CYRIL ABRAHAM
Die Onedin-Linie
Vierter Band: Die Passatwinde
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DIE PASSATWINDE
Rückblick: Die Taufe
Erstes Kapitel: Das neue Schiff
Zweites Kapitel: Das Vermächtnis
Drittes Kapitel: Seenot
Viertes Kapitel: Ein verrückter Plan
Fünftes Kapitel: Die Wahrsagerin
Sechstes Kapitel: Ehrgeiz
Siebtes Haus: Das neue Haus
Achtes Kapitel: Die Einladung
Neuntes Kapitel: Leonora
Zehntes Kapitel: Die Entführung
Elftes Kapitel: Die Entdeckung
Zwölftes Kapitel: Das Abkommen
Dreizehntes Kapitel: Flitterwochen auf hoher See
Vierzehntes Kapitel: Der Sieger
Das Buch
Die ruhmreiche Zeit der Frachtensegler neigt sich dem Ende zu. Auch der tatkräftige Kapitän James Onedin ist mit seinem ersten Dampfschiff auf große Fahrt gegangen. Da trifft ihn ein harter Rückschlag: Mit einer Ladung Eisenerz an Bord gerät er vor dem Ärmelkanal in einen Sturm. Als die Antriebswelle bricht, lässt der Kapitän Segel setzen. Und weil daheim ein Hitzkopf seine Schwester Isabel entführt, steht bei der Verfolgungsjagd quer über den Atlantik erneut für James Onedin alles auf dem Spiel...
Cyril Abraham (* 22. September 1915; † 30. Juli 1979) war ein englischer Schriftsteller und Drehbuchautor. Die BBC-Serie Die Onedin-Linie - von der ARD in den Jahren 1971 bis 1980 ausgestrahlt - gilt als sein bekanntestes Werk. Weitere Berühmtheit erlangte er durch seine Mitwirkung als Autor an der legendären TV-Serie Mit Schirm, Charme und Melone.
Die Passatwinde spielt in der rauen Welt der Seefahrt: Spannend und lebendig verwoben mit der Familiensaga der Onedins erzählt Cyril Abraham von den letzten Tagen der ruhmreichen Frachtsegler, welche auf den Weltmeeren kreuzten, ehe das neue Zeitalter der dampfbetriebenen Stahlriesen begann.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers.
DIE PASSATWINDE
Rückblick: Die Taufe
»Ich taufe dich auf den Namen Anne Onedin«, erklärte Isabel und fügte atemlos hinzu:
»Gott schütze alle diejenigen, die auf diesem Schifffahren.«
Die Flasche schlug gegen den Bug, Champagner schoss schäumend in die Luft, durchnässte ihr fliederfarbenes Kleid mit dem herübergewehten Sprühregen, während die Damen in die Hände klatschten und Jubelrufe ausstießen und die Herren als Ovation ihre Zylinderhüte schwenkten.
Einen Augenblick stockte das Schiff, als wollte es sich nicht vom sicheren Festland losreißen. Dann erzitterte es und begann, langsam vom Rand der farbenprächtig geschmückten Plattform wegzugleiten.
Es glitt erst langsam und dann immer schneller werdend die eingefettete Helling hinunter. Die Rednertribüne wurde bis in ihre Grundfesten von einem donnernden Rumpeln erschüttert, und Staubwolken stiegen auf, als sich die starken Zugketten abwickelten und die zunehmende Gleitgeschwindigkeit des Schiffes in Richtung auf das Wasser abbremsten. Einen kurzen Augenblick schien es so, als wolle der riesige Rumpf ins Wasser tauchen und auf den Grund gehen. Dann wurde das Heck von der Wasseroberfläche erfasst; es entstand eine kleine Flutwelle, die eine Anzahl Ruderboote zum Tanzen brachte und die bereitstehenden Schlepper veranlasste, wie in einem Taumel ihre Sirenen ertönen zu lassen.
Als sich die Anne Onedin in ihrem eigentlichen Element zurechtgefunden hatte, wandte James den mürrischen Blick auf Baines.
»Sie gehört jetzt Ihnen, Captain«, sagte er, drehte sich um und schritt davon.
Erstes Kapitel: Das neue Schiff
Die Anne Onedin lag fauchend und prustend am Kai von Bilbao. Ihre Eisenwände dröhnten unter den Erzmassen, die in die Laderäume geschüttet wurden. Baines stand an die Reling der Brücke gelehnt und sah James an Land gehen. Er verfluchte den Tag, da ihm die Führung eines Dampfschiffes anvertraut worden war. Er hasste das Schiff – das widerwärtige Stampfen der Maschine, das zischende Ausströmen des Dampfes und den durchdringenden Gestank nach Schmierfett und Öl. Vor allem hasste er den schwarzen Qualm, der das ganze Schiff mit klebrigem Ruß überzog und ihm wie ein ekelerregender, heißer Odem ins Gesicht schlug.
Er wandte den Kopf, als Elmer wie ein Geist der Unterwelt aus dem Maschinenraum auftauchte. Sein Hemd mit den aufgekrempelten Ärmeln war verdreckt, das geschwärzte Gesicht schweißgebadet. Er wischte sich die Hände an einem schmutzigen Lappen ab, sah Baines, winkte fröhlich und kam vergnügt auf die Brücke zu.
Ganz Nordspanien stöhnte unter einer Hitzewelle. Stickiger roter Staub hing über dem Schiff und verwandelte die Sonnenhitze in eine Backofenglut.
»Guten Morgen, Captain«, posaunte Elmer gutgelaunt, als sein Kopf über dem Deck erschien. Er kletterte auf die Brücke, zog eine weiche Zigarre aus der Tasche, schob sie sich zwischen die Zähne und hockte sich neben Baines auf die Reling. Mit einer Handbewegung wies er auf den von Bord gehenden James. »Aha, unser Reeder geht wieder einmal an Land.«
»Geschäftlich«, brummte Baines unwirsch.
Elmer klopfte sich auf die Taschen, fand eine zerdrückte Streichholzschachtel und zündete sich die Zigarre an. »Annes Tod hat ihm schwer zugesetzt«, meinte er, um vielleicht auf diese Weise ein Gespräch in Gang zu bringen.
Baines biss ein Stück Kautabak ab und priemte ins Wasser.
Elmer unternahm einen weiteren Versuch. »Sie ähnelten sich wie ein Ei dem anderen. Ich habe noch nie erlebt, dass jemand durch den Tod eines geliebten Menschen so hart getroffen worden wäre.«
»Sie standen sich sehr nahe«, pflichtete Baines bei. »Sehr nahe.«
»Ein Jammer, dass sie ihm nur eine Tochter geschenkt hat. Ein Sohn hätte seinem Leben einen neuen Sinn verliehen.« Er musste unwillkürlich an den jungen William denken, der jetzt fünf Jahre alt war. So war es – ein Sohn gab jedem Ehrgeiz Ziel und Zweck.
Baines fühlte sich in seiner Loyalität gekränkt. »Ich glaube, Mr. Onedin weiß genau, was er will«, erklärte er gereizt. Er schob den Kautabak in den anderen Mundwinkel und spie in hohem Bogen bräunlichen Saft auf die zehn Meter unter ihnen liegende Pier.
Elmer seufzte. Er schien mit seinen Gesprächsangeboten auf taube Ohren zu stoßen. Während der ganzen Seereise hatte James kaum ein Wort gesprochen. Die Mahlzeiten hatte er allein in seiner Kabine eingenommen und war nur dann in Erscheinung getreten, wenn er ruhelos und in Gedanken versunken an Deck auf und ab gewandert war. Auch Baines schien von dem Kommando, das ihm wie eine gebratene Taube in den Schoß gefallen war, nur wenig begeistert zu sein. Elmer hatte den Wink mit dem Zaunpfahl schließlich verstanden und sich in seinen geliebten Maschinenraum zurückgezogen, wo er sich wenigstens mit Mr. Longbotham, dem Chefingenieur, unterhalten konnte. Longbotham war ein Mann aus Lancashire von echtem Schrot und Korn – ein hochgewachsener, schlaksiger Kerl, der seine Ausbildung in den Baumwollspinnereien von Bolton erhalten hatte und dann auf Arbeitssuche nach Liverpool gekommen war.
Baines hielt den Zeitpunkt für angebracht, das Thema zu wechseln. Er wies mit dem Daumen auf das Erz, das mit lautem Getöse durch die Ladeluken polterte. »Wir werden schlingern wie ein besoffenes Schwein«, prophezeite er.
»Ich könnte mir keine bessere Ladung wünschen«, sagte Elmer. »Mit ihr können wir das Schiff unter Belastung erproben. Auf der Herfahrt ging alles glatt, wir brauchten nicht das kleinste Segel zu setzen, die Maschine arbeitete einwandfrei, und die Ruderanlage hat sich über Erwarten gut bewährt. Aber auf der Heimreise, finde ich, sollten wir einmal sehen, was aus dem Schiff alles herauszuholen ist.« Er brach ab, als sich Baines von der Reling herunterwuchtete und Elmer mit Blicken ansah, als wolle er sagen: Jetzt ist es aber genug.
»Stinktier«, knurrte er. »Verdammtes Stinktier!« Dann zog er sich den Gürtel enger und schritt majestätisch in Richtung auf sein Quartier unterhalb der Brücke davon. Elmer sah ihm resigniert nach. Die Heimreise versprach nicht gerade unterhaltsam zu werden.
Auf der Pier blieb James noch einmal stehen und blickte sich um. Trotz Elmers Protesten hatte er die Anne Onedin als Dreimastbark mit kurzen Masten, Großsegeln, Mars- und Bramsegeln takeln lassen. Sie war ein hässliches Ungetüm von einem Schiff, mit geradem Vordersteven und gewölbtem Achterdeck. Ein hoher, blau-weißer Schornstein, der mittschiffs aus den Aufbauten herausragte, verlieh ihr ein plumpes, klobiges Aussehen; sie wirkte wie ein schwimmendes Lagerhaus mit einem Fabrikschornstein auf dem Dach. Aber man spürte auch einen Anflug urtümlicher Kraft, gebändigt nach dem Willen des Menschen – ein moderner Salamander, im Feuer geboren und aus Eisen geschmiedet.
Er rief eine wartende Curruaja mit einer ausgemergelten Schindermähre an der Deichsel und einem schläfrigen Kutscher auf dem Bock heran. In radebrechendem Spanisch wies er den Mann an, ihn zum Schiffsmakler Señor Perez zu fahren. Dann ließ er sich in den Sitz fallen und versank in brütendes Schweigen.
Der Gaul legte sich ins Geschirr und zog langsam an. Er setzte vorsichtig ein Bein vor das andere, als suche er festen Halt unter den Hufen. James versuchte sich zu konzentrieren. Aber wie immer stand die Vergangenheit wie ein bereits halb vergessener Schmerz vor ihm auf, verfolgte ihn bis in den Schlaf oder verzerrte seine Vorstellungen vom Ablauf der Zeit, wenn er das Echo ihrer Stimme zu hören glaubte oder einen flüchtigen Blick auf einen schattenhaften braunen Rock zu erhaschen wähnte, der im selben Augenblick wieder wie ein Phantom aus seinem Gesichtskreis verschwand. In solchen Zeiten war er wie benommen; die Gegenwart bedeutete für ihn nichts anderes als eine Reihe von Augenblicken, die mit Arbeit ausgefüllt werden mussten – die Zukunft eine Reihe von Stufen, über die eine nach der anderen verhandelt werden musste.
Die Sonnenglut verwandelte den Fluss in gleißendes Gold, und die engen Gassen, die sich durch die von den weißen Mauern zurückgestrahlte Hitze in einen Feuerofen verwandelten, schienen die Luft, die er einatmete, zu verzehren. Der Wagen holperte über das Kopfsteinpflaster und hielt schließlich vor einem in grellem Blau angestrichenen Backsteingebäude.
Das Kontor drinnen war kühl. Weiße Spitzenvorhänge hielten das helle Licht ab und bewegten sich leise in einer schwachen Brise. Über die niedrige Zimmerdecke huschten wechselnde Schatten.
Señor Perez begrüßte James mit einer schlaffen, feuchten Hand, betupfte sich die Stirn mit einem riesigen Taschentuch, murmelte die belanglose spanische Phrase: Mein Haus ist Ihr Haus und lud ihn mit einer Handbewegung zum Sitzen ein, während ein Angestellter mit einem Krug Limonensaft und Mineralwasser hereintrat.
James ließ sich die kühle Flüssigkeit durch die Kehle rinnen und wartete geduldig darauf, dass Señor Perez zur Sache kam. Er hatte eine natürliche Abneigung gegen die spanische Sitte, erst lange Höflichkeitsfloskeln auszutauschen, bevor man auf das Geschäft zu sprechen kam, aber er wusste aus Erfahrung, dass man die Formalitäten nur unnütz verlängerte, wenn man den Redestrom unterbrach. Deshalb hörte er dem Makler nur mit halbem Ohr zu, als sich dieser über das Wetter, den Stand der Ernte, die Unverschämtheit der Domestiken und die Armut Spaniens im Vergleich zu dem Reichtum Englands ausließ; und wenn Señor Onedin, meinte er, sich den Wünschen seiner Geschäftspartner, die so arm wie Kirchenmäuse seien, aufgeschlossen zeigen könnte, wäre er eventuell in der Lage, einen Vertrag auszuhandeln, demzufolge die Schiffe des Señor Onedin regelmäßig Ladungen mit Eisenerz befördern könnten.
An diesem Punkt erwachte James aus seinen Träumen und rüstete sich für ein hartes Feilschen. Perez war, so wie er ihn kannte, ein schlauer Fuchs und wollte sich offenbar eine fette Provision von beiden Vertragspartnern sichern. James wollte die höchstmöglichen Frachtraten, einen Zwölf-Monats-Vertrag mit Verlängerungsmöglichkeit und keine Klauseln über Konventionalstrafen. Die Spielregeln lagen ebenso fest wie beim Schach. Wie immer trafen sie sich in der Mitte und gaben sich darauf die Hand.
»Da ist noch eine winzige Kleinigkeit, Señor.« Perez sah James strahlend an und breitete die Arme aus wie jemand, der dem anderen ein Geschenk machen will. »Ich habe außerdem Vorkehrungen getroffen, dass eine Anzahl von Passagieren Sie nach England begleiten wird.«
Bei dieser Aussicht fühlte sich James gar nicht wohl. Passagiere waren bestenfalls ein notwendiges Übel. Sie aßen zu viel, tranken zu viel, störten die eingelaufene Routine an Bord und stellten ihn und Baines außerdem vor gewisse gesellschaftliche Verpflichtungen. Andererseits brachten sie gutes Geld, und die Anne Onedin war eigens zur Unterbringung von 25 Passagieren gebaut worden. Er nahm die dargebotene Liste und steckte sie sich in die Tasche.
»Ich möchte Sie darum bitten, Ihre besondere Aufmerksamkeit Señor und Señora Bidolfo angedeihen zu lassen«, fuhr Perez fort. »Señor Bidolfo ist eine besonders einflussreiche Persönlichkeit. Er hatte erst kürzlich die Ehre, bei Seiner Exzellenz, dem Gouverneur, zu Tisch geladen zu sein. Er zahlt zehn englische Pfund in Gold, um in Ihrer besten Kabine Unterkunft zu finden.« Wieder breitete er die Arme aus. »Ich persönlich habe die Anne Onedin empfohlen, weil sie das großartigste Schiff sei, das je den Hafen von Bilbao verlassen habe.«
James machte gute Miene zum bösen Spiel, nörgelte noch an einigen Vertragspunkten herum, verabschiedete sich und machte sich auf die Rückfahrt zum Schiff.
Bidolfo, dachte er, als der Wagen über das holprige Kopfsteinpflaster rumpelte. Bidolfo klang wie ein hochnäsiger spanischer Grande, der eine sauertöpfische Tochter auf eine Bildungsreise nach England mitnahm. Er würde es so einrichten, dass sich hauptsächlich Baines um die Betreuung kümmern würde, denn dieser sprach schließlich die barbarische Sprache wie ein Einheimischer, und es gehörte nun einmal zu den Pflichten des Kapitäns, seinen Tisch mit den besseren Passagieren zu teilen. Bei diesem Gedanken fühlte sich James bereits wesentlich wohler. Mit etwas Glück sollte es ihm nicht nur gelingen, den Passagieren aus dem Wege zu gehen, sondern auch vorübergehend die Führung des Schiffes zu übernehmen, ohne Baines in seiner Empfindlichkeit zu verletzen. Das Verhältnis zwischen Reeder und Kapitän an Bord desselben Schiffes verlangte naturgemäß einen gewissen Takt, und aus diesem Grund hatte sich James bisher zurückgehalten und geweigert, mit guten Ratschlägen einzuspringen. Ebenso hatte er sich aus den bitteren Auseinandersetzungen zwischen Baines und Elmer herausgehalten; Elmer verlangte einen längeren Test für seine Maschine bei höchster Umdrehungszahl ohne Rücksicht auf Wind und Wetter, während Baines dafür eintrat, die Segel setzen zu dürfen. James hatte den Mund gehalten, im Stillen die Einsparungen an Kohle überschlagen und sich mit der Rolle des Zuschauers begnügt.
Er bezahlte den Kutscher, duckte sich unter einem Korb mit Erzen hindurch, der am Ladebaum hing, ging an Bord und begab sich in den Salon. Das Hämmern der Dampfwinden noch in den Ohren, trat er über die Schwelle in den schwach beleuchteten Raum und fiel prompt über eine kleine Kiste. Laut fluchend rieb er sich das angeschlagene Schienbein. Er hatte gerade ein erlesenes Schimpfwort auf der Zunge, da brach er ab, denn dicht vor seinem Gesicht sah er plötzlich ein besorgt dreinblickendes braunes Augenpaar.
Die Erscheinung trug eine von einem hohen Kamm an kastanienbraunen Haaren herabhängende Mantilla aus weißer Spitze und ein weißes Musselinkleid mit Rüschen und Volants, das bis zu den winzigen Satinschuhen herabfiel. Sie hatte ein spitzes, elfenhaftes Gesicht mit einem breiten Mund, der zwei Reihen ebenmäßiger, weißer Zähne erkennen ließ. Sie wirkte zart und fast zerbrechlich. James hielt sie für kaum älter als siebzehn Jahre, und nach ihrem tiefgoldenen Teint zu schließen, musste sie die Bidolfo-Tochter sein.
Er neigte den Kopf und fragte in gebrochenem Spanisch: »Señorita Bidolfo?«
Sie verzog den Mund zu einem schalkhaften Lächeln und hielt ihm eine schmale Hand hin. »Con mucho gusto, Señor.«
James nahm die dargebotene Hand und wollte sie gerade kräftig schütteln, als ihm einfiel, dass sicher eine andere Form der Begrüßung von ihm erwartet wurde. Er verneigte sich, verfluchte im Stillen das ausländische Getue und nannte seinen Namen. »Ich heiße Onedin«, sagte er. »O-nee-din.«
»Nodeeyon?«, wiederholte sie verständnislos.
»O-nee-din«, korrigierte er. Er sprach jede Silbe laut und deutlich aus, als rede er mit einem Schwerhörigen.
»Oni-o-din«, rief sie entzückt aus. »Señor Soni-o-din, no es verdad?«
»Jetzt reicht’s«, brummte James mürrisch. Seine Augen hatten sich allmählich an die Dunkelheit gewöhnt. Er sah, dass der ganze Salon mit Gepäckstücken angefüllt war: ein großer Überseekoffer, zwei Kisten, eine lederne Reisetasche, zahlreiche Handkoffer und ein Berg von Hutschachteln türmten sich auf dem Fußboden in einer Unordnung, die sein Seemannsauge beleidigte.
»Ich werde dafür sorgen, dass Ihr Gepäck in Ihren Kabinen verstaut wird«, erklärte er und wandte sich zum Gehen.
Sie führte einen Finger an das Kinn und neigte den Kopf auf die Seite. »Que dice?«
Er streckte beide Hände aus und machte eine beruhigende Geste. »Momento. Warten Sie – hier – aqui?«
»Que pasa, Leonora?«
Die Stimme kam vom Eingang, und ein Schatten trat in den gelblichen Lichtschein, der durch eines der geschlossenen Bullaugen hereinfiel. Es war ein hochgewachsener Mann mit schmalen Lippen und kalten Augen in einem blutleeren Gesicht, und als er weitersprach, geschah es in dem unverkennbaren Akzent von Lancashire. Er bot eine Hand, die so weiß und schlaff war wie ein toter Fisch.
»Ich heiße Biddulph. Wie ich sehe, machen Sie sich gerade mit meiner Tochter bekannt. Dann sind Sie wohl Onedin, oder?«
»Allerdings«, sagte James und übersah die Hand. »Vielleicht sind Sie so freundlich, Miss Biddulph zu erklären, dass sich die Passagiere in ihren Kabinen aufzuhalten haben, bis das Schiff mit der Übernahme der Ladung fertig ist.«
»Erklären?« Einen Augenblick schien der Mann verblüfft, dann weiteten sich die hageren Züge des Bankiers zu einem nachsichtigen, väterlichen Lächeln. »Ich fürchte, Leonora hat Sie an der Nase herumgeführt, Mr. Onedin. Spanisch ist ihre zweite Sprache.«
Die braunen Augen nahmen einen zerknirschten Ausdruck an. »Verzeihen Sie mir bitte, Mr. Onedin«, sagte sie. »Aber ich konnte der Versuchung nicht widerstehen. Alles war so komisch.«
Auf andere hätte der Vorfall vielleicht belustigend gewirkt; sie hätten die Lage womöglich irgendwie genutzt, aber James gehörte nicht zu diesen Menschen. Er schluckte seinen Zorn hinunter und sagte in kühlem Ton zu ihrem Vater: »Würden Sie das bitte Ihrer Tochter klarmachen, dass ein Schiff kein Kindergarten ist und dass den Befehlen der Offiziere stets Folge geleistet werden muss.« Er drehte sich auf dem Absatz um und schritt so würdevoll, wie er konnte, davon. Ihm folgte ein halb unterdrücktes weibliches Lachen.
Drei Tage danach glitt die Anne Onedin den Nervion hinab, während ein aprikosenfarbener Himmel das Erwachen des neuen Tages ankündigte. Das Schiff ließ die kahlen spanischen Bergzüge hinter sich und traf auf die ersten Sturzseen der Biskaya. Seine Schraube pflügte die See und hinterließ ein wirbelndes Kielwasser. Die lange Heimreise nach Ushant hatte begonnen.
Zweites Kapitel: Das Vermächtnis
Die Hitzewelle, die Spanien heimsuchte, erstreckte sich mit ihren Ausläufern bis hinauf nach Schottland und tauchte die kühle Hügellandschaft Englands in ein Meer gleißenden Lichts. In den Städten brütete eine Atmosphäre, die fast unerträglich geworden war. Die Einwohner litten unter der Hitze im Freien ebenso wie in ihren Häusern. Pferde brachen in der Deichsel zusammen, der Strom floss träge wie Öl dahin, und die Segelschiffe lagen mit schlapper Takelage regungslos vor Anker. Nur die Dampffähren pendelten geräuschvoll von Ufer zu Ufer, und schwerbeladene Dampfschiffe ließen triumphierend ihre dunklen Sirenen ertönen.
Kein Wölkchen stand am lichtblauen Himmel, als Isabel mit William im Park spazieren ging. Das Kind trug einen Matrosenanzug aus Samt und schien die drückende Hitze gar nicht zu spüren. Es lief auf seinen kleinen Beinchen voraus und scheuchte eine schläfrige Taube auf, kehrte dann aber gehorsam zu seiner Mutter zurück.
Sie wanderten Hand in Hand auf dem schattigen Weg dahin, blieben an dem Teich stehen, um die Enten zu füttern, und hörten einer Kapelle zu, die in blauen Uniformen mit Messingknöpfen vor einer Gruppe plaudernder Kindermädchen und einem schwitzenden Gärtner laute Marschmusik spielte.
Dann gingen sie weiter und sahen sich die Punch- and-Judy-Show an. Eine kleine Menschenmenge hatte sich vor dem rot-weiß gestreiften Kasperletheater versammelt, und Mr. Punch krähte: »Dir geh ich’s, dir geb ich’s!«, wobei er die arme Mrs. Punch mit seinem Knüppel bearbeitete; währenddessen saß der Hund Toby da, gähnte und kratzte sich das Fell.
»Ich kann nichts sehen, Mama«, jammerte William und hüpfte auf und ab.
Isabel klappte ihren Sonnenschirm zusammen und bückte sich, um ihn hochzuheben, als eine vertraute Stimme sagte: »Ich nehme ihn. Hinauf mit dir, kleiner Mann.«
Daniel Fogarty hob das Kind hoch in die Luft und setzte es sich rittlings auf die Schultern, während ihr das Herz bis zum Hals schlug. Eine tiefe Röte überzog ihr Gesicht. Um ihre Verwirrung zu verbergen, spielte sie mit ihrem Sonnenschirm.
»Geht es dir gut, Isabel?«, erkundigte er sich höflich. »Dies ist wirklich eine unerwartete Freude.«
»Ich bin bei bester Gesundheit, vielen Dank, Mr. Fogarty«, antwortete sie ebenso förmlich.
Sein Lachen übertönte noch das Gezeter von Mrs. Punch, und die Leute drehten die Köpfe nach ihnen um, als er das vor Entzücken jauchzende Kind mit gestreckten Armen hoch über den Kopf hob.
»Deine Mutter ist sehr auf gutes Benehmen bedacht, nicht wahr, mein kleiner Schlingel? Aber ich habe so den Eindruck, dass du deinem Onkel Daniel nachgerätst, junger Mann. Stimmt’s?« Er brachte den Knaben dicht vor sein bärtiges Gesicht und blickte tief in die dunkelbraunen Augen, die den seinigen so ähnlich waren.
Das Kind erwiderte den Blick ganz ernst einen kurzen Moment und gurgelte dann: »Onkel Dan’l. Heb mich noch einmal hoch, Onkel Dan’l, heb mich noch einmal hoch.«
»Sei vorsichtig, Daniel«, warnte Isabel.
Er grinste sie an: »Ich lasse ihn schon nicht fallen. Dafür ist er ein zu wertvolles Paket. Etwa nicht, Kleiner?«
Sie biss sich auf die Lippe. »So habe ich es nicht gemeint. Ich meinte, pass auf, was du sagst. Er ist eine richtige Plaudertasche.«
»Natürlich ist er das«, dröhnte Daniel und wirbelte den Jungen über dem Kopf herum. »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, habe ich recht, kleiner Mann!« Er sah sie augenzwinkernd an.
Sie führte die beiden von den neugierigen Blicken des Publikums weg, was William zu einem enttäuschten Geplärr veranlasste. Dann fasste sie sich und sah Daniel prüfend von der Seite an. Er benahm sich wirklich zu anmaßend; sie musste ihn in die Schranken verweisen. Sie gingen noch ein Stück weiter und bogen dann in eine rings von Büschen umgebene Rasenfläche ein. Die Sonne schien durch das Laub einer alten Eiche, in deren Rinde längst vergessene Liebespaare ihre Initialen eingeschnitten hatten. Insekten schwirrten summend umher und erfüllten die stille Luft mit ihrer uralten, geschäftigen Musik.
Daniel ließ William auf den Boden herunter, und sie sahen beide zu, wie der Junge einem bunten Schmetterling nachjagte. Dann ergriff er ihre Hand. »Ich habe dich vermisst, Isabel«, sagte er leise.
Sie entzog ihm die Hand und trat einen Schritt zurück. »Und wie geht es der lieben Emma?«, fragte sie höflich reserviert. »Man sieht sie neuerdings nur selten.«
Er hatte soviel Anstand, wenigstens ein verlegenes Gesicht zu machen. Ein dunkler Schatten huschte über seine Züge, und einen kurzen Augenblick war er wieder der alte, schüchterne Daniel von damals.
»Ihr Zustand hat sich erheblich gebessert«, antwortete er ebenso höflich. »Die melancholischen Anwandlungen treten seltener auf, obwohl sie sich immer noch gerne zurückzieht.«
»Emma war nie eine kräftige Natur«, meinte Isabel, und als sie sein besorgtes Gesicht sah, fiel es ihr schwer, in einem kühlen und geschäftsmäßigen Tonfall zu sprechen. »Wirklich, Daniel, ich finde manchmal, dass du auf die Empfindlichkeit anderer keine Rücksicht nimmst. Wie konntest du es nur zulassen, dass ein so anfälliges Wesen auf eine so lange Seereise ging?«
»Es war der Wunsch ihres Vaters«, sagte er abweisend. Er trat von einem Fuß auf den anderen und starrte verdrossen auf seine Schuhe hinunter. »Und Emma hatte gegen den Vorschlag nichts einzuwenden. Ich fürchte, sie hatte ziemlich romantische Vorstellungen über das Leben auf See, und als sie ihren Irrtum einsah, war es zu spät. Es gab Zeiten, in denen ich fürchtete, sie würde den Verstand verlieren.«
Isabel trat einen Schritt zurück und vergrößerte die Distanz zwischen ihnen. Sie konnte sich noch gut erinnern, wie Emma ausgesehen hatte, als sie von Bord ging. Sie hatte Augen wie ein verängstigtes Reh und war auf der Pier leicht hin und her geschwankt; ihr leeres Lächeln hatte so gewirkt, als sei sie sich ihrer Umgebung gar nicht bewusst geworden. Trotz eines momentanen Anfalls von Eifersucht hatte Isabel sie bedauert und war auf sie zugeeilt, um sie herzlich willkommen zu heißen, aber Emma war, ohne sie wiederzuerkennen, an ihr vorbeigeschritten und in die wartende Kutsche gestiegen.
»Es ist Mr. Callon hart angekommen, sehr hart«, sagte Daniel.
Isabel erwachte aus ihren Gedanken. »Es geht ihm hoffentlich besser?«
Daniel schüttelte den Kopf. »Seine Kräfte lassen nach. Sie lassen schnell nach, fürchte ich.«
Der Knabe kam zurück und marschierte im Takt unsichtbarer Trommeln. »Komm, William«, sagte sie und nahm ihn bei der Hand. »Es ist Zeit zum Gehen. Sag Onkel Daniel auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen, Onkel Dan’l«, sagte er gehorsam.
»Warum fragst du nicht Mama, ob du einmal vorbeikommen kannst?«
Daniel sah sie forschend an, und ihr entfuhr ein: »Aber William!« Aber in ihren Augen blitzte ein Lachen, und er glaubte, in ihrem Blick eine leise Aufforderung entdeckt zu haben.
Sie lächelte betörend. »Auf Wiedersehen, Daniel«, sagte sie und wandte sich mit dem Kind zum Gehen.
Als sie bereits einige Schritte entfernt waren, hörte er die kindliche Stimme noch sagen: »Ich mag Onkel Dan’l, Mama. Ich mag Onkel Dan’l sehr«, fügte der Kleine mit kindlichem Optimismus hinzu. »Warum kann Onkel Dan’l nicht kommen und bei uns bleiben, solange Papa unterwegs ist?«
Er konnte ihre Antwort nicht hören, aber bei dem Gedanken an eine so verblüffende Möglichkeit lächelte er wehmütig vor sich hin. Anstandshalber wartete er noch einige Augenblicke, bevor er weiterschlenderte – ein gesetzter, gutangezogener englischer Gentleman, der nach Erledigung seiner Geschäfte einen Spaziergang durch den Park unternimmt. Er wandte die Schritte dem Parktor zu und machte sich, ohne es eigentlich zu wollen, auf den Weg zu Callons düsterer Villa. Er hasste das Haus. Es lag, den Blicken Neugieriger entzogen, hinter einer hohen Mauer. Man konnte seine Umrisse am Ende einer langen Auffahrt erkennen, die in zahlreichen Windungen an ungepflegtem Buschwerk entlang in das Innere des Grundstücks führte.
Der Kies knirschte unter seinen Füßen wie das Gerippe erstorbener Ambitionen, und er musste wieder daran denken, wie stark ihn das Haus an ein Mausoleum erinnerte. Die riesige, eisenbeschlagene Tür sollte offenbar vorrangig dazu dienen, die Bewohner einzusperren, und nicht, Eindringlinge von außen fernzuhalten. Er zog an der Klingelschnur, und der Glockenton von drinnen klang wie ein Grabgeläut aus einer fernen Höhle.
Die Tür wurde geöffnet, und die bejahrte Haushälterin, Mrs. Crowther, erkannte ihn trotz ihrer Kurzsichtigkeit. Die sandfarbene Perücke saß ihr schief auf dem Kopf, sie roch nach Mottenkugeln. Die Alte trat beiseite und ließ ihn in die dunkle, lange Halle, deren Wände in Eiche getäfelt waren und deren Deckenbalken man das Alter ansah.
Das Haus war aus Sandsteinblöcken gebaut. Trotz der draußen herrschenden Temperaturen war es innen kühl und feucht, wie in einer Gruft. Daniel begab sich in die Bibliothek, goss sich ein großes Glas Brandy ein und ließ sich gedankenschwer in einem tiefen Ledersessel nieder. An den Wänden standen lange Reihen ungelesener Bücher, und die hohen Fenster mit ihren Butzenscheiben schienen eher den Zweck zu haben, die Dunkelheit festzuhalten, als Licht hereinzulassen. Über dem kalten Kamin hing Callons Porträt im Prunkstaat des Bürgermeisters und blickte aus Ewigkeiten auf ihn herab.
Daniel schlürfte seinen Brandy und ließ mit geschlossenen Augen die Bilder der Vergangenheit an sich vorüberziehen. Wenn er bedachte, dass er vor wenigen Jahren noch Steuermann auf einer Brigantine gewesen war – aber der Erfolg schien ihn plötzlich verlassen zu haben. Callon lag oben in seinem riesigen Himmelbett und hustete sich die Seele aus dem Leib; Emma wanderte wie ein Gespenst durch das Haus: sie litt an Angstvorstellungen, schreckte plötzlich vor irgendwelchen Schatten zurück und murmelte Unverständliches vor sich hin. Bald, vielleicht schon in wenigen Tagen, würde Callon sterben, und dann hätte er die gesamte Verantwortung für die Firma zu übernehmen. Ihn fröstelte bei dem Gedanken, und er griff noch einmal nach der trostspendenden Brandykaraffe. Die Leitung des Geschäftsbetriebes war für ihn ein Buch mit sieben Siegeln geblieben; er hatte nie einen Sinn für finanzielle Angelegenheiten besessen, und die vielfältigen Tätigkeiten einer Schifffahrtslinie überstiegen sein Fassungsvermögen in demselben Maße wie die Differentialrechnung das Begriffsvermögen eines Hottentotten. Auf dem Deck eines Schiffes fühlte er sich zu Hause. Mit einem Schiff verstand er ebenso umzugehen wie mit Männern und Segeln, und er konnte sich auf den sieben Weltmeeren mit der selbstsicheren Arroganz seines Berufsstandes behaupten – aber er blieb stets das ausführende Organ seines Reeders.
Daniel saß da, ließ den Brandy über die Zunge gleiten und wünschte insgeheim, er könne wieder zur See fahren, als ihm plötzlich die Zufallsbegegnung wieder in den Sinn kam. Ihm fiel wieder die Erregung ein, die ihn fast wie ein Krampf überkommen hatte, als er des Knaben ansichtig geworden war – des jungen, stämmigen Burschen, der seine eigenen dunklen Haare und dunklen Augen hatte. Er fragte sich erneut, was sie wohl veranlasst haben könnte, Elmer zu heiraten, diesen gezierten Einfaltspinsel. Ihn quälte der ewige Aufschrei des abgewiesenen Liebhabers – »wenn ich nur... wenn ich nur« – und er goss den Brandy hinunter, während es sich im Hause regte, als erwache es aus einem langen Schlaf. Er glaubte gedämpfte Stimmen und leise Schritte, das Rauschen eines Gewandes und eine ferne hohe Stimme zu hören, während er im Inneren die Kinderstimme wiederholte: »Ich mag Onkel Dan’l«, und »Mama, warum kann Onkel Dan’l nicht kommen und bei uns bleiben?« Und Isabels Gesichtszüge verschwammen vor ihm, bis er sogar ihr Parfüm in dem Raum wahrzunehmen glaubte.
Die Tür öffnete sich, und Emma stand als Silhouette vor der noch tieferen Dunkelheit der Halle vor ihm. Ihre weite Krinoline und die statuenhafte Regungslosigkeit ihrer Gestalt vermittelten im Augenblick die Illusion eines lebensgroßen Porträts von der Hand eines holländischen Meisters.
Noch ganz in Gedanken, starrte er verdrossen auf den Störenfried, bis sie sich bewegte und er sah, dass ihr Gesicht von Tränen überströmt war.
»Papa«, sagte sie. »Er hat nach dir gerufen.«
Er lief nach oben, nahm zwei Stufen auf einmal und eilte in das große Schlafzimmer mit dem Bett unter dem Baldachin. Der Geruch des Todes hing in der Luft. Die Vorhänge waren zugezogen, damit die Hitze draußen blieb. Flackerndes Kerzenlicht erhellte den Raum. Callon lag unter einem Berg von Bettzeug. Sein leeres rechtes Auge war auf die Decke gerichtet. Der Atem ging rasselnd und durchbrach die Stille wie das Geräusch einer fernen Brandung. Dann öffnete sich das andere Auge, wanderte über die Schatten des Zimmers hin und leuchtete kurz auf, als es Daniel erkannte.
Die eingefallenen Züge verzogen sich zu einem grimassenhaften Lächeln. Daniel beugte sich hinab, um die röchelnde Stimme besser zu verstehen.
»Es geht mit mir zu Ende, Daniel«, sagte Callon. »Bald stehe ich vor meinem Schöpfer.« Sein Gesicht zuckte, und ein Anflug alter Streitsucht huschte über seine Züge. »Ich habe noch das eine oder andere mit Ihm abzurechnen, aber ich fürchte, Er wird im Himmel ebenso wenig auf mich hören wie hier auf der Erde.« Seine Hand krabbelte wie ein schuppiges Insekt über die Bettdecke und griff mit erstaunlicher Kraft nach Daniels Fingern. Die Stimme sank zu einem erregten Flüstern herab. »Pass gut auf Emma auf! Versprich es mir, Daniel, versprich es mir.«
»Ich verspreche es«, beteuerte Daniel. Er wandte den Kopf und sah Emma weinend an seiner Seite stehen. »Ich verspreche es«, sagte er noch einmal.
Der Griff klammerte sich fester um seine Hand. »Du bist mir immer ein guter Sohn gewesen, Daniel. Dir wird jetzt alles gehören. Dort liegt’s, verbrieft und versiegelt.« Das sehende Auge wanderte herum und zog Daniels Blick auf eine Pergamentrolle, die inmitten von Arzneiflaschen auf dem Nachttisch lag. »Halte den Namen der Firma hoch, und lass dir von niemandem die Butter vom Brot nehmen.«
»Ich verspreche es«, wiederholte Daniel.
»Ich streiche jetzt die Segel.« Die Stimme ging in einen langen Seufzer über und erstarb.
Daniel schaute auf das zerknitterte Gesicht hinab und merkte, dass er weinte. Tränen brannten ihm in den Augen und liefen über die Wangen in seinen Bart hinab.
Er hatte den Alten immer gerngehabt. Er hatte seine Willenskraft, seinen Stolz, seine Unbeirrbarkeit, aber auch die plötzlichen Wutausbrüche und den ebenso unvermittelten Umschwung zu derbem Humor bewundert. Callon war ein harter Tyrann für seine Angestellten, aber gegenüber Daniel stets die Güte selbst gewesen.
Er legte Emma den Arm um die Schultern und spürte sofort, dass sie unter seiner Berührung nicht erschauerte. Stattdessen drückte sie ihm den Kopf an die Brust und schluchzte hemmungslos.
Daniel gab die erkaltende Hand frei und zog die Decke über das regungslose Antlitz. Plötzlich wurde er sich der Tatsache bewusst, dass er jetzt Callon & Co. war, und bei dieser Erkenntnis fühlte er sich einsamer denn je zuvor in seinem Leben. Er zog Emma an sich, als suche er eine Stütze; dann fand er, eingedenk seines Versprechens, einige Worte des Trostes.
»Es wird schon alles gut werden, Emma. Ich werde für dich sorgen.«
Sie hob die dunkelblauen Augen und sah ihn einen Augenblick an wie ein Kind, das in eine Wunderwelt geraten war. Dann entzog sie sich ihm, stöhnte und schüttelte den Kopf so heftig, als wolle sie sich von einer unerträglichen Last befreien. »Nein! Nein – nein – nein!«, jammerte sie und brach dann zu seinem Entsetzen in ein schrilles Gelächter aus, das im ganzen Hause widerhallte. Er nahm sie bei den Schultern und rüttelte sie, um sie wieder zur Vernunft zu bringen, aber sie wich noch weiter vor ihm zurück, streckte die Hände wie spitze Klauen gegen ihn aus und spuckte ihn an.
»Nie!«, kreischte sie. »Nie – nie – nie!« Dann floh sie mit wehenden Haaren aus dem Zimmer. Ihre hysterischen Schreie waren noch auf dem Gang zu hören, dann schlug ihre Zimmertür zu, und er war wieder allein. Im ganzen Haus herrschte Stille.
Daniel stand da und blickte auf die unter dem weißen
Tuch liegende Gestalt hinab. Er wünschte, er wäre zehntausend Seemeilen weit weg.
Und dieser Wunsch nahm Gestalt an, als wäre er ihm von einem guten Geist eingegeben worden, er gewann deutliche Umrisse und trat ihm klar vor die Seele.
Warum nicht?, dachte er. Mein Gott, warum eigentlich nicht?
Drittes Kapitel: Seenot
Mit zweitausend Tonnen Eisenerz bis an das Schanzdeck beladen, dampfte die Anne Onedin auf Nordwestkurs durch die Biskaya und rollte schwerfällig in der langen Dünung.
Während der ersten beiden Tage waren die Passagiere in ihren Kabinen geblieben, und James empfand eine stille Genugtuung, als aus Mr. Biddulphs Luxuskabine Geächze und Gestöhn zu hören waren.
Aber am dritten Tag, als die Sonne ein Loch in den dunkelblauen Himmel brannte, erschien die kleine Miss Biddulph wieder an Deck. Sie sah zwar noch bleich aus, war jedoch offenbar inzwischen Herrin der Lage. Sie aß mit Baines und Elmer zu Mittag, sprach aber wenig, sondern schien sich vornehmlich für das Essen zu interessieren.
Beim Abendessen hatte sie sich indessen, unterstützt durch die Widerstandsfähigkeit der Jugend, wieder völlig erholt und aß mit großem Appetit wie eine junge Wilde. Sie hatte auch den Gebrauch ihrer Sprechwerkzeuge wiedergewonnen und plauderte munter drauflos. Ohne auf eine Antwort zu warten, sprang sie von Thema zu Thema. Baines war entzückt, und Elmer amüsierte sich im Stillen, aber für James war sie eine unerträgliche Anfechtung geworden; störte sie ihn doch in seinen Gedankengängen laufend, indem sie ihn immer wieder mit einer ganzen Kette belangloser Fragen behelligte. Wie lang war das Schiff? Wie breit? Welchen Tiefgang hatte es? Besaß Mr. Onedin viele Schiffe? Ihr Vater besitze mehrere Kohlenzechen in Lancashire, und sie bewohne ein einfach riesenhaftes Haus mit Dutzenden von Zimmern und ganzen Scharen von Dienern, und ihre arme Mama sei kurz nach ihrer Geburt gestorben, und ob Mr. Onedin wohl verheiratet sei?
James tat der Kopf von ihrem pausenlosen Geplauder weh, und er hatte sich schließlich in die Abgeschiedenheit seiner eigenen Kabine zurückgezogen und sich dort Gedanken über die einzige nützliche Information gemacht, die er aus ihren Ergüssen gewonnen hatte: Biddulph war Bergwerksbesitzer, und Kohlen und Schiffe gehörten zusammen wie Pferde und Heu. Dampfschiffe verschlangen Berge von Kohlen, und Segelschiffe transportierten die Kohle als Ladung bis an weit entfernte Bunkerstationen. Deshalb war es vielleicht der Mühe wert, die Beziehung zu Biddulph zu pflegen.
Einen Tag darauf erschien Biddulph schließlich wieder auf der Bildfläche. Er sah, wie Baines grinsend meinte, wie eine kranke Schildkröte aus. Er nahm etwas Fleischbrühe zu sich und sprach den Rest des Tages kaum ein Wort. Aber am nächsten Morgen, als die Anne Onedin auf Ushant zustampfte, war seine nörgelnde Stimme wieder zu hören. Das Schiff, verkündete er jedem, der es hören wollte, sei gefährlich überladen, und zwar dermaßen, dass es auch bei ruhiger See auf bedenkliche Weise rolle und schlingere, und man brauche nur einen Schritt auf das
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Cyril Abraham/Apex-Verlag/Successor of Cyril Abraham.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Korrektorat: Mina Dörge.
Übersetzung: Karl Otto und Friedericke von Czernicki (The Onedin Line, Book 5: The Trade Winds).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 28.10.2021
ISBN: 978-3-7487-9792-0
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