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Leseprobe

 

 

 

 

ROBERT LORY

 

 

DRACULAS TODESKUSS

- 13 SHADOWS, Band 51 -

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DRACULAS TODESKUSS 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

 

Das Buch

Sie kommen als Todesboten.

Als Professor Thurlow der teuflischen Pala und ihren beiden Begleitern gegenübersteht, ist sein Schicksal besiegelt. Verzweifelt wehrt er sich dagegen, sein Wissen preiszugeben. Doch vergebens. Jetzt wissen die drei unheimlichen Besucher, wo das Schatzbuch Giles Stanbys zu finden ist. Und als sie wieder gehen, lassen sie Professor Thurlow und seine Frau tot zurück.

Ein mörderisches Spiel hat begonnen. Denn das geheimnisvolle Schatzbuch fordert immer neue Opfer...

 

DRACULAS TODESKUSS von Robert Lory (= Lyle Kenyon Engel) wurde in Deutschland erstmals im Jahr 1974 als VAMPIR-HORROR-TASCHENBUCH Nr. 35 veröffentlicht.

DRACULAS TODESKUSS erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht. 

  DRACULAS TODESKUSS

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Es war kurz vor elf Uhr abends. Durch die Betonschluchten Manhattans pfiff der Wind und fegte den eisigen Regen aus ständig wechselnden und unerwarteten Richtungen in die Gesichter derjenigen, die es gewagt hatten, sich der Gewalt dieses jähen Aprilsturmes auszusetzen. Der Wetterbericht hatte von Schneefall gesprochen, aber daraus war nichts geworden. Und der Mann, der die Frau aus der Geborgenheit des geheizten Taxis zu der Steintreppe des Wohnblocks in der neunundsiebzigsten Straße führte, war kurz zuvor noch froh gewesen, dass es nicht geschneit hatte. Doch nun wünschte er, die Vorhersage wäre eingetroffen. Der frische, wattige Frühlingsschnee hatte eine Reinheit, die dieser windgepeitschte Regen vermissen ließ. In ihm lag etwas Schwarzes, etwas, das heute mehr als in anderen stürmischen Nächten Böses, ja Todbringendes zu enthalten schien. Und als er die äußere Tür öffnete und die Frau an ihm vorbei in die kleine Eingangshalle trat, konnte er sich eines Vorgefühls von Unheil nicht ganz erwehren, das ihn und die Frau, mit der er seit siebenundzwanzig Jahren verheiratet war, erwarten mochte. Er sah sie jetzt an, dieser dünne, unscheinbare Mann Mitte Fünfzig. Seine Frau Elaine. Im kalten Licht der Leuchtstoffröhre, die den kleinen Windfang erhellte, sah sie aus, als ob sie eine Leiche wäre.

»Den Schlüssel, Wesley«, sagte die Frau. Aber sie schaute ihm nicht in die Augen. Wich sie seinem Blick aus? Hatte sie auch dieses Gefühl...

»Den Schlüssel«, wiederholte sie.

»Natürlich, den Schlüssel.« Wesley Thurlow nickte zerstreut, suchte in seinen Manteltaschen und bemerkte verspätet, dass er ihn bereits in der Hand hielt; und das, seit er den Taxifahrer bezahlt hatte. Er war heute Abend nicht ganz da. Vielleicht lag es am Regen, an dem schneidenden Wind...

»Wesley...!«

»Ja. Natürlich.« Hastig steckte er den Schlüssel ins Schloss und sperrte auf. Das metallische Klicken kam ihm ungewöhnlich laut vor. Nein, eigentlich nicht. Tatsächlich konnte er es kaum hören, so wie der Regen auf das Vordach prasselte.

»Wesley, bitte«, sagte seine Frau drängend. »Ich bin sehr müde. Kannst du mit dem Träumen nicht warten, bis wir im Bett liegen?«

Er öffnete die Haustür und ließ sie in die Eingangshalle; dabei nickte er und lächelte. Verständlicherweise glaubte sie, seine Gedanken seien noch bei den Gesprächen der kleinen Fakultätszusammenkunft, an der sie teilgenommen hatten. Sie fand wenig Gefallen an diesen Treffen, wusste aber, dass es für die Frau eines Gastprofessors an der Columbia-Universität zu den unvermeidlichen Pflichten gehörte, diese Stunden abzusitzen und gelegentlich durch halbwegs intelligente Bemerkungen zu zeigen, dass sie der Konversation folgte.

In der Eingangshalle war es heute Abend unangenehm kalt. Nun, warm war es nie, denn die Verwaltung sparte an allen Ecken und Enden, um so viel wie möglich aus dem Haus herauszuholen. Dr. Wesley Thurlow konnte die Verwaltung verstehen. Die Zeiten waren nicht leicht, wirtschaftlich gesehen. Andererseits fror man nicht gern, und in dieser Nacht schien die Kälte unangenehmer als sonst zu sein. Wie auch die Dunkelheit draußen tiefer als sonst zu sein schien.

»Wesley?«

Er hob ruckartig den Kopf. Seine Frau wartete im offenen Aufzug, und er stand noch immer an der Haustür.

»Ist etwas, Wesley?« Sie sah mehr beunruhigt als ungeduldig aus, und wahrscheinlich machte sie sich wirklich Sorgen um ihn. Am Morgen würde sie ihm wieder die vertraute und zweifellos berechtigte Predigt halten, dass er sich überarbeite und seine Gesundheit ruiniere.

Nun, als er in den Aufzug trat, hoffte er nur, dass... 

Dass er den Morgen noch erleben werde.

Als die Frau auf den Knopf mit der Vier drückte und der Aufzug sich in Bewegung setzte, schauderte den Mann. Ein sonderbarer Gedanke. Zu hoffen, dass er den Morgen noch erleben werde. Immer hatte er das Leben für eine Selbstverständlichkeit gehalten, war davon ausgegangen, dass es immer ein Morgen gebe. Er wusste natürlich, dass jüngere Männer als er an Herzinfarkten starben, aber daran dachte er jetzt nicht. Nein, nicht ein natürlicher Tod machte ihm Sorgen. Die Dunkelheit, der Wind, der Regen... 

Der Aufzug hielt in ihrer Etage. Die Tür öffnete sich. »Ich liebe dich, Elaine«, sagte er plötzlich.

Sie sah ihn kühl an. »Freut mich, das zu hören, Wesley.«

»Nein, es ist mein Ernst!«

Irgendwie hörte sie die Bitte heraus. »Ich weiß, wie du es meinst. Wesley, ist etwas? Stört dich etwas? Habe ich heute Abend etwas gesagt oder getan, das dir nicht gefiel, oder...«

»Nein. Nichts dergleichen. Es ist bloß...« Er lächelte schwächlich. »Gehen wir hinein. Wir fühlen uns besser, sobald wir in unseren warmen Pyjamas stecken.«

Sie nahm seinen Arm, als sie zum Ende des Korridors gingen, vorüber an geschlossenen Wohnungstüren zu beiden Seiten. »Ich hoffe, du hast recht, Wesley«, sagte sie. »Es ist komisch, weißt du, aber ich hatte das eigenartige Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung sei. Nicht mit mir, oder mit dir, sondern hier – hier im Haus. Vielleicht...«

Sie hielt inne. Schon war der Schlüssel im Schloss. Schon öffnete sich die Tür. Doch nicht das war es, was sie innehalten ließ: Es war der Ausdruck im Gesicht ihres Mannes, der seltsame Blick seiner Augen. Er musste in der Dunkelheit hinter der Tür etwas gesehen haben. Etwas, das ihn erschreckte.

»Wesley?«, sagte sie. 

Aber nicht ihr Mann antwortete, sondern eine Stimme aus der dunklen Wohnung. Eine stark betonte weibliche Stimme:

»Bitte kommen Sie beide herein. Tun Sie, was ich Ihnen sage – oder Sie werden beide sterben, wo Sie stehen!«

Weg! Das Wort explodierte förmlich in ihrem Gehirn. Sie mussten fliehen! Schon fasste sie ihren Mann am Arm, um ihm dies durch ein Zupfen und einen Blick zu verstehen zu geben. Aber er sah sie nicht an, schien das Zupfen kaum zu bemerken. Seine Augen starrten auf etwas in der Diele, das ihn völlig gefangen nahm. Als er vorwärts ging, kam sie schnell zu ihm, wie um ihm den Weg zu versperren; und nun sah auch sie, was ihn so faszinierte.

Es war Gold, nicht groß, aber trotz der Dunkelheit irgendwie glänzend. Etwas wie eine kleine Scheibe oder ein Anhänger, und das Ding bewegte sich sanft hin und her, als sei es ein Pendel. Es fesselte ihre Aufmerksamkeit, und im gleichen Augenblick wurde ihr bewusst, dass es auch sie gefangengenommen hatte.

»Treten Sie ein«, sagte die Stimme aus der Dunkelheit.

Elaine Thurlow gehorchte. Sie konnte nicht anders, denn sie war außerstande, sich diesem hellen, glänzenden goldenen Ding zu widersetzen. Eine innere Stimme sagte ihr, dass sie laufen solle, dass sie den Versuch riskieren müsste, ihren Mann mit sich zu ziehen und zur Treppe zu flüchten, aber sie wusste, dass es unmöglich war. Sie wusste, dass er wie sie auf diese goldene Scheibe starrte.

»Ins Arbeitszimmer«, befahl die weibliche Stimme, und wieder gehorchten sie, als die Trägerin der Scheibe vor ihnen herging. Auf dem Schreibtisch war die Arbeitslampe eingeschaltet, und auch die Stehlampe neben dem Lesetisch brannte. Trotzdem hatte Elaine Thurlow den Eindruck, dass trübes Dämmerlicht den Raum nur unvollkommen erhellte und seltsame Schatten auf die Wände malte, besonders auf die gefüllten Bücherregale, die eine ganze Wand einnahmen. Erst als sie und ihr Mann sich auf Befehl der Frau gesetzt hatten, bemerkte sie, dass zwei Schatten vor der Bücherwand mehr Substanz als die anderen hatten. Sie keuchte erschrocken.

Die zwei Gestalten schienen Männer zu sein, der eine dünn und drahtig, der andere ein Hüne. Ihre Gesichter sahen sonderbar aus, als ob sie keine Züge hätten – nein, sie hatten Züge; aber sie hatten Strümpfe über die Köpfe gezogen, wie Diebe es in den Filmen zu tun pflegten. Aber wenn es Diebe waren, was wollten sie?

Die Frau mit dem goldenen Anhänger beantwortete die unausgesprochene Frage:

»Professor Thurlow – wo ist das Schatzbuch des Giles Stanby?«

Nachdem ihre Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, konnte Elaine Thurlow sehen, dass die energische Frau mit dem Anhänger noch sehr jung war. Sie trug keine Maske, und nichts milderte in diesem Moment die kalte Grausamkeit ihres schönen und ebenmäßigen, aber unangenehm scharfgeschnittenen Gesichts. Ihre Kleidung war dunkel wie die der anderen, vielleicht schwarz. Schwarz waren auch Augen und Haare der Frau.

Der Gelehrte schüttelte den Kopf. »Es ist nicht hier.«

»Das ist eine Lüge, Professor Thurlow«, entgegnete die Frau. »Ihr Büro in der Universität wurde gründlich durchsucht. Das Buch muss sich irgendwo in diesem Raum befinden.« Sie machte eine kurze Pause, und als sie fortfuhr, war ihre Stimme so kalt und schneidend wie der Wind draußen vor den Fenstern. »Ich werde dieses Buch heute Nacht erhalten. Es ist Teil meines Erbes, und ich habe ein Anrecht darauf. Machen Sie die Übergabe schmerzlos, Professor Thurlow. Diese Wahl haben Sie.«

Zwei mächtige Hände legten sich schwer auf Thurlows Schultern. Der hünenhafte Mann, dem sie gehörten, lachte glucksend. »Vielleicht beschleunigt es die Abwicklung, wenn der Señor eine Probe...«

»Nein, lass nur«, sagte die junge Frau schnell. Dann lächelte sie Thurlow an. »Meinem Freund, der El Toro genannt wird, geht leider das wünschenswerte Feingefühl ab. Auch fehlt es ihm an Geduld – eine Eigenschaft, die er mit meinem anderen Freund dort teilt.«

Der kleinere der beiden Männer machte eine Bewegung, und das ältere Ehepaar sah eine schmale, blitzende Stahlklinge in seiner Rechten; er benützte sie zur gemächlichen Reinigung seiner Fingernägel.

»Das ist Santos«, sagte die Frau. »Es macht ihm Spaß, mit seinem kleinen Messer zu arbeiten. Aber nun bitte ich Sie, stellen Sie die Geduld meiner Freunde nicht unnötig auf die Probe. Das Buch, Professor Thurlow. Sagen Sie mir, wo es ist.«

Elaine Thurlow begriff plötzlich, dass diese Leute sie und ihren Mann ermorden würden. Sie wusste es, weil die Frau ihnen sonst nicht die Namen ihrer Helfer genannt hätte. Sie wusste auch, welches Buch gemeint war. Das Schatzbuch hatte die junge Frau mit dem goldenen Anhänger es genannt. Ja, es war kein beliebiges Buch; ihr Mann war von seinen Kollegen wegen seiner auf diesem Buch beruhenden Theorien ausgelacht worden. Und nun? Sollten sie jetzt dafür sterben?

»Das Buch ist nicht hier«, sagte Wesley Thurlow.

»Vielleicht«, sagte der, den die Frau Santos genannt hatte, »vielleicht sagt er die Wahrheit. Schließlich konnten wir es nicht finden, und wir haben alles durchsucht. Vielleicht hat er es irgendwo in einem Safe.«

»Nein«, sagte die Frau ruhig. »Das Buch ist hier. Ich fühle es. Es ist hier, nicht wahr, Professor?«

Ihr harter Blick traf den älteren Mann. Elaine Thurlow stockte der Atem, als sie Wesley mit dumpfer Stimme antworten hörte:

»Ja. Es ist hier gewesen.«

»Dann werden Sie mir sagen, wo es jetzt ist. Genau.«

»Nein.«

Der große Mann, der Toro genannt wurde, lachte wieder. »Er hat einen starken Willen, nicht wahr?« Seine Worte wurden von einem wuchtigen Schlag untermalt, der die Wange des Gelehrten mit einem Geräusch wie ein Peitschenknall traf, während die Linke den Getroffenen auf dem Stuhl hielt.

»Lassen Sie das!«, schrie Elaine Thurlow und sprang auf.

»Bleib sitzen, Alte!«, sagte Santos in gefährlichem Ton.

Die scharfe Dolchklinge zeigte in ihre Richtung. »Bleib sitzen und halt den Mund.«

El Toro holte zum nächsten Schlag aus.

»Nein«, sagte die Frau mit der goldenen Scheibe. »Nur wenn es sich als notwendig erweisen sollte. Professor Thurlow will das nicht – habe ich recht, Professor?«

»Das Buch ist nicht hier. Jemand anders hat es.«

»Wer?«

Wesley Thurlow schüttelte den Kopf. »Es ist wirklich komisch, wissen Sie. Niemand glaubte mir, als ich über die Ergebnisse meiner Untersuchungen schrieb. Und jetzt...« Er lachte kurz und spröde. »Nein, ich will nicht, dass ein anderer darüber zu Tode kommt.« Dann brach er ab, als werde ihm plötzlich die Bedeutung seiner Worte klar. Er wandte sich zu seiner Gefährtin vieler Jahre und hatte nur ein Wort für sie:

»Lauf!« 

Dann erhob er sich mit einer mächtigen Anstrengung, fuhr herum und sprang den Riesen an, der hinter ihm stand. Nachdem er einen harten Schlag gegen die Schläfe eingesteckt hatte, taumelte er mit dem Gesicht voran in die Bücherwand.

Elaine Thurlow kreischte auf und floh aus dem Zimmer. Sie kreischte ein zweites Mal, als sie im Korridor gegen einen Vorsprung prallte und nach dem Griff der Wohnungstür fummelte. Sie hatte die Tür gerade einen Spaltbreit geöffnet, als ihr nächster Schrei abrupt von der Stahlklinge abgeschnitten wurde, die durch die Luft pfiff und ihren Hals traf. Elaine Thurlow war tot, ehe sie schlaff auf den weichen Teppichboden der Diele fiel.

Der hagere Mann namens Santos zog sein Messer aus ihrem Hals und kehrte eilig ins Arbeitszimmer zurück. Dort saß Professor Thurlow wieder auf seinem Stuhl, die glasigen Augen auf die goldene Scheibe gerichtet. Er sprach mit leiser, stockender Stimme, dann verstummte er.

Die Frau wandte sich triumphierend zu den zwei Männern um. »Seht ihr? Meine Methode war die beste. Wir wissen, wo das Buch ist.«

»Das ist richtig«, sagte Toro. »Aber du hattest dich geirrt. Das Buch ist nicht hier.«

Santos hörte Geräusche aus dem Treppenhaus und verzog das Gesicht zu einer bedeutungsvollen Grimasse. »Wir sollten uns beeilen«, sagte er.

Die Frau nickte, und das grausame Lächeln kehrte in ihr Gesicht zurück. Sie blickte zu Toro und nickte dann dem benommen dasitzenden Gelehrten zu. »Gib ihm den Rest.«

Die harte Handkante hieb abwärts, es gab ein scharfes Knacken, und Wesley Thurlows Genick war gebrochen. Mit einem befriedigten Grunzen folgte El Toro den beiden anderen aus der Wohnung. Auf Drängen der Frau gingen sie schnell zum Aufzug, ohne die drei oder vier Leute zu beachten, die in Schlafanzügen und Morgenmänteln aus ihren Wohnungen gekommen waren und nun in verschlafener Neugier im Hauskorridor herumstanden. Der vierte stand jedoch direkt vor dem Aufzug, und Toro betrachtete ihn als ein lästiges Hindernis.

»Por favor!«, sagte er lachend, und seine Faust krachte gegen die linke Schläfe des Mannes. Während das Opfer mit offenem Mund seitwärts taumelte und zusammenbrach, schloss sich die Tür des Aufzuges hinter den drei Eindringlingen.

Die anderen drei Bewohner der vierten Etage standen verstört beisammen, auch sie mit offenen Mündern. Aber es gab nichts mehr zu sehen oder zu hören. Nichts als das Summen des Aufzuges und das Pfeifen des Windes draußen, der kalten Regen gegen die Treppenhausfenster fegte.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Der Regensturm über Manhattan war Teil einer Tiefdruckfront, die fast das gesamte Küstengebiet der nordöstlichen Vereinigten Staaten erfasste, darunter auch Long Island. Carmelo Sanchez lag in seinem kleinen Schlafzimmer im dritten Stock des Landhauses, das sein Brotgeber in Westhampton bewohnte, und lauschte den heulenden Regenböen und dem aufgeregten Rauschen der Fichten rings um das Haus, die das dumpfe Donnern der nahen Brandung beinahe übertönten.

Er lag flach auf dem Rücken, ein großer Mann von athletischer Gestalt und vielleicht fünfunddreißig Jahren, und drehte den kugelförmigen und völlig haarlosen Kopf zur Seite, sodass er das Leuchtzifferblatt der Uhr auf seinem Nachttisch sehen konnte.

Die derben, kantig herausgemeißelten Linien und Flächen seines Gesichtes spannten sich zu einer verdrießlichen Grimasse. Es war ein Uhr fünfzehn in der Früh. 

Verdammter Mist!

Wieder eine schlaflose Nacht, er sah es kommen. Es war nicht so sehr der Sturm; in diesem Zimmer hatte er schon viele Unwetter verschlafen. Nein, er wusste, was ihn um den Schlaf brachte. Die verwünschten Träume und ihre Ursache – das Ding unten im Kellerlaboratorium des Landhauses. Und ein Vorgefühl drohenden Unheils, das über ihm und seinem Arbeitgeber, Professor Damien Harmon, zu schweben schien.

Carmelo Sanchez ließ sich nicht einschüchtern. Während seiner kurzen Karriere als Angehöriger der Polizeistreitmacht von New York City war seine Furchtlosigkeit oft bis an die Grenze des Leichtsinns gegangen. Später, als er in Harmons Dienst getreten war, hatte es Zeiten gegeben, da er die dünne, schwankende Grenzlinie zwischen Leben und Tod kaum verlassen hatte. In jenen Tagen hatte er kaum Furcht gekannt. Aber dann waren Harmon und er zu dieser verhängnisvollen Reise über den Ozean nach Arefu in den rumänischen Bergen aufgebrochen – und mit der tödlichen Fracht zurückgekehrt. Damit war Sanchez’ Welt ins Wanken geraten, aber bald danach hatte es noch einmal eine unerwartete Atempause gegeben. Eine Wette wurde abgeschlossen, aus der Harmon als Gewinner hervorging und deren Preis sechs Monate Dienstbarkeit waren. So lange musste der Schwarze Meister Damien Harmon dienen. Es waren unruhige und gefährliche sechs Monate gewesen, die sie hier in den Vereinigten Staaten, dann wieder in Rumänien und schließlich in Jamaika verbracht hatten.

Aber die entscheidende Tatsache war, dass die sechs Monate mit dem 01. April abgelaufen waren. Die Gnadenfrist war verstrichen, und nun... 

Der Regen und der Wind und das Donnern der Brandung: selbst die Natur schien zu fühlen, dass das Ende ihrer Reise bevorstand. Sogar die Art und Weise, wie die Fichtenzweige in dieser stürmischen Nacht gegen die Hauswand schlugen und sich an ihr rieben... 

Nein, die Geräusche waren alle zu unregelmäßig. Jemand... 

»Jemand ist an der Tür«, sagte die Frau. Sie stand in der Türöffnung, das blasse, ovale Gesicht undurchdringlich, die gelbgrünen Augen leuchtend wie die einer Satze. Einer schwarzen Katze, denn nicht nur ihr schulterlanges, seidiges Haar war schwarz, sondern auch die lange Hose und der anliegende Pullover.

»Wer?«, fragte er im Aufstehen. Er machte sich nicht die Mühe, seine Nacktheit zu bedecken, als er in die Hose lieg. »Es ist spät. Wer kann um die Zeit etwas von mir rollen?«

Sie antwortete nicht sofort und wartete, bis offensichtlich war, dass er nicht beabsichtigte, außer seiner Hose noch etwas anzuziehen. »Sie werden Ihre Schuhe brauchen«, sagte sie dann. »Auch einen Pullover und eine Jacke.«

»Soll ich wohin?«

Ihr Gesicht blieb ausdruckslos. »Ich werde den Professor wecken«, sagte sie. Und dann war sie fort.

Das Hämmern an der Haustür verstärkte sich, als er, nun in Schuhen und einem dicken Rollkragenpullover, die Treppe hinunterlief. Durch den Türspion konnte er sie sehen. Zwei Männer, durchnässt und fröstelnd, die Gesichter angespannt. Er kannte keinen der den, wusste aber, was sie waren. Als er die Tür öffnete, bestätigten sie es.

»Polizei.« Ein Dienstausweis wurde vorgezeigt und verschwand wieder in einer Manteltasche. Der Größere der beiden, ein übermüdet aussehender Mann, sagte verdrießlich: »Sie sind Carmelo Sanchez?« Und ohne auf eine Antwort zu warten, fügte er hinzu: »Sie kommen bitte mit uns.«

»Was hat das zu bedeuten?«

Der Sprecher schüttelte den Kopf. »Darüber unterhalten wir uns später. Sie kommen jetzt mit.«

Nun schüttelte Sanchez den Kopf. »Es ist vielleicht besser, ich sehe mir nochmal diesen Dienstausweis an. Nur um sicherzugehen.«

»Der Dienstausweis ist in Ordnung, Mr. Sanchez. Er ist echt.«

Der große Puerto-Ricaner sah sich um. Auf der Treppe hinter ihm hockte eine große schwarze Katze mit gelbgrünen Augen und schien an dem, was bei der Tür vorging, nicht im mindesten interessiert. Sanchez wusste es besser. Und gleichdarauf folgte der ersten Botschaft eine zweite: »Der Professor wird schnellstmöglich für Ihre Freilassung sorgen.«

Der zweite Polizist informierte Sanchez, dass er das Recht habe, einen Anwalt beizuziehen, wenn er es wünsche, und dass alles, was er während der bevorstehenden Vernehmung aussagen werde, gegen ihn verwendet werden könne.

»Gibt es eine Anklage... irgendeinen Tatverdacht?«, fragte Sanchez. Aber ehe der Polizist sich dazu äußern konnte, hatte Sanchez die Antwort. Die Katzenaugen blickten unverwandt zurück, als er das Tier anstarrte, verblüfft und im Zweifel, ob er die Botschaft richtig verstanden habe. Die Antwort lautete Mord. 

 

»Sieh mal an – wen haben wir denn da!«

Der massige Mann hinter dem Schreibtisch trug einen Zivilanzug, und sein Gesicht zeigte ein breites, aber ungutes Lächeln. »Es ist eine ganze Weile her, Sanchez, dass wir uns zuletzt sahen, aber glauben Sie nicht, ich hätte nicht hier und da an Sie gedacht.«

Leutnant Hank Navarre von der Kriminalpolizei machte eine Bewegung, als ob er aufstehen wollte, dann ließ er sich in den Sessel zurücksinken und nickte den beiden Polizisten zu, die Sanchez eskortiert hatten. »Setzt ihn dort auf den Stuhl«, sagte er, »und macht euch einen Kaffee. Ich werde mich inzwischen mit diesem Täubchen unterhalten.«

Sanchez setzte sich aus eigenem Antrieb auf den bezeichneten Stuhl, und die beiden gingen hinaus. Sanchez und Navarre musterten einander schweigend.

»Ich sagte Ihnen, dass ich Sie eines Tages kriegen würde, Sanchez«, sagte Navarre schließlich. »Erinnern Sie sich?«

Sanchez sagte nichts, aber er erinnerte sich nur zu gut. Vor vier Jahren hatten sie zusammen Streifendienst gemacht, bis die Unterwelt zu dem Schluss gelangt war, dass Sanchez ein bisschen zu diensteifrig und tatkräftig sei. Man hatte Heroin in seinen Streifenwagen praktiziert und ihn wegen Rauschgifthandels angezeigt. Vom Anfang bis zum Ende – von der Auffindung des Heroins und den Ermittlungen bis zu Sanchez’ Entlassung aus dem Polizeidienst und dem anschließenden Gerichtsverfahren – war Hank Navarre unbarmherzig wie ein Bluthund auf seiner Fährte geblieben. »Wenn ein Polizist krumme Sachen macht«, hatte er zu Sanchez gesagt, »ist es die Aufgabe anderer Polizisten, den Stall auszumisten. Wenn es nach mir geht, werden Sie hübsch lange hinter Gittern bleiben.«

Und so wäre es wahrscheinlich gekommen, hätte der alte Professor im Rollstuhl nicht seinen Reichtum, seine Beziehungen und alle juristischen Mittel eingesetzt, um den hünenhaften Puerto-Ricaner freizubekommen. Aber Hank Navarre hatte nicht vergessen, und nach wie vor betrachtete er Sanchez’ Freilassung als unrechtmäßig. »Es ist spät, Leutnant. Was wollen Sie von mir?«

»Sie sind ein Killer, Sanchez.«

»Beweisen Sie es.«

»Ich stelle fest, dass Sie es nicht leugnen. Sie leugnen nicht, dass Sie ein Killer sind.«

Sanchez lächelte gegen seinen Willen. Nein, er leugnete die Wahrheit nicht. Warum auch? »Und ich stelle fest, Navarre, dass Sie nicht gesagt haben, wen ich getötet haben soll. Und wann.«

Der Polizeioffizier blickte auf ein Blatt Papier, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag. »Einen Professor Wesley Thurlow und seine Frau. Gestern Abend etwa um dreiundzwanzig Uhr zehn.«

»Um diese Zeit lag ich gemütlich im Bett. Das kann ich beweisen.«

Navarre lächelte böse. »Vermutlich hatten Sie Gesellschaft? Vielleicht Ihre sonderbare Freundin – wie hieß sie noch gleich?«

»Ktara«, erwiderte Sanchez ruhig.

»Nun, Sanchez, dieses Alibi mit Ihrer Freundin wird Sie leider nicht weiterbringen. Sehen Sie, wir wissen, dass sie mit Ihnen dort war.«

»Sie wissen es?«, sagte Sanchez verwundert.

»Von Augenzeugenberichten. Vier Leute haben ausgesagt, darunter der Mann, den Sie beinahe umbrachten, als Sie den Tatort mit dem Aufzug verließen. Alle Aussagen stimmen bemerkenswert überein. Eine junge, schwarzhaarige Frau in schwarzer Kleidung und ein Riese von einem Mann, der beim geringsten Anlass zu Gewalttätigkeit neigte und spanisch sprach. Dann war noch ein Dritter dabei, ein Mann, den Sie vielleicht für uns identifizieren können. Um Zeit zu sparen, meine ich... Keine Sorge, wir kriegen ihn auch noch.«

»Dieser Mann«, sagte Sanchez, »der große, der spanisch sprach – der sah aus wie ich? Was haben Sie außer der Größe und ein paar Worten, das mich mit ihm verbindet?«

Navarres Lächeln weitete sich. »So ungeheuer schlau war das auch nicht von Ihnen, Sanchez. Ich meine, das mit der Strumpfmaske. Normalerweise ist das eine ganz gute Tarnung, aber in Ihrem Fall – nun, lassen Sie es mich so sagen: Glauben Sie, dass einer der vier Zeugen irgendwelche Schwierigkeiten haben wird, Sie aus einer Reihe von Typen herauszusuchen?«

Sanchez dachte darüber nach. Navarre hatte recht, umso mehr, als bei der Gegenüberstellung zweifellos nur ein Mann von der richtigen Größe in der Reihe stehen würde, nämlich er selbst. Flankiert von lauter kurzbeinigen, fetten Trunkenbolden.

Sein Gesichtsausdruck schien Navarre zu gefallen. »Da ist noch was, Sanchez«,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Lyle Kenyon Engel/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Pixabay.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Korrektorat: Mina Dörge.
Übersetzung: Walter Brumm (OT: Dracula's Lost World).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 14.10.2021
ISBN: 978-3-7487-9683-1

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