unserem Fall scheint es aber ein einzelner Täter gewesen zu sein, denn er schlug die Frau zuvor nieder, so dass sie bewusstlos war.« Er klopfte sich das Jackett ab. »Genaueres wird die Obduktion zeigen. Wahrscheinlich kommt der alte MacMasters sofort angerauscht, wenn er davon erfährt.«
Thane und Moss blickten sich mit einem verständnisvollen Grinsen an. Professor MacMaster war der Chef des gerichtlich-medizinischen Instituts der Glasgower Universität und interessierte sich naturgemäß für jede ungewöhnliche Todesart.
»Die Zeitungen werden das natürlich ausschlachten«, murmelte Dr. Williams. »Seit über siebzig Jahren ist bei uns niemand mehr auf diese Weise ermordet worden.«
»Hm.« Chefinspektor Laurence stand schnaufend auf. »Ich habe noch eine Menge Arbeit. Mal sehen, wie meine Leute vorankommen. So long.«
Er verschwand aus dem Zimmer, und der Polizeiarzt packte seine Instrumente ein. Thane ging mit Moss zum Fenster.
»Und wie steht es mit unseren Ermittlungen?«
»Dürftig«, musste Moss eingestehen. »O’Brien, ihr Onkel, fand sie. Er wartet in der Nachbarwohnung - von dort aus habe ich Sie auch angerufen. Beech hat bei den Hausbewohnern herumgehört.«
»Beech?« Thane blickte fragend zu dem jungen Kriminalbeamten.
»Ich hatte kein Glück, Sir«, meldete Beech. »Niemand hat etwas Verdächtiges gehört oder Fremde gesehen. Die Frau in der Nachbarwohnung konnte uns noch am meisten helfen. Sie hörte, wie um zehn der Fahrstuhl in diesem Stockwerk hielt. Sie erinnert sich deshalb so genau, weil sie auf ihre Tochter wartete. Das Mädchen kam dann eine Viertelstunde später.«
»Gut.« Thane sah auf seine Armbanduhr. Es war jetzt 23.30 Uhr. Wenn der Mörder um 22 Uhr gekommen war, deckte sich das mit Dr. Williams’ Angaben. »Sonst noch was, Phil?«
»Da drüben.« Moss trat hinter die Fernsehtruhe. Die Rückwand war entfernt, und man konnte unterhalb der Bildröhre einen Kasten erkennen. »Wahrscheinlich extra für diesen Zweck installiert.«
Thanes Lippen bildeten einen schmalen Strich, als er sich bückte, um das kleine Kästchen zu betrachten. Ein blauer Leinenbeutel lag darin. Er kannte diese Beutel nur zu gut: die Bank of Central Scotland verwendete sie bei der Ausgabe von Silbergeld. Außerdem lag noch ein Barscheckheft in dem Kästchen, und auf dem Umschlag befand sich ein Stempel Glen Ault Ltd.
»Sie hat sich also in Frank getäuscht«, murmelte Moss.
Thane lächelte. »Nicht nur sie. Schön, er hatte also das
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Bill Knox/apex-Verlag. Published by arrangement with Shelley Morrison, Literary Agent.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Heinz Otto und Christian Dörge (OT: The Taste Of Proof).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 09.12.2021
ISBN: 978-3-7554-0249-7
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