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Leseprobe

 

 

 

 

JOHN CASSELLS

 

 

Vermisst

Ein Fall für Sugar Kane

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

VERMISST 

ERSTER TEIL 

ZWEITER TEIL 

DRITTER TEIL 

 

 

Das Buch

Es begann an einem außerordentlich unangenehmen, nasskalten Donnerstag Mitte November. Der Nordostwind pfiff durch die Straßen und peitschte den Regen in schrägen Streifen vor sich her. Der Wetterbericht prophezeite noch mehr von der Sorte, und Kane war diesmal geneigt, ihm zu glauben. Er saß in seinem Büro, Proud Lane 44, und fand, dies sei an einem Nachmittag wie heute einer der gemütlichsten Schlupfwinkel im ganzen britischen Königreich, besonders seit er anstelle der früheren Gasheizung den lang ersehnten offenen Kamin hatte...

 

Der Roman Vermisst - Band 3 der fünfbändigen Reihe um den Londoner Privatdetektiv Donny 'Sugar' Kane - des schottischen Schriftstellers John Cassells (ein Pseudonym von Bestseller-Autor William Murdoch Duncan - * 18. November 1909; † 19. April 1975) erschien erstmals im Jahr 1962; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

  VERMISST

 

 

 

 

 

  ERSTER TEIL

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Es begann an einem außerordentlich unangenehmen, nasskalten Donnerstag Mitte November. Der Nordostwind pfiff durch die Straßen und peitschte den Regen in schrägen Streifen vor sich her. Der Wetterbericht prophezeite noch mehr von der Sorte, und Kane war diesmal geneigt, ihm zu glauben. Er saß in seinem Büro, Proud Lane 44, und fand, dies sei an einem Nachmittag wie heute einer der gemütlichsten Schlupfwinkel im ganzen britischen Königreich, besonders seit er anstelle der früheren Gasheizung den lang ersehnten offenen Kamin hatte. Das Feuer war wohlversorgt und brannte lustig. Der alte Hauswart. Bayliss, der unter anderem die paar Quadratmeter Hintergarten in Ordnung hielt, hatte im Spätsommer einen überalterten Apfelbaum gefällt und die zerhackten Scheite im Keller aufgestapelt. Ab und zu verehrte er einem seiner Günstlinge ein Stück aus diesem kostbaren Vorrat.

Kane gehörte zu den Günstlingen. Nun saß er in seinem verschrammten alten Sessel am Kamin, die Pfeife im Mundwinkel und einen schon mehrmals gelesenen Brief auf dem übergeschlagenen Knie. Der Duft von brennendem Apfelholz mischte sich mit dem Aroma des Tabakrauches. Hinter ihm prasselte der Regen ans Fenster, und mit jedem Windstoß, der im Schornstein rumorte, flackerten die Flammen höher und ließen skurrile Schatten an den Wänden tanzen. Kanes dunkle Augen starrten nachdenklich ins Leere; sein ganzes, schon ziemlich zerfurchtes Gesicht hatte einen abwesenden Ausdruck. Der Brief machte ihm zu schaffen. Er grübelte nun seit mindestens einer Viertelstunde darüber und war doch noch zu keinem Schluss gekommen.

Es war ein einziger, handgeschriebener Bogen. Die Schrift war klein, leserlich und zierlich, mit einigen sehr apart geformten Buchstaben. Der Inhalt lautete:

 

 

Sehr geehrter Mr. Kane,

 

ich habe ein etwas schwieriges Anliegen, das ich gern mit Ihnen besprechen würde. Ich habe im Laufe dieser Woche schon zweimal in Ihrem Büro angerufen, aber leider vergeblich. Montag und Dienstag gegen sechs war ich sogar persönlich da, fand das Büro jedoch geschlossen. Bitte, seien Sie doch so freundlich, mich nun am Donnerstagabend zu erwarten. Da ich berufstätig bin, kann ich werktags nicht- vor sechs in der Proud Lane sein. Ich werde am Donnerstag auf alle Fälle noch einmal um vier anrufen, um von Ihnen zu hören, ob Sie diesen Brief bekommen haben und mich empfangen können. Die Sache ist wirklich sehr dringend. 

Hochachtungsvoll,

C. Smith

 

 

Kane fuhr sich mit den gespreizten Fingern durchs Haar, wobei - er wieder einmal die bedauerliche Feststellung machte, dass von seiner jugendlichen Mähne nicht mehr allzu viel übriggeblieben war. Der Brief flatterte bei dieser Bewegung auf den Boden, und als er sich danach bückte, hörte er schwere Schritte draußen auf der Treppe. Sie hielten vor seiner Tür. Nach zweimaligem Klopfen hörte er, wie jemand eintrat, das kleine Vorzimmer durchschritt und abermals klopfte.

»Herein!«, rief er zerstreut.

Der Besucher war Joe Osborne, ein guter, alter Freund von ihm, der die reguläre Polizeilaufbahn eingeschlagen hatte. Er war groß, breit und blond. Heute trug er einen altmodischen, zu langen Trenchcoat mit einem doppelt gewickelten Wollschal, der womöglich noch länger war. Seinen regennassen Hut hatte er rücksichtsvollerweise schon draußen ausgeschüttelt und hielt ihn nun zwischen dicken, blaurot angelaufenen, frostklammen Fingern.

»Hallo, Donny. So gut wie du möchte ich es auch mal haben! Widerliches Wetter heute. Ich glaube, ich brüte so was wie eine Grippe aus - mir ist jämmerlich zumute.«

»Na, dann setz dich mal erst und wärm dich auf.« Kane wies mit dem Kopf auf den. offenen Safe, wo eine Flasche ,Black and White« als Allheilmedizin und Vorbeugungsmittel stand. »Wie wäre es mit einem Whisky?«

Osborne schauerte zusammen und bemühte sich, sein Zähneklappern zu unterdrücken. »Danke, lieber nicht. Ich muss gleich wieder aufs Revier, und Finsdale dreht mir den Hals um, wenn er merkt, dass ich eine Fahne habe. Du kennst ja Finsdale. Der gestattet Alkohol nur in Protokollen.« Er seufzte tief auf und streckte seine langen, nassen Beine näher zum Kamin. »Ach, das tut gut. Ich bin seit neunzehn Stunden ununterbrochen auf der Walze. Warum bleiben wir dabei, Donny? Kannst du es mir vielleicht sagen?«

Kane sah ihn voller Mitleid und Verständnis an. »Romantik - Abenteuer - düstere Geheimnisse und ihre Lösung!«, zählte er ironisch auf.

Osborne zündete nicht ohne Mühe eine feuchtgewordene Zigarette an. »Schöne Romantik! Seit Morgengrauen bimmle ich an Haustüren herum und schrecke biedere Hausfrauen in Lockenwicklern auf - die meisten sind im Negligé kein sehr erhebender Anblick. Dann quatsche ich mit ein paar Halbstarken. Soweit das Abenteuer. Bleibt noch das Geheimnis, und das ist wahrhaftig düster, aber bis jetzt ungelöst: Warum schmeißen wir den ganzen Krempel nicht hin und suchen uns einen anderen Broterwerb?«

»Vielleicht würde uns in jedem anderen Beruf doch irgendwas fehlen, Joe.«

Osborne stieß den Rauch durch geblähte Nasenlöcher. »Ja, als Junge hat man sich das so vorgestellt. Himmel, was hatte ich für Rosinen im Kopf! Sherlock Holmes und sämtliche Nachfolger waren kümmerliche Würstchen gegen Joe, den Meisterdetektiv - habe ich mir gedacht. Ich malte mir aus, wie ich plötzlich aus einem Schrank oder Reisekoffer steigen und mir den falschen Schnurrbart abreißen würde: Ha, Schurke! Habich dich endlich! Her mit dem Krügerdiamanten! So ungefähr. Die Wirklichkeit sieht leider ein bisschen anders aus. Er hielt inne, sog heftig an seiner Zigarette und fügte dann müde hinzu: »Aber na, wem erzähle ich das!«

Kane grinste kurz. »Besonders schwieriger Fall heute?«

»Ach, das übliche.« Osborne strich seinen noch beneidenswert vollen blonden Schopf zurück. »Gestern Nacht hat jemand einem- gewissen Toby Kyne über den Schädel gehauen und ist mit vierhundertvierzig Pfund Bargeld abgezogen. Toby liegt im Krankenhaus und ist nicht vernehmungsfähig. Als tatverdächtig kommen eigentlich nur Ike Friedman und Nick Spicer in Frage. Ich persönlich tippe auf Spicer. Nun behauptet er aber, er hätte dich als Entlastungszeugen. Du hättest ihn um zehn in der Paintner’s Lane gesehen und dich sogar mit ihm unterhalten. Stimmt das?«

»Stimmt. Ich habe zufällig auf die Uhr gesehen. Es war fünf nach zehn, und wir haben mindestens fünf Minuten herumgestanden und geredet.«

Osborne verzog schmerzlich das Gesicht. »Dann kann er es nicht gewesen sein. Toby Kyne ist zehn Uhr sieben überfallen worden, und das war in der Keil Street. Also wieder eine Pleite.« Er sah Kane hoffnungslos an. »Bist du ganz sicher, dass der Bursche, mit dem du gesprochen hast, Spicer war? Und geht deine Uhr bestimmt richtig? War sie nicht vielleicht zufällig stehengeblieben?«

»Tut mir leid, Joe«, erklärte Kane mitfühlend, »ich würde ja rasend gern deine Theorie unterstützen, aber es geht beim besten Willen nicht.«

Osborne seufzte. »Na schön, dann muss ich eben noch mal von vorn anfangen. Ist ja so unterhaltsam, besonders bei Grippewetter. Und ich war fest überzeugt, es wäre...«

Das Telefon klingelte dazwischen. Kane hatte ganz vergessen, dass er hier saß, um auf einen Anruf zu warten. Nun erinnerte er sich und hob den Hörer ab.

»Kane, Detektiv-Agentur«, meldete er sich. 

»Hier Miss Smith. Spreche ich mit Mr. Kane persönlich?«

»Ja. Danke für Ihren Brief. Es tut mir leid, dass Sie sich schon so oft vergebens bemüht haben. Dies ist ein Ein-Mann-Betrieb, müssen Sie wissen.«

»So etwas Ähnliches habe ich mir schon gedacht.« Die Stimme am andern Ende war kühl, zurückhaltend und angenehm. »Kann ich heute Abend kommen?«

»Bitte, ich stehe zu Ihrer Verfügung.«

»Vielen Dank.« Es klang erfreut und erleichtert. »Ich werde also um sechs bei Ihnen sein. Auf Wiederhören bis dahin.«

Sie hängte ein, und Kane tat langsam und- gedankenvoll dasselbe.

»Das nennst du wahrscheinlich Arbeit?«, bemerkte Osborne und schüttelte mit einem Anflug von Neid, gemischt mit Bewunderung, den Kopf. »Wenn du mal einen tüchtigen Kompagnon brauchst, Donny, denk bitte an mich.«

Kane lachte. »Du kannst jeden Tag bei mir anfangen, Joe. Aber ich warne dich - mein Dasein ist auch kein reines Zuckerschlecken. Einige Sorgen, die ich habe, hast du nicht. Du kriegst dein Gehalt, egal, ob viel oder wenig zu tun ist. Bei mir heißt es: kein Auftrag, kein Geld. Und dann denke an die Hauptsache, die Altersversorgung!«

»Wenn ich nicht Frau und Kinder hätte, würde ich auf der Stelle mit dir tauschen«, versicherte Osborne. »Manchmal hängt mir der ganze verdammte Trott kilometerweit zum Hals heraus. Heute bin ich gerade wieder auf so einem Nullpunkt. Arbeit macht mir nichts aus, aber ich möchte wenigstens einmal wieder richtig ausschlafen können.« Er rieb sich die rotgeränderten Augen. »Wollen wir nicht für ein paar Stunden tauschen? Dein Sessel da wäre mir gerade recht für ein Nickerchen.«

»Um sechs Uhr kommt aber jemand. Erledigst du das dann für mich mit?«

»Wird gemacht«, grinste Osborne. »Nach bestem Wissen und Gewissen. Worum handelt es sich?«

Kane reichte ihm den Brief hinüber. »Erster Blick hinter die Kulissen. Nun zeige mal deinen kriminalistischen Scharfblick!« Osborne überflog das Schreiben mit mäßigem Interesse. »C. Smith. Mann oder Frau?«

»Na, was meinst du?«

»Klingt nach Frau. Die Schrift sieht auch so aus, aber danach kann man nicht immer gehen. War das die, die eben angerufen hat?«

»Erraten.«

»Jung oder alt?«

»Die Stimme hat jung geklungen«, sagte Kane zögernd. »Aber danach kann man auch nicht immer gehen.«

Osborne warf den Rest seiner Zigarette ins Feuer und zündete sich gleich eine neue an. »Was will sie von dir?«

»Diesbezüglich bin ich genauso schlau wie du«, erwiderte Kane achselzuckend.

»Na, du hast doch deine Erfahrungen. Was hältst du für möglich?«

»Ehekrise vermutlich. Die Dame möchte ihrem Mann hinsichtlich der Seitensprünge auf die Schliche kommen. Vielleicht bleibt er verdächtig oft über das Wochenende weg. Vielleicht hat sie bei einer Tascheninspektion einen Brief oder eine aufschlussreiche Hotelrechnung gefunden. Oder eine wohlmeinende Freundin hat ihr einen Floh ins Ohr gesetzt. Nun will sie sich erst über einige Punkte vergewissern, bevor sie zum Kadi rennt.«

»Donnerwetter, du redest ja wie ein Hellseher!« 

»Ich kann mich irren, aber meistens kommt es auf so etwas hinaus, wenn eine Dame mir Briefe schreibt.« Kane rieb sich das Kinn. »Ich frage mich oft, ob es überhaupt noch glückliche Ehen auf der Welt gibt.«

»Schwer zu beurteilen«, meinte Osborne. »Lilly und ich kommen gut miteinander aus. Beweis: Ein halbes Dutzend Kinder. Aber ich bin nicht viel zu Hause, und das ist wahrscheinlich ein Pluspunkt. Die Reibereien in der Nachbarschaft kommen alle vom zu vielen Zusammenhocken.« Er stand mit einem ruckartigen Entschluss auf und warf die angerauchte Zigarette weg. »Um noch mal auf Spicer zurückzukommen - du bleibst also dabei, dass der Kerl ein einwandfreies Alibi hat?«

»Hat er. Tut mir leid für dich.«

»Und du bist nicht zu einem kleinen Meineid bereit, was? Der Gerechtigkeit wäre auf jeden Fall geholfen, wenn der Bursche für ein paar Jahre auf Eis gelegt würde. Früher oder später kommt er sowieso dran.« Osborne betrachtete mit wehmütigem Grinsen seinen Hut und hieb ihn dann achtlos auf den Kopf. »Gut, dass ich noch Haare habe. Dieser Hut ist vollgesogen wie ein Schwamm. Okay, ich muss los. Falls Finsdale sich nach mir erkundigt, sag' ihm, dass ich hier gewesen bin.«

»Schön, ich werde es mir merken.«

Osborne salutierte andeutungsweise und ging. Kane sinnierte noch ein Weilchen hinter ihm her. Er hatte Joe sehr gern und schätzte ihn als Polizeibeamten hoch. Solche wie ihn gab es nicht allzu viele - zäh, pflichttreu, absolut ehrlich. Er schimpfte zwar dauernd auf seinen Beruf, liebte ihn aber und würde, noch einmal vor die Wahl gestellt, bestimmt wieder zur Polizei gehen. Das wollte nach soundsoviel Dienstjahren schon etwas heißen.

Kane erinnerte sich, dass er vor sechs Uhr noch eine Kleinigkeit zu erledigen hatte. Die Zeit reichte gerade aus. Er sah nach dem Feuer, schob den Kaminschirm vor, zog seinen Mantel an und verließ das Büro. Draußen war es dunkel, nass und kalt. Auf dem Wege zur Untergrundbahn dachte er an Joe Osborne und Nick Spicer und dann an die unbekannte Miss Smith. Ihre Stimme hatte irgendwie Eindruck auf ihn gemacht, obwohl sie so wenig gesagt hatte. Er ertappte sich bei dem merkwürdigen Wunsch, dass er sich bezüglich ihres Problems geirrt hätte. Vielleicht war sie gar nicht verheiratet. Das Miss vor ihrem Namen besagte freilich nichts; alle berufstätigen Frauen nannten sich Miss. Kane dachte noch immer darüber nach, als er zu seinem Klienten Tony Devine kam.

Tony war ein kleiner, dicker, älterer Mann, der mit gebrauchten Anzügen handelte und sich damit ein Vermögen zusammengekratzt hatte. Er empfing Kane in seinem muffig riechenden kleinen Kontor hinter dem Laden und bot ihm einen Platz am Kamin und eine Zigarre an.

»Nett, dass Sie selber kommen, Donny«, sagte er. »Am Telefon rede ich nicht gern über solche Sachen. Habe schon ein paar schlaflose Nächte hinter mir. Da predigt man seinen Kindern jahrelang Vernunft, und dann geht der Bengel hin und bringt sich in eine so dämliche Schwulität! Was ist nun? Muss ich der Person die Abfindung zahlen?«

»Unter den gegebenen Umständen ist es das klügste, Tony.«

»Gut«, erwiderte Mr. Devine. »Das Weibsstück könnte Peter wahrscheinlich nichts nachweisen, so und so nicht, aber Ihr Rat ist jetzt ausschlaggebend für mich. Wenn Sie mir gesagt hätten, ich soll mich auf die Hinterbeine stellen, und mich wehren, dann hätte ich’s getan, verlassen Sie sich drauf, und wenn es mich Fünftausend gekostet hätte...«

»Auf diesem Wege kostet es Sie nur Fünfhundert. Das ist billiger.«

»Kann man wohl sagen.« Mr. Devine holte ächzend ein Scheckbuch aus der Schreibtischschublade und füllte das oberste Formular aus. »Wie schreibt man Janice?«, fragte er plötzlich.

Kane buchstabierte langsam und deutlich.

Der alte Mann schrieb fertig, riss das Blatt heraus und wedelte damit in der Luft herum, um die Schrift trocknen zu lassen. »So, das wäre erledigt. Vor einer Woche habe ich es noch für Erpressung gehalten und Gift und Galle gespuckt. Jetzt bin ich schon zufrieden, wenn ich in Ruhe gelassen werde.«

»Sie sagt, mehr will sie nicht von Ihnen. Ich werde es Ihnen vorsichtshalber noch schriftlich geben lassen. Sagen Sie Ihrem Peter, er soll in Zukunft die Finger von unbekannten Mädchen lassen. Nicht jede gibt sich mit Fünfhundert zufrieden. Er ist diesmal noch billig davongekommen.«

»Möglich«, gab Tony Devine betrübt zu. »Kinder bereiten einem viele Sorgen, Donny.« Er schrieb einen zweiten Scheck aus. »Das ist für Sie. Und wenn es noch irgendwelche Schwierigkeiten gibt - Sie kümmern sich darum, nicht?«

»Es wird keine mehr geben.« Kane nahm die beiden Formulare entgegen und prüfte sie. »Fünfzig für mich, Tony? Das ist aber nobel!«

»Redlich verdient, Donny. Ich werde mich in künftigen Fällen gern wieder an Sie wenden.« Seine schwermütige Miene hellte sich ein wenig auf; die Äuglein begannen zu glitzern. »Und wenn Sie sich meinen Peter mal vornehmen und ihn windelweich prügeln, gebe ich Ihnen weitere fünfzig Pfund!«

»Sie können ihm vorläufig damit drohen«, sagte Kane lachend. Dann warf er einen Blick auf die Uhr und fügte hinzu: »Heute habe ich keine Zeit mehr. Um sechs kommt wieder ein Klient.«

Tony begleitete ihn an die Seitentür. »Nochmals schönen Dank für alles. Ich verlasse mich darauf, dass diese Janice jetzt Ruhe gibt. Auf Wiedersehen, Donny.«

»Gute Nacht.« Kane setzte seinen Hut auf, überquerte einen kleinen Hof und kam durch die Ausfahrt auf die Straße zurück. Der Regen hatte sich inzwischen wieder verstärkt. Er blieb sekundenlang stehen, um den Mantelkragen hochzuschlagen. Ein paar Schritte entfernt stand ein schwarzer Wagen an der Bordschwelle; ein Consul, soviel in der Dunkelheit zu erkennen war. Aus Devines Laden fiel etwas Licht über den Vordersitz. Kane glaubte zwei Männer darin zu sehen, aber nur das eine Gesicht war schwach beleuchtet. Es wirkte jung, unfertig, blässlich und ein bisschen gespannt, als warte sein Besitzer auf etwas oder jemanden. Kane, gewohnt,. alles wahrzunehmen, auch wenn es ihn nichts anging, registrierte geistesabwesend ein dünnes Schnurrbärtchen in dem jungen Gesicht, farblos wie das übrige, und vergaß es gleich wieder. Er zog den Kopf in den Kragen, vergrub die Hände tief in den Manteltaschen und ging seiner Wege.

Auf der Heimfahrt dachte er noch ein wenig über Tony und seinen hoffnungsvollen Sohn Peter nach. Wirklich, Kinder waren kein reines Vergnügen. Diesmal hatte der Bengel noch Glück gehabt. Hoffentlich zog ihm der Alte die fünfhundert Pfund von irgendwas ab, damit er am eigenen Leibe spürte, dass es Lehrgeld war. Es hätte bedeutend unangenehmer ausgehen können.

Kane stieg an seiner Station aus, tauchte wieder zur Erdoberfläche empor und ging die kurze Strecke zur Proud Lane. Vor dem Eingang zu Nummer 44 blieb er gewohnheitsgemäß einen Moment stehen und sah den Weg zurück, den er gekommen war. Er machte das immer, ohne sich viel dabei zu denken, es gehörte einfach zur Routine seines Berufs. Die Straße war heute fast menschenleer. Nur ein Mann bog rasch um die nächste Ecke, kam etwa auf zehn Schritte heran, hielt dann plötzlich inne, drehte sich um und verschwand wieder.

Kane verschwendete auf dieses alltägliche Vorkommnis keine besondere Aufmerksamkeit. Der Mann hatte vermutlich etwas vergessen oder sich anders besonnen. Er selbst kehrte oft genug auf dem Absatz um, wenn er irgendwohin wollte. Er betrat das Haus und ging die Treppe hinauf in sein Büro. Während er seinen Mantel auszog, bemerkte er, dass das Feuer ziemlich niedergebrannt war. Er stocherte darin herum, legte Holz und Kohlen nach und räumte ein bisschen auf.

Mittlerweile war es sechs Uhr geworden. Er setzte sich wieder in seinen Sessel, stopfte eine Pfeife und wartete rauchend auf seine Klientin. Er war mit sich und der Welt im Frieden. Es war doch eine schöne Sache, an regnerischen Novemberabenden ein eigenes warmes, gemütliches Büro zu haben. Es war auch sehr angenehm, wieder fünfzig Pfund auf die hohe Kante legen zu können und dabei schon einem neuen Auftrag entgegenzusehen. Wenn ihm die Sache faul vorkam, brauchte er sie nicht zu nehmen; so schlecht ging es ihm momentan nicht. Ja, das Leben eines Privatdetektivs hatte auch seine guten Seiten, nichts dagegen zu sagen.

Er wartete. Er wartete, verdammt lange. Es wurde sechs Uhr dreißig, sieben, sieben Uhr dreißig. An diesem Punkt hörte bei ihm die Gemütlichkeit auf. Miss C. Smith sollte ihm den Buckel runterrutschen! Inwendig leise kochend, nahm er Hut und Mantel wieder vom Haken, ging und verschloss nachdrücklich die Bürotür hinter sich.

Es regnete noch immer. Die dunkle, nass spiegelnde Straße war leer bis auf einen einzigen Wagen. Kane hatte den Eindruck, dass es wieder ein schwarzer Consul mit zwei Insassen war. Er ging ruhig weiter, ohne sich umzusehen, und strebte zielbewusst auf Johnny Antrades Restaurant zu.

 

 

 

Zweites Kapitel

 

 

Johnny stand wie gewöhnlich hinter der Theke. »Hallo, Donny!«, begrüßte er Kane munter, indem er schon den Dry Martini für ihn hinstellte. »Spät geworden heute, was? Ich dachte halb und halb, Sie kommen nicht mehr, hab’ aber Ihren Tisch trotzdem freigehalten.«

Kane nahm sein Glas und leerte es. Der Martini spülte einen Teil seiner schlechten Laune weg. Das Lokal war um diese Zeit ziemlich voll, und es freute ihn umso mehr, das Kärtchen mit der Aufschrift Reserviert unangetastet auf seinem Stammplatz in der Ecke zu sehen. Sein Freund Cibber, der lange, dünne Kellner, erblickte ihn im Vorübereilen und brachte sofort das übliche Gedeck für ihn mit. Kane fühlte sich umhegt und gepflegt.

»Johnny«, seufzte er, »sind Sie schon mal versetzt worden?«

»Und ob! Das letzte Mal dürfte allerdings gut zwanzig Jahre her sein. Wie heißt sie?«

»Smith.«

»Den Namen muss ich schon mal irgendwo gehört haben. Na, Kopf hoch, Donny. Anständige Männer werden sitzengelassen. Nur die Taugenichtse haben iii der Liebe jedes Mal Glück.«

»Da könnte was dran sein«, nickte Kane todernst. Dann ging er an seinen Tisch, wo Cibber schon auf ihn wartete. »Hallo, Cibber, wie geht’s?«

Der ältliche, sorgenvoll aussehende Mensch wand sich diskret. »Rheumatismus, Mr. Kane! Dieses nasskalte Wetter ist Gift für mich.« Er schüttete behutsam die Suppe in den Teller um. »Ich nehme Stoffwechselsalz dagegen, aber es hilft nicht viel.«

»Sie müssten sich mal in richtige ärztliche Behandlung begeben.«

»Das macht so viele Umstände und kostet Zeit«, seufzte Cibber. »Sie wissen ja, wie es ist - Mr. Antrade hat sowieso zu wenig Personal. Aber irgendetwas muss bald geschehen, die Schmerzen machen mich manchmal ganz verrückt; Seit ein paar Tagen habe ich eine Muskatnuss in der Tasche. Das soll noch besser wirken als Kastanien. Ich merke bloß leider noch nichts davon.«

»Vielleicht ist die Muskatnuss nicht erste Qualität«, meinte Kane. »Nehmen Sie eine andere.«

»Ich werde es versuchen«, erwiderte Cibber trübselig und entfernte sich leicht hinkend.

Kane löffelte mit Genuss seine Suppe. Er war schon beim Fisch, als ein Fremder ins Lokal kam und sich in der Nähe der Theke niederließ. Es war ein großer, hagerer Bursche mit hohlen Wangen und fahlblondem Haar. Er bestellte sich etwas zu trinken, sonst nichts. Kane hätte ihn nicht weiter beachtet, wenn er zu Johnny Antrades Stammgästen gehört hätte; aber er war bombensicher, ihn noch nie hier gesehen zu haben. Ein neues Gesicht bei Johnny fiel ihm immer sofort auf. Seit Kriegsende aß er regelmäßig in Johnnys Restaurant. Die wenigen Abende, an denen er beruflich verhindert war, zählten nicht. Der dünne junge Mann da drüben war ein Neuling, und doch wurde Kane das Gefühl nicht los, dass er ihn irgendwoher kannte. Er musterte ihn noch ein paarmal unauffällig über seinen Teller hinweg, aber so sehr er auch sein Gedächtnis anstrengte - der Groschen wollte nicht fallen.

Als Cibber ihm den abschließenden Kaffee brachte, erkundigte er sich leise bei ihm.

Cibber war längst auf solche Fragen gedrillt und betrug sich musterhaft. Er sah nicht direkt hin, sondern in den Spiegel über der Theke. »Ich weiß schon, wen Sie meinen, Mr. Kane. Den dünnen Blonden mit dem Schnurrbärtchen. Nein, den kenne ich nicht. Er war noch nie hier.« Damit hastete er weiter, und Kane zündete sich gedankenvoll eine Pfeife an.

Er hatte jedoch noch nicht viel mehr als zwei oder drei Züge geraucht, als er bemerkte, dass Johnny Antrade in eigener Person auf ihn zukam. Er legte seine Pfeife in den Aschbecher, stand auf und ging ihm entgegen. »Wollen Sie zu mir, Johnny? Ist was los?«

»Telefon«, erwiderte Antrade. »Im Büro.«

»Für mich?«, fragte Kane erstaunt.

»Jawohl, für Sie.« Antrade kniff vielsagend ein Auge zu. »Dreimal dürfen Sie raten, wer es ist!« Und da Kane ihn nur verständnislos anstarrte, fügte er die Antwort gleich selbst hinzu: »Ihre Miss Smith.«

»Was?«

»Tatsache«, bekräftigte Johnny. »Sie hat sich laut und deutlich vorgestellt. Fragte, ob der berühmte Privatdetektiv Donny Kane hier wäre. Wenn ja, sollte ich ihn holen.«

Kane war ehrlich verblüfft. »Woher wusste sie denn, dass ich hier zu erreichen bin?«

»Tja, da fragen Sie mich nun zu viel«, sagte Antrade trocken. »Ich bin schließlich nicht der Detektiv, sondern Sie. Fragen Sie sie doch selber.«

Kane ging ohne ein weiteres Wort quer durchs Restaurant in das angrenzende Büro, setzte sich auf die Schreibtischkante und griff nach dem daliegenden Hörer. »Hallo - Kane.«

Die bekannte, sympathische Stimme erwiderte etwas atemlos: »Hier Smith. Mr. Kane, entschuldigen Sie bitte, dass ich zur vereinbarten Zeit nicht gekommen bin. Ich wurde leider aufgehalten, und...«

»Wer oder was hat Sie aufgehalten?«

»Das erzähle ich Ihnen lieber persönlich, ich meine, nicht am Telefon. Könnte ich jetzt noch in Ihr Büro kommen?«

»Ich habe den Laden für heute zugemacht«, erklärte Kane leicht gereizt. »Wenn Sie mit mir etwas abzumachen haben, Miss, müssen Sie sich schon an einigermaßen normale Stunden...«

»Aber das ging doch nicht«, unterbrach sie ihn hastig. »Sie verstehen nicht, Mr. Kane... Sie können es ja auch vorläufig unmöglich verstehen.«

Irgendetwas in ihrer Stimme verriet ihm, dass ihre Bedrängnis echt war. Er wechselte das Thema.

»Woher wussten Sie, dass ich in Antrades Restaurant bin?«

»Ich wusste es nicht, aber ich hoffte es. Ich habe auf gut Glück angerufen, weil mir jemand mal erzählt hat, Sie wären bei Antrade Stammgast.«

»Wer war das?«

»Ach, Sie werden sie kaum kennen. Eine Bekannte von mir, Milda Trent.«

Kane dachte scharf nach. »Müsste ich den Namen wissen?«

»Sie heißt jetzt anders - Dawlish. Ihr Mann ist Jack Dawlish, ein ehemaliger Klient von Ihnen.«

»Ach so, ja, ich erinnere mich. Also meinetwegen, ich werde mich noch einmal ins Büro verfügen. Wie lange brauchen Sie, um hinzukommen?«

»Etwa eine halbe Stunde, vielleicht weniger. Ich beeile mich so sehr wie möglich.«

»Gut. Auf Wiederhören.« Kane hängte ein, blieb aber noch einen Moment sitzen und überlegte. Sem geübtes Ohr hatte in dem kurzen Gespräch ein paar Untertöne vernommen, die ihm zu denken gaben. Um eine Ehekrise handelte es sich keinesfalls; diese erste falsche Annahme konnte er getrost ad acta legen. Dass Miss Smith sich auf Jack Dawlish berufen hatte, sprach für sie. Jack war ein prächtiger Kerl und gab sich nicht mit hysterischen Gänsen ab. Wenn Miss Smith etwas von seinen früheren Schwierigkeiten wusste, musste sie sein Vertrauen genießen und es verdient haben. Daraus folgte wiederum, dass sie selbst nicht zu den Frauen gehörte, die wegen jeder lächerlichen Bagatelle gleich einen Detektiv bemühen.

Er ging ins Restaurant zurück, holte Pfeife, Mantel und Hut und verabschiedete sich bei Johnny.

»Na, alles wieder eingerenkt, Donny?«, fragte der Wirt augenzwinkernd.

»Sieht so aus.«

Johnny kratzte sich die Hängebacke und wurde nachdenklich. »Nichts für ungut, Donny, aber Sie werden auch nicht jünger. Wie alt sind Sie jetzt eigentlich? Anfang Vierzig, wie?«

»Zum Teufel, wozu müssen Sie das wissen?«, knurrte Kane ungnädig. »Achtunddreißig!«

»Sieh mal an, ich hätte Sie älter geschätzt. Entschuldigen Sie. Na, wie dem auch sei, ich frage mich schon lange, warum Sie sich nicht ein nettes Mädchen anlachen und einen ordentlichen Haushalt gründen, es wird allmählich Zeit. Freut mich, dass: Sie jetzt endlich eine haben, die sogar selber anruft. Lassen Sie sich die Chance ja nicht entgehen. Viel Vergnügen heute Abend! Und bringen Sie die Dame nächstens mal mit - ich spendiere Ihnen beiden ein Festessen.«

»Hören Sie, Johnny«, sagte Kane erbittert, »tun Sie mir den Gefallen und ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse, ja? So was kann ich nämlich auf den Tod nicht vertragen. Ich habe die betreffende Dame noch nie gesehen. Bis jetzt kenne ich nur eine Telefonstimme. Eine Klientin.«

»Ach!« Johnny Antrade war sichtlich enttäuscht. »Und ich dachte...«

»Denken ist Übungssache, Johnny. Sie sollten es auf Ihre alten Tage gar nicht mehr versuchen. Ihr Horizont wird doch nie über Weiber und Whisky hinausgehen.« Kane grinste überlegen, machte eine grüßende Handbewegung und wandte sich zum Gehen. In der Tür sah er noch einmal zurück. Johnny starrte ihm sprachlos erschüttert nach, Cibber wischte ein Tablett ab, und der dünne blonde Fremdling leerte gerade sein Glas.

Er ging ganz hinaus und war eine Viertelstunde später wieder in seinem Büro. Diesmal hatte er auf dem ganzen Wege keine Menschenseele angetroffen. Im Kamin war noch genug Glut, um damit abermals ein nettes Feuerchen anzuschüren. Kane hatte dies eben zu seiner Zufriedenheit vollbracht, als er draußen auf dem Korridor leichte Schritte hörte. Dann klopfte es an der Außentür. Er ging ins Vorzimmer und öffnete.

Die junge Dame, die vor ihm stand, steckte vom Kopf bis zu den Knöcheln in einer langen Regenhaut mit Kapuze. Ihr Gesicht wurde von großen lichtgrauen Augen beherrscht, die ihn ernst und forschend ansahen.

»Mr. Kane?«, fragte sie überflüssigerweise, denn der Beschreibung nach musste er es sein. Sein Anblick war vertrauenerweckend: ein Mann in mittleren Jahren, nicht jung, nicht alt, breitschultrig, vielleicht ein bisschen zum Fettansatz neigend. Sein Gesicht war ihr sympathischer, als sie von einem ehemaligen Berufsboxer erwartet hätte. Er hatte braune, freundliche Augen, ein energisches Kinn und dunkles Haar, das allerdings schon merklich gelichtet war. Eine angenehme Ruhe ging von ihm aus.

»Ja, mein Name ist Kane«, nickte er. »Und Sie sind Miss Smith? Bitte, kommen Sie herein.« Er führte sie ins Büro, nahm ihr den Regenmantel ab und hängte ihn an den Garderobenständer hinter der Tür. Dann bot er ihr seinen Sessel am Kamin an, setzte sich ihr gegenüber und zog die Pfeife hervor.

»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich rauche?«

»Aber bitte, mich stört es nicht.«

Er setzte die Pfeife umständlich in Brand, wodurch er Zeit ge. wann, sich ein genaueres Bild von seiner Klientin zu machen, ehe sie zu reden anfingen. Miss Smith war mittelgroß, schlank und jung, höchstens zweiundzwanzig. Ihre lichtgrauen Augen waren ihm schon draußen aufgefallen; nun sah er, dass sie, wie vermutet, dunkles Haar dazu hatte. Es war von Natur aus lockig, denn statt von der Feuchtigkeit zerdrückt und unansehnlich geworden zu sein, krauste es sich sehr anmutig über der breiten, intelligenten Stirn. Kane zog erstaunt das Resümee, dass sie mehr als hübsch war: sie war schön. Sie hatte einen bezaubernden, frischen Teint und einen Mund mit lieblich vertieften Winkeln, als ob er zum Lächeln und Lachen geschaffen sei. Im Moment lächelte er jedoch keineswegs. Miss Smith sah sich ernsthaft und eingehend im Zimmer um und richtete ihre lichtgrauen Augen dann wieder auf Kane.

»Sie haben es wirklich nett und gemütlich hier, Mr. Kane. Es ist ganz anders, als ich es mir gedacht habe.«

Was ihre Stimme und Ausdrucksweise ihm schon am Telefon verraten hatte, bestätigte sich in ihrer Gegenwart. Sie war ein gebildetes Mädchen. Bei ihrer Erziehung hatte man weder Kosten noch Mühe gescheut.

»Wie haben Sie es sich denn vorgestellt?«, fragte Kane lächelnd. »Ich weiß nicht - anders. Moderner und nüchterner vielleicht, mit Neonröhren und Aktenregalen aus Leichtmetall und all dem Zeug, wie man es in Filmen sieht.«

»Aber Sie sind hier nicht im Kino, Miss Smith.«

»Nein. Leider nicht.« Sie sah ihn unverwandt an. »Ehe ich es vergesse - ich möchte mich noch einmal entschuldigen, Mr. Kane, dass ich Ihnen so viele Unannehmlichkeiten verursacht habe.«

»Nicht der Rede wert.«

»Darf ich Ihnen jetzt mein Anliegen vortragen?«

»Ich bitte darum.«

»Ich muss Ihnen zunächst noch erklären, warum ich heute um sechs nicht hier gewesen bin. Sehen Sie, ich bin nämlich Sekretärin bei einer bekannten Anwaltsfirma, Marius, Kyne & Dallport, und...«

»Die Namen kenne ich«, warf Kane ein. »Persönlich bin ich den Herren allerdings noch nicht begegnet.«

Sie lächelte flüchtig. »Das dürfte auch nicht gut möglich sein, denn sie sind alle drei schon lange tot. Die jetzigen Inhaber der Firma sind die Brüder Michael und Marcus Gower, beide Rechtsanwälte. Nun kam heute Nachmittag gegen halb fünf, kurz nachdem ich Sie angerufen hatte, Mr. Michael herein und eröffnete mir, dass ich mit ihm zu einem Klienten, der in Staines wohnt, fahren müsste. Wir würden ungefähr um acht zurück sein, und...«

»Konnten Sie ihm nicht einfach sagen, Sie hätten etwas anderes vor?«

»Nein, das hätte wirklich sehr schlecht ausgesehen. Mr. Gower ist sonst ein sehr großzügiger Chef, und es kommt nur selten vor, dass er Überstunden verlangt. Es war mir sehr, sehr unangenehm, aber ich konnte nicht gut ablehnen. Ich habe dann gleich noch einmal bei Ihnen angerufen, aber es meldete sich niemand.«

»Ich war zwischen halb fünf und sechs wieder unterwegs.«

»Das dachte ich mir. Ich habe mir während der ganzen Fahrt den Kopf zerbrochen, wie und wo ich Sie heute doch noch erreichen könnte. Dann fiel mir glücklicherweise ein, dass Jack mal erwähnt hat, Sie seien zur Essenszeit meistens in Antrades Restaurant anzutreffen.«

»Stimmt«, grinste Kane. »Und nun, nachdem Sie Ihre Verspätung erklärt haben, schlage ich vor, dass Sie zur Hauptsache kommen. Was haben Sie auf dem Herzen?«

Sie saß einen Moment sehr still. »Es ist schwierig«, sagte sie dann stockend. »Aber ich muss unbedingt mit Ihnen darüber sprechen.«

»Betrifft es Sie selbst?«

»Nein - oder doch nur am Rande. Es handelt sich um eine Freundin von mir, die ich sehr gern habe. Sie ist sogar über sechzehn Ecken mit mir verwandt, aber das tut hier nichts zur Sache.« Sie zögerte wieder. »Was ich von Ihnen zugesichert haben möchte, bevor ich auf Einzelheiten eingehe, ist folgendes: Falls es sich herausstellt, dass ich blinden Alarm geschlagen habe - es ist durchaus möglich, und ich hoffe zu Gott, dass es so ist -, dann wäre es mir sehr peinlich, wenn meine Freundin erführe... ich meine...«

»Sie meinen«, half Kane ihr ein, »alles, was Sie mir jetzt erzählen, muss strikt unter uns bleiben.«

»Ja«, sagte sie erleichtert.

»Machen Sie sich keine Sorge. Ich bin von Natur aus verschwiegen.«

Sie seufzte leise auf und entspannte sich ein wenig. Kane sah sie aufmerksam und teilnahmsvoll an. Dann sagte er plötzlich: »Eben fällt mir ein: Sie sind doch von Staines direkt hierhergekommen, wenn ich recht verstanden habe? Haben Sie denn überhaupt zu Abend gegessen?«

»Nein, aber das ist wirklich nicht wichtig. Ich habe keinen Hunger. Ich wollte Sie nur so schnell wie möglich sprechen.«

»Kann ich Ihnen dann wenigstens eine Tasse Tee anbieten? Macht gar keine Umstände.«

»Oh... ja, danke, eine Tasse Tee könnte ich gut brauchen.«

Kane stand auf und machte sich in dem Meinen Waschraum nebenan zu schaffen. Der elektrische Wasserkessel war im Nu zum Sieden gebracht. Inzwischen stellte er die Tassen und einen Teller mit Biskuits auf ein kleines Tablett. Fünf Minuten später war seine Besucherin bestens versorgt.

»So viel Gastfreundschaft hätte ich mir nicht träumen lassen«, sagte sie bewundernd.

Kane lachte. »Ich habe das Nötigste immer griffbereit. Manchmal verbringe ich halbe Nächte im Büro, und dann braucht man von Zeit zu Zeit eine kleine Auffrischung. Außerdem bewährt sich eine Tasse Tee bei aufgeregten Klienten.«

»Wie jetzt bei mir.« Sie knabberte nachdenklich an einem Biskuit und legte es dann entschlossen hin. »Nun will ich Ihnen aber nicht zu viel Zeit stehlen und anfangen. Vielleicht ist nichts Besonderes an der Sache dran, aber -sie sah ihn mit jäh verdunkelten Augen an, »ich bin wirklich besorgt, und ich weiß mir keinen anderen Rat mehr. Ich brauche Ihre Hilfe. Es handelt sich also, wie gesagt, um meine Freundin. Sie heißt Lena Colling und ist gebürtige Australierin. Unsere Verwandtschaft ist ein bisschen kompliziert: Ich glaube, es war so, dass ein Vetter meines Vaters nach Australien ausgewandert ist, lange vor meiner Geburt, und dort die Cousine einer Tante geheiratet hat... ich weiß nicht, ob ich es richtig begriffen habe. Kurz und gut, der springende Punkt ist, dass irgendwer in Australien noch unsere Adresse wusste und sie Lena gab, als sie vor fünf Jahren nach England kam. Sie schrieb uns einen Brief, und wir luden sie ein.«

»Ich verstehe. Vorher haben Sie Lena Colling also gar nicht gekannt. Und Ihre Familie hat sich dann mit ihr angefreundet?«

»Eigentlich nur ich, weil ich ihr im Alter am nächsten stand. Wir wohnten damals in Stratford-on-Avon. Lena hatte in London eine Stellung gefunden und besuchte uns nur selten, aber wir korrespondierten miteinander. Als mein Vater dann vor drei Jahren starb, musste ich ebenfalls ans Brotverdienen denken und fuhr zu Lena nach London, um mich von ihr beraten zu lassen. Ich hatte verschiedene Kurse besucht und war für alles, was im Büro verlangt wird, gut vorbereitet. Aber dass ich als Anfängerin gleich eine so gute Stellung bekam, habe ich eigentlich nur Lena zu verdanken.«

»Inwiefern?«

»Sie arbeitete damals selbst bei Marius, Kyne & Dallport, das heißt, bei den Brüdern Gower, hatte aber gerade gekündigt, weil sie ein besseres Angebot in der City erhalten hatte. Sie meinte, das passte ja großartig, da könnte ich vielleicht ihre Nachfolgerin werden. Ich sollte mich ruhig bewerben. Ich tat es, obwohl ich natürlich sehr am Erfolg zweifelte - und bekam die Stellung.«

»Das war aber nett von Miss Colling. Sie hat wahrscheinlich ein gutes Wort für Sie eingelegt?«

»Jai Sie hat mit Mr. Michael gesprochen.«

»Nicht mit Mr. Marcus?«

»Nein, an den wendet sich

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: William M. Duncan/Apex-Verlag/Successor of William M. Duncan.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Eva Schönfeld und Christian Dörge (OT: Sugar On The kill).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 27.10.2021
ISBN: 978-3-7487-9785-2

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