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Leseprobe

 

 

 

 

FRANK ARNAU

 

 

Der Mord

war ein Regiefehler

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 270

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DER MORD WAR EIN REGIEFEHLER 

ERSTER TEIL 

ZWEITER TEIL 

DRITTER TEIL 

 

 

Das Buch

Laster, Sucht und Leidenschaft treiben den bekannten Berliner Strafverteidiger Dr. Egon Neumark an den Rand des völligen Nervenzusammenbruchs. Seine Schulden wachsen ihm über den Kopf, und die Unterschlagungen von Entschädigungsgeldern seiner Klienten drohen aufgedeckt zu werden.

Am Rande des Abgrunds glaubt er einen Ausweg zu sehen, der ihn von all seinen Sorgen befreien würde. Es ist ein verzweifelter Schritt, aber ein Millionenvermögen bietet sich ihm an; er braucht bloß zuzugreifen...

 

Frank Arnau, geborener Heinrich Karl Schmitt, auch Harry Charles Schmitt (* 9. März 1894 bei Wien, Österreich-Ungarn; † 11. Februar 1976 in München), war ein schweizerisch-deutscher Schriftsteller.

Der Roman Der Mord war ein Regiefehler erschien erstmals im Jahr 1963. 

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   DER MORD WAR EIN REGIEFEHLER

 

 

 

 

 

 

 

  ERSTER TEIL

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Im kleinen Verhandlungssaal in der ersten Etage des massiven Backsteinbaus in Moabit verstummte das Geflüster. Der Richter und die beiden Schöffen betraten den Raum. Der Vorsitzende hielt einen Zettel in der Hand und las mit lauter Stimme vor:

»In der Strafsache gegen Piernitzky, Stanislaus, ergeht im Namen des Volkes folgendes Urteil:

 

1. Der Angeklagte wird freigesprochen.

2. Die Staatskasse trägt die Kosten des Verfahrens.«

 

In der Begründung des Urteils führte Amtsgerichtsrat Wilhelm Buttermann aus, es sei nicht gelungen, dem Angeklagten Piernitzky mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit nachzuweisen, dass er sich der ihm von der Staatsanwaltschaft vorgeworfenen Kreditbetrügereien schuldig gemacht habe. Andererseits bliebe noch ein erheblicher Tatverdacht fortbestehen, so dass seine ihm durch den Strafprozess entstandenen Auslagen nicht erstattet werden können.

Damit war die Verhandlung geschlossen.

Gerührt schüttelte Piernitzky seinem Verteidiger beide Hände.

Dr. Egon Neumark nickte, befreite sich fast unsanft von den zudringlichen Beteuerungen, packte die Akten in seine saffianlederne Diplomatentasche. »Ich erwarte Sie morgen um neun Uhr in meinem Büro.« Er bahnte sich einen Weg zur Tür nach dem Korridor, ehe Piernitzky etwas antworten konnte, schritt eilig zum Anwaltszimmer, zündete sich nervös eine Zigarette an, öffnete den Garderobenschrank, legte seine Robe ab, schob sie mit einer unsanften Bewegung über den Kleiderbügel und wollte sich umdrehen, als er ganz unwillkürlich in den hohen schmalen Spiegel blickte, der die Innenwand des Schrankes einnahm.

Sonderbar, dachte er nachdenklich, wie doch unzureichende Beleuchtung ein Bild verwandelt. Und nicht immer vorteilhaft.

Er beugte sich nach vorn, strich mit beiden Händen vorsichtig über sein Gesicht, betrachtete verwundert die schrägabfallenden Falten neben seinem zu schmalen Mund. Es war ihm, als sähe er die Müdigkeit in seinen Augen ebenso wie die beiden tief in seine Frisur hinaufreichenden Einschnitte zum ersten Mal.

Seine Augen ruhten etwas leblos und unnatürlich vertieft unter der imponierenden Stirn. Seine Haut wirkte schlaff, gelblich verfärbt, unterhalb der Backenknochen unnatürlich gerötet Ein dunkler Schatten allzu schnell nachgewachsener schwarzer Bartstoppeln lag wie eine Maske auf der unteren Hälfte seines Antlitzes.

Merkwürdig, all dies sah ihm täglich aus dem Spiegel oberhalb des Waschbeckens entgegen - ohne dass er sich des Anblicks bewusst wurde. Gerade jetzt, sinnlos unprogrammiert, prüfte er sein Ebenbild.

Er trat einen Schritt zurück, fing seine fast zu hagere Gestalt wie ein ungewohntes Bild ein. Er kam sich zu schnell gealtert vor, als wäre er schon über Fünfzig und nicht erst auf dem Wege zum halben Jahrhundert.

Der Anzug saß tadellos. Die Krawatte in dunkelgrünem Ton mit einem kaum erkennbaren goldgelben Karomuster passte zum tabakbraunen Sakko mit dem zarten cremefarbenen Streifen. Das Taschentuch sah genauso weit aus der äußeren Brusttasche hervor, dass es zu merken war, ohne unangenehm als weißer Fleck aufzufallen.

Und dennoch gefiel er sich nicht.

Er dachte angestrengt darüber nach, woran es lag, als ihm jemand freundschaftlich auf die Schulter klopfte.

»Glück gehabt!«, schmunzelte Dr. Meier II und blieb neben ihm stehen. »Ich würde zehn zu eins gewettet haben, dass Ihr Schützling Piernitzky nicht unter einem Jahr davonkommt! Noch dazu bei Buttermann.«

Neumark sah seinen Kollegen von der Seite an:

»Zum Glück gehört in erster Linie Verstand, verehrter Kollege. Und für jedes Gericht gibt es ein probates Rezept. Man nehme, beginnt die Formel der Hausfrau. Man nehme, beginnt auch meine. Je nachdem. Etwas mehr Rührung oder etwas mehr juristische Argumente. Alles dem Geschmack der Richter angepasst. Bei dem einen Staatsanwalt wirken harte Worte und beim anderen milde Töne mit einer bittenden Geste. Es gibt keinen Menschen, Herr Kollege, der nicht für irgendetwas zugänglich wäre. Finden Sie heraus, was es ist, und Sie haben gewonnen.«

Dr. Meier II strich sich über den wohlgepflegten blonden Knebelbart, durch den er sich von Dr. Meier I besonders wirksam unterschied und, wie gelegentlich behauptet wurde, auch absichtlich distanzierte. Er wollte noch etwas sagen, überlegte es sich und ging dann wortlos zu seinem Spind.

Dr. Neumark blickte auf die große elektrische Uhr an der Stirnwand. Halb sechs. Er konnte gerade noch in seine Kanzlei, die dringendsten Schriftsätze und Briefe unterschreiben, sich etwas frisch machen und Claudia zum Abendessen abholen.

Er schlüpfte in seinen für die Jahreszeit etwas zu hellen, doch tadellos geschnittenen Raglan, setzte den zu dem Fischgrätenmuster des Stoffes passenden weichen grauen Filzhut auf, klemmte die Saffiantasche unter den Arm und verließ das Anwaltszimmer.

In der Halle blieb er am Fuße der Treppe stehen und zögerte einige Augenblicke. Mit einer kaum merklichen bejahenden Kopfbewegung zu sich selbst ging er in die Telefonkabine, nahm den Hörer ab, warf zwei Groschen in den Schlitz, wählte. Das Besetztzeichen begann intermittierend zu surren. Er hängte ein, wiederholte kurz darauf die Handgriffe. Besetzt.

Er öffnete die Tür. Trotz der frischen Luft der Dämmerung des Spätmärztages war ihm unerträglich warm geworden. Er verfolgte den Minutenzeiger seiner Uhr.

Mit wem sprach Claudia?

Er begann wieder den Münzeneinwurf.

Besetzt.

Drei Minuten, fünf, sieben, zehn.

Endlich ertönte das Rufzeichen.

Zu fragen, mit wem sie telefoniert hatte, war völlig sinnlos. Er wusste es und fragte dennoch.

»Ich musste mit meiner Schneiderin die Änderungen des dunkelgrünen Trotteur-Kleides besprechen. Derlei ließe sich vermeiden, wenn ich nicht gezwungen wäre, meine Garderobe auf diese Weise aufzufrischen. Sorge besser für mein Konto bei Horn, und die langen Telefonate werden sich erübrigen.«

Er schluckte die kühl gesprochenen Worte.

»Ich würde jeden Betrag wetten, dass du nicht mit der Schneiderin gesprochen hast!«

»Du verlörest die Wette, Egon! Übrigens würde ich bei deinen doch angeblich etwas dünnen Mitteln überhaupt kein Geldrisiko eingehen.«

Er kramte eine neue Zigarette aus dem zerknüllten Päckchen, steckte sie un- angezündet zwischen die Lippen:

»Ich hole dich um halb acht ab. Wir gehen zu Stöckler.«

»Und nachher? Ich frage nur, um mich richtig anzuziehen.«

»Wie gewohnt...«

Er hängte ein, verärgert, verbittert. Mit seiner Fragerei hatte er nichts weiter erreicht, als ihr wieder einmal die ganze Schwäche eines Eifersüchtigen zu zeigen. Genauso, wie mit seinen unablässigen Fragen, ob sie ihm treu sei. In lichten Augenblicken spürte er die Lächerlichkeit dieser Art gequälter und quälender Neugier. War sie ihm treu, erübrigte sich jede Frage. Betrog sie ihn, so wäre ihre Antwort, eine ganz besonders schroffe und beleidigte Verneinung. So war also die Frage in jedem Fall zwecklos.

Er schritt durch die Halle des Gerichtsgebäudes, überquerte das Trottoir, ging zum Parkplatz, setzte sich ans Volant seines 190 SL und stieß den Zündschlüssel heftig wie ein Messer in die Öffnung.

Der Motor sprang an.

Er durchquerte das Hansaviertel, fuhr den Kurfürstendamm entlang und bog schließlich zur Lietzenburger Straße ein. Er hatte den Wagen ganz mechanisch gesteuert, die Signale, Markierungen, Vorfahrer und Abbieger wie ein Automat registriert.

Seine Gedanken pulsierten weiter im Uferlosen.

Mit wem hatte Claudia zehn Minuten lang telefoniert? Das konnte nur ein Geliebter, wahrscheinlich ein Gigolo, sein, den sie sich für sein Geld hielt. Er biss die Zähne aufeinander. Und dafür machte er Schulden!

Am Straßenrand anhaltend sah er, dass er zu weit gefahren war. Dennoch stieg er aus, ging die fast hundert Meter zum Haus 48 B zurück.

Er betrachtete das Messingschild mit den schwarzemaillierten in die Metallplatte eingravierten Buchstaben:

 

Dr. Egon Neumark

Rechtsanwalt.

Kanzlei I. Wohnung II.

 

Das Vorderhaus hatte nur noch zwei Stockwerke. Dem Gartenhaus waren alle vier Etagen erhalten geblieben.

Damit war Neumarks Büro und Appartement eine baulich weitgehend von den anderen Mietern und allen etwas neugierigen Augen isolierte Einheit. Sein Kommen und Gehen, sein Umgang, Tun und Lassen blieb gegen unerwünschte Beobachter abgeschirmt. Diese Konstellation war für ihn seinerzeit für den Abschluss des etwas kostspieligen Mietvertrages bestimmend gewesen.

Langsam stieg er die altmodischen, steilen Stufen hinauf.

Otto Mangold, der Bürovorsteher, ein Mann, der Manschetten- und Ellenbogenschoner trug, blickte über seine Brillengläser in der Nickelfassung hinweg und stand diensteifrig auf. Fräulein Elfriede Pillchau, die Sekretärin, und Fräulein Edeltraut Rossbinder, die Stenotypistin, gaben den kurzen Gruß des Chefs laut vernehmlich zurück. Alle drei fragten fast gleichzeitig nach dem Ausgang der Verhandlung in Moabit. Sie gratulierten begeistert zum Freispruch.

Neumark ging in sein Privatkontor, legte ab.

Fräulein Elfriede Pillchau packte die ganze Korrespondenz von drei Tischen zusammen und folgte.

»Irgendetwas Neues?«, fragte der Anwalt.

Nach kurzem Zögern erwiderte die Sekretärin:

»Doktor Mehnberg hat dreimal angerufen. Er möchte Sie dringend sprechen.«

Neumark nickte, begann zu unterschreiben.

»Wieviel steht am Postscheckkonto?«

»Knapp dreihundert.«

»Die Sachen hier sind doch alle genau durchgesehen? Kann ich sie unterschreiben?«

»Unbesorgt Die Schriftsätze hat Dr. König gemacht. Sie hatten nie einen zuverlässigeren Assessor.«

»Sie sagten knapp dreihundert? Und bei der Commerzbank?«

»Achthundert. Aber die wollte Mangold für das Fernsprechamt und die Miete.«

»Schicken Sie Dr. Mehnberg tausend Mark. Ich bekomme morgen eine größere Zahlung, dann können die Fälligkeiten überwiesen werden.«

Sie machte sich eine kurze Notiz. Was für eine Zahlung erwartete er? Vielleicht sollte Piernitzky etwas Geld bringen? Eigentlich war alles durch den Vorschuss bezahlt, aber der Chef zauberte manchmal aus trockener Erde rieselnde Fontänen.

»Übrigens, Herr Doktor, Waschinsky rief auch an. Er möchte Sie sprechen. Ob Sie heute Abend in den Club kämen. Ich konnte ihm nichts sagen.«

Neumark nickte: »Ohne Bedeutung. Sonst etwas?«

»Fräulein Henners rief an.«

Neumark blickte kurz auf. »Und?«

»Nichts weiter.«

»Verbinden Sie mich, bitte.«

Elfriede wählte, wartete eine Weile. »Es meldet sich niemand.«

»Danke.«

Er schob den letzten Brief mit der noch feuchten Unterschrift zur Seite, stand auf. »Ich bin noch eine kleine Weile oben, aber nur, wenn ein ganz wichtiger Anruf käme. Übrigens ist ja längst Büroschluss.«

Er nahm den Raglan über den Arm, setzte den Hut auf, grüßte beim Durchqueren der Kanzlei und ließ die Tür zum Vorplatz ins Schloss fallen.

Er stieg die Treppen hinauf.                

Als er seine Wohnung betrat, spürte er die stickige Luft, warf Mantel und Hut ab, öffnete beide Fensterflügel, ging in das Empfangszimmer und ließ sich auf die Chaiselongue fallen. Er hielt die Hände fest gegen die Stirn gepresst. Das Blut hämmerte in den Schläfen. Einen Augenblick tanzten winzige schwarze Pünktchen vor seinen Augen. Dann wurde es eine Weile dunkel um ihn. Sein Kopf schmerzte. Er richtete sich langsam auf, ging in das Schlafzimmer, zog die oberste Schublade einer bauchigen Kommode heraus, tastete hinter Hemden und Taschentüchern, fand eine längliche schmale Glasphiole und entnahm ihr eine kleine runde Tablette. Er spürte einen abstoßend bitteren Geschmack, ging in den Nebenraum, schob den linken Teil der Bibliothek zur Seite, nahm aus der in die Wand eingelassenen kleinen Bar eine Flasche Cognac, goss sich ein Sherryglas voll ein und leerte es mit einem Zug.

Langsam wurde ihm besser.

Er betrachtete die Glasphiole in seiner Hand. Nur ganz flüchtig vermerkten seine Augen die bläuliche Druckzeile auf ziegelgelbem Grund: Dicodid. Er legte die Arznei mit dem sonstigen Inhalt seiner Taschen auf den kleinen Rauchtisch.

Er streifte seinen braunen Sakko ab, ließ ihn mit der Hose am Fußboden liegen, warf die Unterwäsche dazu.

Mit dem Umkleiden wuchs sein Selbstvertrauen. Die nicht sehr angenehme Sache mit Dr. Mehnberg war nun erledigt. Er beschloss, ihn tags darauf anzurufen. Ausreden gab es immer. Es konnte ein Versagen der Kanzlei gewesen sein. Keinesfalls durften ungünstige Gerüchte aufkommen. Aber Dr. Mehnberg gehörte nicht zu den Kollegen, die viel sprachen. Und übrigens handelte es sich um eine Zivilsache, bei der genügte in jedem Fall eine freundschaftliche Entschuldigung.

Dr. Neumark suchte bedächtig unter den beiden Reihen seidener Krawatten, entschied sich für eine kleine muntere buntgetupfte Fliege und knüpfte sie zurecht. Er wählte ein auf sie abgestimmtes Taschentuch.

Die Uhr am Kaminsims schlug ganz leise sieben und ein Viertel.

Dr. Neumark machte sich hastig fertig, schloss sorgsam die Etagentür ab, eilte die Treppe hinunter und fuhr wenige Minuten später die Augsburger Straße entlang.

Er hielt vor einem Neubau an der Motzstraße, stieg aus, drückte dreimal kurz nacheinander auf den Knopf unter dem Schild mit den Buchstaben C. S. Das bedeutete Claudia Serrana. Ins Bürgerliche des Meldezettels übertragen hieß es Clara Seehofer.

Der Dreiminutenbrenner leuchtete auf.

Das rote Licht des Fahrstuhls begann zu glimmen.

Als es erlosch, trat Claudia aus der Kabine, kam die vier Treppenstufen herunter in die Halle, öffnete die nach innen gehende Tür und blieb dicht vor Neumark stehen:

»Hast du dich beruhigt? Ich möchte den Abend ohne Dissonanzen verbringen.«

Er antwortete zunächst nicht, führte sie zu seinem Wagen, sagte beim Einsteigen:

»Es könnte alles ganz anders sein«, und gab Gas.

Als sie bei Stöckler zu ihrem Tisch gingen, drehten sich die Gäste - manche diskret, andere ungeniert - nach ihnen um.

Claudia wirkte immer irgendwie aufreizend.

Sie konnte zwanzig oder dreißig Jahre zählen, ihr Alter schien undefinierbar. Sie war unwirklich zurechtgemacht. Das tizianblonde Haar kontrastierte so stark mit Hautfarbe und Typus, dass es unverkennbar unecht wirkte. Die Augenbrauen, unnatürlich tiefschwarz, kühn und schmal nachgezogen, gaben dem Gesicht etwas Maskenhaftes. Die schon von Natur aus überstark betonten fleischigen Lippen vergrößerte aufreizendes sinnliches Rot. Ihre auf den ersten Blick blauschimmernden Augen bekamen bei genauer Beobachtung eine leicht gelbgrünliche Färbung.

Als sie den Nerzmantel lässig in die Arme der Garderobiere gleiten ließ, gab das tiefe Dekollete beide Brüste bis hart an die Grenze des Obszönen frei. Es lag etwas Herausforderndes in dieser Blöße.

Dr. Neumark schob ihr den Stuhl zurecht. Er bemühte sich, die unmissverständlichen Blicke, die seiner Begleiterin galten, zu übersehen.

Sie kannte seine starke Aversion gegen betont teure Speisen und tippte demgemäß mit einem süßlichen Lächeln zum Oberkellner genau auf die mit den höchsten Preisen. Sie aß Kaviar mit einem gewissen Widerwillen, aber sie brachte es über sich, weil es ihn viel kostete. Dabei war er das Gegenteil von kleinlich oder gar geizig. Aber es ärgerte ihn, für etwas zu zahlen, was nicht von ihm ausgesucht wurde. So griff er nach der Weinkarte, ehe Claudia sie in die Hand bekam und wählte sofort den billigsten Mosel.

Sie überhörte Seine Bestellung und sagte dem Mann mit der silbernen Kette des Kellermeisters:

»Eine halbe Pommery Extra Dry. Der Herr Doktor bevorzugt etwas säuerliche Getränke, aber mir bekommt das nicht.«

Eine ganze Weile fiel kein Wort. Als sie die Forelle nur mit erheblicher Mühe einigermaßen grätenfrei zerlegte, meinte er spöttisch:

»Vielleicht überlässt du das beim nächsten Mal einem dienstbaren Helfer. Bei aller Anziehungskraft deines Ausschnitts bleiben sonst manche Blicke mehr an deinem Fischbesteck als an deinem Busen haften.«

Sie blickte ihn mit einem entwaffnenden Lächeln an, trat ihm ihren rechten Pfennigabsatz mit aller Kraft gegen sein Schienbein und hob zugleich den Champagnerkelch:

»Es fiele mir nicht schwer, nachsichtigere Beobachter zu finden!«

Der intensive Schmerz hemmte seine Zunge.

Erst beim Nachtisch, flambierte Pfirsiche mit Vanille-Eis und Grand-Marnier, beugte er sich etwas nach vorne.

»Du wirst so lange mit dem Feuer spielen, bis du dir beide Pfoten gründlich verbrennst!«

Sie trank ihr Glas leer. »Kein Beschützer, der nicht eine Gefahr wäre!«

Als sie knapp vor ihm an den Tischen vorbei zum Ausgang schritt, schien wieder das Geklapper der Bestecke zu verstummen.

Dr. Neumark warf die Wagentür zu und fuhr langsam in der Richtung der Gedächtniskirche. Er hielt vor einem glattrasierten Grundstück an der Ecke Nürnberger und Kurfürstenstraße, ließ Claudia aussteigen, sicherte das Lenkradschloss, folgte ihr und verschloss die Wagentür.

Er führte sie zum Taxistand, gab dem Fahrer eine kurze Weisung: »Tiergartenstraße. Ich sage Ihnen, wo Sie halten sollen.«

Als sie im Fond des Wagens saßen, fragte sie gedämpft: »Muss das sein?«

»Gewiss.«

Er tippte dem Fahrer auf die Schulter: »Dort an der Laterne.«

Er zahlte, sie stiegen aus.

Es war feucht-kühl geworden. Ein kaum merklicher Nebel hing in der Luft, der eher an Herbst als Frühjahr gemahnte.

Die Taxe wendete, fuhr die Tiergartenstraße entlang zurück. Das Surren des Motors verklang.

Es wurde fast unnatürlich still. Erst nach einer Weile begannen undefinierbare Geräusche aus der Ferne herüberzuklingen.

Claudia stellte den Mantelkragen hoch. »Mich fröstelt...«

Er nahm sie beim Arm, führte sie über den Fahrdamm. Rechts unten verlor sich die einst berühmte Hofjägerallee gegen den Stern zu.

Er schritt mit ihr das Trottoir bis zur Comeliusstraße entlang, überquerte die Friedrich-Wilhelm-Straße und bog in die Kurve des kurzen Verbindungswegs ein. Sie blieben an einem eisernen Gitterzaun stehen. Er blickte um sich, horchte.

Er schob die nur angelehnte geschmiedete Tür zurück und half Claudia über den eisernen Steg, der etwas über dem Boden stand.

Sie gingen den verwahrlosten Pfad des Vorgartens entlang.

Vor dem alten, verfallenen, in tiefer Dunkelheit stehenden Gebäude hielten sie an. Das Haus lag völlig verlassen da. Kein Laut, kein auch nur schwächster Lichtschimmer verriet ein Lebenszeichen.

»Alles sehr beruhigend«, sagte Dr. Neumark zufrieden.

Er schritt Claudia voran durch den seitlichen Bogen, den einst vorfahrende Equipagen passierten.

Rechts war eine schwere Eichentür. Er drückte mehrmals in einem bestimmten Rhythmus auf den halbverborgenen Knopf der elektrischen Klingel.

Er wusste, dass sie eine geraume Zeit warten mussten.

Eine Stimme aus einem Lautsprecher fragte behutsam: »Sie wünschen?«

»Essen und trinken!«, erwiderte der Anwalt.

Die Tür wurde geöffnet.

Er half Claudia über die drei Stufen und folgte ihr. Sie standen in dem kleinen, sehr schwach beleuchteten Vorraum, der aber von einem Augenblick zum anderen sekundenlang in gleißendes Licht gebadet wurde und danach wieder in ein scheinbar noch tieferes Dämmerlicht zurücksank.

Die Stimme aus dem Lautsprecher kam jetzt aus einer anderen Richtung: »Sehr willkommen. Bitte, treten Sie näher, es ist alles in bester Ordnung!«

Er nickte Claudia zu: »Komm...«

 

 

 

Zweites Kapitel

 

 

Das Gebäude, das sie unter den sonderbaren Umständen betreten hatten, war von außen gesehen eine Schwerkriegsbeschädigte, große, einst im Prunkstil der Jahrhundertwende errichtete Patriziervilla.

Seitlich im Vorgarten stand ein fast verborgenes Schild mit der Adresse einer Immobilien-Agentur in schwer leserlichen, von Regen und Unwetter verwaschenen rissigen Buchstaben.

An der Pforte, durch Dübel festgehalten, haftete eine Metallplatte:

 

A. Papadouklos

Südfrüchte-Import.

 

Der zur Straße liegende Bau war bis unterhalb des ersten Stockwerks neu überdacht. Nur den zum Garten hegenden hinteren Teil des Gebäudes hatten die Bomben verschont.

Bis 1950 fand sich kein Interessent für das Grundstück, dessen Besitzverhältnisse nicht ganz geklärt waren. Erst 1951 nach einem rechtskräftigen Urteil meldeten sich Kauflustige. Die Verhandlungen scheiterten, da die Preisforderung und die Kostenvoranschläge für den Wiederaufbau keinen lohnenden Mietertrag erhoffen ließen.

Im Frühjahr 1957 meldete sich bei dem Makler der griechische Südfrüchtehändler Aristoteles Papadouklos und erklärte sich bereit, den Umbau vornehmen zu lassen, sofern ihm ein zehnjähriger Mietvertrag und ein Vorkaufsrecht zugebilligt würde.

Der griechische Kaufmann ließ sogleich mit den Bauarbeiten beginnen. Er legte auf Repräsentation gar kein Gewicht. Er wollte, vielleicht eingedenk der touristischen Attraktionskraft der Ruinen seiner Heimat, das Gebäude äußerlich in seinem lädierten Zustand belassen und nur dem Innenausbau seine Aufmerksamkeit widmen. Der Vorgarten sollte verwildert bleiben, um keine neugierigen Blicke anzulocken. Im Parterre boten die noch relativ gut erhaltenen Bauelemente Gelegenheit zur Schaffung von drei kleinen Zimmern, so dass ein bescheidener Empfangssalon und zwei schmale Büroräume für die Firma Aristoteles Papadouklos verfügbar wurden, womit das ganze Haus ein durchaus solides Schild - und Aushängeschild - erhielt. Demgegenüber ließ sich die dem Garten zugewandte Seite der ersten Etage mit verhältnismäßig nicht allzu hohen Kosten ganz der Zielsetzung des Südfrüchtehändlers anpassen. Was Papadouklos vorschwebte, war ein vornehmer Spielclub, der natürlich gemäß den gesetzlichen Bestimmungen nur von seinen Mitgliedern frequentiert werden. durfte und in dem, zumindest offiziell, keine verbotenen Spiele geduldet würden.

Die Statuten dieser geselligen Vereinigung waren von dem erfahrenen Rechtsanwalt Dr. Egon Neumark entworfen worden. Die ersten Mitglieder schleppten tüchtige Agenten, die Leo Waschinsky aus dem Hintergrund dirigierte, heran.

Sie gingen an der Haupttreppe vorbei, legten in der Garderobe am Ende des Korridors ab und stiegen die dahinterliegende schmale Spiraltreppe in den ersten Stock hinauf. Im ersten Stock betraten sie den Spielsaal.

In der Mitte saßen um einen ziegelförmigen Tisch an jeder Längsseite fünf und an den Enden je ein Spieler.

In den Ecken standen runde Tische, an denen vier bis sechs Damen und Herren Platz fanden.

Zwischen den von schweren, gefütterten Vorhängen abgeschirmten hohen Fenstern standen etwas altertümliche lederbezogene Fauteuils, Sitzbänke und kleine niedrige Rauchtische. Gäste, die noch nicht oder nicht mehr spielten, redeten heftig gestikulierend aufeinander ein.

Neben jedem Spieler lag ein Bridge- oder Canasta-Block mit mehreren von Zahlen überdeckten Seiten. Würde je eine Polizeiaktion bis in den Spielsaal Vordringen, so ergäbe sich kein Anhaltspunkt für ein verbotenes Glücksspiel, da die Aufzeichnungen der an den Tischen sitzenden Clubmitglieder den Beweis erbrächten, es habe sich nur um zulässige Kartenspiele gehandelt. Der Baccarat-Tisch konnte überdies mit wenigen Griffen in drei viereckige Einzeltische auseinandergeschoben werden, so dass die frühere Sitzanordnung, die auf verbotenes Glückspiel hingedeutet hätte, nicht mehr feststellbar gewesen wäre.

Es lief kein Geld um, und die Jetons trugen keine Wertziffern. Außenstehenden gegenüber konnten sie als Spielmarken von fünfzig Pfennig, einer, zwei, drei, vier und fünf Mark, je nach der Farbe, bezeichnet werden. Clubmitglieder wussten, dass sie genau den zehnfachen Betrag beim Kauf wie beim Rücktausch gegen Banknoten repräsentierten.

Im Gegensatz zu den meisten Clubs, in denen Baccarat mit einem Angestellten des Unternehmers als Bankhalter gespielt wurde, verzichtete Papadouklos in weiser Bescheidenheit auf solche Hilfskräfte, die immer ein Gefahrenmoment im Falle behördlicher Zugriffe bargen. Jeder Baccarat-Spieler konnte die Bank halten, wenn die Mitspieler damit einverstanden waren. Der Gewinn Papadouklos' lag in dem sehr hohen Kartengeld, das jeder Tisch für jede Stunde, die er in Betrieb war, zahlen musste.

Trotz der Geräumigkeit des Salons war die Luft geschwängert von Zigarren- und Zigarettenrauch. Aus den Tassen, die ein lakaienhaft uniformierter Kellner auf einem silberbeschlagenen Servierbrett trug, verbreitete sich intensives Kaffee-Aroma.

Durch das Stimmengewirr klangen unartikulierte hastige Laute in nicht immer feststellbaren Sprachen.

Neumark setzte sich auf den ersten frei gewordenen Stuhl an den Baccarat-Tisch. Dann legte er die ihm vom vorgestrigen Abend verbliebenen Jetons in  einem bunten Haufen vor sich hin und begann zu spielen. Er gewann und verlor ziemlich gleichmäßig. Claudia stand hinter ihm.

Er rückte mehrmals nervös hin und her. Der Spieler an seiner rechten Seite operierte mit großen Einsätzen und gewann jeden Schlag gegen die Bank. Nach dem Verlust seiner letzten Chips stand der Bankhalter auf. Gleichzeitig entfernte sich der Gewinner. Es war ein neues, doch widerliches Gesicht. Claudia nahm seinen Platz ein. Die Bank wurde ausgeboten. Dr. Neumark übernahm sie. Er winkte dem Geschäftsführer, übergab ihm, der in seinem altertümlichen Gehrock wie der Butler eines in England spielenden, aber in Hollywood gedrehten Gesellschaftsfilms aussah, zweitausend Mark in zwei Banknoten-Bündeln und verlangte vierzig Jetons zu je fünfzig Mark.

Der Mann, den die Gäste nur als Leopold kannten, entfernte sich. Nach einer Weile kam er zurück und händigte Dr. Neumark die Spielmarken aus.

Der Spieler, der die Bank gesprengt hatte, setzte sich gegenüber Dr. Neumark, baute stramm nebeneinander hochgerichtete Jetonsäulen auf und ließ kein Auge von Claudia, die sich einiger Chips aus dem Bestand Dr. Neumarks bediente.

Der Anwalt spürte ein leises Summen in den Ohren. Es war das Ausklingen der narkotischen Wirkung des Dicodids.

Er öffnete mit der linken Hand in der Tasche die Glasröhre, versteckte eine Tablette zwischen Zeigefinger und Daumen, nahm vom Tablett des vorbeigehenden Dieners eine Tasse Mokka und praktizierte die Arznei von allen - bis auf Claudia - unbemerkt in seinen Mund.

Die Spieler wurden ungeduldig, und besonders der fettgepolsterte Gewinner mit der unappetitlich glänzenden Gesichtshaut war sichtlich ungehalten.

Dr. Neumark ließ den »Schlitten« mit den aus der unversehrten Umhüllung frisch entnommenen Karten von Spieler zu Spieler schieben.

Bei der ersten Partie unterlag er mit acht gegen neun. Sein Gegenüber zog vierhundert Mark Gewinn ein. Von den anderen Spielern gingen zweihundertfünfzig Mark an ihn. Sein Verlust verminderte sich auf hundertfünfzig Mark.

Zwei Spiele folgten ausgeglichen, bei einem dritten erzielte er einhundertzwanzig Mark Gewinn, beim vierten setzte sein Gegenüber den höchsten zulässigen Coup von tausend Mark und gewann. Dr. Neumark rechnete visuell. Sein Verlust war auf neunhundert Mark angestiegen. Der Gewinner häufte lächelnd die grünen Jetons zu einer neuen Säule.

Claudia fühlte, dass sie gegen Neumark, gegen die Bank spielen musste, wenn sie gewinnen wollte. Sie tat es mit einem fast wollüstigen Gefühl. Nach wenigen Runden war ihr Anfangskapital um vierhundert Mark vermehrt.

Auf Neumarks Stirn glänzten kleine kalte Schweißperlen. Er kramte in all seinen Taschen und holte die letzten Jetons zu Hilfe.

Knapp zwanzig Minuten später, nachdem er sich gesetzt hatte, gab er die Bank mit einem Verlust von fast dreieinhalbtausend Mark ab.

Er stand etwas schwerfällig auf, kümmerte sich nicht um Claudia und ging zu dem Alkoven mit der eingebauten Bar. Er ließ sich einen doppelten Martell eingießen und betrachtete in einem Zustand langsam beginnender Euphorie das Etikett der Flasche, die jeden Abend vor Spielbeginn von Papadouklos eigenhändig mit Weinbrand einer nur ihm bekannten Marke aufgefüllt wurde.

Das Narkotikum vernebelte die Realität. Er sah alles rosig und aussichtsvoll. Plötzlich wusste er ganz klar, er musste weiterspielen, er fühlte deutlich: jetzt war seine große Gewinnchance gekommen, die Überlegenheit des Mannes, der ihm das Geld abgenommen hatte, vorbei, der Bann gebrochen. Wie durch einen leichten Schleier beobachtete er das aufgedunsene und merkbar sich rötende Gesicht des Gewinners. Er war nicht mehr der glückliche Spieler, er war nun ein persönlicher Feind, den er besiegen wollte.

Er brauchte Bargeld, eine ausreichende Summe, um die Bank mit längerem Atem halten zu können.

Er leerte ein zweites Glas Cognac, schritt zu der in die Holztäfelung eingebauten Tür, die in Papadouklos' Privatkontor führte, blickte unauffällig um sich und drückte die schmale Klinke nieder, als er glaubte, von niemandem beobachtet zu sein.

In dem kleinen Zimmer verbreitete eine Schreibtischlampe sanftes Licht.

Papadouklos war nicht zugegen, aber in einem Sessel mit unbequem hohen und steifen Lehnen saß Waschinsky.

»Genau Sie suche ich!«, begann Dr. Neumark.

»Zweifellos. Aber geben Sie sich keinen Illusionen hin. Bei mir ist nichts zu erben. Ich habe Ihr Spiel beobachtet. Es ist vollkommen sinnlos, gegen die Strähne zu spielen. Hören Sie auf. Ich rate Ihnen gut...«

Dr. Egon Neumark sah den vor ihm sitzenden, eine mächtige Zigarre kauenden Mann mit dem unproportionierten Körperbau unwillig an.

»Mit guten Ratschlägen bin ich versorgt. Mit Geld im Augenblick weniger. Geben Sie mir fünftausend Mark. Dann kann ich nochmals die Bank halten und der ganzen Gesellschaft alle Taschen leeren!« Die Stimme wurde etwas undeutlich. Er schien an Atemnot zu leiden.

Leo Waschinsky wiegte seinen schweren Kopf mit den fast asiatisch starken Backenknochen und dem mehrfachen Unterkinn nachdenklich hin und her:

»Ich kann Ihnen weder fünftausend geben noch sonst einen Betrag, weil ich kein Bargeld bei mir habe. Ich...«

Der Anwalt griff seinem Gegenüber zwischen die Perlmutterknöpfe der modischen Phantasieweste und drückte ihn unsanft gegen die Lehne des Sessels:

»Als ich Sie voriges Jahr in Moabit mit der Hilfe eines eidfesten Zeugen von der Anklage des gewerbsmäßigen Wuchers freibekam, da schworen Sie mir ewige Dankbarkeit, wie es offenbar jeder alte Gauner in Not tut. Aber...« Er begann zu husten.

Waschinsky hob und senkte die Schultern.

»Auch eine ewige Dankbarkeit, Herr Doktor, hat irgendwann einmal ihr Ende. Und mit dem Wort Gauner würde ich an Ihrer Stelle vorsichtig umgehen. Ihr Schuldkonto in meinen Büchern...«

Dr. Neumark unterbrach heiser: »Seit wann führen Sie Bücher, Leo?«

»Seit jeher, Doktor Neumark. Allerdings liegen sie nicht zur Einsicht der Steuerprüfer bereit. Aber Sie schulden mir über vierzigtausend Mark, wenn ich es richtig im Kopf habe. Eher mehr. Dazu kommen die aufgelaufenen Zinsen. Ich bin weder ein reicher Mann noch ein Wohlfahrtsinstitut. Man muss sein kleines Kapital nutzbringend und dennoch sicher anlegen...«

Dr. Neumarks Stimme bekam einen drohenden Unterton:

»Sie wissen genau, dass Sie zumindest mit einem Ihrer Beine immer in Moabit stehen. Und erzählen Sie mir keine finanzphilosophischen Weisheiten. Ich brauche fünftausend Mark, und wenn Sie nicht bald mit dem Geld herausrücken...« Er schwieg.

Leo Waschinsky beugte sich nach vorn. »Was wird dann sein?«

»Geben Sie mir das Geld - in Ihrem Interesse. Sonst...« Er wischte sich über die feuchte Stirn.

Leo Waschinsky war entschlossen, die Oberhand zu gewinnen. »Sie wollen mir drohen? Wer verhandelte damals mit dem eidfesten Zeugen? Ich?«

»Aber Sie gaben das Geld, Waschinsky, um ihn zu kaufen!«

»Vielleicht - vielleicht auch nicht. Unter uns, Dr. Neumark, zugegeben, das Geld kam von mir. Jedoch was nützt eine Wahrheit, die man nicht beweisen kann? Gar nichts!« Er fügte mit einem sonderbaren Lächeln hinzu: »Diese Weisheit ist nicht auf meinem Mist gewachsen. Ich habe sie von Ihnen gelernt. Nebst allerbesten Verfahrensmaßnahmen, um ungeschoren wuchern zu können. Aber fünftausend Mark gebe ich Ihnen trotzdem nicht. Sie sind in einer Verluststrähne. Begreifen Sie das doch! Sie würden jeden Betrag verlieren. Eine alte Regel. Und außerdem habe ich nicht so viel bei mir...« Er milderte vorsichtig und berechnend seine zuerst schroffe Weigerung.

»Schön«, griff Neumark hastig zu. »Wenn es nicht fünftausend sind, so geben Sie mir dreitausend. Das ist allerdings der kleinste Betrag, den ich zum Bankhalten benötige.«

Waschinsky wollte etwas entgegnen, als die Tapetentür geöffnet wurde und Claudia hereinkam.

Dr. Neumark trat ihr gegenüber. »Wie kommst du dazu hereinzukommen? Du weißt, dass ich nicht gestört sein will, wenn es um geschäftliche Dinge mit Waschinsky geht.«

Sie entnahm ihrer Handtasche eine goldene Tabatiere. Den Deckel zierte der in Brillanten gefasste Namenszug »Egon«. Sie zündete sich umständlich eine Zigarette an.

»Ich wusste nicht, dass du mit Waschinsky verhandelst. Wenn dir der Dicke nichts gibt, so fahren wir nach Hause. Es ist für mich nicht amüsant, ohne Geld am Baccarat-Tisch zu sitzen.« Mit etwas herabgezogener Unterlippe fügte sie hinzu: »Averescu...«

Er unterbrach sie scharf: »Wer ist Averescu?!«

»Der Rumäne, der dir das Geld abknöpfte. Keine sympathische Erscheinung, aber gut bei Kasse. Er würde sich ein Vergnügen daraus machen, einer jungen Dame etwas Spielkapital vorzuschießen...«

Dr. Neumark schob sie zur Seite.

»Dem Lumpen werde ich zeigen...« Er drängte zur Tür.

Waschinsky war mit einem kurzen Satz, den ihm niemand zugetraut hätte, aufgesprungen. Er hielt den Anwalt mit seinen etwas unförmigen, muskelbepackten Armen fest:

»Machen Sie keine Dummheiten. Erregen Sie kein Aufsehen.« Er sah Claudia missbilligend an: »Reizen Sie ihn nicht zu Unbesonnenheiten! Wir sitzen alle in demselben Boot. Wenn es irgendwie leck wird, muss jeder schlucken. Der Doktor hat kräftig verloren. Er ist nervös. Er möchte sein Glück versuchen. Ich halte es für baren Unsinn. Man kann nicht gegen die Strähne spielen. Aber...«, ein feistes Lächeln umspielte seinen vulgären Mund: »Ich würde ihm trotz allem aushelfen, wenn er einen guten Bürgen hätte. Vielleicht Sie...«

Sie blickte Waschinsky aus halb zugekniffenen Augen an. »Es dürfte Ihnen bekannt sein, dass ich nichts habe. Was sollte meine Bürgschaft nützen?«

Er tat einen Schritt zur Seite, musterte sie mit klebrigen Blicken. »Frauen wie Sie haben Kredit, denn sie können jede Schuld schließlich in irgendeiner Weise zurückzahlen...«

Dr. Neumark schlug mit der rechten Hand in Waschinskys Gesicht.

Im selben Augenblick zwängte sich Claudia zwischen die beiden Männer. Sie sah Waschinsky, an dessen linker Wange sich kleine rote Flecken abzuzeichnen begannen, eine ganze Weile wortlos an. Zwischen zusammengekniffenen Lippen kam ihre gutturale Stimme:

»Rücken Sie mit dem Geld heraus. Sie werden es zurückbekommen. Von Egon oder von mir. Allerdings - in jedem Fall nur in Banknoten. Bilden Sie sich keine Schwächen ein...«

Er griff in seine innere Jackentasche, nahm eine unappetitlich abgegriffene schweinslederne Brieftasche hervor, öffnete ein Seitenfach, entnahm ihm ein Bündel Banknoten:

»Es sind zweitausend Mark. Das ist alles, was ich noch bar bei mir habe.« Er riss von einem kleinen Notizblock ein Stückchen Papier ab, reichte es Dr. Neumark. »Mein Anwalt, ein kluger Mann, hat mir geraten, alle wichtigen Dinge zu Papier zu bringen. Bestätigen Sie mir den Empfang.«

Dr. Neumark steckte die Banknoten, ohne sie zu zählen, in die Hosentasche, nahm einen Kugelschreiber und stellte die Quittung aus.

Ohne Waschinsky anzusehen, griff er mit seiner Rechten nach dem Arm Claudias.

Sie schrie leise auf. »Du tust mir weh! Und ich laufe nicht gern tätowiert umher...« Sie streichelte über ihre unsanft berührte Haut.

Ehe er die Tür zum Spielsaal öffnete, legte er plötzlich seinen rechten Arm um ihre schlanke Taille und drückte sie mit einer hemmungslosen Bewegung an sich.

Sie stieß ihn zurück, brachte ihr Abendkleid in Ordnung und öffnete die Tür, ehe er nochmals nach ihr greifen konnte.

Waschinsky sagte gedämpft: »Beachtlich!« Er sah dem Paar versonnen nach.

Dr. Neumark fand nach kurzem Warten einen Platz. Er ließ sich weitere vierzig Jetons zu fünfzig Mark geben und begann vorsichtig gegen die Bank zu spielen. Averescu lächelte ihm unverschämt zu, aufreizend, eindeutig mit der Absicht zu irritieren. Dennoch blieb Neumark bei seinem besonnenen Spiel. Er gewann und verlor, seine Chips nahmen zu und nahmen ab. Claudia stand neben ihm und sah gelangweilt zu. Nach einer fast endlosen Reihe uninteressanter Runden sagte sie gereizt:

»In diesem Tempo können wir auch daheim miteinander Mühle spielen., Wenn du beim Baccarat nicht vorankommst und der Rumäne weiter die Bank hält, so versuche es doch lieber mit Pokern.«

Averescu blickte sie unzweideutig an.

»Ich gebe die Bank bereitwillig ab. Als Spieler gegen die Bank habe ich immer mehr Glück.« Er stand auf und machte eine etwas spöttische Handbewegung zu Dr. Neumark.

»So war es nicht gemeint.« Claudia setzte sich auf einen frei werdenden Stuhl.

Dr. Neumark übernahm die Bank. Nach drei Runden hatte er tausend Mark gewonnen. Sein Gesicht begann leicht zu glühen, die Hände griffen unsicher nach den Karten. Er sah um sich, nickte Claudia zu, ohne wahrzunehmen, dass ihre Augen ganz woanders waren.

Das Spiel lief zu seinen Gunsten.

Er sah Waschinsky durch die Tapetentür kommen, würgte einen Fluch in die Kehle, legte seine Karten, die neun ergaben, vor sich hin, kassierte, blickte die Spieler spöttisch an. Das war er, Dr. Egon Neumark, der Bankhalter, der Gewinner. Nur Averescu schien ihn auszulachen, und Waschinskys Gesicht drückte Mitleid aus.

Er nahm alle Einsätze an, auch die über dem Limit lagen, legte seine Karten nebeneinander, es hatte dreimal hintereinander acht, und fast unwirklich standen ihm dreimal hintereinander neun gegenüber.

Er wurde Averescus Blick nicht los und versuchte, Waschinsky wegzudenken. Das war es, Leo Waschinsky brachte ihm Unglück. Er legte beide Hände für einen Augenblick unter dem Tisch mit gekreuzten Fingern ineinander, die Daumen gekrümmt, damit war es ihm bis jetzt stets in solchen kritischen Situationen gelungen, einen schlechten Einfluss abzuwehren und eine Wende des Spielverlaufs zu seinem Nachteil zu verhindern.

Die nächsten Partien liefen gut für ihn. Er rechnete. Er kam auf siebentausend Mark Gewinn. Den Verlust abgerechnet blieben fünfeinhalbtausend.

Claudia erhob sich, trat zu ihm, beugte sich an sein Ohr. »Hör jetzt auf. Du musst an die fünftausend gewonnen haben...«

Er sah sie hasserfüllt an. »Du bringst mir Pech! Halt den Mund!«

Es war zu spät. Während sie sich entfernte, blieb er gegen fünf Spieler hängen.

Die nächste Partie ging fast ganz an die Spieler. Die übernächste. Die nachfolgende.

Averescus Gesicht stand phantastisch groß vor ihm. Waschinsky schien unaufhörlich zu lachen. Claudia war verschwunden.

Die Jetonsäulen zu seiner Seite schrumpften. Zunächst kamen noch einzelne Gewinnspiele, dann riss der Faden ab, alle Chancen standen gegen ihn auf.

Um halb drei morgens verließ er mit Claudia den Club.

 

 

 

Drittes Kapitel

 

 

Frau Behmke, die Haushälterin Dr. Neumarks, die in einem möblierten Zimmer unweit der Lietzenburger Straße wohnte, da Dr. Neumark es vorzog, seinen Lebenswandel, besonders den nächtlichen, keinerlei unmittelbaren Beobachtungen auszusetzen, brauchte eine geraume Zeit, ehe sie ihn wach bekam.

»Sie haben wohl bis sehr spät in die Nacht hinein gearbeitet?«

Er murmelte einige Worte, wartete, bis sie aus dem Zimmer gegangen war, streifte die Unterkleidung ab und ging ins Bad.

Anschließend setzte er sich an den Frühstückstisch, trank die Tasse tiefschwarzen Kaffee, goss sich nochmals ein, ohne das Gebäck oder die Rühreier und den Aufschnitt anzurühren.

Es war halb zehn, als er seine Kanzlei betrat.

Otto Mangold berichtete ihm, dass Assessor König bereits unterwegs zum Gericht sei, um die drei anstehenden Termine wahrzunehmen. Es läge nichts Besonderes vor. Piernitzky habe angerufen, er werde später nochmals telefonieren.

Fräulein Pillchau brachte die Post.

Er sah flüchtig nach den Absendern, ohne die Briefumschläge zu öffnen. Ein Kuvert aus Uruguay legte er zur Seite.

Er gab Fräulein Pillchau kurze Anweisungen. Nachdem sie gegangen war, betrachtete er lange das Kuvert mit dem Stempel Montevideo.

Er öffnete es vorsichtig, um die Marken nicht zu verletzen, da Mangold ein eifriger Philatelist war.

Der Brief kam von Frau Elfriede Kanitzer, einer seiner Klientinnen, die er seit Jahren in ihren komplizierten Wiedergutmachungssachen vertrat. Es waren interessante Ansprüche, bei denen es sich um hohe Beträge handelte. Da es um Eigenbesitz der alten Dame sowie Erbschaften ging, mussten bei jedem Teilverfahren besondere, oft schwer erreichbare Unterlagen beschafft werden.

Frau Kanitzer berichtete Dr. Neumark, dass die von ihm gewünschten eidesstattlichen Erklärungen beim deutschen Generalkonsulat in Montevideo beglaubigt und eingeschrieben nächster Tage an ihn abgesandt werden. Sie hoffe, dass nun alles erfolgreich weiter vorankäme und die endgültigen Abschlusszahlungen sehr bald erfolgen. Es zöge sich alles seit so vielen Jahren hin, dass sie langsam, aber sicher die Geduld verliere. Wenn sie auch bereits durch ihn namhafte Beträge erhalten hatte, so wolle sie nun endlich den ganzen restlichen Vermögensschaden und die kapitalisierte Rente in vollem Umfang erhalten. Schließlich sei sie an der Schwelle des achtzigsten Lebensjahres. Wenn auch ihr Gesundheitszustand jede größere Anstrengung verbiete, bliebe ihr, falls die Amtsstellen nicht endlich reagierten, kaum etwas anderes übrig, als trotz aller Beschwernisse die weite Reise über den Atlantik zu riskieren. Sie sei überzeugt, ein persönlicher Besuch bei den zuständigen Stellen im Wiedergutmachungsamt müsste die Erledigung ihrer schwebenden Angelegenheiten beschleunigen, so dass anstatt der Teilzahlungen endlich ihre noch ausstehende erhebliche Schlussforderung ausgezahlt würde. Sie erwäge, sich in einem Schreiben persönlich an den Bundespräsidenten zu wenden.

Beim Lesen dieser Ausführungen empfand Dr. Neumark ein peinigendes Gefühl plötzlicher Leere im Magen.

Er vertrat die Interessen der Witwe Elfriede Kanitzer, geb. Berger, seit über zehn Jahren. Ein inzwischen verstorbener früherer deutscher Anwalt, Dr. Jakob Hirschberg, der als Rechtskonsulent in Montevideo Entschädigungssachen dortiger Emigranten bearbeitete, hatte ihm durch Vermittlung eines gemeinsamen Bekannten zahlreiche Fälle seiner Klienten zur Bearbeitung in Berlin übertragen, darunter auch die Wahrnehmung der Interessen Elfriede Kanitzers. In allen diesen Gemeinschaftsfällen wurde das Erfolgshonorar zwischen Dr. Neumark und Dr. Hirschberg geteilt. Solange die Abwicklung der einzelnen Regressansprüche im Wege der Korrespondenz von Anwalt zu Anwalt erfolgte, war alles den geraden Weg gegangen. Gegenüber Dr. Hirschberg konnte es kaum Ausflüchte geben. Die Bescheide des Entschädigungsamtes erhielt der Kollege in Montevideo in Fotokopien. Die jeweils von den Ämtern zur Auszahlung gelangten Beträge überwies Dr. Neumark nach Abzug der Honorare in der von den Klienten durch ihren Rechtsberater vorgeschlagenen Form.

Eine Änderung trat im Fluss der Abwicklung mit dem Tode Dr. Hirschbergs ein. Die Klienten nahmen den direkten Kontakt mit Dr. Neumark auf, und nunmehr erwies sich die Korrespondenz als etwas weniger ergiebig. In den kleineren und mittleren Fällen erfolgten die Liquidationen nach wie vor relativ zufriedenstellend. In Angelegenheiten wie der Witwe Kanitzer erweckten die Berichte Dr. Neumarks den Eindruck, als nähmen die Verschleppungstaktiken der Behörden erheblich zu. Die Zahlungen schienen zäh zu fließen. Er verwies auf immer neue Hindernisse, die sich einer endgültigen Regelung entgegenstellten und nur in mühsamer Kleinarbeit überwunden werden konnten.

Freilich, diese Schwierigkeiten waren von Dr. Neumark ersonnen, um von ihm kassierte, aber nicht zweckgebunden verwandte Summen zu verschleiern. Er bediente sich einer Konstruktion, die zunächst das Abzweigen der für seine Klienten bestimmten Beträge ermöglichte, ohne einen eindeutigen strafrechtlichen Tatbestand zu bilden. Er beging zunächst keine nackten Unterschlagungen, sondern er verminderte die von Amtsstellen ausgezahlten Überweisungen durch rechnerische Maßnahmen, deren Berechtigung zwar sehr strittig war, doch immerhin keinen festumrissenen Strafbestand bildete. Er selbst hatte ja keine direkten Vereinbarungen mit den Klienten getroffen, so dass er an das Erfolgshonorar, wie es Dr. Hirschberg abgemacht hatte, nicht gebunden war. Er konnte gegenüber der Witwe Kanitzer im Falle eines Konfliktes Verrechnungen vorlegen, die ihn einigermaßen deckten. Die von ihm angewandten Formulierungen in seiner Korrespondenz waren so kompliziert, dass die alte Dame sie kaum richtig verstand. So unklar wie möglich hatte er ihr bald nach Dr. Hirschbergs Tod mitgeteilt, er hielte sich nicht mehr an das vereinbarte Erfolgshonorar. Er berechnete von diesem Zeitpunkt an die viel höheren Tarife nach der Gebührenordnung. Wenn er erhebliche Summen von den als Vorausleistungen des Entschädigungsamtes und der Wiedergutmachungsstellen zugunsten der Frau Kanitzer-überwiesenen Abrechnungen einbehielt, so blieb ihm im Falle irgendwelcher Schritte die Auslegung, er habe damit nur Vorschüsse auf das Gesamthonorar, die Spesen und Auslagen genommen. Allerdings zweifelte er selbst daran, dass bei einer genauen Prüfung des Sachverhalts die Anwaltskammer solche Argumente guthieße. Über die Probleme im Falle eines Gerichtsverfahrens wollte er nicht nachdenken.

Es stand für ihn fest, er müsse Schritte unternehmen, um die Sache Kanitzer kurzfristig zu bereinigen und zumindest eine substantielle Zahlung zu leisten. Die alte Dame durfte einfach nicht persönlich in Berlin erscheinen und noch weniger nach Bonn schreiben. Einen Augenblick kam ihm der Gedanke, es wäre vielleicht gar nicht verfehlt, ihr die Reise zu empfehlen. Bei nüchterner Abwägung war die Chance, sie Überstunde die beschwerliche Fahrt nicht, erheblich größer als das Risiko, sie käme heil in Berlin an. Wenn ihr etwas unterwegs zustieße, wäre alles bestens erledigt. Die entfernten Verwandten kannten sich in den komplizierten Verfahren nicht aus, sie würden jeden Vergleich annehmen. Dennoch, nach reiflicher Überlegung, verwarf er die Idee. Träte die alte Dame jemals persönlich vor die zuständigen Referenten, so wäre eine Katastrophe unvermeidbar. Die Vernunft riet zwingend zum anderen Weg. Es gab keine andere Lösung als zu zahlen. Unverzüglich zu zahlen. Nicht nur die Reise, auch der Brief an den Bundespräsidenten bedeutete höchste Alarmstufe.

So richtig der Entschluss war, so unüberwindliche Schwierigkeiten bereitete seine Ausführung.

Er ging in seine Bibliothek, nahm einige dickleibige juristische Fachwerke aus der obersten Reihe und holte ein dahinterliegendes Kuvert hervor. Es enthielt die Abrechnungen mit seinen Klienten.

Es waren kleinere und größere Flugpostblätter mit den Notizen über die tatsächlichen Abrechnungen in den einzelnen Wiedergutmachungsfällen. Eine Art kleine Geheimbuchhaltung, die sich dadurch ermöglichte, dass er alle eingehenden Zahlungen in Entschädigungssachen durch den Bürovorsteher auf sein Privatkonto bei der Commerzbank überweisen ließ. Er begründete die Maßnahme mit dem Hinweis, die meisten Klienten lebten in Ländern mit für sie ungünstigen Devisengesetzen. Bankmäßige Verrechnungen entsprächen daher keinesfalls ihren Interessen. Mangold hielt dies Argument für zutreffend, denn er wusste aus gelegentlichen Korrespondenzen von Überweisungen, die Dr. Neumark durch diskrete Schweizer und holländische Banken vornehmen ließ, um den in Südamerika ansässigen Klienten die D-Markguthaben am Schwarzmarkt, anstatt zu den äußerst ungünstigen offiziellen Umrechnungskursen auszahlen zu lassen. Dies Verfahren begünstigte die Empfänger und ermöglichte dem Anwalt, durch die illegalen Manipulationen seine Gewinnspannen aufzubessern. Diese Nebenresultate blieben allerdings Otto Mangold unbekannt.

Dr. Neumark ordnete die einzelnen kleinen Zettel. Er legte die Aufzeichnungen der Akten Kanitzer nebeneinander und begann, die einzelnen Beträge der eingegangenen Zahlungen der Entschädigungs- und der Wiedergutmachungsstellen auf der einen Seite und die Überweisungen an Dr. Hirschberg und später unmittelbar an die Witwe zu addieren.

Selbst bei Berechnung der vollen Gebühren anstatt des Erfolgshonorars von zehn Prozent erreichte die Forderung Elfriede Kanitzers immer noch zumindest rund dreißigtausend Mark.

Er starrte etwas hilflos die Zahlen an, als Assessor König aus Moabit telefonisch berichtete. In Sachen gegen Max Bröse, genannt Bieletzker, war vom Haftrichter dem Antrag Dr. Neumarks stattgegeben und der Angeschuldigte auf freien Fuß gesetzt worden, da weder Fluchtverdacht noch Verdunkelungsgefahr mehr bestünden.

Das war ein Erfolg. Dr. Neumark hatte keinen Augenblick gedacht, der Haftbefehl würde aufgehoben, denn zweifellos bestand sowohl Fluchtverdacht wie Verdunkelungsgefahr. Aber anscheinend war der Richter der geradezu suggestiven Kraft der ebenso überzeugenden wie sachlich unbegründeten anwaltlichen Argumente unterlegen.

Dr. Neumark kürzte die Passivkolonne seiner provisorischen Rechentabelle um zweitausend Mark, denn dieser Betrag lag bereits seit einer Woche bei Mangold und war nun fällig. Bröses Ehefrau hatte ihn als Honorar für den Fall der Freilassung ihres Mannes hinterlegt. Dr. Neumark würde ihn längst der Kasse entnommen haben, doch für eine solche Abhebung wusste er gegenüber Mangold keine Begründung. Immerhin, nun standen ihm die

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Frank Arnau/Apex-Verlag/Successor of Frank Arnau.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 29.10.2021
ISBN: 978-3-7487-9799-9

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