KARL-ULRICH BURGDORF
Propaganda-Mutanten
Roman
Apex-Verlag
*) Auf Wunsch des Autors veröffentlicht der Apex-Verlag
diesen Roman in der alten Rechtschreibung.
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Der Autor
PROPAGANDA-MUTANTEN
ERSTER TEIL
ZWEITER TEIL
DRITTER TEIL
Das Buch
Und eines Tages werden auch Sie wieder in einem Bierzelt oder einem Kneipensaal inmitten einer Menge wogender Leiber stehen, sich eine Zigarette anzünden, Berührungen fühlen, nervös vor Spannung an der Zigarette saugen, zu dem Rednerpult hinaufstarren, und warten. Um Sie herum wird das Geflüster zahlloser Stimmen zu einem Lärm anschwellen, zu einer Woge, zu einem Meer, in dem Sie sich treiben lassen können, benommen, begeistert, verbissen. Mit der Menge werden Sie auf den Führer warten. Sie werden den Schweiß riechen, den abgestandenen Dunst des Bieres, denn viele werden Gläser in den Händen halten, in hastigen Zügen trinken und sich dann den Schaum von den Lippen wischen. Sie alle werden Woge sein, aber gewiß niemals Kamm der Woge. Und dann wird einer auf die Bühne treten, mit geschmeidiger Bewegung hinter dem Vorhang hervorkommen, ein Manuskript in der Hand. Ein Lakai wird ein Glas Wasser auf das Rednerpult stellen, und der Führer wird zu sprechen beginnen...
Der dystopische Roman Propaganda-Mutanten von Karl-Ulrich Burgdorf erscheint als deutsche Erstveröffentlichung im Apex-Verlag.
Der Autor
Karl-Ulrich Burgdorf, Jahrgang 1952.
Karl-Ulrich Burgdorf ist ein deutscher Schriftsteller und Übersetzer, der auch die Pseudonyme Henry Wolf, C. T. Bauer, Arl Duncan und Harald Münzer verwendet hat.
Er absolvierte 1971 bis 1973 bei zwei Tageszeitungen Redaktionsvolontariate und studierte ab 1973 an der Universität Münster Publizistik, Politik und Soziologie.
Seit 1982 ist er freier Schriftsteller und Übersetzer. Er veröffentlicht vor allem phantastische Romane und Erzählungen sowie Comics. Unter dem vorwiegend von Wolfgang Hohlbein benutzten Pseudonym Henry Wolf verfasste er einige Romanhefte für die Reihe Gespenster-Krimi (in der Unterserie Raven), die später unter seinem eigenen Namen mehrere Neuausgaben erfuhren. Außerdem schrieb er – teilweise ebenfalls unter Pseudonym – als Gastautor für Serien wie Vampira, Damona King, Die UFO-Akten, Die Terranauten, Erde 2000, Fantasy – Götter, Krieger und Dämonen, und übersetzte Texte von Philip K. Dick, Orson Scott Card und John Schneider (das Stück My Werewolf für das Theater im Pumpenhaus, Münster).
1980 gab er dem damals noch unbekannten Autoren Wolfgang Hohlbein den Rat, sich als Heftroman-Autor beim Bastei-Verlag (für die Heftreihe Professor Zamorra) zu bewerben, was zu Wolfgang Hohlbeins erster professioneller Veröffentlichung führte.
In den Jahren 1978 und 1979 war er Redakteur des Magazins Science-Fiction-Baustelle und von 1986 bis 1991 Mitherausgeber des Informationsdienstes science fiction media. 2001 war Burgdorf Regieassistent bei der Loco-Mosquito-Produktion Fight Club - Das Ende vom Anfang und 2002 Mit-Organisator der Patrick Wildermann-/Loco-Mosquito-Werkschau RadikalRomanzen im Theater im Pumpenhaus, Münster.
Heute lebt er in Münster und ist, nachdem er sich für mehr als 15 Jahre aus dem literarischen Leben zurückgezogen hatte, seit 2013 wieder schriftstellerisch aktiv.
PROPAGANDA-MUTANTEN
»Ich konnte reden.«
– Adolf Hitler
»Wollt ihr den totalen Krieg?«
– Dr. Joseph Goebbels
ERSTER TEIL
1
Und eines Tages werden auch Sie wieder in einem Bierzelt oder einem Kneipensaal inmitten einer Menge wogender Leiber stehen, sich eine Zigarette anzünden, Berührungen fühlen, nervös vor Spannung an der Zigarette saugen, zu dem Rednerpult hinaufstarren, und warten. Um Sie herum wird das Geflüster zahlloser Stimmen zu einem Lärm anschwellen, zu einer Woge, zu einem Meer, in dem Sie sich treiben lassen können, benommen, begeistert, verbissen. Mit der Menge werden Sie auf den Führer warten. Sie werden den Schweiß riechen, den abgestandenen Dunst des Bieres, denn viele werden Gläser in den Händen halten, in hastigen Zügen trinken und sich dann den Schaum von den Lippen wischen. Sie alle werden Woge sein, aber gewiß niemals Kamm der Woge. Und dann wird einer auf die Bühne treten, mit geschmeidiger Bewegung hinter dem Vorhang hervorkommen, ein Manuskript in der Hand. Ein Lakai wird ein Glas Wasser auf das Rednerpult stellen, und der Führer wird zu sprechen beginnen. Und Sie werden in die Hände klatschen, sich die Kehle heiser schreien, atemlos vor Begeisterung, zitternd vor Entzücken. Aber die Worte des Mannes am Rednerpult werden auch Sie stark machen, stark und zukunftssicher. Sie werden die Ohren spitzen, die Worte trinken, fühlen, wie der Saal sich weitet, wie die Sorgen weichen, weil der Mann da vorne magisch Worte zu Sätzen aneinanderreiht, deren Sinn nebensächlich ist, denn nur die Stimme wird noch wichtig sein. Sie werden spüren, da ist etwas, das sie vorwärtstreibt, etwas Undefinierbares, frei und bisweilen hart, seltener gebändigt oder verhalten, und Sie werden johlen, von einem mächtigen Zauber vorwärtsgetrieben. Vielleicht wird der Führer fragen, ob Sie den Krieg wollen, und dann werden Sie »Ja!« schreien, ohne zu zögern, im Fieber einer unbegreiflichen Trance. Und schließlich werden Sie den Finger zum Schwur heben: »Ein Volk, ein Reich, ein Führer!«
2
Nein, werden Sie mir jetzt entgegenhalten, das ist absurd, eine Verleumdung; ein übler Scherz, bestenfalls. Ich, werden Sie sagen, würde mich niemals so hinreißen lassen.
Sind Sie sich da ganz sicher?
Nein, absurd ist diese Vision weiß Gott nicht! Es gab Generationen, die hätten beschworen, niemand könne sie je wieder in einen Krieg treiben, zu frisch sei noch die Erinnerung an die Schlachten der vorausgegangenen Weltkatastrophe. Die menschliche Vernunft, hätten diese Generationen erklärt, werde über einen derartigen Wahnsinn in Zukunft mit Sicherheit triumphieren.
Wer sich jemals die Mühe gemacht hat, in einem Geschichtsbuch zu blättern, weiß, wie sehr sich jene Optimisten geirrt haben.
Was aber nicht in den Geschichtsbüchern steht, ist: Die Hoffnungen dieser Männer und Frauen mußten eines Tages betrogen werden. Keine menschliche Vernunft konnte über die Kräfte siegen, die hier am Werk waren. Die hier am Werk sind, und immer weiter wirken werden, bis in die fernste Zukunft unseres Geschlechts. Weil wir diese Mächte der Finsternis, diese Schergen des Wahnsinns, immer und immer wieder weitergeben. Zwangsläufig – denn wir vererben sie.
Aber ich greife vor. Ich sollte versuchen, meine Geschichte, die eigentlich nicht meine Geschichte, sondern die Geschichte eines Mannes namens Cato ist, von Anfang an zu erzählen. Doch bevor ich damit beginnen kann, muß ich Ihnen noch etwas mit auf den Weg geben, einen Katalysator, vielleicht. Denn sonst werden Sie nichts verstehen.
Nehmen Sie also Ihr Geschichtsbuch aus dem Regal, schlagen Sie die Seiten auf, wo versucht wird, Hitlers Rednergabe zu analysieren, und wundern Sie sich über nichts mehr. Was da steht, ist so hilflos, so dumm... jedenfalls erklärt es das Phänomen Hitler in keiner Weise. Viele Denker haben versucht, Hitlers Rednergabe zu begreifen. In seinem Buch Mein Kampf gibt Hitler einige Hinweise, aber, ehrlich gesagt, sie führen nur in die Irre. Und beweisen, daß Hitler selbst nie verstanden hat, warum er ein ganzes Volk in seinen Bann schlagen konnte. Nur einer, er hieß Ernst Bloch, kam, bei aller Unzulänglichkeit, dem Kern des Phänomens ein wenig näher. 1924 bezeichnete er Hitler als »eine mächtige suggestive Natur«. Dieses Wort traf – und trifft – nicht nur auf Hitler zu.
»Wollt ihr den totalen Krieg?« brüllte Dr. Joseph Goebbels, und alle wollten ihn. Auch Goebbels war also eine »mächtige suggestive Natur«. Und Marat, Danton, Robespierre, und, und, und...
In diese Reihe gehört auch Cato, die Hauptperson meiner Geschichte. (Der Begriff >Held< wäre, wie die Geschichte erweisen wird, eindeutig verfehlt.) Eines allerdings unterschied Cato von Hitler, Goebbels, Marat, Danton, Robespierre...
Bis zu dem Tag. als ein Forscher, dessen Name an dieser Stelle unwichtig ist, bei Untersuchungen an menschlichen Genen die verhängnisvolle Entdeckung machte, wäre es undenkbar gewesen, solche »mächtigen suggestiven Naturen« planmäßig zu züchten. Danach war es nicht mehr undenkbar, auch wenn die meisten Menschen nichts davon ahnten.
Cato, meine Hauptperson, war das Ergebnis sorgfältiger Zucht. Und wenn er später, wie sein großes Vorbild, von sich sagen durfte: »Ich konnte reden«, dann war das kein Zufall mehr.
3
Die Stadt hatte keinen Namen.
Sie war nicht mehr als eine Ansammlung von großen Fabrikhallen mit gleichförmigen Maschinenkolossen darin. Zwischen die Fabriken hatte die Hand eines gnadenlosen Planers Wohnsilos gestreut, in denen die Menschen wie Nummern lebten, bis in ihre Träume hinein vom Rattern und Zischen der unermüdlichen Produktionsstätten verfolgt. Tag und Nacht wurden in dieser Stadt nur durch den Lauf der Uhren bestimmt, die Sonne drang kaum durch den dicken, fettigen Qualm aus den Fabrikschloten.
An dem Abend, an dem meine Geschichte beginnt, war der Arbeiter Thomas 400-8-14 später als gewöhnlich von der Arbeit heimgekehrt. Ein Stromausfall hatte das Band stillgelegt – Sabotage, vielleicht. Die verlorene Zeit war am Ende der Schicht aufzuholen, die Produktion durfte nicht hinter dem Plansoll zurückbleiben. So kam es, daß Thomas lauwarme Suppe löffeln mußte. Seine Frau, Elena 400-2-17, hatte sie nicht warmhalten können, die Energie war streng rationiert.
Die Familie saß rund um den Tisch: der Arbeiter Thomas, von der monotonen Arbeit abgestumpft und frühzeitig gealtert; seine Frau Elena, die wieder schwanger war; die drei Kinder des Ehepaares; dazu der Vater Elenas, ein gebrechlicher Mann, stets mürrisch und müde. Gegessen wurde in bedrückender Hast, wortkarg vor Müdigkeit. Der Tag war ein Tag wie jeder andere gewesen, hart, erschöpfend und sinnlos.
Nach dem Essen räumte Elena den Tisch ab. Die Kinder kauerten sich vor den Fernsehempfänger und starrten, immer noch hungrig, auf schillernde Märchen. Der Großvater stopfte sich brummelnd die Pfeife und begann, Patiencen zu legen, wie jeden Abend. Und Thomas fragte sich, als er seinen Blick durch die Stube schweifen ließ, ob seinen Kindern ein besseres Schicksal zugedacht war, als er selbst es erfuhr.
Fünf schweigende Minuten waren vergangen, als jemand an die Tür klopfte.
»Schau nach, wer da ist«, befahl Thomas seiner Frau.
Elena nickte und ging hinüber zur Tür. Kaum hatte sie den Riegel zurückgeschoben, als schon vier Männer ins Zimmer drängten. Sie trugen schwarze Uniformen, darüber dicke Militärmäntel, denn es war schon Herbst. Einer der Männer, den anderen offenbar vorgesetzt, fragte: »Bist du Elena 400-2-17?»
Diese Männer, das spürte Thomas, konnten den Ablauf eines gewöhnlichen Tages mit der lässigen Geste des Stärkeren, Mächtigeren verändern.
»Ich bin Elena«, sagte seine Frau. Sie konnte nicht leugnen, sie hatte nie gelernt, etwas zu leugnen, aber es wäre ohnehin sinnlos gewesen. Die vier Uniformierten wußten natürlich, daß sie an die richtige Tür geklopft hatten. Sie spielten nur noch mit ihrem Opfer. Das hatte Tradition.
Der Kommandant der Männer zog ein Dossier aus der Tasche des Uniformrocks und klopfte mit dem Finger darauf.
»Dies«, sagte er mit amtlicher Würde, »ist das Ergebnis der letzten Untersuchung. Die Ärzte haben festgestellt, daß dein Kind, Elena 400-2-17, nicht normal ist. Wenn du es austrägst, wäre die Ordnung gefährdet. Wir kommen, um dich zur Klinik zu bringen.«
Elena war wie vom Blitzschlag getroffen. »Aber... aber...«, stammelte sie, doch sie brachte keinen vollständigen Satz über die Lippen. Tränen traten in ihre Augen, ein stummer, hilfloser Protest.
Thomas sprang von seinem Stuhl auf, mit steinernem Gesicht, alle Muskeln angespannt. Selbst Elenas Vater erhob sich drohend.
Die Uniformierten achteten nicht länger auf die weinende Elena, sondern wandten sich den beiden Männern zu und stürzten sich auf sie, im Sprung die Schlagstöcke aus den Futteralen reißend.
Sekunden später lag Thomas mit eingeschlagenen Zähnen quer über dem Tisch, und Elenas Vater krümmte sich auf dem Boden, die Hände auf den Leib gepresst, auf die Stelle, an der ihn der Tritt eines eisembeschlagenen Stiefels getroffen hatte.
»Genug«, sagte der Kommandant keuchend. »Bringt sie in den Wagen.«
Zwei Uniformierte, grobschlächtige Burschen, packten Elena und hoben sie hoch. Elena wehrte sich nicht, erstarrt vor Grauen. Die Männer trugen sie die Treppe hinunter, unerwartet behutsam, die Knüppel blieben an den Gürteln. Mit geübtem Griff wurde Elena in den wartenden Wagen gehoben, wo starke Hände sie in Empfang nahmen.
Elena konnte nicht ahnen, daß ihre Gesundheit, ja ihr Leben den Uniformierten nichts bedeutete und sie nicht um ihrer selbst Willen so vorsichtig behandelt wurde.
Was zählte, war ihr ungeborenes Kind.
4
Die Frucht, die einmal Elenas Kind hatte werden sollen, verwandelte sich im medizinischen Zentrum der Stadt ohne große Schwierigkeiten in das Kind einer computergesteuerten Retorte. Es bemerkte den Wechsel kaum, die behutsame Verpflanzung von einem Mutterleib in den anderen. Elena, nun nicht mehr schwanger, doch von ihren Hormonen nach wie vor auf eine Schwangerschaft ausgerichtet, wurde aus dem Operationssaal geschoben und zur Nachbehandlung und Beobachtung in einem Einzelzimmer untergebracht. Die Ärzte und Schwestern bemühten sich sorgfältig um sie, denn es bestand die Chance, daß Elena und Thomas weitere Kinder haben würden, Kinder, die zu rauben sich lohnte. Und als Elena später die Klinik verließ, war sie körperlich nicht nur unversehrt, sondern sogar in außergewöhnlich guter Verfassung, mit den besten Medikamenten und nährstoffreichen Sonderrationen sorgsam wieder aufgepäppelt. Aber selbst die Sitzungen mit mehreren Psychologen des Zentrums hatten ihre verletzte Seele nicht wieder aufpäppeln können.
Elenas Kind, jetzt das Kind der Retorte, wuchs und gedieh unterdessen in einer kunstvoll zusammengemischten Flüssigkeit, wurde unablässig von warmem, menschlichem Blut durchpulst, dessen Zusammensetzung so abgestimmt war, daß sich die latenten Fähigkeiten des Embryos eines Tages optimal entfalten würden. Behutsame gentechnische Manipulationen veränderten seine Erbanblagen, so daß dieses Kind bei geschickter Weiterzucht zum Stammvater einer langen Reihe hervorragender Propagandisten zu werden versprach.
Diese pflegliche Behandlung erfuhr ab und zu wohlberechnete Unterbrechungen. Die Psychologen des Propagandistenkaders wußten, wie wichtig es war, die neuen Kandidaten schon im Embryonalstadium seelisch zu deformieren. So erfuhr Cato – diesen Namen gaben sie ihm noch in der Retorte – schon bald nach seiner Verpflanzung neben der Sanftheit des künstlichen Mutterleibes Schmerzen und andere Unannehmlichkeiten. Oft weinte der ungeborene Cato, wenn die Zusammensetzung der Nährflüssigkeit sich abrupt veränderte, wenn die Temperatur um ein Minimum nachließ oder gesteigert wurde. Sein unfertiges Gehirn geriet, wie Meßinstrumente bewiesen, in Aufruhr, forderte, flehte, den Zustand des äußersten Wohlbehagens neu zu erschaffen.
»Reaktion positiv«, sagte der Mann im weißen Kittel. »Schwester, Sie können wieder normalisieren.«
Die Schwester drehte an Knöpfen, legte Kippschalter um, und der Fötus beruhigte sich langsam.
»Er reagiert stark«, bemerkte der Arzt zu einem Kollegen. »Ich glaube, wir haben da einen guten Fang gemacht.«
Wieder behaglich, war Cato sich sicher, durch seine Wünsche den Schmerz und die Kälte vertrieben zu: haben. Er wurde dressiert, zu glauben, daß sein fester Wille – und nur sein Wille – alles erreichen konnte, was er sich vornahm. Für ihn, lernte Cato, gab es keine Hindernisse.
Während die Schwester an der Retorte wachte, zogen die Ärzte sich um und meldeten sich zum Rapport.
Berkowe, der Chef des Propagandistenkaders, erwartete sie schon in seinem Büro. Die Ärzte verneigten sich tief, als sie den Raum betraten.
»Berichten Sie«, befahl Berkowe. »Sie haben zur Zeit drei neue Fälle?«
»Drei neue Fälle«, bestätigte einer der Ärzte. »Einer davon – wir nannten ihn Cato – verspricht beste Ergebnisse. Seine latenten Anlagen sind außergewöhnlich stark. Wenn wir ihn richtig lenken, mag er es weit bringen. Zum Fernsehkommentator, vielleicht. Oder zu einem Mitglied der Gilde.«
»Wir empfehlen«, ergänzte der andere Arzt, »einen besonders qualifizierten Betreuer zu wählen.«
Berkowe blickte ihn lange an. »Ich vertraue voll und ganz auf Ihr Urteil. Ich werde mich selbst darum kümmern. Was ist mit den anderen Fällen?«
»Sehr guter Durchschnitt«, erklärte der erste Arzt. »Redner auf Parteiversammlungen. Oder Priester. Detaillierte Dossiers erstellt der Computer.«
5
So begann die Erziehung des Kindes Cato. Es kam zur Welt, und die Ärzte überwiesen es bald in die Obhut der Propagandistenschule. Weibliche Psychologen führten die Arbeit der Klinik fort, nach einem mit Hilfe der Computer sorgfältig erarbeiteten Programm. Cato wurde weiter dressiert.
Seine Betreuerin, er nannte sie Mutter, hieß Alma. Auch einen Vater erhielt er vom Kader. Schon jetzt, in diesem frühen Stadium, tauchte Kana, der Vater, oft in der Krippe auf und spielte mit Cato. Später würde er sich allein weiter um Cato kümmern, die Mutter würde verschwinden, Ersatzmutter werden für andere Kinder mit propagandistischer Begabung.
Cato lernte schon bald, daß er alles bekam, was er sich wünschte. Nur zwei Menschen gab es, die er nicht beeinflussen konnte: eben Kana und Alma. Er sollte begreifen, daß auch ihm Grenzen gesetzt blieben, Schranken, die der Staat festlegte. Dies gehörte natürlich zum Programm der Erziehung.
Manchmal wurden andere Kinder mit Cato zusammengebracht, Babys mit Elektroden im Kopf. Unsichtbar hinter Spiegeln saß Alma und steuerte diese Geschöpfe. Wenn Cato sich unmutig zeigte und nach seinen Spielgefährten schlug, krochen sie ferngesteuert hastig davon. Wenn Cato mit ihnen schmusen wollte, betätigte Alma die richtigen Knöpfe, und ungeschickte kleine Hände streichelten Catos dunkelblonden Haarschopf. Von Alma gelenkt, erfüllten die Elektrodenbabys Cato jeglichen Wunsch. Und Cato war überzeugt, daß er selbst es sein mußte, der sie mit seinen Wünschen bezwang.
Doch dazu war Cato noch viel zu jung. Später, da würde er Menschen lenken mit der Kraft seiner Stimme, mit sinnlosen Worten, die Gefühl transportierten. Noch aber war er der Sprache nicht mächtig, und die Kommunikation mit dem Körper, mit Gesten und Blicken, führt nur in bestimmten Situationen zum Ziel. Auch mit der Körpersprache würde Cato später – viel später – andere Menschen steuern. Jetzt, mit dreizehn Monaten, genügte es völlig, wenn er glaubte, es schon zu können. Selbstbewußtsein, das wußten die Psychologen, war eine Grundvoraussetzung zur völligen Entfaltung der latenten Propagandafähigkeiten. Selbst wenn es monomanisches Selbstbewußtsein war, aus einer kranken Seele geboren, wie im Falle Adolf Hitler.
Cato war zwei, als er mühsam das Sprechen erlernte. Es klingt wie ein Witz, aber er, dessen Worte später ein ganzes Volk verführen sollten, hatte es schwer, mit Stimmbändern, Zunge und Lippen Worte zu formen. Die Ärzte hatten das prophezeit, das Sprachzentrum Catos war leicht gestört, ein biologischer Defekt, aber Berkowe entschied, nichts dagegen zu unternehmen.
»Auch Hitler«, argumentierte er, »sprach mit starkem Akzent, das machte Eindruck, verlieh ihm unverwechselbare Individualität. So prägen sich Stimmen viel besser ein.«
Cato also stotterte und stammelte, für viele Jahre. Kana und Alma gaben sich Mühe, das Stottern zu mildern, und das Ergebnis war ein halb flüssiger, halb stockender Redestil. Die Stimme blieb heiser und rauh, und wer sie einmal gehört hatte, vergaß sie nicht mehr. Dies blieb auch nach dem Stimmbruch so.
Aber ich greife schon wieder vor.
6
Cato schlief. Alma und Kana saßen an seinem Bettchen und sprachen mit leiser Stimme.
»Ich glaube, wir könnten es wagen«, sagte der Vater.
»Also keine gesteuerten Babys mehr«, stimmte die Mutter zögernd zu. »Die erste wirkliche Aufgabe sollte jedoch nicht zu schwierig sein, ein Mißerfolg würde die Arbeit von Wochen zerstören.«
»Er wird er schaffen«, sagte Kana bestimmt. »Ich habe ein Kind ausgewählt, fünf Jahre älter als Cato, neun Jahre alt also. Ein labiles Geschöpf, mit einigen Worten zu bezwingen. Ich habe einen Gehilfen geschickt, um es zur Krippe zu holen. Die Eltern werden keine Einwände haben, der Ausweis der Gilde und einige Münzen werden sie beruhigen.«
Alma und Kana erhoben sich, löschten das Licht und begaben sich selber zur Ruhe. Kana schlief jetzt jede Nacht in der Propagandistenschule, damit Cato Zeit genug blieb, sich an ihn zu gewöhnen, bevor Alma verschwand, um eine neue Aufgabe zu übernehmen, einem anderen Kind Mutterersatz zu sein. Dieser Tag lag nicht mehr fern: In zwei Jahren würde Cato eingeschult werden. Die Entwöhnung von
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Karl-Ulrich Burgdorf/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 08.11.2021
ISBN: 978-3-7487-9884-2
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