Cover

Leseprobe

 

 

 

 

RICHARD VINCENT/FRANK HARPER/

SIDNEY H. COURTIER/JAMES MAYO/

CHRISTIAN DÖRGE

 

 

Krimi-Herbst 2021

 

Fünf Romane in einem Band

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

1. DIE DAME IN SCHWARZ (Portrait in Black) von Richard Vincent 

 

2. DER MITTERNACHTSENGEL von Frank Harper 

 

3. GEFALLEN WIE LUZIFER (Murder's Burning) von Sidney H. Courtier 

 

4. EIN MÄDCHEN SPIELT FALSCH (Asking For It) von James Mayo 

 

5. DIE UNHEIMLICHEN FÄLLE DES EDGAR WALLACE – DIE FRAU IM DUNKEL 

von Christian Dörge 

 

 

Das Buch

Herbst - die Tage werden kürzer...

Herbst - die beste Zeit, innezuhalten und zu lesen...

Dieses Buch enthält fünf spannende und ausgewählte Top-Krimis aus den Krimi-Reihen des Apex-Verlags, geschrieben von internationalen Bestseller-Autoren - perfekter Lesestoff für lange Abende, für ein ruhiges Plätzchen im Schein der Herbstsonne, für die Reise: Die Dame in Schwarz von Richard Vincent, Der Mitternachtsengel von Frank Harper, Gefallen wie Luzifer von Sidney H. Courtier, Ein Mädchen spielt falsch von James Mayo und Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace - Die Frau im Dunkel von Christian Dörge. 

Nervenkitzel und Unterhaltung pur! 

  1. DIE DAME IN SCHWARZ

  (Portrait in Black)

  von Richard Vincent

 

 

 

 

1.

 

 

Howard Mason hatte die Toreinfahrt und das Pförtnerhaus hinter sich gelassen, und doch hatte er noch mehr als eine Viertelmeile zu fahren, denn das große weiße Haus der Cabots lag hoch oben auf dem Hügel, imposant und weithin sichtbar von der Bucht, von der Straße und vom Fuße des Hügels, auf dem es stand.

Seit Jahren hatte Mason es von all diesen Punkten aus gesehen, zumeist vom Fuße des Hügels. Und seit Jahren brannte in ihm das Verlangen, dieses Haus zu besitzen; er machte sich selbst gegenüber kein Hehl daraus. Er war kein Heuchler, es war ganz einfach sein überstark entwickelter Erwerbssinn. So leicht ließ Mason sich von niemand täuschen; am wenigsten von Howard Mason selbst. Und er wollte nicht nur das Haus, sondern auch das, wofür es stand, und indem er dies vor sich selbst zugab, steuerte er geradeaus auf dieses Ziel zu, ohne sich von irgendeiner Seite beirren zu lassen.

Mason war das typische Produkt seiner Zeit und seiner gesellschaftlichen Schicht. Er war groß und von sympathischem Aussehen, fuhr einen schweren Wagen und war ein Experte im Golf spiel. Seine Anzüge waren von tadellosem Geschmack, leicht konservativ, und er verstand sie zu tragen. Seine Zähne waren kräftig und gesund, seine Haut sonnengebräunt, sein Haar kaum gelichtet, und er war sorgfältig darauf bedacht, nicht etwa einen Bauch anzusetzen. Er hatte eine gute Schulbildung genossen und konnte nahezu als intellektuell gelten. Er wusste ausreichend Bescheid über die zornigen jungen Männer, wusste, wo die Kampflinie zwischen Sartre und Camus verlief, und ebenso war er orientiert, worauf Tennessee Williams hinauswollte. Seine Rückhand beim Tennis war gefürchtet, und er beging nicht etwa den Fehler, die Damen der San Franciscoer Gesellschaft mit Gesprächen über die Aktienkurse der General Motors zu langweilen. Dies alles gab ihm genug Wissen und genug männlichen Charme. Dies alles war notwendig, um ihn, abgesehen von seinen beruflichen Fähigkeiten und Interessen, zu dem zu machen, was er war: Howard Mason.

Er hatte keine düstere Kindheit in einem Elendsviertel irgendwo in den Slums hinter sich. Sein Vater war vielmehr ein mittelmäßig erfolgreicher Geschäftsmann gewesen. Aber selbst wenn man nicht aus den Slums kommt, gilt es, viele schwierige Türen zu öffnen. Und Howard Mason war gierig darauf bedacht, Türen zu öffnen wie die der reichen Cabots, und sie, wenn er sie einmal geöffnet hatte, fest hinter sich zu schließen. Er glaubte von sich selbst, dass er dann zufriedengestellt sein würde, auch wenn er in ehrlicher Selbstbetrachtung bereits die Möglichkeit erwogen hatte, dass er in seinem Besitz- und Geltungsstreben unersättlich sei - dass es ihm nicht genügen würde, im weißen Haus der Cabots, auf dem Hügel der Cabots, an der Seite von Sheila Cabot zu leben. Nun, das würde er erst dann herausfinden, wenn er dieses Ziel erreicht hatte.

Er brachte seinen Wagen vor dem Haus zum Stehen und stieg aus. Einen Augenblick lang stand er da und schaute über die Bucht hinweg. Es war ein faszinierender Ausblick, denn der alte Joshua Cabot hatte außer seinem Yankee-Dickschädel auch den Blick und den Sinn eines Träumers gehabt. Mason verweilte stets ein paar Sekunden an dieser Stelle; auch dieser einzigartige Ausblick war es, der ihn an dem Haus der Cabots reizte.

Ein großer Frachter schob sich gerade unter der Brücke hindurch, die sich über die Bucht spannte. Seine makellos weiße Bordwand warf das Licht der Sonne zurück. Sein Bug durchschnitt scharf das reglos und glatt daliegende Wasser. Und seine Bugwelle schwoll an, als der Kapitän jetzt die Fahrt erhöhte. Mason kannte das Schiff. Er kannte den Kapitän und die Schiffsoffiziere. Es war die Matthew S. Cabot, ein neues Schilf auf der Jungfernfahrt in den Orient. Mason beobachtete, wie es unter seiner Brücke hindurchglitt, doch keine Sekunde lang fühlte er so etwas wie Neid auf den Kapitän, und selbst die Liste der exotisch-romantischen Bestimmungshäfen konnte in ihm nicht die Spur des Wunsches wecken, mit an Bord zu sein. Fernweh hatte Mason noch nie gekannt, und was ihn im Augenblick ausschließlich interessierte, war der Mann oben im Cabot-Haus, der Mann, dem das Schiff gehörte und der sowohl den Kapitän bezahlte wie ihn, Howard Mason, selbst: Matthew S. Cabot.

Tani, das orientalische Dienstmädchen, ließ ihn ein, und er stieg die Treppe hinauf und betrat, ohne zu klopfen, Cabots Schlafzimmer.

Matthew Cabot lag im Bett und diktierte seiner Sekretärin. Mason wartete, bis er eine Pause machte, und sagte dann:

»Sie sticht in See, Matthew.«

»Mein Fernglas«, sagte Cabot.

Mason nahm das Fernglas, das am Kopfende des Bettes hing, und reichte es Cabot. Der drückte auf einen Knopf an der Schalttafel, seitlich seines Bettes, und mit leise surrendem Geräusch hob sich sein schlaffer Oberkörper mit dem Kopfteil des Bettes in aufrechte Stellung. Er hob das Fernglas vor die Augen und richtete es aus dem breiten Panoramafenster, hielt es ruhig und stellte die Sehschärfe ein. In dieser Stellung verharrte er eine volle Minute.

»Eigentlich müsstest du jetzt, ein erhebendes Gefühl spüren, Matthew«, sagte Mason. »Das ist Nummer fünfzig, die mit der wehenden Flagge der Cabots San Francisco verlässt.«

Cabot reichte das Fernglas seiner Sekretärin, die es wieder an den Haken hängte. »Ich erwarte einen eingehenden Bericht, warum sie vierzig Minuten zu spät in See sticht«, sagte er mit dünner, krächzender Stimme. »Wenn es an der Dockmannschaft liegt, wird sie bis auf den letzten Mann abgemustert. Verstanden?«

»Ich werde mich morgen früh sofort darum kümmern«, sagte Mason.

»Sie werden sich sofort heute Nachmittag darum kümmern«, gab Cabot schroff zur Antwort. »Ihr Golfspiel wird eben einmal ausfallen müssen.« Er blinzelte zu seiner Sekretärin hinüber. »Wo waren wir stehengeblieben, Miss Lee?«

»Beim Funktelegramm an den Kapitän der...«, sagte Miss Lee sofort.

»Ja, ich weiß«, unterbrach sie Cabot und begann zu diktieren. »Zur Reparatur nach Hongkong einschleppen lassen...« Ein plötzlicher Krampf durchlief seinen Körper. Seine Hand tastete nach dem Schaltbrett neben dem Bett. Miss Lee, kreideweiß im Gesicht und voll offensichtlich ernster Besorgnis, ergriff diese Hand und führte sie zu dem richtigen Knopf. Cabot drückte ihn. Sofort begann das Kissenteil des Bettes sich zu senken, und schweratmend lag Cabot da.

Mason beobachtete all dies. Es gab keinen Zweifel, Matthew Cabot war ein schwerkranker Mann. Dabei war er nicht einmal alt, gerade erst Mitte Fünfzig. Aber dennoch war er ein verbrauchter Mensch, ein menschliches Wrack, dessen physisches Leben vorüber war. Nur seine Arroganz und seine Herrschsucht waren geblieben. Er lag hilflos hier in diesem Raum, der ihm gleichzeitig als Krankenzimmer und als Büro diente, so gut es den Umständen nach eben ging.

Aus den Augenwinkeln sah Mason zu Miss Lee hinüber. Er sah ihr verkrampft verzerrtes Gesicht und die Besorgnis darin. Mochte der alte Cabot denken, was er wollte - er, Mason, hatte Miss Lee in der Hand, wie es sich eben im Laufe der jahrelangen Zusammenarbeit ergeben hatte. Doch andererseits verstand auch Cabot, sie zu nehmen, und unwillkürlich, ob er es nun merkte oder nicht, sprach er höflicher und leiser, wenn er mit ihr zu tun hatte.

»Schlimm heute?«, fragte Mason schließlich. Der Tonfall seiner Stimme war angemessen besorgt.

»Setzen Sie keine solche Begräbnismiene auf, Howard. Sie werden sich noch eine ganze Weile mit mir abgeben müssen.«

Mason sah ihm ohne mit der Wimper zu zucken in die Augen. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Sie wissen genau, was ich damit sagen will«, entgegnete Cabot ruhig. Ohne ein verbindendes Wort fuhr er fort zu diktieren. »Zur Reparatur nach Hongkong einschleppen lassen. Erster Offizier löst Sie ab, bis Untersuchung über die Kollision abgeschlossen. Cabot.« Er schwieg einen Augenblick. »Das ist alles, Miss Lee.«

Miss Lee stand sofort auf und schloss ihren Stenogrammblock. Sie nickte Mason zu und verließ das Zimmer.

»Was liegt sonst vor?«, wandte sich Cabot an Mason.

»Nichts Dringendes«, sagte Mason leichthin. Er ließ sich selten von Cabots Gemütsäußerungen überraschen; ebenso wenig von plötzlichen Entscheidungen. Meist sah er sie voraus und war auf sie gefasst, und mitunter hatte er den Eindruck, dass Cabot mit dieser Launenhaftigkeit eine Art Gesellschaftsspiel betrieb, das er mit ihm spielte. Es störte Mason nicht weiter; er war bereit, sich auch auf diese Art mit Cabot auseinanderzusetzen. »Die Stauer reden immer noch von Streik, aber, wie gesagt, sie reden nur davon.« Er nahm seine Aktentasche und öffnete den Verschluss. »Und über den Vertrag über die Schleppboote brauchen wir uns nicht vor dem Zehnten zu entscheiden.«

»Ich habe bereits entschieden«, sagte Cabot mit seiner dünnen, krächzenden Stimme. »Der Vertrag geht an die Acme Schleppboot GmbH.«

Dies war nun doch eine Überraschung für Mason. Diese Entscheidung gefiel ihm ganz und gar nicht, und er wusste auch, dass Cabot wusste, wie wenig sie ihm gefiel. Aber nichts von diesem Wissen war auf Masons sympathischem Gesicht zu lesen.

»An die Acme? Wieso das?«

»Aus verschiedenen Gründen«, sagte Cabot, »wovon der wichtigste ist, dass ich es so entschieden habe. Außerdem ist die Acme am leistungsfähigsten.«

»Sie wissen doch, wem die Acme gehört?«, fragte Mason.

»Ich weiß alles, was den Hafen betrifft, Howard«, sagte Cabot. »Und ebenso weiß ich alles, was Meilen landeinwärts geschieht.«

»Und doch wollen Sie Joe Richards Sohn mit dem Schleppen von Millionen Tonnen von Cabot-Schiffen beauftragen?«

»Mit Beauftragen und Vertrauen hat das nichts zu tun.« Cabot sah Mason leicht verärgert an. »Auch Ihnen traue ich nicht. Sie sind der beste Anwalt, den ich finden konnte; Sie sind ein Typ, den ich durchschaue, verstehe und brauche. Das ist der wahre Grund, warum ich Sie in meinem Dienst behalte, Howard - weil Sie der beste Mann für den Job sind.« Unerwartet glitt ein Lächeln über sein Gesicht. »Ich weiß außerdem, wo ein paar der - nun sagen wir - Opfer begraben liegen.«

»Ich schätze, das wissen wir beide«, sagte Mason freundlich lächelnd.

»Nun gut«, sagte Cabot. »Das ist Ihr Plus.«

»Dessen bin ich mir, mit Verlaub, durchaus bewusst.«

»Mit Verlaub?«, wiederholte Cabot. »Sie werden dreist. Ich hätte Ihnen schon längst auf die Finger klopfen müssen. Ich fürchte, den richtigen Zeitpunkt dafür habe ich bereits verpasst.«

Mason lächelte. »Ich bin nur froh, dass Sie das versäumt haben.«

»Das kann ich mir gut vorstellen.« Sekundenlang starrte er Mason an. »Das wäre dann alles, Mason«, fuhr er dann im Befehlston, mit völlig veränderter Stimme, fort. »Wenn Sie unten vorbeigehen, sagen Sie Sheila, dass ich sie zu sehen wünsche. Sofort.«

Der herrschsüchtige Ton war für Mason beleidigend. Er konnte nicht verhindern, dass eine ärgerliche Röte sein Gesicht überzog. Doch seine Stimme klang weiterhin ruhig. »Wird erledigt, Matthew.« Er stand auf, verließ das Zimmer und stieg die breite, gewundene Treppe hinunter.

Und während er mit ruhigen Schritten hinunterstieg, überwand er schnell den Hass gegenüber Cabot, der so plötzlich in ihm aufgestiegen war. Gefühlsregungen dieser Art hielt Mason für ausgesprochen hinderlich; er kannte den Wert eines kühlen, klar denkenden Kopfes. Niemals war es ihm bewusst geworden, dass er seine Karriere Cabot verdankte und niemand anderem. Seine einzige Sorge war im Augenblick, dass der kranke, langsam dahinsterbende Mann für ihn, Howard Mason, Anwalt der Rechte, das einzige Hindernis war, das ihm bei seinem Sturm auf den Cabot-Hügel noch im Wege stand.

Als er an dem unteren Wohnzimmer vorbeikam, blickte er flüchtig hinein und verhielt sofort seinen Schritt. Sheila Cabot stand dort und blickte aus einem der hohen Fenster hinaus. Sie hatte Mason nicht bemerkt, und sekundenlang betrachtete er sie mit unverhohlenem Verlangen. Auch wenn sie nicht den Namen Cabot getragen hätte, wäre sie für ihn dieses Anschauen wert gewesen. Sie war hübsch, ja beinahe schön zu nennen. Dies und der Umstand, dass sie die Erbin Cabots sein würde, konnte den gebührenden Eindruck auf Mason nicht verfehlen.

Gelassen stand sie da, hoch aufgerichtet, mit ihrem klaren Profil und dem aufgesteckten hellblonden Haar. Regungslos wartete Mason, bis sie sich vom Fenster abzuwenden begann. Erst dann sagte er leise: »Sheila?«

Erschrocken wandte sie sich um.

Mason lächelte sein weltmännisches, einstudiertes Lächeln, und seine gepflegten Zähne blitzten. »Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.«

Sheila sah ihn kühl an; sie hatte schnell ihre Haltung zurückgewonnen. »Warum schleichen Sie so durchs Haus, Howard?«

Mason zuckte die Achseln. »Es liegt wohl an der Stimmung, die über dem Haus liegt.« Er hielt einen Augenblick inne und musterte sie in gespieltem Ernst. »Ich überbringe eine Vorladung«, sagte er und machte mit der Hand eine Geste, die die Treppe hinaufwies.

Sheila ging auf seine sarkastische Art nicht ein. »Danke«, sagte sie mit nüchterner Höflichkeit.

Das Geläut, das die Türglocke ersetzte, schlug an, und Sheila schrak erneut zusammen.

Masons Blick glitt flüchtig auf seine Armbanduhr. »Er ist heute später dran als sonst, nicht wahr?«, sagte er und behielt Sheila Cabot bei diesen Worten genau im Auge. »Ich meine, das muss Dr. Riviera sein, oder nicht?«

»Wir erwarten ihn in der Tat«, sagte Sheila ruhig.

Tani durchquerte die Diele, um Dr. Riviera die Tür zu öffnen.

»Matthew hält große Stücke auf den Burschen, nicht wahr?«, sagte Mason.

»Ich glaube, ja«, sagte Sheila.

»Und Sie auch«, sagte Mason.

Sie zuckte in gespielter Gleichgültigkeit die Achseln. »Ja, gewiss. Sie etwa nicht?«

Mason lächelte unsicher. »Ich? Aber gewiss doch, Sheila. Ich mag jeden, solange er mich nicht enttäuscht. Ich kann nur den Äthergeruch nicht vertragen.« Er folgte ihr in die weite Diele hinaus.

Tani hatte inzwischen die Tür geöffnet, und Dr. Riviera trat herein. Er war schlank, groß, von dunkler Haut- und Haarfarbe, was auf den ersten Blick seine südländische Abstammung erkennen ließ. Mit seinen blitzenden dunklen Augen war er nahezu eine männliche Schönheit.

»Guten Tag, Tani«, sagte er zu der orientalischen Bediensteten. »Guten Tag, Mr. Mason.«

»Nun, wie geht's, Riviera?«, sagte Mason in einem Ton, der leicht von oben herab und beinahe väterlich klang.

Riviera tat so, als bemerke er es nicht. »Guten Tag, Mrs. Cabot«, sagte er und reichte Tani seinen leichten Übermantel. »Tut mir leid, dass ich heute später dran bin. Eine Operation. Und ein paar Komplikationen noch dazu.«

»Ich nehme an, Sie haben Ihren Patienten durchgebracht«, sagte Mason, während er in Wirklichkeit hoffte, dass dieser Patient Riviera unter den Händen gestorben war.

»Ja, ich denke doch«, sagte Riviera.

»Sie meinen also, er wird's überleben?«, fragte Mason, und er bemerkte, dass Sheila ihm einen missbilligenden Blick zuwarf.

David Riviera ignorierte die Anspielung und wandte sich an Sheila. »Es ist immer wieder erstaunlich zu sehen, was der menschliche Körper auszuhalten vermag. Vor einer Stunde hob ich das pulsierende Herz einer Frau aus seiner Höhlung. Bereits in einem Monat wird diese Frau wieder im Sattel sitzen und reiten können.«

»Für einen Mann muss es doch ein erhebendes Gefühl sein, das Herz einer Frau in seiner Hand zu halten«, sagte Mason.

David Riviera blickte flüchtig zu ihm hinüber. »Ich kann mich nicht einmal an ihren Namen erinnern.«

Von einem kleinen Kasten an der Wand kam ein durchdringendes Schnarren.

»Gehen Sie besser gleich hinauf, Doktor«, sagte Sheila. »Er wartet schon ungeduldig auf Sie.« Sie ging die gewundene Treppe hinauf, und Dr. Riviera folgte ihr.

Mason sah ihnen nach. Er wartete, bis sie den oberen Treppenabsatz erreicht hatten.

»Good-bye«, sagte er dann mit sarkastischer Betonung.

Beide wandten sich um, ein wenig überrascht ob ihrer eigenen Unhöflichkeit und Vergesslichkeit.

»Good-bye«, sagten sie beinahe im Chor.

Mason ließ sich von Tani seinen Hut geben und verließ das Haus. Da geht doch irgendwas vor zwischen den beiden, sagte er zu sich selbst. Ganz sicher habe ich mich nicht getäuscht. Mich hatten die beiden vollkommen vergessen; sie vergaßen sogar, mir Good-bye zu sagen. Nun, so schnell werden sie mich doch nicht vergessen, dafür werde ich sorgen, dachte Mason, während er in seinen Wagen stieg. In gemessener Fahrt lenkte er ihn auf der betonierten Fahrbahn den Hügel hinunter. Oh, nein, sie würden noch häufig genug an ihn denken.

 

 

 

 

 

 

2. 

 

 

Als die beiden das Zimmer betraten, zeigte Cabot mit keiner Miene die Schmerzen, die er ertrug. Einen Augenblick lang beobachtete er diese, an ihm selbst gemessen, so jung und kräftig wirkenden Menschen. Dann unterzog er sich der flüchtigen Untersuchung durch David Riviera.

»Wie war der Tag für Sie, Mr. Cabot?«, fragte Riviera, während er sich aufrichtete und auf ihn herunterblickte.

»Meine Schiffe verspäten sich; mein Arzt verspätet sich; abgesehen davon war es ein Tag wie jeder andere«, knurrte Cabot.

David Riviera lächelte. Er öffnete seine Arzttasche und entnahm ihr eine vorbereitete Rekordspritze, eine Injektionsnadel und eine Ampulle. Mit geübter Hand tränkte Sheila indessen einen Wattebausch mit Alkohol und rieb damit Cabots Armbeuge ein.

»Sind die Schmerzen sehr schlimm?«, fragte David.

»Sie sind das einzige, worauf ich mich verlassen kann«, murrte Cabot. »Wenigstens sie waren pünktlich.« Der Ton seiner Stimme war hart und fest. Es lag keine Spur von Mitleidheischen darin.

David zog den Inhalt der Ampulle in die Spritze ein. Flüchtig blickte er zu Sheila hinüber, die die Augen niederschlug. Dann nahm sie die leere Ampulle, die er ihr hinhielt, und ließ sie in einen Abfallkorb neben dem Bett fallen. David beugte sich vor, durchbohrte mit der Injektionsnadel die welke, weiße Haut und entleerte den Inhalt in den schlaffen Arm.

Cabot grunzte belustigt. »Ich komme mir fast so vor wie einer von dem Rauschgiftgesindel unten am Hafen. Ohne meine tägliche Spritze komme ich einfach nicht aus.«

Wieder lächelte David und zog die Injektionsnadel aus Cabots Arm.

Cabot bemerkte das Lächeln, und es ärgerte ihn. »Ich will von nichts und niemand abhängig sein, hören Sie. Von nichts und niemand.« Er sprach es mit einer Betonung, die keinen Zweifel daran ließ, dass er genau das meinte, was er sagte.

»Wir alle brauchen jemand und sind von jedem abhängig«, entgegnete David ruhig.

»Ich brauche niemand«, protestierte Cabot, und seine blassen Augen glitten sekundenlang zu Sheila hinüber. »Es ist mein schlaffer Corpus, der Hilfe braucht.«

»Sie und Ihr Körper sind eins«, sagte David geduldig. »Es würde schwierig sein, das eine von dem anderen zu trennen. Eines existiert nicht ohne das andere.«

»Natürlich nicht«, entgegnete Cabot gereizt. »Was Sie da sagen, weiß jedes Kind. Ich meine vielmehr, wenn es eine Möglichkeit gäbe, meinen Körper zurückzulassen und mein Gehirn und meinen Intellekt aus einer Flasche zu nähren, würde ich vollkommen zufrieden sein.«

»Das meinen Sie doch nicht etwa im Ernst«, sagte David.

»Wieso nicht?«, fragte Cabot. »Oder hatten Sie jemals den Eindruck, ich sei frivol?«

»Das möchte ich nicht behaupten«, sagte David, und wieder lächelte er.

»Sehen Sie! Dann meine ich auch, was ich sage. Angelegenheiten und Bedürfnisse des Körpers sind weiter nichts als lästig und unbequem. Ich, für meine Person, käme weit besser ohne sie aus. Dann würde ich wenigstens auf niemand angewiesen sein und ewig leben. Es wäre die perfekte Lösung für einen Mann von meinem Temperament.«

»Unsinn!«, sagte David. »Dieses Gewäsch glauben Sie doch selbst nicht, und Sie tun mir leid. Ich kann Ihre Verbitterung verstehen, aber Ihre Theorie erscheint mir doch reichlich verschroben.«

»Ja, ja, ich weiß«, sagte Cabot und sah zu ihm auf. »Zur Abwechslung bekomme ich mal eine ehrliche Antwort. Sehr erholsam für mich. Offensichtlich wollen und brauchen Sie nichts von mir, oder Sie würden entgegenkommender sein. Aber Ihre Lauterkeit - ich bin überzeugt, dass Sie es dafür halten - ist ebenso langweilig und lästig wie mein schlaffer Körper. Sie ekelt mich an. Gewiss, Sie sind ein ausgezeichneter Arzt - wie Leute, die es wissen müssen, mir versichert haben -, aber ein brillanter Arzt ist im Grunde doch weiter nichts als ein hochqualifizierter Techniker. Nichts mehr. Ich wünschte, Sie hätten mehr Einfallsreichtum und mehr Originalität der Gedanken, Dr. Riviera. Dann würde ich Sie mehr respektieren.« Ohne ein Wort des Übergangs wechselte er das Thema. »Was höre ich da - Sie wollen mir davonlaufen?«

Sheila, die abseits neben dem Fenster gestanden hatte, zuckte merklich zusammen.

»In die Schweiz, nicht wahr?«, fuhr Cabot fort.

»Wer hat Ihnen davon erzählt?«, fragte David.

»Ihr erlauchter Vorgänger, Dr. Kessler, Chefarzt irgendeines großen Krankenhauses. Er hat's mir erzählt.«

David gab nicht sofort eine Antwort, sondern tat geschäftig, seine Instrumente zurück in die Arzttasche zu packen.

»Warum haben Sie es mir nicht selbst gesagt?«, fragte Cabot mit abweisender Kälte.

»Ich habe mich bisher noch nicht entschlossen, ob ich überhaupt gehe«, sagte David ruhig.

»Sie treffen heute Abend mit dem Chefarzt eines Züricher Krankenhauses zusammen, nicht wahr?«

David starrte Cabot eine Sekunde lang in die Augen. »Ja«, gab er gedehnt zur Antwort, »ich will hören, was er darüber zu sagen hat.«

»Was ist es, das Sie nach Zürich zieht? Geld?«

»In der Hauptsache die Möglichkeit unabhängiger und freier Forschung«, sagte David.

»Wollen Sie mir weismachen, derartige Möglichkeiten gäbe es hier in San Francisco und in den Staaten nicht?«

»Natürlich gibt es die.«

»Ah, so«, sagte Cabot, »dann muss wohl das würdige alte Europa in Ihrem Kopf herumspuken. Berühmte alte Doktoren mit weißen Bärten, unverständlichen Dialekten und albernem Glauben an eine höhere Berufung. Das gute alte Europa! Zum Lachen! Es ist so krank, siech und hilflos wie ich selbst.« Er drückte den Knopf der Schalttafel seitlich des Bettes, und sein Oberkörper richtete sich mit dem Kissenteil auf. »Und mich lässt man einfach hier liegen! Wer wird Ihr Nachfolger?«

»Ich halte Dr. Beloit für den fähigsten und geeignetsten«, sagte David.

»Nicht nur fähig, sondern auch zuverlässig?«, fragte Cabot.

»Ich bin überzeugt, dass Dr. Kessler ihn in jeder dieser Hinsichten empfehlen wird.«

Cabot lächelte; ein kaltes, maskenhaftes Lächeln. »Das hat er bereits getan. Bringen Sie ihn morgen mit.«

»Sofern ich mich für die Schweiz entschließe«, sagte David.

»Sie werden sich dazu entschließen. Ich kann mir nicht vorstellen, was Sie hier halten soll. Sie werden sich genauso aufführen wie ein Held im Kino oder in einem Roman von A. J. Cronin.« Er musterte David verächtlich. »Das wäre dann wohl das höchste Ziel, das der Sohn eines mexikanischen Obstpflückers aus dem Napa-Tal erreichen kann. Ja, Sie werden fahren; Sie sind genau der Typ. Um der medizinischen Forschung zu dienen - so sagt man doch, nicht wahr?«

David sah auf den leidenden alten Mann herunter, und Mitleid stand in seinem Gesicht. »Ich hoffe, Sie haben eine angenehme Nacht«, sagte er und ging zur Tür. Sheila schickte sich an, ihn hinauszubegleiten.

»Bleib, Sheila«, fuhr Cabot sie an. »Der Doktor kennt inzwischen den Weg nach draußen.«

Sheila blieb starr stehen, wo sie war.

»Falls Sie mich brauchen sollten«, sagte David ruhig, »können Sie mich zu Hause erreichen.«

Er ging hinaus und schloss hinter sich die Tür.

Sheila trat zurück an die Seite des Bettes, blieb dort ganz ruhig stehen, sagte kein Wort, und obwohl ihr Gesicht ausdruckslos blieb, machte sie den Eindruck völliger Resignation.

Cabot schaute sie eine Weile an, ohne etwas zu sagen. Er ließ sie dort stehen, und sie wartete geduldig.

»Mein teures Weib«, sagte er schließlich. »Mein ach so geduldiges teures Weib. Mit jedem Tag wirst du in deiner Haltung mir gegenüber widerspenstiger.«

Sie gab keine Antwort.

»Nun?«, sagte er.

»Nun - was?«, entgegnete sie. »Du erwartest von mir darauf doch sicher keine Antwort.«

»Ich erwarte gar nichts von dir. Das ist mein Glück - um es gelinde auszudrücken.«

»Ich tue, was ich kann, Matthew«, sagte sie leise.

»So, tust du das? Und bist du unglücklich dabei, meine Liebe?« Er wartete. »Nun, bekomme ich keine Antwort?«

»Oh, Matthew«, sagte sie resigniert. »Warum fragst du bloß?«

»Mein liebes Weib, wir haben einen heiligen Bund geschlossen, der vom Allerhöchsten gesegnet worden ist. Unser Name wird fortleben. Wir sind reich. Wir gehören zur herrschenden Gesellschaftsschicht, zur Aristokratie. Sollen wir den romantischen Idioten rechtgeben und eingestehen, dass wir mit all dem nicht glücklich sind?«

»Soll ich sagen, dass ich glücklich bin?«, fragte sie. »Ich tu's, wenn du's verlangst.«

»Ach was!«, sagte er barsch. »Ich bin ein logisch denkender Mensch, und diese Logik sagt mir, dass wir mit alledem, was wir besitzen, glücklich sein müssen.« Seine Augen glitten über ihre Gestalt, und sie las nur allzu deutlich den Hunger und das Verlangen darin. Verlegen wandte sie den Blick ab. »Du würdest aber doch sicher zugeben, dass wir einen guten und vielversprechenden Anfang machten«, fuhr er fort. »Nicht wahr, Sheila?«

Sie hob den Kopf. »Gewiss«, sagte sie, »es war sehr nett.«

»Nett?«, wiederholte er. »So, das war es für dich - nett! Nun, ich will dir sagen, dass es für mich nicht nett war. Dazu war es zu überwältigend, zu aufregend und später allzu enttäuschend. Ich möchte das alles nicht noch einmal durchmachen. Nie mehr!«

Sie war überrascht und schockiert. »Matthew«, flüsterte sie, »das sagst du mir nach all diesen Jahren?«

»Warum nicht?«, sagte er kalt. »Das alles spielt doch jetzt keine Rolle mehr.«

Sie sah ihm fest in die Augen. »Nein«, sagte sie, »jetzt ist es zu spät. Aber es gab einmal eine Zeit, da war es nicht zu spät.«

»Du bist eine perfekte Lügnerin«, sagte er mit gleichmütiger Stimme. »In Wirklichkeit habe ich dich niemals erreichen können. Du warst mir von eh und je fern. Ich wusste es schon damals, und heute gebe ich es selbst zu. Den Grund weiß ich nicht. Ich war ein unternehmungslustiger, gutaussehender Mann und besaß sogar so etwas wie Charme.«

»Das warst du«, sagte sie. »Ich kann mich gut erinnern.«

Er sah zu ihr auf. »So, du erinnerst dich. Weißt du, was du mir mit solchen Bemerkungen antust?« Ich glaube, nein. Du denkst vielleicht, du bist freundlich zu mir. Lass es lieber. Tu nur das, was ich dir sage. Ich werde dich bei mir behalten, bis ich sterbe, weil ich ein kranker, rachsüchtiger alter Mann bin, und weil ich dich hassen gelernt habe. Nun, was sagst du dazu?«

»Das wusste ich längst«, sagte sie.

»Nichts wusstest du. Du kannst mich auch heute noch nicht verstehen, und du bist in Wahrheit keine sonderlich intelligente Frau. Das ist nur ein kleiner Teil meines Denkens, den ich dir verrate, und du hast keine Ahnung, wer und was ich in Wahrheit bin, meine Liebe.« Er schloss einen Augenblick lang die Augen. »Ich kann mich erinnern, als du aus Seelenkummer weintest«, fuhr er fort. »Du weintest und stöhntest und schlugst um dich. Derart zu schauspielern, dazu bist du gar nicht imstande. Das war echt. Habe ich Recht?«

Sie gab keine Antwort, sondern sah ihn nur in einer Art verlegenen Staunens an.

»Heute erscheint es mir unglaublich«, sagte er weiter, »wie interessiert wir einmal jeder an dem Körper des anderen waren. Von einem gewissen Standpunkt aus war es beinahe schon ungesund. Es erscheint mir auch deshalb unglaublich, weil ich bestenfalls eine widerliche Apathie empfinde, wenn ich an das denke, was wir beide miteinander aufführten. Ja, sogar ein wenig Scham wegen der Würdelosigkeit, in die ich mich dabei verlor. Meine Würdelosigkeit und deine erschreckende Neugier und Lust. Oh, wenn ich daran denke, wie du dich gebärdet hast. Wirklich einmalig!«

»Hör auf, Matthew«, unterbrach sie ihn. »In der Art, wie du es vorbringst, ist es obszön und unanständig.«

»Geh' doch aus dem Zimmer«, sagte er. »Ich kann dich nicht zurückhalten, und du brauchst es dir also nicht anzuhören. Die Lage ist für dich unerträglich, aber dennoch bleibst du. Warum? Ich kenne die Antwort, die du dir selbst gegeben hast, und sie liefert dich mir aus, meine liebe Sheila. Unser - mein Sohn, sagst du. Nein. Es ist nicht Peter. Wenn du mich verlässt, stehst du ohne Geld da, ohne Sohn, ohne Haus, ohne Wagen, ohne Chauffeur. Nichts hast du dann mehr, und unser Sohn ist nur eines davon, aber er dient dir als Vorwand; er ist deine Entschuldigung. Die Wahrheit ist viel einfacher: Du bist ein Schwächling! Hier hast du alles, was du dir nur wünschen kannst. Wenn du mich ernstlich verlassen wolltest, hättest du durchaus die Möglichkeit dazu. Und doch wirst du es nicht tun, weil du mit der veränderten Lage nicht fertig werden würdest.«

Während er sprach, und während die erniedrigenden, bösartigen Worte von seinen welken, blassen Lippen kamen, schien Sheila einen Halt gefunden zu haben, einen Schutz, unter den sie sich vor den auf sie niederprasselnden gemeinen Worten ducken konnte. Sie hatte sich aufgerichtet und war in ihrer Haltung ruhiger geworden. Cabot sah es mit seinen forschenden, durchbohrenden Augen und wusste, dass er sie endgültig verloren hatte. Flüchtig überlegte er, was ihr wohl diese Kraft geben mochte. Schon mehrfach hatte er bemerkt, dass sie irgendworan einen Halt zu finden schien und dass seine Worte, mochten sie noch so hart sein, Sheila nicht mehr tiefer verletzen konnten. Er redete noch eine Weile weiter auf sie ein, aber dann überkam ihn selbst der Ekel vor dem Schmutz, den er auf sie häufte; er begann sich selbst zu hassen, und wendete es dann so, dass er den Hass auf sie übertrug. Endlich hielt er inne, drückte einen der Knöpfe des Schaltbretts, und sein Oberkörper senkte sich in die Horizontale. Regungslos lag er mehrere Minuten flach auf dem Rücken, doch Sheila machte keine Bewegung, um das Zimmer zu verlassen.

»Nur noch ein paar Minuten«, sagte er. »Ist das zu viel verlangt von meinem treu ergebenen Weib?« Seine Worte klangen jetzt beinahe flehend. Er wie auch Sheila hörten diesen gänzlich anderen Stimmfall, und wenn Cabot dazu imstande gewesen wäre, hätte er sich in diesem Augenblick aus dem Fenster gestürzt ob der nach seiner Meinung erniedrigenden Schwäche, die er ihr gegenüber offenbarte.

»Nein, Matthew«, sagte sie, doch es lag kein Triumph in ihrer Stimme.

»Natürlich kann es auch vielleicht ein paar Sekunden länger dauern«, konnte Cabot sich nicht enthalten, in seiner momentanen Schwäche einzugestehen.

Sheila trat ans Fenster und zog die dichten Vorhänge vor die hellleuchtende Nachmittagssonne.

Dies gab Cabot Zeit, sich wieder zu fassen, aber ihm kam nicht in den Sinn, dass sie es absichtlich getan hatte, eben um ihm diese Zeit zu geben. Unhörbar, zu sich selbst, sagte er sehr langsam und sehr klar: Lass das Flennen, Matthew S. Cabot! Nimm dich zusammen. Zittere und winsele nicht, wenn du zu ihr sprichst. Denk daran, wer du bist! Diese unhörbaren Worte gaben ihm seine Sicherheit zurück, und als er jetzt sprach, tat er es mit der gewohnten Härte und Kälte.

»Die Zaubernadel«, sagte er, »die wunderbare Injektionsnadel, Zauber der Medizin. Tötet den Schmerz und hält einen Menschen am Leben - jahrelang. Ist es nicht jammerschade, dass sie noch nichts für deinen Zustand gefunden haben? Das wäre dann ein noch größeres Wunder, nicht wahr, Sheila?«

Sheila wandte sich vom Fenster ab und trat zurück an das Bett.

»Eine Vitaminspritze gegen Liebesmangel«, ergänzte er.

Sie beugte sich über ihn, richtete ihm das Kissen und rückte die Karaffe und das Wasserglas besser in seine Reichweite. »Brauchst du sonst noch etwas, Matthew?«, fragte sie.

Er wollte nein sagen, wollte sie gehen lassen, denn das Spiel, das er mit ihr trieb, war vorüber, aber er brachte es nicht fertig.

»Ja«, sagte er. »Ich fand heute etwas über dich in der Post.«

»Über mich?« Sie schien nur wenig interessiert.

Er tastete mit der Hand über die verstellbare Tischplatte seines Betttisches und fischte eine Fotokopie heraus.

»Hier, eine Fotokopie. Kraftfahrzeugzulassungsstelle. Antrag auf einen Lernführerschein. Ausgestellt für Sheila Cabot am 16. - das war also vorgestern.«

Sheila schüttelte ungläubig den Kopf. »Du hast wohl überall deine Freunde sitzen, nicht wahr?«

Cabot überhörte es. »Was ist plötzlich in dich gefahren? Wofür brauchst du einen Führerschein?«

»Und warum machst du eine Affäre daraus, wenn ich selbst fahren will?«

»Ein Chauffeur und eine Cadillac-Limousine genügen dir wohl nicht mehr?«, fragte er. »Sie sind dir wohl nicht - nun, sagen wir - diskret genug?«

»Oh, Matthew«, sagte sie, »warum bist du so kleinlich. Es ist deiner doch gar nicht würdig.«

»Kleinlich?«, sagte er. »Echte Rachsucht besteht fast nur aus Kleinlichkeit. Du als Frau müsstest das eigentlich wissen. Es ist ein typisch weiblicher Charakterzug. Wohin willst du fahren? Gib Antwort - wohin?«

Sie wirkte plötzlich sehr müde, zum ersten Mal an diesem Tag.

»Ich weiß es nicht«, gab sie zur Antwort. »Ich habe noch nicht darüber nachgedacht. Zum Friseur, zum Einkäufen, zu Freundinnen - ich weiß es wirklich nicht.«

»Dafür ist Cob da, und dafür bezahle ich ihn«, sagte Matthew und war selbst beschämt über die Nichtigkeiten ihrer Konversation. Für ihn war es ein Maßstab, wie sehr sich sein Befinden verschlechtert hatte.

»Vielleicht fahre ich nur ohne Ziel irgendwohin«, sagte Sheila. »Nur um zu fahren und um ein wenig allein zu sein.«

»Allein?« Die schlaffe Hand tastete nach dem Knopf, das Kissenteil fuhr in die Höhe, und mit krallenartigem Griff packte er ihre Hand. »Du bist meine Frau. Du hast nirgends wohin allein zu fahren und nirgendwo allein zu sein.«

»Bitte, Matthew«, sagte Sheila leise, »du tust mir weh.«

Sofort ließ er sie los. Sie rieb sich das Handgelenk, auf dem die Spuren seiner Finger zurückgeblieben waren. »Lerne endlich, etwas auszuhalten«, sagte er kalt und schnaubte verächtlich, »so wie ich vieles in meinem Leben aushalten musste - vor allem jetzt.« Er schloss die Augen und spürte, wie die injizierte Droge schwer durch seine Venen floss. »Also gut. Deine täglichen Minuten, die du bei mir zu verbringen hast, sind um.«

Sheila zögerte keinen Augenblick und verließ das Zimmer. Sie schloss von draußen die Tür und lehnte sich schwer dagegen.

»Dieser schreckliche Mann«, flüsterte sie vor sich hin, so dass nur sie es hören konnte. »Dieser entsetzliche kranke alte Mann!«

 

 

 

 

 

 

3.

 

 

Tanis glatte rötlich-braune orientalische Gesichtshaut reflektierte das Licht, das von den Heizspiralen des großen Küchenbackofens kam. Als das Haustelefon läutete, schloss sie die Ofentür und hob den Hörer ab.

»Ja, Mrs. Cabot. Natürlich. Cob ist hier unten. Ich werde es ihm ausrichten.« Sie hängte den Hörer auf und wandte sich an Cob, den Chauffeur. »Mrs. Cabot wünscht, dass Sie sofort mit dem Wagen Vorfahren.«

»Pssst!« Cob setzte die Kaffeetasse ab und schaute irritiert auf. Er langte mit der Hand über den Tisch und drehte das Kofferradio auf volle Lautstärke. Der Ansager war gerade dabei, die Ergebnisse und Quoten der Pferderennen durchzusagen.

»Sofort!«, sagte Tani. »Sie will den Wagen sofort!«

Ärgerlich schaltete Cob das Radio ab. »Verflixt! Den ganzen Tag hat sie Zeit, und ausgerechnet in dieser Minute muss sie sich darauf besinnen, dass sie den Wagen braucht.«

»Sie sagt, sie braucht ihn sofort«, wiederholte Tani.

»Ja, ja, ich hör ja schon.« Cob quetschte den Stummel seiner Zigarette im Aschenbecher aus und stand auf. »Tagelang steht der Wagen in der Garage, und die Batterie wird schwach und schwächer. Aber wenn sie ihn mal braucht, dann natürlich sofort.« Er zeigte mit dem Daumen zum Radio hin. »Ausgerechnet jetzt, wo die Quoten durchgegeben werden. Was ich dort investiert habe - darauf nimmt natürlich kein Mensch Rücksicht.«

»Sie werden gut bezahlt für Ihr bisschen Arbeit hier«, sagte Tani und wandte sich wieder dem Backofen zu.

»Was? Für meine wenige Arbeit? Ist es vielleicht ein Vergnügen, ständig in dieser Affenjacke herumzuparadieren? Nun, ich werde sie nicht mein ganzes Leben tragen. Eines Tages lande ich einen Volltreffer, und dann kaufe ich ihnen die ganze Rennbahn ab. Dann kommt die Sekunde X für Cob O'Brien.«

»Ja, eines Tages...«, sagte Tani.

»Was, glauben Sie es etwa nicht?« empörte sich Cob.

»Inzwischen fahren Sie lieber den Wagen vor.«

Cob starrte sie an, und sein raues, rotes Gesicht verzog sich ärgerlich. »Ha!«, sagte er. »Aus Ihnen spricht wohl die Weisheit des Ostens! Warum geben Sie nicht Ihren Beruf auf und gehen als Wahrsagerin?« Wütend stampfte er hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. Tani lächelte, ein sehr westliches Lächeln, voll von Humor.

 

Sheila war gerade dabei, den Mantel auszuwählen, den sie überziehen wollte, als ihr neunjähriger Sohn Peter hereinkam.

»Mami?«, sagte er höflich, jedoch ein wenig unsicher.

Sheila wandte sich zu ihm um, und wie immer, wenn sie ihn ansah, zog sich ihr Herz schmerzlich zusammen. Er war groß für sein Alter und blond wie seine Mutter. Doch seine Gesichtszüge hatten den strengen Schnitt der Cabots.

»Ja, Peter? Was gibt's denn, Liebling?«

»Schau, was mir Miss Lee mitgebracht hat!« Übereifrig sprudelte er die Worte heraus. »Aus dem Büro! Alles Luftpostmarken!«

»Die sind aber fein«, sagte Sheila und gab ihrer Stimme das schuldige respektvolle Erstaunen. »Und aus der ganzen Welt! Hast du auch nicht vergessen, dich zu bedanken?«

»Was ist?«, fragte Peter geistesabwesend.

»Ob du dich bei Miss Lee auch für ihre Mühe bedankt hast!«

»Oh!« Er schaute zu ihr auf und blinzelte. »Ich glaube, ja. Hilfst du mir beim Einkleben ins Album?«

»Nicht jetzt gleich, Liebling. Heute Abend vor dem Schlafengehen. Genügt dir das?«

»Klar.« Er hörte nur mit halbem Ohr hin, aber selbst seine leise Zerstreutheit fand Sheila entzückend. Unauffällig beobachtete sie ihn, und warm stieg die Liebe in ihr für ihn auf.

»Ich gehe jetzt und sortiere sie.«

»Gib mir erst einen Kuss«, sagte sie und sah stolz auf ihn herunter.

»Was? Ach so.«

Sie küsste ihn auf die Wange, dann lief er mit seinen Briefmarken in der Hand aus dem Zimmer.

Sheila hatte sich endlich für einen Mantel entschieden, ging zur Tür hinaus und stieg die gewundene breite Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Als sie die Diele erreicht hatte, öffnete sich die Haustür und Catherine Cabot, ihre erwachsene Stieftochter, trat ein. Beide blieben stehen, wo sie gerade standen.

»Wie geht es Vater?«, fragte das junge Mädchen.

»Er schläft jetzt. Dr. Riviera war gerade da und hat ihm ein Beruhigungsmittel gegeben.«

Unverwandt blickte das Mädchen sie an. »Und du gehst aus?«

»Gewiss, warum nicht?«, sagte Sheila. »Ich habe in der Stadt ein paar Besorgungen zu machen. Tani wird nach deinem Vater sehen.«

Cathy stürmte an ihr vorbei auf die Treppe zu. »Das braucht sie nicht. Ich werde es tun.«

Sheila fuhr herum. »Cathy!«, rief sie ihr nach.

»Ja?« Das Mädchen verhielt den Schritt. Ihr langes dunkelblondes Haar flog herum und umrahmte ihr frisches, goldbraun getöntes Gesicht.

»Seit drei Tagen habe ich keinen Fuß aus dem Haus gesetzt«, sagte Sheila leise und eindringlich. »Auch ich brauche gelegentlich ein wenig frische Luft. Dagegen wirst doch wohl auch du nichts einzuwenden haben.«

Es stand weder Liebe noch Sympathie in dem Gesicht des Mädchens, das dort von den ersten Treppenstufen auf ihre Stiefmutter heruntersah. »Amüsiere dich gut, Sheila«, sagte sie und ging weiter die Treppe hinauf.

Sekundenlang stand Sheila starr und sah ihr nach. Ihr Gesicht ließ keinerlei Regung erkennen, doch in ihrer Haltung lag so etwas wie Betroffenheit.

Auf der Fahrt ins Stadtinnere merkte Sheila verschiedentlich, wie Cob sie im Rückspiegel beobachtete und ihren Blick einzufangen versuchte. Anscheinend wollte er ein Gespräch anfangen, aber Sheila ermunterte ihn nicht dazu. Lediglich einmal bestätigte sie ihm, dass es in der Tat ein herrlicher Tag sei. Das war alles, was sie sagte, und Cob unternahm keine weiteren Versuche.

Die schwere Limousine hielt vor dem Tuchgeschäft von Magnin & Company, und Cob kam um den Wagen herum und hielt Sheila die Tür auf.

»Holen Sie mich in einer Stunde ab«, sagte sie.

»Hier, Madam?« Cob zog die Augenbrauen hoch.

Sheila fühlte ein Zittern der Angst in sich aufsteigen. »Ja, hier. Warum?«

»Das Geschäft schließt in einer dreiviertel Stunde«, sagte Cob und sah sie unverwandt an.

»Oh!« Sie überlegte einen Moment. »Nun, dann eben in einer dreiviertel Stunde.«

Irgendwie hatte sie den Eindruck, dass er grinste, obwohl er es in Wirklichkeit selbstverständlich nicht tat.

»Ich bin pünktlich auf die Minute da, Madam«, sagte er, stieg zurück in die Limousine und glitt mit ihr davon.

Sheila blickte ihm kurz nach und öffnete die Tür des Geschäftes, in dem sie mit schnellen Schritten den Hauptgang entlang ging. Jemand, der sie beobachtet hätte, hätte zweifellos den Eindruck gehabt, es handele sich um eine Kundin, die genau wüsste, was sie wollte und wo sie es finden konnte. Sie bog vom Hauptgang ab und blieb vor einem Verkaufstisch in der Nähe des Seitenausgangs stehen, nahm einen herrlich gemusterten italienischen Brokatstoff auf und ließ ihn durch ihre schmalen, feingliedrigen Finger gleiten. Dann blickte sie sich einmal vergewissernd um, ganz in die Runde, und verließ das Geschäft durch den Seitenausgang. Dort wartete ein vorbestelltes Taxi, und sie stieg ein.

David Riviera wohnte auf dem Russian Hill in einem eleganten Appartementhaus mit dem Standardblick auf die Bucht und das Meer hinaus, wie er für elegante San Franciscoer Wohnungen üblich ist.

Als Sheila den Summer an seiner Wohnungstür drückte, öffnete er sofort, und sie schlüpfte hinein.

Er fasste sie leicht bei den Armen. »Ich habe so gehofft, dass du dich freimachen könntest«, sagte er.

»Es musste einfach gehen, vor allem heute.« Sie sah ihm flüchtig in die Augen und ging ins Wohnzimmer hinein.

David folgte ihr auf den Fersen. »Sheila, wegen Zürich, ich wollte dir nur sagen...«

»Nicht jetzt, Liebling«, unterbrach sie ihn, und leise Wehmut und Trauer lag in ihrer Stimme. »Sag jetzt gar nichts. Halt mich nur fest. Bitte!«

In Davids Gesicht war zu lesen, was hinter seiner Stirn vorgehen mochte. Seine Augen zogen sich wie im Schmerz zusammen, und wieder schloss er Sheila in die Arme.

Diesmal war es eine leidenschaftliche Umarmung. Immer wieder flüsterte er leise ihren Namen, und sie stöhnte wie im Schmerz. Dann nahm sie sein Gesicht in ihre beiden Hände, schob seinen Kopf zurück und sah ihm eindringlich in die Augen, sekundenlang, küsste ihn erneut leidenschaftlich und hingebungsvoll auf den Mund, bis sie ihn dann endlich freigab und ans Fenster trat.

»Es ist also wahr?« Sie sagte es ganz ruhig.

»Setz dich, Liebling«, sagte er, »und gib mir erst deinen Mantel.«

»Bitte, David, ich möchte eine Antwort auf meine Frage.«

»Ja, es ist wahr«, sagte er mit heiserer Stimme. Es durchzuckte ihn wie ein schmerzlicher Stich. »Bitte, sieh mich an«, sagte er zu Sheila, die immer noch zum Fenster hinaussah.

Mit einer schnellen, flüchtigen Drehung wandte sie sich ihm zu, und in ihrem Gesicht stand nichts von dem, was sie in diesem Augenblick empfinden mochte. »Es scheint eine einmalige Gelegenheit für dich zu sein.«

»Sheila«, sagte er betont, »bitte!«

»Nun, ist Zürich das nicht?«

»Ja«, sagte er, »beruflich ist es das.«

»Und es ist doch genau das, was du dir immer erträumt hast.«

»Sheila, bitte hör’ auf!«

»Die Schweiz, solch ein herrliches Land. So sauber und rein.« Erneut wandte sie sich von ihm ab. Tränen verschleierten ihren Blick.

»Bitte weine doch nicht, Liebling. Zanke und streite mit mir, aber bitte nicht weinen!«

Sie drehte sich zurück. Ihre Tränen waren versiegt, ihre Augen glänzten nur noch von Nässe. »Ich? Weinen? Warum sollte ich. Ich bin lediglich höflich und interessiere mich für deinen beruflichen Fortgang, den du in der Schweiz...«

»Lass das Theaterspielen«, sagte er heiser und starrte sie an. »Ich gehe nicht aus beruflichen Gründen. Ich gehe, weil ich muss - weil die Situation hier unerträglich geworden ist.«

»So, ist sie das?« kam die Antwort. »Wie in einem Drama oder etwas Ähnlichem?«

»Was ist mit dir?«, fragte er. »Warum sprichst du in dieser verleumderischen Art, die unserer Liebe nicht wert ist...«

Da kamen ihr erneut die Tränen. Er ließ sie weinen, und als sie die Tränen getrocknet hatte, fühlten beide sich erleichtert, und er schloss sie in seine Arme.

»Das einzige Mal, dass ich dich bisher weinen gesehen habe, war, als du zum ersten Mal in diese Wohnung kamst«, sagte er leise.

Sie stützte beide Hände gegen seine Brust und machte sich von ihm frei. »In Wirklichkeit willst du also, dass ich weine«, sagte sie. »Und da ich weine, ist man eben zu dem armen Liebling freundlich und sanft. Noch eine Weile, dann werden wir beide weinen, und du wirst in die Schweiz fahren, und das wird dann das Ende sein. Nun, ich versichere dir, das wird es nicht sein. Ich glaube nicht, dass du überhaupt verstehst, wie sehr ich dich liebe. Wir wollen jetzt nicht nett und sanft zu mir sein, und wir wollen auch nicht zugeben, dass die Situation unerträglich ist. Ich halte das einfach nicht aus.«

»Meinst du, mir macht es Spaß, die Dinge beim Namen zu nennen, Liebling?« Das ganze Elend, das er in diesem Augenblick fühlte, klang aus seiner Stimme heraus.

»Nein«, sagte sie. »Das glaube ich nicht. Aber nichtsdestoweniger... gehst du fort.«

Sie sah ihn an, wie er niedergeschlagen vor ihr stand, und es schien ihr das Herz zu zerreißen. »Seltsam«, sagte sie, »was einem in solchen Augenblicken durch den Kopf geht. Alles, was ich denken kann, ist, dass ich nun niemals wissen werde, wie es ist, am Morgen zu erwachen und dich neben mir zu finden.«

»Doch«, sagte er, »das wirst du. Glaube mir. Es ist nur eine Frage der Zeit. Matthew Cabot erholt sich nicht mehr. Sein Zustand ist hoffnungslos.«

»Und mein Zustand?« Sheila lächelte bitter.

David wandte sich mit einer plötzlichen Drehung von ihr ab. »Mein Gott«, sagte er, »wenn du ihn doch nur hier zurücklassen und mit mir kommen könntest. Helfen kannst du ihm ohnehin nicht.«

»Ach, wie du dir das alles so vorstellst.« Ihre Stimme klang nur noch verzagter. »Wie soll ich das machen? Einfach meinen Koffer packen und davonlaufen? Er würde niemals in eine Scheidung einwilligen, das weißt du. Und Peter... Matthew würde mich bis an das Ende der Welt jagen, um ihn mir wegzunehmen. Und auch dich würde er ruinieren. Er würde dafür sorgen, dass du, solange du lebst, niemals mehr als Arzt praktizieren dürftest.«

»Das könnte er nicht«, sagte David.

»Verlass dich darauf, er bringt es irgendwie fertig.«

»Mag sein, vielleicht hast du Recht«, änderte David plötzlich seine Meinung. Er schlug mit der geballten Faust auf den Tisch. »Mein Gott!«, stöhnte er. »Wenn mir jemand früher gesagt hätte, dass ich einmal für den Tod eines meiner eigenen Patienten beten würde...«

»Ich weiß«, sagte Sheila, »ich weiß, was für eine Hölle es für dich ist, Liebling. Ebenso wie für mich.« Ihr Gesicht verfinsterte sich. »Endloses Lügen, Intrigieren, Ränkeschmieden, Herausschleichen aus Seitenausgängen - alles nur, um ein paar Minuten beieinander sein zu dürfen. Aber wenn ich daran denke, was mein Leben ohne diese wenigen Minuten wäre... ich...« Ihre Stimme brach ab, fing sich dann wieder. »Bitte, lass mich nicht allein, David«, flehte sie. »Bitte, geh' nicht fort!«

»Ich muss, Sheila.«

»Warum, Liebling? Warum nur? Ich bin schon jetzt verzweifelt, wenn ich daran denke, was ich ohne dich anfangen soll.«

»Und ich fürchte mich vor dem, was ich tun könnte, wenn ich bleibe.«

»Du fürchtest dich?« Sie starrte ihn an.

Unsicher blickte er zu ihr auf, zog sie zu der Couch hinüber, und sie setzten sich. »Sheila«, sagte er, »hast du gehört, was wir beide hier sagen, oder schlimmer noch, was hinter dem lauert, was wir sagen?«

Verwirrt sah sie ihn an. »Was meinst du damit?«

»Sheila«, sagte er, »wir beide sind von Natur aus gute Menschen. Oder wir waren es zumindest einmal. Aber jetzt sitzen wir hier und sprechen in allem Ernst über Tod und Liebe, über die Rechte zweier Liebenden, und warten darauf, dass ein kranker Mann stirbt - tun Dinge, die, bei anderem Licht betrachtet, von uns beiden als schändlich empfunden werden würden. Aber weil es um uns selbst geht, weil wir selbst in das, was wir fühlen und empfinden, tief verwickelt sind, und weil wir es so brennend wünschen, können wir nicht den notwendigen Abstand dazu gewinnen, um es vom moralischen Standpunkt aus nüchtern zu beurteilen. Wir sind ganz einfach schwach, zu nachsichtig gegenüber unseren Wünschen und, wie wir glauben, berechtigten Forderungen. Jeder Außenstehende, der Abstand von den Dingen halten kann, würde einen völlig anderen moralischen Maßstab anlegen. Nur unser Maßstab eben hat sich verschoben, weil wir selbst in die Dinge verwickelt sind. Wenn wir beide von Natur aus amoralisch, ohne jedes sittliche Empfinden und Verantwortungsbewusstsein wären, würde das nichts ausmachen. Aber das sind wir beide eben nicht. Unser Gewissen ist nur von unseren Wünschen verdrängt worden, und als Ergebnis dessen empfinden wir diese untragbar scheinende seelische Belastung. Weiß Gott, es ist schwierig und belastend genug, jemand zu lieben, jemand verfallen zu sein, sich jemand brennend bei sich zu wünschen. Aber hier sitzen wir und befinden uns in einer aussichtslosen Lage, aus der sich zwangsläufig nur eine tiefe Verletzung unseres Stolzes, unserer Würde und vor allem unserer Selbstachtung ergeben kann. Ich habe diese Situation ebenso wenig herbeigewünscht wie du, aber indem man es ausspricht, ändert man nicht das Geringste daran; die Tatsachen bleiben, ich begehre dich immer noch mehr als alles sonst auf der Welt. Und ich bin längst nicht mehr der, der ich früher einmal war. Die Dinge, die ich tun könnte oder zu tun in Erwägung ziehe, sind schreckliche Dinge. Sie zeigen, wie hoffnungslos ich schon in diese unselige Situation verstrickt bin; wie weit ich gesunken bin.«

Er erhob sich und ging zum Tisch hinüber, auf dem seine Arzttasche stand, entnahm ihr eine Injektionsspritze und trat wieder zu Sheila.

»Schau dir diese so harmlos erscheinende Spritze an. In Wirklichkeit ist sie tödlicher als eine Pistole. Und tausendmal weniger auffällig und nachweisbar. Ich verwende sie jeden Tag - bei ihm!«

»David!«, stöhnte Sheila. »Mein Gott, David!«

Doch David sprach weiter. Er schien unter einem inneren Zwang zu stehen, es sich von der Seele zu reden.

»Hast du eine Vorstellung davon, wie leicht es sich bewerkstelligen ließe? Oh, nichts derart Plumpes wie eine Überdosis seiner täglichen Injektion - das ließe sich durch eine Autopsie leicht entdecken. Nein, nichts weiter als ein kleines Luftbläschen in der Spritze, bevor man sie ansetzt. Das ist alles, was nötig wäre.«

»Denk nicht einmal daran«, flüsterte Sheila erschrocken. »Nicht einmal mit dem Gedanken daran darfst du spielen!«

»Nicht daran denken?« Er rieb sich die Augen. »Das war es doch, was ich vorhin meinte. Du bist nicht ehrlich zu dir selbst. Du frisst nur die Qual und den Schmerz in dich hinein. Wir beide tun es, und genauso geht es Matthew. Wir alle leiden nur. Aber du scheinst auf irgendeine Art Wunder zu warten; ein Wunder, das nie eintreffen wird. Hörst du, nie! Es sei denn, zu spät für uns alle. Gewiss, irgendwann einmal wird er sterben, aber so lange können wir nicht warten. In uns lauert die Gier, Sheila, machen wir uns doch nichts vor. Sie stört und quält uns, aber wir können es nicht ändern; sie ist mm einmal da. Und da sagst du mir, ich soll einfach nicht daran denken! Ich habe beinahe schon nichts anderes mehr im Sinn und in meinen Gedanken als dieses eine.«

Er starrte in ihr von panischem Schrecken verzerrtes Gesicht. »Nun weißt du, warum ich fortgehen muss. Ich will dieses Teuflische da nicht tun. Es geht gegen mein ärztliches Gewissen, gegen mein ganzes inneres Ich. Alles in mir lehnt sich dagegen auf, und doch werde ich es tun, wenn ich noch allzu oft in Versuchung geführt werde - bei jeder täglichen Injektion, die ich ihm gebe. Verstehe mich bitte, deshalb kann ich einfach nicht bleiben.«

Als er jetzt innehielt, entstand zwischen ihnen beiden ein langes, tiefes Schweigen, und Sheilas Erschrecken wandelte sich in abgrundtiefe Resignation.

»Natürlich musst du fahren«, sagte sie endlich. »Du hast recht, und ich habe das alles übersehen und mir selbst etwas vorgemacht.« Sie seufzte auf, und es lag keine Spur von Hoffnung mehr darin. »Wann fährst du?«

»Schon bald«, sagte er leise. »Morgen Abend.«

»Morgen Abend schon?« Ihre Augen weiteten sich in jähem Erschrecken. »Dann ist dies das letzte Mal, dass ich dich sehe!«

»Zumindest allein.« Seine Stimme klang unsicher; der Gedanke an das, was ihnen beiden bevorstand, drückte ihn nieder. »Ich komme morgen früh noch einmal ins Haus. Mit dem neuen Arzt.«

»Auch das bleibt uns also nicht erspart«, flüsterte sie. »Ein Abschied in aller Öffentlichkeit also. Ich weiß nicht, ob ich das ertragen werde, ohne mich zu verraten.«

Er zuckte zusammen, und sie bemerkte es. Sie stand von der Couch auf und schlang die Arme um seinen Hals. »Bitte verzeih mir«, flüsterte sie, und die Tränen schossen ihr in die Augen. »Good-bye dann. Auf Wiedersehen - in ach wie vielen Jahren.«

»Sheila«, setzte er an zu reden, schwieg dann aber, weil es nichts zu sagen gab; nichts gab, das ihnen half.

Sie blickte sich suchend im Zimmer um. »Dieses Zimmer«, sagte sie leise, »solange ich lebe, ich werde es niemals...« Rasch wandte sie sich ab und ging auf die Tür zu. Sie legte die Hand auf den Türknauf, aber irgendwie schien ihr die Kraft zu fehlen, ihn zu drehen.

»Sheila«, sagte David mit seiner ruhigen Stimme. »Warte!«

Sie drehte sich um, kam zu ihm zurück, und sie klammerten sich aneinander. »David«, flüsterte sie. »David!«

 

 

 

 

 

 

4. 

 

 

Am nächsten Morgen wartete Sheila doch auf David; auf eine letzte Möglichkeit, ihn noch einmal zu sehen, obwohl sie wusste, dass es zur Katastrophe kommen konnte, wenn er in Gegenwart von anderen endgültig von ihr Abschied nahm. So stand sie im Wohnzimmer am Fenster, wartete auf sein Kommen, auf die routinemäßige Visite und auf einen einzigen letzten Blick von ihm. Es schien ihr immer noch unfassbar, dass David Fortgehen sollte. Die Erinnerung an den gestrigen Nachmittag stand noch allzu lebendig vor ihren Augen.

Dann endlich sah sie seinen Wagen die gewundene Betonauffahrt heraufkommen, und sie trat vom Fenster zur Seite, um nicht bemerkt zu werden. So stand sie in einer dunklen Ecke des großen Raumes und hörte, wie Tani ging, um die Tür zu öffnen. Sheila wollte, wenn es ging, vermeiden, noch einmal mit ihm zu sprechen, aber als sie dann seine Stimme hörte, trat sie doch in die Diele hinaus. Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen, um gleichgültig zu erscheinen.

»Tani, führen Sie Dr. Riviera und Dr. Beloit gleich in das Zimmer meines Mannes«, sagte sie gleichmütig, doch als sie durchs Fenster sah, dass David allein gekommen war, hielt sie sofort erschrocken inne.

Tani öffnete die Tür. »Guten Tag, Doktor«, sagte sie.

»Guten Tag, Tani«, erwiderte er.

»Kommen Sie allein, Sir?«, fragte Tani überrascht.

»Ja, Tani«, sagte er, »ja.« Er rührte sich dabei nicht und schaute düster auf Sheilas Gestalt, die ebenso reglos blieb wie er und mit dem Boden verwachsen schien.

Dann endlich schien er sich gefasst zu haben. Er wandte sich um, trat an den beiden Frauen vorbei und stieg die Treppe hinauf.

Sheila sah ihm nach und griff sich mit der Hand unwillkürlich an die Kehle. Mit ruhigen, entschlossenen Schritten stieg David die letzten Stufen hinauf, überquerte den Treppenabsatz und schloss hinter sich die Tür von Matthew S. Cabots Zimmer.

Sheila sah einen Schleier vor ihren Augen. Wie im Taumel wankte sie zurück ins Wohnzimmer, während Tani ihr bereits den Rücken zugedreht hatte. Sie schien nichts bemerkt zu haben. Für Sheila gab es keinen Zweifel, was der entschlossene Ausdruck in Davids Gesicht zu bedeuten hatte. Sie fühlte sich sterbenselend bei dem Gedanken daran, und ihr kam eine erste düstere Vorahnung, dass es nicht gutgehen konnte. Wenn jetzt das Entsetzliche geschah, war sie ebenso schuldig wie David. Zwar hatte sie es ihm auszureden versucht, als er es ihr erzählt hatte, aber nur zögernd hatte sie nachgegeben, als er darauf bestand, dass er fort müsse. Also traf sie fast die gleiche Schuld. Ihn jetzt noch daran zu hindern, kam ihr nicht in den Sinn; was sich dort oben abspielen mochte, erschien ihr in weite, weite Femen entrückt und ihrem Eingreifen entzogen.

Und dennoch, sie wusste, dass Matthew Cabot in Kürze tot sein würde, aber es war eine so ungeheuerliche Vorstellung, dass ihr Bewusstsein sie einfach nicht annehmen wollte. Vielleicht konnte sie es sogar in diesem Augenblick noch verhindern, aber ihr kam nicht einmal der Gedanke daran. Es war etwas, das sich nach den Gesetzen des Schicksals zwangsläufig vollzog, ob man es nun wollte oder nicht. Es war etwas, das getan werden musste, für David und für sie selbst. Durch sein unmenschliches Verhalten und seine Taten hatte Matthew Cabot seine Rechte auf weiteres Leben verwirkt. Das war es, was sie sich einzureden und glauben zu machen versuchte. Nur das war für sie und David entscheidend. Matthew zählte nicht. Doch ihr Gewissen meldete sich und beschwor sie, dass er dennoch zählte. David hatte Recht, sie war als Mensch nicht schlecht genug, um nicht zu ermessen, was in diesem Augenblick dort oben geschah. Ganz und voll jedoch wurde es ihr nicht bewusst.

Ihre Gedanken wanderten zurück zu der Zeit, als sie Matthew kennengelernt hatte. Damals war er ein ganz anderer gewesen als jetzt. Sie erinnerte sich gut.

Er war Witwer gewesen, wesentlich älter als Sheila, aber noch von angenehmem und distinguiertem Äußeren, sogar mit so etwas wie männlichem Charme. Sie selbst war schön gewesen, jung, und stammte aus einer aristokratischen Familie, die die relative Armut ihrer letzten Generationen mit Würde zu ertragen verstand.

Einige Wochen später hatte er um ihre Hand angehalten, und nach einigem Zögern hatte sie eingewilligt. Eingewilligt allein deshalb, weil sie keinen Gegengrund finden konnte. Sie hatte ihn nicht geliebt, aber sie war einfach der Schar junger Männer überdrüssig gewesen, die sie fortlaufend zur Heirat drängten. Und ebenso überdrüssig war sie ihres Zuhauses, ihrer Familie und ihrer Arbeit gewesen. Dabei hatten ihr mehrere der jungen Bewerber um ihre Hand nicht einmal missfallen, ja, sie hatte sogar zwei kurze, unkomplizierte Affären gehabt, aber irgendwie hatte ihr all das keine Erfüllung gegeben. So hatte sie nach einigem Überlegen Matthew Cabots Antrag angenommen, und eine ganze Zeitlang hatte sie es nicht zu bedauern gehabt.

Das Bedauern kam eigentlich erst, als Matthew krank und dadurch ein ganz anderer Mensch wurde. Er wurde kleinlich, niederträchtig, sarkastisch und besitzergreifend. Und gerade zu dieser Zeit hatte Dr. Riviera ihren Weg gekreuzt. Ehe sie sich versahen, hatten sie sich ineinander verliebt. Natürlich hatte sie schon vorher von Liebe gehört, hatte davon gelesen, hatte die physischen Aspekte einer heißen Liebe in Betracht gezogen, aber durch nichts war sie auf den Hurrikan von Gefühlen vorbereitet, der sie einfach umwarf, als sie sich in David verliebte. Es war wie ein zerreißendes Zerren an ihren Nerven, nicht etwa nur ein süßer Taumel, und Matthew S. Cabot war es, der ihnen genau im Wege stand.

Ihre Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Mit einem schnellen Blick sah sie die Treppe hinauf, und Angst wuchs in ihr auf. Matthew, der starke, mächtige Mann, sieht sich in diesem Augenblick dem Tod gegenüber, fuhr es ihr durch den Sinn. Er hört auf zu existieren, sinkt zurück in ein Nichts. Der Gedanke traf sie wie ein Schlag. Sie konnte nicht mehr verhindern, dass sie einen leisen, erschreckten Schrei ausstieß. Mein Gott, dachte sie, jetzt tötet er ihn! Und auch ich töte ihn! In ihrer grenzenlosen Qual fuhr sie herum und sah sich Cathy gegenüber, die ihr von der Tür des Wohnzimmers entgegenstarrte.

»Sheila«, fragte sie, »fehlt dir was?«

Sheila starrte zurück. Das Bild des jungen Mädchens verwischte sich, die Konturen verschwammen vor ihren Augen, so, als ob sie etwas Unwirkliches sähe.

»Nein, nein, mir fehlt gar nichts«, brachte sie heraus, und es klang beinahe erleichtert. »Es ist alles in Ordnung.«

»Wirklich?«, sagte Cathy. »Du siehst so verändert und ganz bleich aus.« Sie wandte sich zur Tür. »Ich geh jetzt fort. Zum Dinner bin ich rechtzeitig wieder zurück.«

»Amüsiere dich gut, Liebes«, sagte Sheila, und es klang, als ob Cathy auf eine Cocktailparty ginge. Sheila hörte ihren eigenen, ganz merkwürdigen Tonfall und hätte beinahe laut herausgelacht.

Cathy gab keine Antwort; sie war bereits dabei, das Haus zu verlassen.

 

 

 

 

 

 

5.

 

 

Mit fast dreißig Knoten jagte das schlankgebaute Mahagoni-Boot über die Bucht dahin, so dass sich sein Bug hoch aus dem Wasser hob. Vor einem der Verladedocks scherte es in weitem Bogen ein und hielt mit viel zu hoher Fahrt auf ein gedrungenes Schleppboot und einen daran vertäuten Lastkahn zu. Erst im allerletzten Augenblick nahm Cathy - sie war es, die allein in dem Mahagoni-Boot stand - das Gas zurück, schaltete auf Rückwärtsfahrt und ließ den starken Bootsmotor mit aller Kraft auf heulen. Ein Zittern durchlief das Boot, es verlangsamte rasch seine Fahrt und kam kaum einen Meter vor dem Schlepper zum Halten. Ein junger Matrose trat an die niedrige Reling des Schleppers und fing die Leine auf, die Cathy ihm zuwarf. Während er das Motorboot vertäute, kletterte Cathy geschickt an Bord.

Blacky Richards kam ihr entgegen und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Darling, wenn du weiter mit deiner Kiste in dieser Manier über das Wasser fegst, wirst du eines Tages in meinem Maschinenraum landen - auf direktem Weg, quer durch die Bordwand.«

»Pfui, du Angsthase«, sagte Cathy. »Außerdem hatte ich's eilig. Du, Blacky, ich hab' eine wunderbare Nachricht!«

»Benutze für eilige Nachrichten beim nächsten Mal ein Telefon. Das ist sicherer.«

In gespieltem Ernst hielt Cathy sich die Nase zu. »Wenn ich geahnt hätte, dass du Düngemittel verlädst, hätt' ich's wirklich getan. Pfui, wie das stinkt!«

Blackys sonnengebräuntes Gesicht unter dem struwweligen schwarzen Haar verzog sich zu einem Grinsen. »Was da stinkt, bedeutet für mich Butter und Brot.« Er beugte sich zu ihr herunter und küsste sie leicht auf die Wange. »Also, was gibt's?«

Sie sah zu ihm auf. »Blacky«, sagte sie, »was wünschst du dir mehr als alles andere sonst in der Welt?«

Als Antwort griff Blacky erneut nach ihr, fasste sie um die Taille und küsste sie mitten auf den Mund. Lachend machte sie sich von ihm frei. »Nein, das meine ich nicht. Was wünschst du dir sonst?«

»Oh«, sagte er. »in dem Falle würden mir ein paar Verträge für meine Schleppboote nicht unwillkommen sein.«

»Würde dir ein Vertrag genügen? Einer für die gesamte Cabot-Flotte?«

»Kneif mich mal in den Arm«, sagte er zweifelnd.

»Nun, halt dich fest«, sagte sie. »Ich glaube, du hast ihn in der Tasche.«

»Bist du sicher?«

»Ziemlich sicher. Ich fragte Miss Lee. Sie behauptete, sie dürfe es mir nicht sagen, aber dann zwinkerte sie mit dem Auge.«

»So«, sagte Blacky. »Mit welchem denn?«

Trotzig schüttelte Cathy den Kopf. »Du machst dich über mich lustig, Blacky Richards! Weißt du etwas schon davon?«

Er lächelte. »Es tut mir leid, dass ich dir den Spaß und die Überraschung verderben muss, aber ich bekam heute schon mehr als ein Augenzwinkern. Dein Vater selbst hat mich angerufen.«

»Oh, Blacky, wie wunderbar!« Sie warf sich ihm an den Hals und küsste ihn geräuschvoll. »Hast du ihm schon irgendetwas angedeutet - ich meine, über uns beide?«

»Nein«, sagte er, »bisher nicht. Und ich habe auch nicht die Absicht, es zu tun. Wenn du es ihm erzählen willst - von mir aus. Er ist schließlich dein Vater. Mein Vater hingegen ist tot, und die Cabot-Linie ist der Grund, warum er starb. Aus Gram, weil er systematisch ruiniert wurde. Wenn Matthew Cabot mir jetzt einen Vertrag gibt - gut, ich nehme den Job an. Aber deswegen oder wegen seiner Tochter ändert sich in nichts meine Einstellung zu ihm und wie ich über ihn denke.«

Schweigend hatte sie ihm zugehört, und ihr Gesicht verdüsterte sich. »Blacky«, wandte sie ein, »du darfst nicht immer...«

»Ich weiß, ich weiß«, unterbrach er sie. »Für mich ist es einfach. Allzu einfach. Ich liebe dich und will dich heiraten. Für dich ist es nicht so einfach. Du musst eine Entscheidung fällen - zwischen ihm und mir. Eine schwere Entscheidung.«

Sie sah ihm in die Augen. »Ich habe mich bereits entschieden, Blacky.«

Prüfend sah er sie an. »Überleg' dir's lieber noch einmal, Cathy«, sagte er schließlich. »Bis du ganz sicher bist. Es ist ein großer Schritt von einem Ozeanriesen der Cabot-Linie herunter zu einem kleinen Schlepper der Acme GmbH.«

»Es macht mir nichts aus«, sagte sie. »Wirklich nicht.« Verstohlen blinzelte sie ihm aus den Augenwinkeln zu. »Übrigens, hast du’s bemerkt - dies ist das erste Mal, dass du vom Heiraten gesprochen hast.«

Verblüfftes Staunen stand in seinem Gesicht. »So, hab' ich das? Dann musst du mich in einer schwachen Sekunde erwischt haben.«

Sie schmiegte sich in seine kräftigen braunen Arme. »Es wurde auch höchste Zeit, mein Lieber«, sagte sie in gespieltem Ernst.

»So, meinst du?«, entgegnete er im gleichen Tonfall. »Und was soll jetzt geschehen?«

»Nun«, sagte sie, »du kannst doch wohl nicht von mir verlangen, dass ich neben einem Lastkahn mit Düngemitteln die Einzelheiten unserer Verlobungsfeier erörtere.«

»Nein, natürlich nicht; das würde kaum zusammenpassen«, lachte er heraus. »Ach was, ich bin hier der Boss; ich nehme mir einfach den Nachmittag frei.«

»Und ich tu' das gleiche«, jubelte Cathy.

»Hey, Rossi«, rief Blacky.

Ein untersetzter Mann mit rötlichem Haarschopf steckte seinen Kopf aus dem Steuerhaus heraus. »Yeah?«, rief er in breitem Slang zurück.

»Ich verdufte«, sagte Blacky. »Für heute Nachmittag bist du Kapitän.«

Rossi grinste verstehend. »Ich kann's Ihnen nicht verdenken. Wenn ich in Ihren Schuhen steckte, würd' ich's genauso halten.«

»Also los dann«, wandte sich Blacky an Cathy. »Ich steuere deine Mahagonikiste. Und du bleibst mir auf den Fersen.«

»Keine Angst«, konterte Cathy. »Und ob ich dir auf den Fersen bleibe!«

In rascher Fahrt überquerten sie die Bucht. Blacky, der viel mehr von Booten verstand als Cathy, tat es mit wesentlich größerer Vorsicht. Am Municipal Dock, wo Blacky sein eigenes Boot hatte, vertäuten sie den mahagonihölzernen Kabinenkreuzer und stiegen über.

»Wohin segeln wir?«, fragte Cathy.

»Du sagtest doch, du würdest mir auf den Fersen bleiben«, gab er zurück.

»Und ob ich das werde!«

Das Boot war eine alte Rennjacht, zwölf oder dreizehn Meter lang. Blacky Richards hatte sie für nur fünfzehnhundert Dollar gekauft, aber nachdem er sie wieder instandgesetzt und neu ausgerüstet hatte, war sie imposant anzuschauen und erregte den Neid aller Sportsegler längs der Küste. Allerdings hatte er dazu mehrere Jahre und allerhand Geld gebraucht, aber dafür sah man dem Boot jetzt auch an, dass er es liebte.

Leicht sich wiegend lag es da und zerrte an seinen Halteleinen, als ob es nicht erwarten könne, in das tiefblaue Wasser des Pazifiks hinauszugleiten. Blitzend strahlte das Sonnenlicht von seiner weiß und hellgrau gestrichenen Bordwand zurück, und selbst jetzt, in seiner momentanen Aufregung, blieb Blacky einen Augenblick lang stehen, sah es bewundernd an und fühlte geheimen Stolz in sich aufsteigen.

Cathy beobachtete ihn dabei heimlich von der Seite. »Du hast Glück.«

»Wieso?«

»Ich will dich nicht vor die Wahl stellen«, sagte sie trocken. »Du kannst uns beide haben.«

Er gab gar nicht erst vor, als hätte er sie nicht verstanden, sondern lachte und wuschelte ihr durchs Haar. »Für mich gibt's keine Wahl«, sagte er. »Das weißt du genau.« Und Cathy war glücklich, dass er es ausgesprochen hatte.

Er startete den kleinen Hilfsmotor, und Cathy warf die Leinen los. Flink kletterte sie zurück an Bord, und Blacky richtete den Bug aufs Meer hinaus.

Sie beobachtete, wie er es den Kanal entlang steuerte. Das dichte, struwwelige schwarze Haar fiel ihm in die Stirn, sein klargeschnittenes Gesicht war tiefgebräunt, und zwischen seinen halbgeöffneten Lippen blitzten schneeweiße Zähne. Es war ein warmer Tag, und er trug ein offenes weißes Sporthemd, das gut zu seinen braunen Armen kontrastierte. Starke, männliche Arme, auf die man sich verlassen konnte, dachte Cathy.

Er sah aus den Augenwinkeln zu ihr hinüber. »Was gibt's?«, fragte er. »Warum schaust du mich so an?«

»Oh«, sagte sie. »Ich bewundere nur meinen zukünftigen Mann.« Und zu ihrem Entzücken wurde er rot, als sie das sagte.

»Sieh da«, fuhr sie fort, »anscheinend behagt das meinem Leibsklaven.«

»Hör auf damit«, sagte er mit einem verlegenen Grinsen. »Auf derartige Sticheleien verstehe ich mich nicht.«

»Woher willst du das wissen, wenn du es noch nie versucht hast?«, neckte sie weiter. »Oder hast du's schon?«

»Nein«, antwortete er ernst. »Noch nie.«

»Mein Gott, dass du solch ein Unschuldslamm bist, habe ich wirklich nicht geahnt.«

»Ich habe nicht behauptet, dass ich ein Unschuldslamm bin«, gab er zurück. »Ich habe nur noch nie gestichelt. Mit niemandem.«

Das ernüchterte sie. Sie trat zu ihm, schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn auf die Wange. »Ich bin froh darüber«, sagte sie. »Dadurch wird alles zwischen uns beiden nur umso schöner.« Sie gab ihn wieder frei und setzte sich wieder auf den Rand des Cockpits. Minutenlang sprach keiner von ihnen ein Wort.

»Ich hoffe, ich bin gut genug für dich«, sagte sie endlich.

»Gut genug für mich? Was ist das für ein blühender Unsinn. Ich sagte dir doch, ich bin kein Heiliger.«

»Kommen wir jetzt auf das Thema Sex zu sprechen?«, fragte sie.

Er sah sie ein wenig unsicher an. »Ich weiß nicht recht. Ich glaub', das war's, was ich meinte.«

»Mir soll's recht sein«, konterte sie. »Wenn du irgendwelche Fragen hast, wende dich getrost an mich.«

»Ich will aber gar nichts wissen«, verteidigte er sich. »Mach dich nicht lächerlich.«

»Willst du nicht einmal wissen, ob ich noch ganz jungfräulich bin?«

»Verflixt, nein«, sagte er ungewollt barsch. »Warum fängst du immer wieder davon an.«

»Männer interessieren sich in der Regel dafür«, gab sie zur Antwort. »Ich bin schon oft genug danach gefragt worden.«

»Ich wüsste nicht, was mir gleichgültiger wäre!«

»So??«

»Hören wir endlich auf damit«, sagte er.

»Gut, hören wir auf.«

Wieder schwiegen sie eine ganze Weile, und um sie herum war nur das leise Plätschern des Wassers, das Knarren des Tauwerks und die Geräusche der Bucht von San Francisco.

Viel sprachen sie auch dann nicht, als sie auf dem offenen Meer waren. Doch sie lachten miteinander, freuten sich, dass sie jung und frei waren, und überlegten manchmal wohl auch, was das Schicksal aus ihnen beiden machen würde.

Dann begann Cathy erneut zu frotzeln, und diesmal bekam sie von ihm ein erstes Echo. Oh, dachte sie, wie liebe ich diesen Mann, dieses naive, trotzige, stolze Kind von einem Mann, das sicher schon in den Armen von einem Dutzend Frauen gelegen hat und doch so unwissend ist.

Es wurde halb sechs, ehe Blacky wieder daran dachte, den Bug seiner kleinen Jacht landeinwärts zu richten. Im Wind« schatten einer Plane, die er über das Cockpit spannte, mixte er zwei Whisky mit sehr viel Soda. Sie saßen sich im Cockpit gegenüber, die Plane über ihnen knatterte in der auf« kommenden Abendprise, und jetzt endlich, als sie ganz er« füllt waren von ihrer Liebe zueinander, begannen sie ernsthaft miteinander zu sprechen.

»Eines allerdings weiß ich wirklich nicht«, sagte Cathy. »Wie ich es meinem Vater beibringen soll, und was er dazu sagen wird. Ich weiß, du kannst ihn nicht leiden, Blacky, aber...«

Ganz plötzlich stand er auf und erschien ihr auf einmal ganz und gar nicht mehr wie ein Kind.

»Cathy«, sagte er, »ich liebe dich. Das ist das eine. Deinen Vater kann ich nicht nur nicht leiden - ich hasse ihn! Niemals wird sich daran etwas ändern. Ich schäme mich ein wenig, dass ich zu jemand überhaupt so empfinde, aber du weißt, Cathy, was er meinem Vater angetan hat. Darüber gibt es nichts mehr zu streiten und zu reden; ich wollte nur noch einmal klarstellen, wie ich zu deinem Vater stehe. Du selbst liebst ihn natürlich, aber du liebst auch mich, und wir wollen heiraten. Es ist ein Scheideweg für dich, vielleicht sogar eine grausame, folgenschwere Entscheidung, ob du mit ihm oder mit mir gehen willst. Aber ich kann dir dabei nicht helfen; es sei denn, ich müsste lügen.«

Sie sah zu ihm auf, wie er hoch aufgerichtet neben ihr stand. »Gut denn«, sagte sie. »Es gibt wohl keinen anderen Weg. Ich werde ihm alles über uns beide erzählen. Er wird deine Haltung akzeptieren müssen. Denn ich liebe dich, und ich weigere mich, dich von mir gehen zu lassen. Besser, er erfährt es noch heute Abend.«

Er sah auf sie herunter und merkte, dass ihre Augen feucht geworden waren. Er zog sie zu sich herauf und küsste sie zärtlich in einer Art, wie er sie nie zuvor geküsst hatte; so als sollte es für ein ganzes Leben gelten. Endlich schlug sie wieder die Augen auf, lehnte ihren Kopf an seine Schulter, und dann wurden ihre Augen starr, als sie sie auf einen Punkt in der Ferne gerichtet hielt. »Blacky«, sagte sie leise. »Da - sieh nur.«

Er folgte ihrem Blick und sah, dass auf dem Hochhaus der Cabot-Company die Fahne auf Halbmast sank. Rasch schob er Cathy von sich und blickte sich suchend im Hafen um. Alle anderen Flaggen auf Schiffen und Hochhäusern flatterten stolz auf Vollmast in der Abendsonne.

Ein Frachter der Cabot-Linie schob sich hinter einem Pier hervor, und auch auf ihm sank in diesem Augenblick die Fahne langsam auf Halbmast.

Cathy starrte Blacky erschrocken an. »Was soll das, Blacky? Was hat das zu bedeuten?«

»Ich weiß es nicht«, sagte er, aber beiden kam in diesem Augenblick der gleiche Gedanke.

»Oh, Blacky!«, schrie sie leise auf. »Das gilt Vater!«

 

 

 

 

6.

 

 

 

Matthew Cabots Begräbnis war nicht das größte, das San Francisco jemals gesehen hatte, aber schließlich starb Matthew Cabot auch als ein Mann, den kaum jemand geliebt hatte. Die beiden einzigen Ausnahmen davon waren Cathy Cabot und seine treuergebene Sekretärin, Miss Lee. Sein Sohn, Peter, kannte ihn kaum; er war außerdem noch zu jung, und der Verlust, den er empfand, war nur gering.

Aber obwohl Matthew Cabot als unbeliebter Mann starb, wurde sein Ableben dennoch keineswegs ignoriert. Schiffskapitäne und Wirtschaftskapitäne kamen von überall aus den Staaten und standen im nieselnden Regen um sein offenes Grab herum. Selbst einige aus Hawaii und aus dem Femen Osten waren darunter. Die meisten von ihnen waren selbst reiche, mächtige Männer mit ebenso reichen Vorfahren, und sie zählten sich deshalb zur höchsten Gesellschaftsschicht. Viele von ihnen hatten den Toten gehasst oder verachtet, aber sie wussten, wofür der Name Cabot stand. Und so waren sie eben hier zusammengekommen, trugen schwarze Anzüge und Mäntel und standen barhäuptig in dem leise niedergehenden Regen.

Die Angehörigen der Familie Cabot wurden durch große schwarze Regenschirme, die von dem diskreten, gutorganisierten Bestattungsinstitut von Blackwell & Sons bereitgehalten worden waren, vor dem Regen geschützt. Jede der Frauen trug Trauerkleidung und war dicht verschleiert. Peter hielt sich an der Hand seiner Mutter fest und stand reglos still.

Ein paar Schritte hinter den engeren Familienangehörigen stand, groß und würdevoll, Howard Mason, und jenseits des ausgeworfenen Grabes Dr. Riviera und Dr. Jonathan Kessler. Hinter ihnen Tani, das Hausmädchen, Cob, der Chauffeur, und ein paar Schritte seitlich die aufrichtig trauernde und tieferschütterte Miss Lee. Noch ein Stück weiter abseits, groß und mit grimmig verbissenem Gesicht, Blacky Richards, ebenfalls in Schwarz.

Der Geistliche war ein älterer, längst pensionierter Mann, der den Mann, den er begrub, gut gekannt hatte, wie er andere Cabots zuvor gekannt hatte. In letzter Zeit bekam er zwar Schwierigkeiten, sich all derer zu entsinnen, die in ihren Testamenten bestimmt hatten, von ihm begraben zu werden. Matthew Cabot hingegen stand klar vor seinem geistigen Auge, und er erledigte sieb seiner Pflicht angemessen und würdevoll. Er hatte den Verstorbenen nicht gerade gut leiden können noch war er mit ihm befreundet gewesen, sondern hatte ihm eher misstraut, doch in seiner Grabrede klang selbstverständlich nichts davon auf.

Langsam zerkrümelte er mit der Hand einen Erdbrocken und streute die Erde auf den Sarg, der in diesem Augenblick hinabgesenkt wurde.

»Aus der Erde bist du entstanden, zu Erde sollst du werden, wo du ruhen sollst bis zum Tage des Jüngsten Gerichts vor Gott, unserem Herrn.« Er hielt inne und ließ die Schicksalsschweren Worte in der Luft schweben. Dann fügte er leise ein »Amen!« hinzu, für alle Cabots und für Matthew.

Schweigend und andächtig verharrte die Schar der Trauernden und begann sich erst zu zerstreuen, als der alte Geistliche sich abrupt umwandte und zu der Familie des Verstorbenen trat. »Mrs. Cabot«, sagte er, ohne seine Hand zu reichen, »ich wünsche Ihnen, dass die Trauer um den Verblichenen Sie nicht auf immer zu Boden drückt.« Sheila fühlte sich nur noch tiefer beschämt durch den doppelten Sinn dieser gutgemeinten Worte. »Ich danke Ihnen, Reverend Augustus«, war alles, was sie hervorbringen konnte. Aus seinen altersbleichen, schon schwachen Augen sah der Geistliche sie noch einmal an, dann ließ er sich von einem jüngeren Mann, der devot seinen Arm stützte, davongeleiten.

Sheila sah ihm nach, und das Bewusstsein ihrer Schuld lag schwer wie ein Stein in ihrer Brust. Sie spielte ihre Rolle gut, hatte es getan seit Matthew S. Cabots Sterbestunde, aber jetzt fühlte sie sich am Rande ihrer Selbstbeherrschung.

»Wünschen Sie, dass ich Sie nach Hause bringe?«

Sie wandte sich um und sah, dass es Howard Mason war. Sie schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, Howard. Aber ich glaube, dass es besser ist, wenn ich jetzt mit den Kindern allein bin.«

»Gewiss«, erwiderte Mason, »ich verstehe vollkommen.« Er trat ein paar Schritte zurück.

Cathy trat in diesem Augenblick an Blacky vorbei, verhielt einen Augenblick den Schritt, und er sagte zu ihr: »Cathy, ich weiß nicht, was ich dir in dieser Stunde anderes sagen soll, als dass du mir von Herzen leid tust.«

»Du hast schon genug gesagt, Blacky, indem du in dieser Stunde hier bist«, flüsterte sie verzagt.

»Cathy«, rief Sheila leise, »komm bitte. Wir fahren.«

»Geht nur zum Wagen«, erwiderte Cathy. »Ich komme sofort nach.«

Sheila sah sie prüfend an, nickte dann Blacky Richards zu und ging zu der wartenden schwarzen Limousine hinüber.

»Soll ich dich heute Abend anrufen?«, fragte Blacky mit einem ängstlich besorgten Blick auf Cathy.

»Bitte, tu es, Blacky.«

Er drückte leise ihren Arm, sagte sonst nichts weiter und verließ den Friedhof. Cathy schaute sich suchend um und ging dann zu David Riviera hinüber, der neben Dr. Kessler stand.

»Meine liebe Catharine...«, sagte Dr. Kessler salbungsvoll und deutete eine leichte Verbeugung an.

Cathy nickte ihm zu. »Dr. Kessler.« Dann wandte sie sich an Dr. Riviera. »David, ich wollte Ihnen nur sagen... ich meine, in einem Augenblick wie diesem, wo alle so besorgt um uns, die Familie, sind, da dachte ich unwillkürlich, wie arm und elend sich wohl der Arzt fühlen muss. Glauben Sie bitte nicht, wir wären Ihnen nicht dankbar. Ich versichere Ihnen, wir sind es.«

David fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen wegen der entsetzlichen Ironie, die in Cathys Worten lag, und war momentan außerstande, eine Antwort zu formulieren. Kessler hingegen polterte wohlmeinend darauf los:

»Meine liebe junge Dame, schicken Sie Ihre Ansprache schriftlich an die Medizinische Wochenschrift ein, und Sie werden zeitlebens bei jedem Arzt kostenfreie Behandlung haben.«

»Danke, Cathy«, brachte David jetzt endlich zustande, und diesmal war er dem alten Arzt sogar dankbar für sein tollpatschiges Dazwischenpoltern.

»Vater war so voller Leben und Energie«, sagte Cathy, und sie schien unter einem inneren Zwang zu stehen, weiter über den Toten zu reden. »Für ihn wäre es ein untragbares Schicksal gewesen, zeitlebens ans Bett gefesselt zu sein. Ich weiß nicht, vielleicht war es sogar besser und leichter für ihn, dass er friedlich im Schlaf hinüberschlummerte.«

Sie sah dabei David an, aber er war außerstande, ihr auf diese Frage, mit der ganzen Ironie, die darin lag, zu antworten.

Dr. Kessler nahm Cathys Hand in die seine. »Wenn er dazu schweigt, Cathy, dann wegen der Sache, die wir ärztliche Berufsethik nennen.«

Er irrte sich gründlich, und David spürte ein heißes Verlangen, ihm die ganze Wahrheit ins Gesicht zu schleudern. Der weißhaarige alte Mann hatte in seinem langen Arzt« leben beinahe jede menschliche Gefühlsregung missverstanden, und doch hatte er es zum hochgeachteten Chefarzt einer großen Klinik gebracht. In diesem Augenblick jedoch war David heilfroh, dass ihn Dr. Kessler aus dieser unerträglichen Situation befreit hatte.

»Ich wollte wenigstens, dass Sie es wissen, David«, sagte Cathy und ging zu der wartenden schwarzen Limousine hinüber.

»Übrigens«, fuhr Dr. Kessler fort, als Cathy außer Hörweite war, »ein bisschen Ablenkung würde Ihnen gut tun. Sie scheinen mir tatsächlich ein wenig deprimiert zu sein. Ich spiel' noch immer meine tägliche Golfparty drüben in Pebble Beach. Kommen Sie morgen mal mit Ihren Schlägern 'rüber, dann zieh' ich Ihnen die Hosen aus.« Er schlug David lachend auf die Schulter, wurde sich dann aber sofort dieses Bruchs der Etikette bewusst und sah sich schuldbewusst um. »Nun, good-bye, mein Junge. Lassen Sie sich dadurch nicht unter« kriegen.« Mit einem freundlichen Kopfnicken ging er davon.

»Hat der Alte versucht, Ihnen Zürich auszureden?«, fragte Mason, der von hinten plötzlich neben David getreten war.

David fuhr herum. »Was? Nein, nein. Wir haben überhaupt nicht darüber gesprochen.« Misstrauisch sah er Mason an. »Warum interessiert Sie das?«

»Nun, bei dem letzten Golfmatch, das ich mit ihm spielte, hat er beinahe von nichts anderem geredet. Er hält Sie für einen Trottel, dem man einen Tritt geben muss, um ihm zu seinem eigenen Glück zu verhelfen.«

»So?«, sagte David. »Und wie denken Sie darüber?«

Mason zuckte die Achseln. »Ich? Mir kann's doch egal sein, ob Sie nach Zürich gehen oder nicht.« Er sah David forschend an. »Für mich ist das kaum das Kopfzerbrechen wert.«

»Kaum«, sagte David und wurde sich plötzlich der geistigen Leere ihrer Konversation bewusst. »Irgendwann werde ich vielleicht einmal fahren.«

»Viel Glück dazu. Nach meiner Meinung wäre das eine einzigartige Gelegenheit für Sie.« Er lächelte entwaffnend und ging davon.

David sah ihm nach. Hatte hinter dem, was Mason da eben geredet hatte, mehr gesteckt oder nicht? überlegte er angstvoll. Er fühlte sich unsicherer und verzweifelter als je zuvor. Wie würden die Dinge weiterlaufen - für ihn, den erstgeborenen Sohn eines mexikanischen Obstpflückers aus dem Napa-Tal? Drüben am Ausgang des Friedhofs hörte er einen schweren Motor aufheulen, und er sah gerade noch rechtzeitig auf, um die Limousine der Cabots abfahren zu sehen.

 

Während die Limousine anfuhr, blickte Cathy noch einmal zurück auf die regnerisch-düstere Szene des Friedhofs.

»Als ich das letzte Mal hier war, war es nicht so grau und regnerisch. Damals strahlte die Sonne, aber irgendwie machte das alles nur noch schlimmer.«

»Deine Mutter war noch sehr jung, Cathy. Und du warst noch ein Kind; jünger noch als Peter.« Sheila versuchte ein wenig mitfühlende Wärme in ihre Stimme zu legen.

»Mami?«, sagte Peter zaghaft. Er saß auf der Vorderkante des Rücksitzes und blickte durchs Fenster zurück.

»Ja, Liebling?«, fragte Sheila.

»Werde ich jetzt ein schwarzes Armband tragen?«

»Ich weiß nicht...« gab Sheila zögernd zur Antwort. »Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.«

Peter dachte einen Augenblick nach. »Puffy Bakers sagt, er hat ein ganzes Jahr lang eines getragen, als sein Vater starb. Damit jeder sehen konnte, wie traurig er war.«

»Man braucht so etwas niemandem zu zeigen«, sagte Sheila sanft. »Es kommt nur darauf an, wie du in deinem Herzen fühlst. Das allein ist wichtig.«

Peter schaute verlegen zu Boden. »Aber ich weiß gar nicht... ich meine, ich weiß es nicht sicher.« Sein ganzes kindliches Elend klang aus seiner kleinen Stimme.

Cathy drehte sich zu ihm um. »Peter...«, sagte sie. Aber Sheila schüttelte warnend den Kopf.

Und plötzlich begannen zwischen Peters Augenlidern die Tränen hervorzuquellen. »Aber warum habe ich dann nicht bei dem Begräbnis geweint? Ich weiß, das hätte ich tun sollen - ich versuchte es auch, aber es ging nicht...« Seine leise, verzagte Stimme brach ab.

»Schscht, Baby«, sagte Sheila, »das ist jetzt gar nicht mehr wichtig.«

Aber der Junge ließ sich immer noch nicht trösten. »Puffy hat so viel geweint, dass er eine ganze Woche im Bett bleiben musste. Und ich habe gar nicht geweint. Deshalb hielt ich auch immer den Kopf gesenkt... damit es niemand sehen sollte.«

Sheila legte den Arm um seine kleine Schulter und zog ihn an sich. »Oh, Peter, mein kleiner Liebling.« Sie wollte, dass er endlich aufhörte mit seinem Geplapper, mit diesen Worten, die ihr ins Herz schnitten.

»War das so, weil ich Vater nicht genug lieb gehabt habe? Ich hab' ihn ja so selten gesehen, und er hat auch niemals mit mir gespielt, aber ich bin nun doch ganz traurig, dass er tot ist. Ganz bestimmt.«

Sheila drückte ihn an sich, so fest es nur ging, und sie fühlte sich so elend wie nie zuvor.

»Peter«, sagte sie, »es ist nicht immer notwendig, dass man weint, wenn man jemanden, den man lieb hat, verloren hat. Meist braucht man viel mehr Kraft, um die Tränen zurückzuhalten.«

Peter richtete sich auf, und seine Stimme klang längst nicht mehr so verzagt. »Du meinst, ich war tapfer, weil ich nicht geweint habe?«

»Gewiss, Liebling«, sagte Sheila.

»Und deshalb hast du auch nicht geweint, Mami?«

Er brachte seine Frage ganz unbefangen und leicht heraus, und ohne zu überlegen antwortete Sheila ganz automatisch: »Ja, Liebling.« Doch als sie die Worte aussprach, klangen sie hoch und falsch. Sie sah zu Cathy hinüber, und für einen Augenblick glaubte sie, ihr Herz bliebe stehen.

Aus kalten Augen starrte das Mädchen sie an. Sheila wandte den Blick ab. Sie konnte den starr auf sich gerichteten Blick nicht länger ertragen. Klagt sie mich bereits an?, fragte sie sich, während sie ihren Jungen an sich presste. Hat Cathy bereits Verdacht geschöpft?

 

 

 

 

 

 

7.

 

 

 

»Mr. Mason«, meldete Tani ihn an, und Howard Mason trat ins Zimmer und stellte sich in seiner ganzen Größe neben Sheila, die ausgestreckt auf der Couch lag. Sie sah sehr blass aus und machte einen zerstreuten Eindruck.

»Mein Gott, Howard«, sagte sie. »Was wollen Sie denn?«

Er schickte sich an, den Verschluss seiner Aktentasche zu öffnen. »Ich brauche ein paar Unterschriften«, gab er zur Antwort.

Sie sah ihm starr ins Gesicht. »Es sind noch keine vierundzwanzig Stunden seit dem Begräbnis vergangen. Sie können mir nicht zumuten, in meiner Verfassung einen Stoß juristischer Abhandlungen und Schriftsätze durchzulesen!«

Er lächelte. »Ich verlange ja gar nicht, dass Sie sie durchlesen. Was es betrifft, habe ich Ihnen doch bereits gesagt. Ich brauche lediglich Ihre Unterschriften.«

Sie drehte den Kopf zur Wand. »Und warum muss das jetzt sofort sein? Noch in dieser Minute?«

Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Weil unten im Hafen der Kessel wieder mal überkocht«, sagte er, »und ich sitze auf dem Deckel und versuche ihn verschlossen zu halten. Ein paar unserer Vormänner dort unten haben sich weichmachen lassen und wollen einen separaten Vertrag mit der Gewerkschaft schließen. Die muss ich auf Vordermann bringen, und das kann ich nur, wenn ich im Namen Cabots sprechen kann - mit einer Generalvollmacht in Händen.«

»Howard, bitte«, sagte Sheila, »mir ist heute nach allem anderen zumute.«

Er studierte aufmerksam ihr Gesicht. »Ist es wirklich so schlimm? Sheila? Völlig zu Boden geschmettert aus Trauer um ihn? Und nicht das leichteste Gefühl der Erlösung, endlich von ihm befreit zu sein?«

Sheila wandte ihm den Kopf zu und seufzte leicht. »Ich habe schon lange darauf gewartet, dass Sie etwas Ähnliches sagen würden.«

»Dann hätte ich Sie ja schon gestern fragen können«, entgegnete er ohne jedes Gefühl von Takt und Anstand, »und hätte einen Tag gespart,«

»Howard!«

»Ich habe seit Jahren gewartet, Sheila. Das haben Sie längst gewusst.«

Sheila erhob sich von der Couch, ihr Morgenrock fiel auseinander und enthüllte die ganze Länge ihrer Beine. Mason errötete, weniger dessentwegen, was er gesehen hatte, als vielmehr deshalb, weil Sheila sich anscheinend nichts daraus zu machen schien. Sie trat an eines der hohen Fenster.

»Ja, das habe ich gewusst«, sagte sie. »Sie haben es mir nur allzu deutlich zu verstehen gegeben, hier in diesem Zimmer, in jener Nacht, als Matthew ins Krankenhaus eingeliefert wurde.«

Mason war aufgestanden. »Das wollen Sie mir nach all den Jahren wohl nicht immer noch vorhalten?«

»Howard, ich sagte Ihnen damals nein, und heute sage ich Ihnen das gleiche.«

»Ich kann das einfach nicht begreifen«, sagte er, »obwohl ich sicher bin, dass ich Sie als Mensch verstehe.«

»Schon möglich. Ich bin nicht allzu schlau und sicher leicht zu durchschauen.«

»Ich bitte Sie, Sheila - so war das doch nicht gemeint; das wissen Sie genau. Ich meine vielmehr Ihre Abneigung gegen mich. Ich bin ein erfolgreicher Anwalt, kleide mich gut, habe noch alle meine Zähne und Haare und, glauben Sie mir, auch all meinen Verstand. Und Sie haben Matthew nicht geliebt. Aber als seine Witwe zerfließen Sie plötzlich vor Trauer.«

»Bitte, Howard, rühren Sie das alles nicht wieder auf. Sie benehmen sich wie ein verzogenes Kind. Seien Sie nicht so gierig, Howard.«

»Was Sie betrifft, so ist es nicht Gier«, sagte er. »Dessen bin ich sicher.«

»So, und was wollen Sie in Wirklichkeit?«

»Sie! So wie ein Mann eine Frau begehrt. Ist etwas Unrechtes daran?«

»Sie sind mir ein wenig unheimlich, Howard«, sagte sie. »Ich bin nicht derart begehrenswert.«

»Vielleicht nicht für andere«, entgegnete er, »aber für mich. Ich liebe Sie seit Jahren, Sheila. Heute mehr denn je.«

»Mich lieben?« Sie lachte auf. »Sie wollen mich besitzen, das weiß ich, aber das ist nicht ganz dasselbe wie lieben.«

»Darf ich fragen, woher Sie das wissen? Sie haben Matthew ja auch nie geliebt. Dessen bin ich sicher.«

»Genug damit. Sie nehmen sich Freiheiten heraus, Howard, die Ihnen nicht zustehen.«

»Nun gut«, sagte er. »Streiten wir nicht weiter über Worte.«

»Ich bin sicher, dass Sie eine genügende Zahl von Frauen gekannt haben, mit denen Sie sich nicht um Worte streiten mussten«, versetzte ihm Sheila einen leichten Stich.

»Mag sein«, erklärte er gleichmütig. »Aber das hat nichts mit uns beiden zu tun. Ich möchte Sie heiraten, Sheila. Noch zu keiner anderen Frau habe ich das gesagt.«

Sie wollte ihn nicht vollends vor den Kopf stoßen. »Ich fühle mich durch Ihren Antrag geehrt, Howard. Wirklich. Aber es tut mir leid, ich kann Ihren Antrag nicht annehmen.«

»Darf ich fragen, warum?«, sagte Mason. Diese glatte Ablehnung und die feste Entschlossenheit, die aus ihrer Stimme klang, verletzten seine Eitelkeit.

»Warum?« Sie zuckte die Achseln. »Nennen wir es nichtausreichende Sympathie - Disharmonie der Charaktere.«

»Oder gibt es jemand anderen?«, fragte er verbissen.

Sie starrte ihm ins Gesicht. »Was?«

»Ich kann es Ihnen nicht verübeln«, sagte er, um sie nun seinerseits zu verletzen, »Eine junge Frau, schön, gesund, mit gesunden Empfindungen. Seit Jahren verheiratet mit - nun, sagen wir - mit einem halben Mann.«

»Jetzt gehen Sie endgültig zu weit, Howard. Sie vergessen sich. Ich glaube, es ist besser, wenn Sie gehen.«

»Ich hatte nicht die Absicht, diese Probleme heute anzuschneiden«, sagte er. »Nun, es spielt keine Rolle. Sie werden noch früh genug herausfinden, dass Sie mich brauchen, Sheila, und ich kann gut noch eine Weile warten.« Ganz plötzlich wandelte sich sein Auftreten wieder in das des Anwalts und Geschäftsmannes. »Bitte unterzeichnen Sie diese Vollmachten hier.«

Sheila trat an den Tisch und griff nach der Feder. »Warten Sie nicht, Howard. Es wäre zwecklos.«

»Wir werden sehen«, sagte er. »Ich habe meistens bekommen, was ich mir in den Kopf gesetzt hatte - auf die oder andere Art.« Er schien ihr nicht drohen zu wollen; es war nur, als ob er seine Worte unterstreichen wollte. Sie sah von den Papieren, die sie Unterzeichnete, zu ihm auf. Aber er vermied ihren Blick. Als sie mit dem Unterzeichnen fertig war, schob er die Papiere in seine Aktentasche.

»Falls ich Sie mit meinen Ausführungen ein wenig durcheinander gebracht haben sollte, so bitte ich um Entschuldigung.«

»Guten Abend, Howard«, sagte sie. »Ich glaube, wir alle sind in diesen Tagen ein wenig überreizt.«

»Ja, gewiss«, sagte er. »Das sind wir. Gute Nacht.«

Nachdem er gegangen war, dachte sie über das nach, was sie gesprochen hatten, doch so sehr sie auch grübelte, es schien ihr keine Drohung in dem gelegen zu haben, was Mason gesagt hatte. Wie sollte er auch etwas ahnen!

Sie ging ins Esszimmer und nahm ein verspätetes Abendessen ein. Sie blieb dabei allein. Cathy mochte irgendwo sein, und Peter hatte längst gegessen. Dann las sie eine Weile in einem Buch, das von der New York Times empfohlen worden war, ging schließlich mit dem Buch zu Bett, löschte dann aber bald das Licht und lag schlaflos da und grübelte. David hatte sich noch nicht wieder gemeldet, und sie sehnte sich verzweifelt danach, seine Stimme zu hören.

Doch sie wusste, wie gefährlich es sein konnte, ihn anzurufen. Der Apparat auf ihrem Nachttisch hatte mehrere Nebenanschlüsse im Haus, an denen jedes Wort mitgehört werden konnte.

Endlich fiel sie in einen leichten Halbschlaf, in dem sie jedoch sofort von grässlichen Alpträumen heimgesucht wurde. Eine gigantische Injektionsspritze bewegte sich unerbittlich auf sie zu, und sie fuhr entsetzt in die Höhe. Sie zitterte am ganzen Körper, und Tränen standen ihr in den Augen. Gerade hatte sie sich wieder ein wenig beruhigt, als sie ganz deutlich in Matthews Zimmer einen schweren Gegenstand zu Boden fallen hörte.

Kerzengerade fuhr sie im Bett empor, erneut von Angst durchschüttelt. Nur mit Mühe gelang es ihr, die Fassung wiederzugewinnen, und sie begann vor sich hinzusprechen: »Ich Närrin, niemand ist dort in dem Zimmer, nichts ist dort, was mich erschrecken kann. Also warum zittere ich dann? Steh auf, du Närrin - überzeuge dich. Bevor du vor Angst den Verstand verlierst...«

Mit aller Kraft zwang sie sich, vom Bett aufzustehen und mit schleichenden Schritten die Halle zu durchqueren. Die Tür zu Matthew Cabots Zimmer stand auf, und sie schaute hinein.

Grauen erfasste sie. In dem Lichtschein, der von der Halle hineinfiel, sah sie, wie sich das Oberteil von Cabots Bett langsam hob, und sie hörte das leichte Surren des elektrischen Motors. Höher und höher stieg es - und hielt dann an. Zu jedem einzelnen Schritt, den sie weiter in das Zimmer hineintat, musste sie sich zwingen. Dann folgte ein Aufkreischen, und Rajah, Cabots siamesischer Kater, sprang von der Schalttafel seitlich des Bettes herunter.

Sheila schrie auf, fiel quer über das Bett, ihre Beine zuckten, in schweren Stößen ging ihr Atem. Ein Geräusch von der Tür her ließ sie auffahren. Tani war es, die dort stand.

»Oh, Sie sind's, Madam«, sagte Tani.

»Warum schleichen Sie hier nachts herum?«, fuhr Sheila sie in ihrer Verstörtheit an.

Die schroffen Worte ließen Tani rotwerden und zu Boden schauen. »Ich kann es selbst nicht verstehen - unten ging die Klingel von Mr. Cabots Zimmer.«

»Es war Rajah«, sagte Sheila, jetzt ruhiger geworden. »Er hat auch mich aufgeweckt.« Sie sah Tani entschuldigend an. »Es tut mir leid, Tani. Ich wollte nicht schroff zu Ihnen sein. Ich war nur selbst so erschrocken.«

»Gewiss, ich verstehe, Madam«, sagte Tani leise, bückte sich und nahm den Kater auf den Arm. »Er muss sich jetzt sehr einsam fühlen.«

»Bitte sorgen Sie dafür, Tani, dass er in Zukunft unten bleibt und nicht wieder hier heraufkann.«

»Gewiss, Madam«, sagte Tani. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Tani«, sagte Sheila ruhig und ging zurück in ihr Schlafzimmer.

An Schlafen war für sie allerdings vorläufig nicht zu denken. Immer noch von dem erlebten Schrecken zitternd lag sie auf dem Bett, und es schien ihr, dass es nur eine Alternative gab. Sie griff nach dem Hörer des Telefons und wählte die Nummer von Davids Appartement.

»Hier Dr. Riviera«, kam seine berufsmäßige Stimme über den Draht.

»David?«

»Sheila! Guter Gott, Sheila!« Seine Stimme überschlug sich beinahe. »Du weißt doch, dass du mich unter keinen Umständen von deinem Haus aus anrufen darfst. Das ist Wahnsinn!«

»Ich werde tatsächlich bald wahnsinnig, David«, flüsterte sie. »Wann kann ich dich endlich sehen? Ich halte es allein nicht mehr aus, David! Kann ich morgen zu dir kommen?«

»Nein«, sagte er kurz. »Das dürfen wir unter keinen Umständen riskieren. Noch nicht.«

»Wann dann?«, fragte sie, und ihre ganze Angst und Verzweiflung klang in ihrer Stimme mit.

Er hörte, was in ihrer Stimme mitklang. »Wir müssen vorsichtig sein - das weißt du doch«, sagte er besänftigend.

»David, ich muss dich einfach sehen! Ich kann nicht schlafen, ich höre Geräusche in seinem Zimmer. Liebling, ich muss dich sehen, oder ich breche zusammen! Die Angst bringt mich fast um, David! Bitte, bitte, hilf mir!« Sie bettelte und flehte, und sie hasste sich selbst, weil sie es tat.

»Sheila«, sagte er, und das alte ruhige Vertrauen lag in seiner Stimme. »Alles wird gut werden. Versuch dich zusammenzunehmen. Ich komme vorbei.«

»Wann? Wann?«

»Sobald sich die erste Möglichkeit dazu ergibt.« Seine Stimme klang jetzt wieder vorsichtiger und zurückhaltender.

»Wann, David? Morgen?«

»Sobald es irgend geht. Und jetzt versuch zu schlafen.« Er hängte auf.

Sie hielt noch immer den Hörer in der Hand. Sie konnte nicht glauben, dass er einfach die Verbindung unterbrochen hatte. Aber die Leitung war tot, und zögernd hängte sie ein.

Ich habe Angst, flüsterte sie vor sich hin. Aber auch er hat Angst. Wenn ich David verliere - wenn ich ihn jemals verliere, dann ist alles, was wir getan haben, eine grausame, groteske Farce gewesen. Aus lauter Angst will er mich nicht mehr sehen. Was habe ich falsch gemacht? Was geht in David vor? Was wird aus mir, wenn ich den Mann, um dessentwillen ich alles getan habe, verliere? Es wäre für mich das Ende...

 

 

 

 

 

8.

 

 

 

Howard Mason war am nächsten Morgen schon früh in seinem Büro zu finden. Er hatte einen Haufen Arbeit vor sich, aber das hinderte ihn nicht, minutenlang vor dem hohen, breiten Fenster zu stehen und über die Bucht von San Francisco hinwegzuschauen. Es war eine der Früchte seines Sieges, und er genoss sie gründlich.

Dann endlich wandte er sich zu seinem Schreibtisch zurück; dem Schreibtisch, der einmal Matthew S. Cabot gehört hatte. Ein einziges Stück Papier lag darauf: die unbeschränkte Anwaltsvollmacht, unterzeichnet von Sheila. Er lächelte dieses Stück Papier an wie einen treuen Freund. Was es in Wirklichkeit auch war.

»Vierzig zu Null im dritten Satz«, sagte er laut vor sich hin. »Drei Matchbälle für mich! Es wird und muss gelingen.«

Der Summer des Tischsprechgerätes schnarrte. Mit seinem manikürten Zeigefinger drückte Mason die Taste. »Ja?«

»Nehmen Sie schon Gespräche an, Mr. Mason?«

»Ja, wer ist es?«

»Frank Green ist am Apparat.«

»Verbinden Sie.« Mason lehnte sich in dem schweren, ledergepolsterten Schreibtischsessel zurück und schnitt sorgfältig die Spitze einer Zigarre ab. Er ließ ein schwergoldenes, mit Brillanten besetztes Feuerzeug aufflammen und setzte sie in Brand. Er wusste, was er tat; er fühlte sich genauso wie ein Revolutionär, der endlich in den strahlenden Regierungspalast eingezogen ist. Und er genoss es gründlich.

Er nahm den Telefonhörer ab. »Hallo, Frank«, sagte er und hörte einen Augenblick lang zu. »Unsinn, Frank!« Absolute Selbstsicherheit klang aus seiner Stimme. »Die werden sich hüten zu streiken. Wenn wir auf Biegen und Brechen Zusammenhalten, sind sie geliefert, und das wissen sie auch. Eben deshalb bestehe ich ja auch auf einer geheimen Abstimmung.« Wieder lauschte er in den Hörer. »Harry Bridges?«, sagte er. »Oh, auf den habe ich gerade gewartet! Mach dir um den keine Sorgen. Den wickele ich um den kleinen Finger...«

Aus dem Vorzimmer des Büros drangen plötzlich scharfe Stimmen und polternde Geräusche. »Moment mal, Frank«, sagte Mason. Er starrte auf die geschlossene Tür, und als das Gepolter draußen weiterging, fügte er hinzu: »Frank, ich ruf' dich später noch mal an. Mach's gut, bis dahin, und halt die Ohren steif. Lass dich ja nicht weichkriegen.«

Er legte den Hörer auf, und gerade, als er sich aus dem gepolsterten Schreibtischsessel herauszwängen wollte, flog die Tür zum Büro auf und schlug krachend gegen die Wand. Blacky Richards war es, der dort stand und zwei Angestellte, die ihn an den Armen zurückzuhalten versuchten, rücksichtslos von sich abschüttelte.

»Sagen Sie Ihren Leuten, es gibt ein Unglück, wenn sie noch ein einziges Mal versuchen, Hand an mich zu legen!«, sagte Blacky scharf.

Mason gab den beiden Angestellten einen Wink. »Es ist gut.« Froh, ihrer Pflicht enthoben zu sein, verließen sie eiligst das Büro.

»Weiß der Himmel«, sagte Mason und lächelte verbindlich, »das war in der Tat ein dramatischer Auftritt.« Er ging hinüber, schloss die offengebliebene Bürotür und betrachtete missbilligend den Riss, den der Türknauf beim Aufprall gegen die Wand hinterlassen hatte.

»Mein Name ist Blacky Richards«, sagte Blacky und sah Mason misstrauisch an.

Mason gab darauf zunächst keine Antwort. Er trat hinter seinen Schreibtisch, schaltete das Diktiergerät ein und stellte dessen Mikrophon ostentativ vor Blacky Richards hin.

»Ich weiß, wer Sie sind«, sagte er dann. »Würden Sie aber bitte noch einmal Ihren Namen laut und deutlich wiederholen?« Er zeigte dabei mit dem Daumen auf das Mikrophon.

»Ich bin Blacky Richards«, sagte Blacky trotzig. »Was soll das Theater?«

»Erpressung«, sagte Mason, immer noch freundlich grinsend. »Man kann nie wissen, und sicher ist sicher.«

»Was ist mit Ihnen - sind Sie übergeschnappt?«, fragte Blacky.

»Oh, nein, keineswegs, mein Freund. Ich bin nur vorsichtig.«

»Und woher wussten Sie überhaupt, wer ich bin?«, fragte Blacky.

»Ich weiß es eben, und das genügt doch wohl, nicht wahr?«

»Kannten Sie auch meinen Vater?«

»Aber gewiss. Jeder kannte ihn. Ein prächtiger Mann.«

Blacky trat einen Schritt näher auf den Schreibtisch zu. »Es gehen Gerüchte um, Sie hätten Bill Coleman den Schleppervertrag für die Cabot-Linie gegeben.«

»Mein Gott!«, sagte Mason und spreizte die Hände. »Was sind schon Gerüchte! Meist ist was Wahres dran, aber an« sonsten...«

»Was ist nun - haben Sie Coleman den Vertrag gegeben oder nicht?«

»Was geht das Sie an, Mr. Richards?«, fragte Mason und lächelte, aber es gelang ihm nicht sehr überzeugend.

»Der Vertrag gehört mir!« gab Blacky scharf zur Antwort,

»So? Ihnen?«, sagte Mason mit leichtem Hohn. »Äußerst interessant! Ich dachte, er gehört Coleman. Schließlich haben wir mit ihm den fraglichen Kontrakt unterzeichnet.«

»Hören Sie!« fuhr Blacky auf. »Cabot selbst rief mich an. An dem Tag, bevor er starb.«

»Das erscheint mir ein wenig merkwürdig«, sagte Mason. »Wir unterhielten uns ausführlich über Ihr Angebot und lehnten es ab.«

»Warum hat er mich dann angerufen? Warum, verteufelt, sagte er dann, er hätte den Vertrag mit mir bereits im Konzept aufgesetzt?«

»Ich kann nicht recht an das glauben, was Sie da behaupten«, sagte Mason und drückte den Klingelknopf, der Miss Lee herbeirief.

Sekunden später klopfte es, Miss Lee trat ein, ging auf den Schreibtisch zu, zögernd, wie es schien, und vermied dabei Blackys forschenden Blick.

»Miss Lee«, sagte Mason im Geschäftston. »Ich möchte, dass Sie sich Ihre Antwort genau überlegen, bevor Sie mir eine Antwort geben. Es hängt sehr viel davon ab. Wissen Sie etwas über einen Vertragsentwurf zwischen Mr. Cabot und Mr. Richards?«

Sekundenlang starrten sich Mason und Miss Lee in die Augen. Dann glitt ihr Blick für einen Moment zu Blacky Richards hinüber und wieder zurück zu Mason, der sie immer noch unverwandt anstarrte.

»Nein, Mr. Mason«, sagte sie mit leiser, zaghafter Stimme.

Mason sah zu Blacky hinüber. »Nun, Richards, genügt Ihnen das?«

Blacky hatte das abgekartete Spiel, das hier aufgeführt wurde, gründlich satt, »Glauben Sie ja nicht, ich wüsste nicht, was hier für ein Ding gedreht wird, Sie haben ihr eingeschärft, sie hätte von dem fraglichen Vertrag zwischen Mr. Cabot und mir nichts zu wissen, wenn sie ihren Arbeitsplatz behalten will. Und auf diese Art zwingen Sie sie, mir ins Gesicht zu lügen.«

»Genug«, sagte Mason schroff. »Sie haben Ihre Antwort erhalten. Und nun verlassen Sie mein Büro.«

Blacky trat jedoch nur noch dichter an den Schreibtisch heran, und mit solch entschlossenem Gesicht, dass Mason unwillkürlich einen Schritt zurückwich.

»Sie werden mit Ihren krummen Touren nicht durchkommen, Mason. Ich bin nicht der einzige, der von dem Vertrag weiß.« Er sah Miss Lee durchdringend an. »Mr. Cabots Tochter weiß auch davon.«

»Oh, ich verstehe durchaus«, sagte Mason. »Und was sagen Sie dazu, wenn ich Ihnen eröffne, dass Matthew Cabot davon wusste, wozu Sie seine Tochter missbrauchen und dass dies einer der Gründe war, warum wir Ihren Vertrag ablehnten? Es gibt alle möglichen Wege, im Leben geschäftlich voranzukommen, aber dieser Weg ist wohl zweifellos einer der schäbigsten!«

Blacky starrte ihn an, als ob er seinen eigenen Ohren nicht traute. »Sie... Sie dreckige Missgeburt!«, schrie er und sprang auf Mason zu.

Miss Lees schriller Aufschrei brachte ihn wieder zur Besinnung, noch ehe er Mason gepackt hatte.

»Kein Wunder«, presste er zwischen den Lippen heraus, »dass Cabot imstande war, meinen Vater zu vernichten. Mit solchen Methoden war er nicht gewöhnt, zu kämpfen. Ich aber kann's, Mason! Merken Sie sich das! Mich kriegt man nicht so leicht unter! Und wir beide sind noch nicht mit« einander fertig!« Er machte auf den Hacken kehrt und ging mit steifen Schritten aus dem Zimmer. Mason beugte sich vor und schaltete das Diktiergerät ab.

»Nun, was sagen Sie dazu, Miss Lee?«, fragte er. »Eine dramatische Ein-Mann-Vorstellung - festgehalten für die Nachwelt durch die Wunder der Technik, durch ein simples Diktiergerät.«

Sie vermied sorgfältig seinen Blick. »Ja, Sir«, sagte sie leise. »Haben Sie sonst noch etwas für mich?«

Er zögerte einen Augenblick, sah sie dabei forschend an und sagte dann: »Nein. Im Augenblick ist das alles, Miss Lee. Im Augenblick jedenfalls.«

Nachdenklich sah er ihr nach, wie sie das Büro verließ.

 

Blacky Richards verließ das Cabot-Gebäude mit weitausgreifenden Schritten, sein Gesicht dunkelrot vor verhaltenem Zorn.

Cathy Cabot erwartete ihn dort und stand mit ihrem Wagen in der Parkzone, die für die leitenden Direktoren bestimmt war, direkt vor dem Haupteingang. Sie sah sofort, dass es in ihm kochte. »Blacky, was ist geschehen?«, fragte sie.

»Nach dem, was Miss Lee behauptet, hat es nie einen Vertrag oder auch nur einen Entwurf dazu gegeben. Sie hat dich damals nicht angeblinzelt. Ihr muss was ins Auge geflogen sein.«

»Das ist nicht wahr«, empörte sich Cathy und wurde nun ebenfalls ärgerlich. »Ich weiß sehr wohl, dass es nicht so war!«

»Das weiß ich genauso gut wie du«, sagte Blacky. »Aber das bringt uns keinen Schritt weiter.«

Cathy glitt hinter dem Lenkrad hervor. »Das wollen wir doch einmal sehen!« fuhr sie auf. Dass sie bereit war, für den Mann, den sie liebte, sich in die Bresche zu schlagen, war für Cathy ein neues, bisher nie gekanntes Gefühl, das ihr grenzenlosen Mut verlieh. »Ich geh' selbst rauf und werde denen da mal gehörig die Meinung sagen...«

»Versuch's gar nicht erst«, entgegnete Blacky. »Was willst du schon tun? Mit deinem kleinen Fuß auf den Boden stampfen? Mason sagt, sie hätten mir den Vertrag vor allem deshalb nicht gegeben, weil ich versucht hätte, mich an dich heranzumachen und dadurch ans Ziel zu kommen.«

Cathy verschlug es den Atem. »Er weiß von uns beiden?« »Allerdings.«

»Und wenn er es wusste, und wenn auch Vater es wusste - nie hätte Vater einen solch schmutzigen Trick versucht«, sagte sie entschlossen. Blacky schwieg verbissen.

»Nie hätte er so etwas getan«, beharrte Cathy.

»Vielleicht nicht«, sagte Blacky. »Mason hingegen... behauptet es.«

»Oh, der!«, sagte Cathy wütend. »Den hab' ich noch nie ausstehen können!«

»Vielleicht hatten sie von den beiden neuen Schleppern Wind bekommen, die ich gechartert habe, und von den Mannschaften, die ich angeheuert habe. Und erst dann, als sie sicher waren, dass ich mich festgelegt und gebunden hatte, als sie wussten, dass ich mit meinen Charterverträgen in der Luft hing, haben sie mich torpediert und einfach sitzen lassen.« Bitterkeit klang aus seiner Stimme, weil er sich jetzt zum ersten Mal über das Ausmaß der Schwierigkeiten bewusst wurde, in die er durch den Verlust des Vertrages geraten war.

»Oh, nein, Blacky! Niemals würde Vater etwas Derartiges getan haben!«

»Wer weiß. Vielleicht doch, um seine Tochter vor dem armseligen Leben als Frau eines Schlepperkapitäns zu bewahren.« Er sah zu Cathy hinunter und schickte sich an, davonzugehen. »Bis später dann, Cathy.«

»Bis später?« Cathy schaute zu ihm auf. »Was redest du da?«

Er grinste plötzlich, und seine schneeweißen Zähne blitzten in seinem sonnengebräunten Gesicht. »Das habe ich nicht so gemeint, wie du es meinst. Ich habe ein paar verbriefte Verträge, aus denen ich mich herauswinden muss - sofern das überhaupt noch möglich ist. Dabei kannst du mir kaum helfen. Geh deshalb lieber nach Hause.« Er streichelte ihren Arm und wollte sich abwenden.

»Rufst du mich heute Abend an?«, fragte sie mit leiser, verzagter Stimme.

»Aber sicher, Kleines. Und dass du mir mit fliegenden Fahnen zu Hilfe kommen wolltest, werde ich dir nie vergessen.« Er fasste sie unters Kinn, strich ihr flüchtig über die Wange und ging auf der belebten Straße davon.

 

9.

 

 

 

Es war ein strahlend schöner Tag, und Cob war damit beschäftigt, die Limousine zu waschen. Er hatte nichts gegen diese Art von Arbeit; im Gegenteil, sie machte ihm Spaß. Wie ein Kind ließ er den Wasserstrahl in den verschiedensten Mustern über den Lack des Wagens spielen. Dabei hatte der Wagen das Waschen gar nicht nötig, aber Cob musste schließlich so tun, als ob er Arbeit hätte, und wenn er schon etwas tat, dann so, dass er dabei den Postboten abfangen konnte. Er spürte beträchtliches Unbehagen bei dem Gedanken, was die Post ihm bescheren konnte, doch solange nichts für ihn kam, philosophierte er nach dem Motto Keine Nachricht ist eine gute Nachricht und ließ den Wasserstrahl über die glitzernd schwarze Limousine tanzen. Dr. Rivieras Wagen, der nicht weit entfernt in der Zufahrt stand, hätte eine Wagenwäsche jedenfalls wesentlich nötiger gehabt.

Als Cob den Postboten die Zufahrt heraufkommen sah, drehte er das Wasser ab und wischte sich die Hände an den Hosen ab. Und die Art, in der er dem Postboten das kurze Stück entgegenging und sich immer wieder vergewissernd umschaute, konnte man nicht anders bezeichnen als verstohlen. Dennoch erreichte er den Briefkasten erst, als der Postbote die Briefe schon eingeworfen hatte. Er fischte den ganzen Stapel heraus und schaute ihn flüchtig durch. Gerade als er damit fertig war, unterbrach ihn eine Stimme.

»Was tun Sie da mit der Post?«, fragte Tani scharf.

Er fuhr herum. Sie stand in der Haustür und sah vorwurfsvoll auf ihn herunter.

Schnell hatte er sich wieder gefasst und grinste Tani an. Solange es nur Tani war... »Ist es vielleicht ein Verbrechen, einen Brief zu erwarten?«

»Von wem?«, fragte Tani. »Von dem Mann, der Sie neulich abends aufgesucht hat?«

Cob sah Tani lauernd an.

»Ich habe genau gehört, womit Ihnen der Mann gedroht hat«, fuhr Tani fort. »Wenn Mrs. Cabot dahinterkommt, von welcher Art von Leuten Sie hier im Hause besucht werden, werden Sie bestimmt nicht mehr lange hier sein.« Sie streckte die Hand aus. »Und die Post geben Sie mir!«

Er gab ihr den Stapel Briefe. »Fangen Sie nicht schon an, meinen Koffer zu packen. Es ist noch ein völlig offenes Rennen, wer von uns beiden zuerst die Kündigung kriegt.« Dadurch, dass er im Jargon der Pferderennbahn sprach, machte er sich selbst vor, dass er wirklich etwas von Pferderennen verstand.

»Was wollen Sie damit sagen?« Tani kniff ihre orientalischen Augen noch einen Spalt enger zusammen. Sie wusste nicht, was Cob gemeint hatte; hatte die Drohung aber sehr wohl herausgehört.

»Sie sind von der ersten Mrs. Cabot ins Haus gebracht worden, nicht wahr?«, fragte Cob mit einem unbestimmbaren Ausdruck im Gesicht.

»Ja, und?«, fragte Tani unsicher zurück, weil sie immer noch nicht wusste, worauf Cob hinauswollte.

»Nun, nachdem der Alte nicht mehr am Leben ist...« Cob zuckte die Achseln. »Wer weiß...?«

Sie starrte ihn an, und in ihrem Gesicht stand klar zu lesen, dass auch ihr schon dieser Gedanke gekommen war.

Mit gespieltem Bedauern sah Cob sie an.

In diesem Augenblick trat Cathy Cabot aus der Haustür. Cob nahm Tani den Stapel Briefe wieder aus den Händen und überreichte ihn Cathy mit einer Verbeugung, die, mochte sie einstudiert sein oder seiner natürlichen Art entsprechen, auf jeden Fall höflich und galant wirkte.

Cathy lächelte. »Vielen Dank, Cob.« Sie warf einen flüchtigen Blick zur Auffahrt hinüber. »Ist das dort nicht Dr. Rivieras Wagen?«

»Ja«, sagte Tani. »Er ist in der Bibliothek. Mit Mrs. Cabot.« 

»Danke, Tani.« Sie lächelte zerstreut und ging ins Haus zurück.

Die Tür der Bibliothek war geschlossen. Ohne zu klopfen öffnete Cathy und trat ein.

Sheila und David drehten sich um, als Cathy hereinkam. Sie standen ein paar Schritte auseinander, doch wenn Cathy darauf geachtet hätte, wäre ihr die Spannung nicht entgangen, die zwischen Sheila und David zu herrschen schien.

David wandte sich zurück zu Sheila und schrieb auf seinen Rezeptblock ein Rezept aus. »Es besteht wirklich kein Anlass zu irgendwelcher Besorgnis, Mrs. Cabot«, sagte er in beruflich nüchternem Ton.

»Oh, Verzeihung«, sagte Cathy. »Ich störe doch hoffentlich nicht?«

»Nein, durchaus nicht, Cathy«, sagte David. »Ich wollte ohnehin gerade gehen.« Er reichte Sheila das Rezept. »Lassen Sie sich dies bitte in der Apotheke besorgen. Es wird Ihnen das Einschlafen erleichtern.«

»Sheila?«, sagte Cathy.

»Ja?«

»Hat Vater dir in der letzten Woche zufällig etwas von einem Vertrag mit Blacky Richards erzählt?«

»Du weißt doch - er hat mit mir niemals über Geschäfte gesprochen«, sagte Sheila. »Warum fragst du?«

»Oh, es ist nicht weiter wichtig«, sagte Cathy ruhig.

David musterte sie ein paar Sekunden lang. »Fehlt dir etwas, Cathy?«

Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht. »Ach wo. Was sollte mir fehlen?«

»Du siehst ein wenig verstört aus«, sagte David. Es sollte freundlich und besorgt klingen, doch es lag ein unechter, falscher Ton darin.

»Habe ich - nach alledem - nicht einen Grund, verstört zu sein?«, entgegnete Cathy. Sie hielt Sheila den Stapel Briefe hin. »Hier bring' ich dir die Post.«

»Danke, Cathy«, sagte Sheila. »Leg sie bitte dort auf den Tisch.«

Cathy tat, wie ihr geheißen, und suchte sich aus dem Stoß Briefe diejenigen heraus, die an sie selbst gerichtet waren. Sie bemerkte dabei einen ganzen Stoß Briefe vom Vortag, die noch nicht geöffnet waren.

»Du hast ja noch nicht einmal die Briefe von gestern aufgemacht«, sagte sie.

»Ich bin noch nicht dazu gekommen«, sagte Sheila müde. »Außerdem sind es ja doch alles nur Beileidsbriefe.«

»Brauchst du denn gar kein Beileid?«, sagte Cathy, und sie sagte es so leichthin, dass David und Sheila einen Moment lang sprachlos waren. Cathy hatte überhaupt nicht gemerkt, wie taktlos ihre Bemerkung war.

David starrte sie vorwurfsvoll an. »Cathy!« Deutlicher Tadel lag in seiner Stimme.

Erst jetzt wurde sich Cathy bewusst, was ihr herausgerutscht war. Sie wurde blass, und mit schuldbewusster Stimme sagte sie: »Entschuldige, David. Ich hätte das nicht sagen dürfen. Ich glaube, ich bin wirklich ein wenig durcheinander. Ich...« Verwirrt brach sie ab. »Bitte verzeiht mir.« Sie drehte sich um und verließ schnell die Bibliothek.

Sheila und David standen einen Augenblick sprachlos da und starrten auf die offengelassene Tür. Dann erschien noch einmal Cathys Arm und zog die Tür nach außen ins Schloss.

»Das ist gerade noch einmal gut gegangen«, flüsterte David.

»Ich glaube nicht, dass sie irgendetwas ahnt«, flüsterte Sheila zurück, doch sie wusste, dass es leere Worte waren.

»Was ist mit ihr?«, fragte David.

»Was soll mit ihr sein - ihr Vater ist gestorben«, gab Sheila zur Antwort. »Wusstest du das nicht?«

David wandte ihr das Gesicht zu, und seine dunklen Augen blitzten vor verhaltenem Zorn. »Lass das!« fuhr er sie an.

Sheila machte eine hilflose Geste. »Verzeih mir, David«, sagte sie. Trostlosigkeit und Verzagtheit lag in ihrer Stimme.

»Nun gut, Sheila«, sagte David. »Aber sei in Zukunft vorsichtiger. Gerade solche kleinen Dinge wie das Nichtbeachten der Beileidsbriefe sind es, die uns verraten können!«

»Uns verraten!«, stöhnte Sheila auf. »Wir sind tatsächlich zu Verbrechern abgesunken. Immer auf der Flucht, immer in der entsetzlichen Angst, entdeckt zu werden. Mein Gott, ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalten werde.«

Sofort änderte sich seine Haltung. Er wusste, er war der Stärkere, und er versuchte ihr Sicherheit und Selbstvertrauen zurückzugeben. »Denk nicht mehr daran. Sieh es als etwas an, das weit, weit zurück in der Vergangenheit liegt und beinahe schon vergessen ist. Dennoch - die Beileidsbriefe wirst du wohl oder übel beantworten müssen.«

»Wie immer hast du Recht, Liebling«, sagte sie leise. »Ich war nur so vollkommen durcheinander. Ich... konnte sie einfach nicht lesen.«

»Ich weiß«, sagte er. »Aber jetzt muss ich gehen.«

»Schon? Du bist doch gerade erst gekommen!«

»Cathy hat mich das Rezept schreiben sehen. Das ist gewöhnlich das Ende einer ärztlichen Visite.«

»Wann sehe ich dich wieder?«, fragte sie leise.

»Erst wenn jede Gefahr vorbei ist«, gab er ebenso leise zur Antwort.

Sheila trat an den Tisch und begann mit einem Brieföffner einige der Briefe aufzuschlitzen. Sie drehte ihm dabei den Rücken zu, und er bemerkte, wie alles an ihr verkrampft wirkte.

»David«, sagte sie, »ich glaube, du suchst nur nach Ausflüchten!«

»Sheila... du weißt, dass es nicht so ist.«

»Ich habe geglaubt, dies würde uns näher zusammenbringen«, sagte sie leise. »Es war das einzig Wichtige - das, warum ich alles tat.« Sie lachte kurz auf. »Es ist wie ein Hohn! Stattdessen bringt es uns nur auseinander!«

»Hör doch, Sheila...«, sagte David, wurde aber sofort wieder von ihr unterbrochen.

»Ja, ja, ich weiß! Ich habe schon wieder einmal einen von meinen törichten Gedanken gehabt, nicht wahr?«

»Sheila, ich bitte dich...« Seine Stimme klang leicht gereizt. »Es steht für uns nur einfach zu viel auf dem Spiel.«

Wieder schnitt sie ihm mit einer Handbewegung jedes weitere Wort ab. »Ja, ja, ja! Geh du nur ruhig zurück in deine Klinik. Ich tröste mich inzwischen mit diesem hier.« Sie nahm einen Brief auf und begann zu lesen.

»Liebe Mrs. Cabot! Ich kannte Ihren Gatten seit Jahren und verehrte ihn als einen...« Sie legte den Brief zur Seite und griff nach einem anderen.

»Meine liebe Mrs. Cabot! Wie kann Ihnen ein einfacher Brief in Ihrem tiefen Schmerz...« Sie legte ihn fort und nahm einen dritten. »Meine liebe, verehrte Mrs. Cabot. Mit tiefstem Bedauern...«

David war mit zwei Schritten an ihrer Seite. »Sheila, Liebling, dies alles dauert doch nur kurze Zeit. Später dann können wir uns jederzeit treffen, ohne dass jemand etwas dabei finden kann.«

»Ja doch. Ich weiß. Du hast es nun schon allzu oft gesagt.«

David drückte leicht ihren Arm und trat einen Schritt zurück. »Ich muss jetzt gehen, Liebling. Good-bye.«

Er ging zögernd auf die Tür zu und griff nach dem Türknauf.

»David!«, schrie sie leise auf, und Panik lag in ihrer Stimme. »David! Sieh dir das an!«

Ihr Ton ließ ihn herumfahren. Er sah, dass sie am ganzen Körper zitterte. Mit wenigen schnellen Schritten war er neben ihr und nahm ihr den Brief aus den Händen.

Er traute seinen Augen nicht, als er las: Liebe Mrs. Cabot! Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem so erfolgreich durchgeführten - Mord! 

Sheila und David starrten einander an. Und dieses Mal fand auch David nicht ein einziges Wort des Trostes und der Zuversicht.

 

 

 

 

 

 

10.

 

 

 

Die Japanese Gardens in San Francisco sind berühmt, und sie sind sehr japanisch. Sie sind in der Tat japanischer als alles, was dergleichen in Japan existiert. Kein Wunder, dass sogar die alteingesessenen San Franciscoer von ihnen sehr beeindruckt sind.

Sheila hingegen, als sie an jenem Abend dorthin kam, war nicht beeindruckt. Sie sah weder die bunten kleinen Laternen noch das entzückend angelegte künstliche Landschaftsbild, und ebenso wenig bemerkte sie die kleinen kunstvollen Brücken, die sie trocken über die schmalen Bäche führten.

Sheila überquerte eine dieser Brücken und beachtete mit keinem Blick den Mann, der an dem Geländer dieser Brücke lehnte. Sie waren die beiden einzigen menschlichen Lebewesen hier um diese Abendstunde, und jeder tat, als sei der andere nicht vorhanden. Dann kehrte sie, kaum dass sie ein Dutzend Schritte gegangen war, wieder um und blieb wie zufällig ebenfalls in scheinbarer Bewunderung der exotischen Gartenanlagen neben dem Brückengeländer stehen.

»Du hast doch sicher schon einmal einen drittklassigen Arztfilm gesehen«, sagte der Mann.

»David, bitte...«

»Heute, im Operationszimmer - ich kam mir genauso vor wie einer dieser Pseudo-Helden«, sagte David. »Meine Hand war ruhig wie immer. In ihr hielt ich das Skalpell. Aber dann nahm der Mann, der vor mir auf dem Operationstisch lag, wie durch ein rätselhaftes metaphysisches Phänomen die Gesichtszüge Matthew Cabots an.« Er lächelte - ein verzagtes Lächeln. »Ich ließ das Skalpell sinken und trat zurück. Äußerst dramatisch, nicht wahr? Ich wandte mich zu dem hinter mir stehenden zweiten Chirurgen um und sagte: Übernehmen Sie bitte, John. Sie starrten mich an, das ganze Operationsteam, und wie ein geprügelter Hund schlich ich hinaus.«

»David, was redest du da zusammen?«

»Ich berichte dir nur das, was heute Nachmittag im OP-Raum geschah.«

»David...!«

»Schon gut. Solche Erinnerungen helfen uns jetzt nicht weiter. Wie bist du hergekommen?«

»Hab' keine Sorge«, sagte Sheila leise. »Ich habe auf der Herfahrt dreimal das Taxi gewechselt.« Und hastig fuhr sie fort. »Was ist mit dem Brief?«

»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Tausendmal habe ich mir

den Kopf zermartert, um eine Lösung zu finden. Vergeblich. Was kann man schon einem anonymen Brief entnehmen, der in Druckbuchstaben auf ganz gewöhnlichem billigen Papier geschrieben ist, wie man es in jedem x-beliebigen Schreibwarenladen kaufen kann.«

»Er wusste jedenfalls, wie er es zu machen hatte.«

»Vorläufig wissen wir nicht einmal, ob es überhaupt ein Mann ist«, sagte David. »Das einzige, woran wir uns halten können, ist der Poststempel.«

»Carmel«, sagte sie resigniert.

»Ja, Carmel. Elf Uhr abends. Montag, den Einundzwanzigsten.«

Sie richtete sich plötzlich auf. »Alles ging so schnell«, sagte sie. »So schnell und so endgültig, abgeschlossen, erledigt, wie es schien. Alles in diesen paar Sekunden in Matthews Zimmer.« Sie atmete schwer. »Und was sollen wir nun tun, David?«

»Warten.«

»Auf was?«

»Er muss doch irgendwas bezwecken, sonst würde er zweifellos zur Polizei gegangen sein.«

Sie starrte auf das kleine Rinnsal hinunter, das unter der Brücke durchfloss. »Woher nur, frage ich mich, kann er es überhaupt wissen?«

»Wissen kann es außer uns beiden überhaupt niemand«, sagte David in dem Versuch, sich selbst zu überzeugen. »Eine routinemäßige Injektion, wie sie schon seit Monaten erfolgte, und ein alter Mann stirbt im Schlaf. Wie der Totenschein besagt - eines natürlichen Todes. Wer immer dieser Jemand ist, er kann höchstens vermuten. Oder er weiß von uns beiden und hat zwei und zwei zusammengezählt. Aber auch dann ist und bleibt es eine Vermutung.«

»Aber wenn er es nur vermuten kann«, sagte Sheila zögernd, »warum schreibt er uns dann einen solchen Brief, in dem er es fest behauptet?«

»Um uns in Panik zu versetzen«, sagte David. »Er selbst wartet dann in Ruhe ab, wie wir reagieren.« Bitterkeit lag in seiner Stimme. »Vielleicht haben wir uns bereits verraten. Beileidsbriefe, die du ungeöffnet liegen ließest. Eine Operation, die ich nicht zu Ende führen konnte, so dass ein anderer für mich einspringen musste. Ja, er kann dir sogar bis hierher gefolgt sein.«

»Aber ich sagte dir doch«, fuhr sie gereizt auf, »ich habe vier verschiedene Taxis benutzt.«

»Und wenn er dich nun dabei beobachtet hat, wie du die Taxis wechseltest? Was meinst du, wie das auf ihn gewirkt haben mag, wenn er dir zu folgen versuchte?«

»Niemand ist mir gefolgt, und niemand hat mich beobachtet«, sagte sie ungewollt heftig. »Dessen bin ich mir absolut sicher.«

»Wie willst du das wissen?«, fragte er. »Wir sind bei dieser Art von grausamem Spiel blutige Amateure.« Düster starrte er auf das leise plätschernde Rinnsal hinunter und machte eine vage Geste. »Wir hätten uns einfach nicht treffen dürfen. Das Risiko ist zu groß.«

Sie suchte seinen Blick. »Du willst mich nicht mehr sehen. Nicht wahr, das ist es?«

»Mein Gott!«, rief er aus. »Sei doch nicht derart hysterisch! Bist du dir nicht bewusst, was wir getan haben? Wir können uns jetzt einfach nicht gegenseitig in die Arme sinken und vor Sehnsucht zerfließen!«

»Und was sollen wir denn nun tun?«

»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich weiß es wirklich nicht. Bevor jener Brief kam, war es nur eine Frage der Zeit. Jetzt hingegen - jetzt geht es um unseren Kopf!«

»Jetzt ist alles zu Ende, nicht wahr?«, sagte sie verzweifelt.

»Noch nicht«, sagte er.

»Oh«, sagte sie. »Ich verstehe.«

»Was verstehst du?«

»Noch nicht, sagtest du eben. Aber es ist möglich - es kann das Ende sein.«

»Sheila«, sagte er, »ich glaube, du bist dir immer noch nicht im Klaren, in welcher Lage wir uns befinden.«

»So? Du meinst, das wüsste ich nicht?« Sie starrte ihn an. »Woher bist du dessen so sicher? Mein ganzes Leben ist damit verbunden; alles, was ich liebe - und alles, was ich hasste. Ich weiß sehr wohl, was Mord ist...« - sie wehrte mit einer Geste ihrer Hand seinen Einwand ab - »...unterbrich mich jetzt nicht, David. Oberflächlich gesehen mag es vielleicht wie ein Mord erscheinen, doch wir wissen, dass es nicht so war. Diesen entsetzlichen Mann zu töten, diesen Mann, der nur noch zu leben schien, um andere zu quälen - nein, das war kein Mord. Wir haben sogar Gesetze, nach denen gemeingefährliche Menschen zu töten sind. Und wenn er vielleicht auch nicht im Sinne des Gesetzes gemeingefährlich war, so war er allen doch nur noch ein Hindernis, eine Belastung, nicht zuletzt sich selbst, und sein Tod war für alle, einschließlich für ihn, eine Erlösung. Vielleicht hältst du mich für unrealistisch. Nun, ich bin eine Frau, David, und ich darf dir versichern, dass Frauen weit realistischer sind als Männer.«

»So hatte ich das nicht gemeint«, versuchte er ihren Gefühlsausbruch einzudämmen.

»Natürlich meintest du das«, sagte sie. »Das weiß ich nur zu genau. Versteh' doch, es ist unsere Liebe zueinander, um die es geht und um derentwillen alles geschah. Und es ist etwas Gutes, nicht etwa etwas Böses, diese Liebe. Und sie wird deshalb all diese Angst und diesen Schrecken überdauern. Eben weil sie etwas Gutes, etwas Heiliges ist.« Sie hatte sich immer mehr in eine Art Ekstase hineingesteigert, und unwillkürlich war auch ihre Stimme dabei immer lauter geworden.

»Schscht, Liebling«, sagte er leise. »Wir müssen vorsichtig sein. Ich fühle ja genauso wie du. Das einzig Wichtige ist, dass wir es überleben; dass es uns nicht den Kopf kostet. Jemand weiß oder glaubt zu wissen, was wir getan haben.«

»Überleben ist durchaus nicht alles, David«, gab sie niedergeschlagen zur Antwort. »Ohne dich zum Beispiel ist mein Leben für mich wertlos.«

Mit einem festen Griff legte er ihr die Hand auf den Arm. »Und was glaubst du, wie ich fühle? Ich war es doch, der es tat! Ich tat etwas, was ich bis dahin für das Verabscheuungswürdigste in der Welt gehalten hatte.« Er lachte kurz auf. »Vielleicht hatte Matthew Cabot eine vage Ahnung, als er mich den Sohn eines mexikanischen Obstpflückers aus dem Napa-Tal nannte. Dort unten ist ein Mord aus Leidenschaft weiß Gott keine Seltenheit und keine Sensation.«

»Aber wir hatten doch einen Grund, David«, versuchte sie ihn zu überzeugen. »Einen wirklichen, stichhaltigen Grund.«

»Oh, ja«, sagte er. »Wir hatten einen Grund. Unsere Gier, beieinander zu sein, wobei er uns im Wege stand. Wir Mexikaner sind leidenschaftlich und begehen selten einen mit kühler Berechnung ausgeklügelten Mord. Wir töten impulsiv, aus unserem heißblütigen Temperament heraus, und dann können wir in die Kirche gehen und alles ungeschehen machen. Außer, dass jemand tot ist.«

»Alles ist allein meine Schuld«, sagte sie verzagt. »Ich hätte dich nach Zürich gehen lassen sollen. Ich hätte sogar darauf bestehen sollen, dass du gehst.«

»Nein, Sheila«, sagte er, »das ist es nicht...« Er brach ab und hob warnend die Hand.

Sie lauschten beide. Jemand kam den Kiesweg herunter. Ganz deutlich drangen die Schritte durch die Stille der klaren, lautlosen Nacht. Eine Gestalt erschien an der Biegung des Pfades. Es war der Parkwächter.

»Viertel vor neun, meine Herrschaften. Wir schließen in fünfzehn Minuten.« Ruhig setzte er seinen Weg fort und verschwand um die nächste Biegung.

Sheila stöhnte vor Erleichterung tief auf. Sie spreizte die Finger ihrer Hände. »Da, sieh nur, wie ich zittere!«, flüsterte sie.

»Du hast dich umsonst geängstigt«, sagte David. »Unser Mann, wer immer es sein mag, kommt nicht aus dem Dunkel daher wie dieser Parkwächter. Der wartet nur und belauert uns, um zu sehen, ob er mit seiner Vermutung richtig liegt.« Er zögerte einen Augenblick, bevor er fortfuhr. »Und das ist gleichzeitig auch sein schwacher Punkt - unsere einzige Hoffnung.«

»Hoffnung?«, fragte sie ungläubig.

»Irgendwann, irgendwie wird er sich verraten. Durch sein bloßes Verhalten, durch ein unbedachtes Wort. Und wenn wir die Augen offen halten, werden wir ihn erkennen.«

»Und was tun wir, wenn wir wissen, wer es ist?« Ein seltsam unheilvoller Klang lag in ihrer Stimme.

»Es kommt darauf an, wer es ist - und wie gefährlich er ist«, sagte David düster.

»Wie meinst du das?«

Er sah sie an, und es schien ein ganz anderer David Riviera zu sein, der die Augen auf sie gerichtet hielt. »Wir mexikanischen Obstpflücker haben ein treffendes Sprichwort«, sagte er. »Und mein Vater hat es mir oft genug vorgesagt, als ich noch ein kleiner Junge war: Einen Fuchs kann man in einer Falle fangen; einen Wolf hingegen muss man erschlagen.«

 

 

 

 

 

 

11.

 

 

 

David war seinem alten Vater herzlich zugetan, und doch hatte er in dem vergangenen Jahr nur ein einziges Mal Zeit gefunden, ihn zu besuchen. Jetzt aber ließ er alles stehen und liegen, sagte sämtliche Verabredungen ab, weil er San Francisco hinter sich lassen wollte, und sei es auch nur für einen Nachmittag.

Es war gegen drei Uhr nachmittags, als er das Napa-Tal erreichte und seinen Wagen zu dem Werkzeugschuppen in den Vellinischen Weingärten hinauflenkte. Es war ein strahlend schöner Tag, zwar heiß, doch strich eine kühlende Brise, die vom Pazifik hereinwehte, sanft über die Hügel dahin. An dem klarblauen Himmel war nicht ein einziges Wölkchen zu finden, und die Spitzen der hochragenden Berge waren ebenso deutlich zu erkennen wie die Mastspitzen der Segler draußen auf dem Meer.

Jedesmal wenn David hierherkam, hatte er das Gefühl, nach Hause zu kommen. Sein Vater hatte fast sein ganzes

Leben für Vellini gearbeitet, und auch David selbst hatte hier manchen Sommer gearbeitet, um sich das Geld für sein Studium zu verdienen.

Sein Vater, einer der ältesten und geschätztesten Angestellten Vellinis, verstand von der Winzerei beinahe genau so viel wie der alte Signor Vellini selbst. Sein Büro - wenn man es so nennen wollte - befand sich in dem großen Adobe-Schuppen, der vollständig von Weinranken überwuchert war, die ihm angenehm kühlen Schatten spendeten. Dort stand Esteban Riviera, tief in seine Arbeit versunken, als David vorfuhr. David stieg aus und umarmte nach mexikanischer Sitte seinen Vater, dessen tiefgebräuntes Gesicht sich vor Wiedersehensfreude in unzählige runzlige Fältchen legte.

»Ha!«, sagte er. »Irgendwas stimmt nicht mit dir, wenn du dich darauf besinnst, deinen alten Vater zu besuchen.« Er sah, wie sich Davids Gesicht verfärbte. »Mein Gott!«, sagte er. »Dir muss tatsächlich ein Unglück zugestoßen sein!«

»Ach, nein«, sagte David. »Ich bin nur müde, unendlich müde und überarbeitet.«

»Um reich zu werden, muss man arbeiten, mein Sohn«, sagte Esteban Riviera. Er wischte sich seine schmierigen Hände an der staubigen Arbeitshose ab. »Ich hingegen schinde mich zu Tode und bin immer noch nicht reich.« Er schüttelte den Kopf. »Ich muss es irgendwie verkehrt machen.«

David musste unwillkürlich lachen.

»Wie geht's dir denn immer, Esteban?«, fragte er auf Spanisch.

»Lausig«, sagte Esteban auf Englisch. »Ich werde langsam alt.«

»Du nicht!«, sagte David, und aus seinen Worten klang seine ganze Liebe zu seinem Vater. Doch obwohl er es abstritt - auch er sah mit dem Blick des Arztes, wie sehr sein Vater gealtert war, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte.

»Wird es ein gutes Jahr werden?«

»Für die Trauben, ja«, sagte Esteban. »Aber wie steht's mit dir, David? Wird es auch für dich ein gutes Jahr werden?«

»Ich hoffe es«, sagte David, aber der Klang seiner Stimme verriet ihn.

»So steht es also«, sagte sein Vater. »Du hast Ärger mit Weibern.«

»Das eigentlich nicht«, sagte David, der sich am liebsten alles von der Seele geredet hätte, kleinlaut.

»Das heißt bei dir so viel wie ja«, sagte sein Vater. »Ist es jemand, die ich kenne?«

»Nein.«

»Das habe ich auch kaum angenommen«, sagte Esteban. »Wahrscheinlich ist sie groß, blond und reich.« Er lachte ob Davids verblüfftem Gesicht. »Ich kenne dich besser, als du denkst, Sohn«, sagte er. »Du warst schon immer auf die Großen und Blonden aus. Und was ist dir diesmal schiefgegangen?«

David gab keine Antwort und versuchte dem forschenden Blick seines Vaters auszuweichen.

»Kannst du es nicht einmal deinem alten Vater sagen?«, fuhr Esteban fort.

David ließ sich auf die alte hölzerne Bank unter den Weinranken sinken. »Du kannst mir dabei nicht helfen«, sagte er.

»Ist es so schlimm?«, fragte Esteban.

»Ja«, sagte David.

Der sonnengegerbte alte Mann ging in den Adobe-Schuppen und kam mit einer grünen Flasche Wein und zwei Gläsern zurück. Er goss ein. Der hellrote Wein fing das Sonnenlicht ein und warf kleine Lichtringe auf die Tischplatte. Minutenlang saßen die beiden stumm nebeneinander und nippten an ihren Gläsern.

»Ein guter Wein«, sagte David schließlich.

»In der Tat«, sagte Esteban.

»Vater«, sagte David, »ich liebe Sheila Cabot.«

Sein Vater setzte das Glas ab. »Welche von den Cabots ist das?«

»Matthew Cabots Witwe«, sagte David und hielt seinen Blick starr auf die Lichtkringel gerichtet, die der Wein auf der Tischplatte tanzen ließ.

»Oh«, sagte Esteban, »das ist allerdings mehr als schlimm.«

»Warum?«, fragte David und starrte ihn an.

»Nun«, sagte Esteban, »zunächst einmal deshalb, weil sie eine Cabot ist.«

»So?«

»Es ist nie etwas Gutes dabei herausgekommen, wenn man etwas anrührte, was den Cabots gehört«, sagte Esteban. »Glaub mir's, noch nie!«

»Aber das ist doch Unsinn!« fuhr David auf. »Purer Aberglaube!«

»Warum regst du dich so auf? Sag endlich deinem alten Vater, Sohn, was schiefgegangen ist.«

»Ich kann's dir nicht sagen. Ich muss allein damit fertig werden.«

»Wenn du es mir nicht sagen kannst«, meinte sein Vater betrübt, »ist es noch viel schlimmer, als ich dachte.«

»Das alles ist ganz allein meine Sache.«

»Ich bin sicher, dass es diese große blonde Cabot-Frau ist, die dich in die Klemme gebracht hat«, sagte Esteban. »Ich habe ihr Bild in den Zeitungen gesehen. Sie ist schön, sehr schön. Aber ich würde mich vor ihr hüten, Sohn.«

»So? Und warum?«, fragte David trotzig.

Esteban stand auf. »Das ist schwer zu sagen, Sohn. Vielleicht weil wir Mexikaner sind, mit spanischem Blut und mit indianischem, im Grunde klein und von brauner Hautfarbe. Du - hm - bist braun und groß, aber doch wärst du immer wieder Hindernisse finden, die man dir in den Weg legt, wenn du ein Ziel erreichen willst.«

Er warf einen prüfenden Blick zu David hinüber und sah, dass er aufmerksam zuhörte. »Irgendwie bist du verändert, seit ich dich das letzte Mal sah. Damals warst du glücklich, und da war noch keine Rede von dieser Cabot. Jetzt bist du unglücklich. Also hat es mit ihr zu tun. Und wenn sie dich unglücklich macht und trotzig gegenüber deinem Vater, dann ist sie nicht gut für dich. Aber du willst sie haben, und deshalb wirst du nicht auf mich hören. Ich habe Angst und fürchte, dass dir durch sie etwas sehr Schlimmes zustoßen wird.«

»Mein Gott!«, sagte David. »Du sprichst wie ein alter weiser Patriarch. Woher nimmst du all diese Ideen?«

»Von dir«, sagte Esteban. »Du hast keine Ahnung, wie genau ich dich kenne, Sohn. Und sag' nicht solch unfreundliche Dinge zu mir. Ich bin kein weiser alter Patriarch. Ich bin nur ein fünfundsechzig Jahre alter Mann, der seinen einzigen Sohn und Sprössling verdammt genau kennt. Diese Frau da hat dich bereits verändert. Und die Art, wie sie dich geändert hat, gefällt mir ganz und gar nicht.«

»Wie willst du das alles wissen?«, entgegnete David heftig. »Du kennst sie ja nicht einmal.«

»Das brauche ich auch gar nicht«, sagte Esteban. »Ich sehe doch, wie unglücklich sie dich bereits gemacht hat.«

»Sie - mich unglücklich gemacht? Ihr verdanke ich die glücklichsten Stunden meines Lebens.«

»Das glaubst du selbst nicht, Sohn!«, sagte Esteban. »Und warte nur ab; sie wird es noch schlimmer mit dir treiben.«

»Ich verstehe überhaupt nicht, was du willst«, sagte David. »Außerdem bin ich nicht hergekommen, um über sie zu sprechen.«

»So? Warum sonst?«

»Um dich zu besuchen«, sagte David. »Was dachtest denn du?«

»Ich weiß nicht, was ich denken soll«, sagte Esteban. »Du willst meinen Rat nicht annehmen; warum solltest du auch, du bist selbst ein erwachsener Mann. Und doch, wenn ich an deiner Stelle wäre, ich würde von dieser reichen Cabot-Frau so weit weg wie möglich bleiben. Schaff sie dir vom Hals, diese blonde Hure.« Während er dies sagte, behielt er David scharf im Auge, und David reagierte genau in der Art, wie er erwartet hatte. Er war aufgesprungen und trat drohend auf seinen Vater zu.

»Blonde Hure, sagst du?«, schrie er. »Du dreckiger alter Mann, wie kommst du dazu?!«

»Ha!«, sagte Esteban. »Genau, was ich gedacht und gefürchtet hatte.«

David ließ die drohend erhobene Hand sinken und starrte ihm ins Gesicht. »Was soll das heißen?«

»Du hast dich schon zu weit mit ihr eingelassen«, sagte Esteban. »Ich kann dir nicht mehr helfen.«

»Mir helfen? Verdammt, wer hat dich um deine Hilfe gebeten?«

»Du - indem du hier herauskamst!«

»Ich bin schon Hunderte von Malen hier gewesen«, sagte David immer noch voll Zorn, »und niemals habe ich um Hilfe gebeten!«

»Das meinst du nur«, sagte Esteban. »Aber diesmal ist es nur anders. Diesmal ist es nicht Geld oder etwas Ähnliches. Diesmal geht es um dein Leben.«

»Ich weiß überhaupt nicht, worauf du hinauswillst«, sagte David, doch der Klang seiner Stimme strafte ihn Lügen. »Du bist eben nichts weiter als ein alter vertrottelter Narr!«

Esteban trat zwei Schritte auf ihn zu und schlug ihn, ohne eine Miene zu verziehen, mit der flachen Hand ins Gesicht. »Sprich nicht so mit deinem alten Vater! Bisher hast du das nie gewagt, David, und du wirst auch jetzt nicht damit anfangen. Ich weiß jetzt, für dich ist es zu spät, Sohn. Ich bin traurig darüber, dass du ins Unglück geraten bist. Wenn ich dir helfen kann, brauchst du mich nur darum zu bitten. Aber sprich nicht wieder in diesem Ton mit mir. Nie wieder!«

Davids Gesicht hatte sich mit Schamröte überzogen. Er legte seinem Vater die Hand auf die Schulter. »Vater«, sagte er, »vergib mir.«

»Weil du nicht weißt, was du tust, eh?«, sagte Esteban, immer noch mit unbewegtem Gesicht. »Ja, ich glaube, so ist es. Du weißt nicht, was du tust. Und deshalb vergebe ich dir.« Er drehte sich um und ging zu der Tür des Adobe-Schuppens. »Ich habe Arbeit - sehr viel Arbeit. Hasta la vista.« Er ging hinein und ließ David einfach draußen stehen.

David wollte ihm nacheilen, doch dann wandte er sich um und ging mit müden Schritten zurück zu seinem Wagen.

 

 

 

 

 

 

12.

 

 

 

Miss Lee sah zweifellos nicht wie eine Einbrecherin aus, und dennoch benahm sie sich wie eine solche. Nur ein schmaler Lichtspalt drang vom Vorzimmer her in Masons Büro, und Miss Lee schlich verstohlen zu dem in die Wand eingelassenen Safe. Sie drehte die verschiedenen Kombinationsscheiben. Ein leises Klicken. Die dicke gepanzerte Tür schwang auf, und mit sicheren Griffen fand Miss Lee, was sie zu finden hoffte: einen zum Überquellen vollgestopften Schnellhefter. Schnell schloss sie die Panzertür, verstellte die Kombinationsscheiben, schlich ins Vorzimmer hinaus, drehte das Licht ab und verließ das Zimmer, indem sie es mit ihrem Schlüssel hinter sich ab schloss.

Als sie aus dem Gebäude heraustrat, winkte sie einem Taxi und ließ sich nach Chinatown hinausfahren, wo das Taxi vor einem alten, gut renommierten chinesischen Restaurant anhielt. Sie stieg aus, bezahlte den Taxifahrer und ging hinein.

Einen Moment lang musste sie auf den Chefkellner warten, der gerade an einem der Tische zu tim hatte. Am anderen Ende des Saales führte eine in golddurchwirkten Stoff gekleidete zierliche Chinesin auf einem winzigen Podium einen stilisierten Tanz auf. Sie wurde dabei von mehreren bizarr klingenden Zupf- und Schlaginstrumenten begleitet, die irgendwie an die Musik Arnold Schönbergs erinnerte. Für Miss Lees Geschmack war das golddurchwirkte Kostüm allzu spärlich, aber ihre Gedanken waren mit anderem beschäftigt.

Buntfarbige Laternen warfen einen bizarren Lichtflimmer auf die speisenden Gäste, zumeist Chinesen. Rund um den Raum befanden sich diskrete Nischen, die durch Bambus- und Perlschnur-Vorhänge vom eigentlichen Saal abgeteilt waren.

Nun trat der Oberkellner auf sie zu, und sie sagte ihm ihre Wünsche. Er runzelte die Stirn, musterte sie noch einmal eingehend und führte sie dann zu einer der Nischen, deren Vorhang er öffnete, nachdem er sich vorher diskret geräuspert hatte. Cathy Cabot und Blacky Richards saßen dort. Blacky mit ehrlich verblüfftem Gesicht, weil Miss Lee wohl die letzte gewesen war, die er hier zu sehen erwartet hatte.

»Guten Abend, Cathy«, sagte Miss Lee.

Blacky war aufgestanden. »Was soll das? Ist das eine Art Scherz?«

»Ich habe sie gebeten zu kommen, Blacky«, sagte Cathy. »Setzen Sie sich doch, Miss Lee.«

Miss Lee setzte sich neben Cathy. Nur flüchtig schaute sie zu Blacky hinüber, der ebenfalls wieder Platz genommen hatte, weil sie seinem Blick nicht standzuhalten vermochte.

»Ich kann Ihre Empfindungen mir gegenüber durchaus verstehen, Mr. Richards«, sagte sie hastig, »aber ich konnte neulich nicht die Wahrheit sagen.«

»Sie hätte ihre Stellung verloren, Blacky«, sagte Cathy. »Das musst du doch verstehen.«

»Ich habe mehr als einen Job verloren«, sagte Blacky, doch der Tonfall seiner Stimme zeigte an, dass er um Cathys willen bereit war, einzulenken.

»Ich ebenfalls, Mr. Richards«, sagte Miss Lee. »Deshalb will ich es ja wiedergutmachen, soweit ich kann.«

Cathy beugte sich eifrig vor. »Haben Sie eine Kopie des Vertrages gefunden?«

Miss Lee schüttelte den Kopf. »Mr. Mason hat das Original und alle Durchschläge vernichtet.«

Blacky stieß einen unziemlichen Fluch aus, und auch Cathy war völlig niedergeschlagen.

»Aber ich habe etwas anderes mitgebracht«, sagte Miss Lee, »von dem ich glaube, dass es Sie interessieren wird, Mr. Richards.« Sie reichte ihm den Aktendeckel.

Unschlüssig hielt er ihn in der Hand. »Was ist das alles?«

»Dokumente, die einen Fall betreffen, der lange zurückliegt«, sagte Miss Lee. »Mr. Cabot war damals in Hongkong, und Mr. Mason hat ihn in jener Zeit vertreten.«

»So?«, sagte Blacky und begann die Schriftstücke durchzublättern.

»Sie betreffen Ihren Vater, Mr. Richards.«

Zweifelnd sah er sie an. »Miss Lee«, sagte er, »ich habe hier nicht die Zeit, all diese Akten durchzulesen. Sagen Sie mir, was darinsteht.«

»Die genauen Zusammenhänge kann ich Ihnen mit wenigen Worten auch nicht sagen«, begann Miss Lee, »doch ich weiß, dass Sie in dem Glauben leben, Mr. Cabot habe Ihren Vater ruiniert. Das entspricht jedoch nicht den Tatsachen, Mr. Richards. Diese Akten, die fast alle Entscheidungen über Stornierungen von Verträgen mit Ihrem Vater enthalten, tragen die Unterschrift Mr. Masons.« Verwirrt sah sie auf. »Ich weiß, was ich hier tue, verträgt sich nicht mit meiner Berufsethik, aber auch Mr. Mason ist in dieser Hinsicht nicht kleinlich und häufig sogar skrupellos.« Sie schien über die Kühnheit ihrer eigenen Worte erschrocken.

»Ich weiß, dass Mr. Cabot nicht allgemein beliebt war«, fuhr sie fort, »aber er war ehrlich und aufrichtig. Ich als seine Sekretärin kann mir wohl am besten ein Urteil darüber erlauben. Darauf können Sie sich also verlassen.« Sie hatte mit nachdrücklicher Betonung gesprochen und legte jetzt zögernd ihre Hand auf Blackys Arm. »Dadurch wird Ihr Vater nicht wieder lebendig, Mr. Richards. Das weiß ich. Aber ich konnte und wollte Sie einfach nicht länger in dem Irrglauben belassen, Mr. Cabot habe Ihren Vater auf dem Gewissen.«

Sie senkte den Blick auf die Tischplatte. »Als Ihr Vater noch am Leben war, Cathy, da habe ich... nun, in zwanzig Jahren, die man Seite an Seite arbeitet, lernt man einen Mann recht gut kennen. Ich werde ihn... sehr vermissen.« Sie hielt den Kopf immer noch vornübergebeugt, und ganz plötzlich schossen ihr Tränen in die Augen.

Auch Cathy war den Tränen nahe. Sie legte den Arm tröstend um Miss Lees Schulter. »Ich danke Ihnen, Miss Lee«, sagte sie. »Ich danke Ihnen von ganzem Herzen.«

Miss Lee erhob sich und nahm ein Taschentuch aus ihrer Handtasche. Sie trocknete sich damit die Tränen, lächelte Cathy und Blacky ein wenig verzagt zu, und ehe sie sie zurückhalten konnten, war sie bereits gegangen.

Blacky blätterte die Akten durch, die Miss Lee auf dem Tisch zurückgelassen hatte, und las die eine oder andere davon. »Hm, sieht ganz so aus«, gab er kleinlaut zu, »als ob ich einer Menge Leute und vor allem deinem Vater bitter Unrecht getan hätte. Und alles, was ich über deinen Vater gesagt habe, Cathy...«

»Blacky, Liebling, das spielt doch jetzt keine Rolle mehr«, sagte Cathy. »Das ist alles längst vergessen.«

»Leider nein, Cathy. Das mit dem Vergessen ist nicht ganz so einfach. Ich kann es nie wiedergutmachen.«

»Schade, dass du ihn nie persönlich kennengelernt hast«, sagte Cathy, »jetzt, nachdem du weißt, dass gar nicht er es war, der hinter all den Intrigen steckte. Ich jedenfalls bin froh, dass dieser Streit zwischen uns beiden nun ein für alle Mal vorbei ist.«

»Der Streit zwischen uns, ja«, sagte er. »Aber nicht das andere.«

Cathy sah ihn unsicher an. »Das mit deinem Vater? Ich verstehe nicht, wie du jetzt noch...«

»Nun«, sagte er verbittert, »es ist doch ganz klar, dass ich die Gefühle, die ich gegen deinen Vater hegte - fälschlicherweise, wie ich jetzt zugeben muss - auf den eigentlich Schuldigen übertrage. Auf Howard Mason nämlich.«

»Auf Howard?« Sie zögerte. »Nun, eigentlich kann mir das egal sein. Für Howard habe ich noch nie große Sympathien empfunden, und es macht mir wenig aus, wenn du jetzt ihn hasst.«

Er war kurz davor aufzulachen, besann sich aber dann, wie ärgerlich er auf Mason sein sollte.

»Wir Richards sind eine verdammt dickköpfige Sippe«, sagte er grollend, »und wenn uns jemand zu nahe tritt, spucken wir Feuer und Rauch wie ein Vulkan. Ich glaube, ich werde jetzt einmal ein wenig Feuer und Rauch m Richtung auf Howard Mason spucken.«

 

 

 

 

 

 

13.

 

 

 

 

Dieses Mal kam Cob zu spät zum Briefkasten. Er war leer. Cob runzelte die Stirn und sah sich suchend um. Seit Tagen war es ihm diesmal zum ersten Mal passiert, dass er die Post nicht rechtzeitig hatte abfangen können. Er war sicher, dass in der fraglichen Zeit niemand anderer als der neunjährige Peter das Haus verlassen hatte. Niemand anderer als Peter... Er ging um die Hausecke herum und wurde beinahe von einem Flugzeugmodell enthauptet, das mit seiner Tragfläche haarscharf an seinem Ohr vorbeiflitzte. Unversehrt landete es ein paar Meter weiter auf dem Boden, und gleich darauf kam Peter hinterhergestürzt. Cob blieb keine andere Wahl.

»Pssst! Peter! Komm doch mal eine Sekunde her.«

»Tag, Cob«, sagte Peter. Er konnte Cob gut leiden. »Wann erzählst du mir die Geschichte zu Ende; die von dem Rennen in Indianapolis?«

»Oh«, sagte Cob. »Wart' einmal. Welches Rennen war denn das?«

»Aber das weißt du doch«, sagte Peter ungeduldig. »Wo du den anderen um eine ganze Runde voraus warst und wie du dich zweimal überschlagen hattest, weil du ein Rad verlorst.«

»Ah, ja, jetzt weiß ich's wieder. Hier, komm, setz dich mal zu mir.« Sie setzten sich nebeneinander auf das niedrige Geländer der Seitenveranda. »Du, hör mal«, sagte Cob, bevor Peter erneut auf das nie gefahrene Rennen von Indianapolis zu sprechen kommen konnte, »da ist mir doch ganz was Komisches passiert. Ich bin da in meinem Zimmer und krame in meinen Sachen herum, als ich den Briefträger Vorbeigehen sehe. Kaum drei Minuten ist das her. Natürlich gehe ich sofort raus und will die Briefe aus dem Kasten holen. Und was glaubst du wohl, was ich finde?«

»Was?«

»Nichts! Die Post ist verschwunden!«

»Gestohlen?«, fragte Peter, mit einem kleinen Schalk in den Augen.

»So muss es wohl sein«, sagte Cob ernsthaft.

»Oje!«, sagte Peter. »Das wird doch ganz schwer bestraft.«

»Und ob!«, sagte Cob. »Nun sag mal, hast du einen Verdacht, wer die Unverschämtheit haben könnte, sich an der Post zu vergreifen?«

Peter konnte es nicht länger für sich behalten.

»Ich!«, sagte er glückstrahlend.

»Du?« Cob starrte ihn in gespieltem Erstaunen an. »Oh, wenn das so ist, dann können wir wohl nicht zur Polizei gehen.«

»Ich hab' die ganze Post zu Mami raufgebracht. Diesmal hab' ich dich reingelegt, nicht wahr, Cob?«

Cob lachte. »Du bist mir ein ganz Schlauer! Und nun sag mir mal - hast du vielleicht - ähm - deiner Mutter die Briefe vorgelesen, wie du es manchmal tust?«

»Nein«, sagte Peter. »Heute hat sie alle selbst gelesen.«

»Hat sie sich dabei - ähm - über irgendetwas aufgeregt?«, fragte Cob so gleichgültig wie möglich.

Peter war an dieser Frage nicht weiter interessiert. »Ich glaube nicht«, sagte er leichthin.

Die Tür zur Seitenveranda öffnete sich, und Tani streckte den Kopf heraus. »Peter! Das Essen ist fertig!«

»Ooch!«, sagte Peter. »Jetzt schon?«

»Nun komm schon, ja?«, sagte Tani bestimmt.

»Tu lieber, was die Himmelsprinzessin dir sagt«, stichelte Cob.

Tani verzog keine Miene, noch würdigte sie Cob einer Antwort. Peter seufzte und setzte sich missmutig auf die Tür zu in Bewegung. Tani legte den Arm um seine Schulter, und sie betraten die Halle.

»Was hat Cob denn da draußen von dir gewollt?«, fragte Tani.

»Ooch, nichts«, sagte Peter. »Er hat mich nur gefragt, wo die Post geblieben ist.«

Sheila, die in diesem Augenblick die Halle durchquerte, hörte, was Peter sagte. Sie stutzte und blieb stehen.

»He, Mami«, sagte Peter. »Wo gehst du hin?«

»Zum Doktor in die Sprechstunde. Aber ich bin bald wieder zurück. Und du wirst jetzt schön essen, ja?«

»Oh, Mami«, sagte Peter. »Mein Bauch ist ja noch ganz voll vom Frühstück.«

Sheila lachte unwillkürlich auf, während Peter mit hängendem Kopf auf die Küche zutrabte. Die beiden Frauen sahen sich kurz an. Tani senkte aber sofort den Blick und wollte dem Jungen in die Küche folgen.

»Oh, Tani«, sagte Sheila.

»Ja, Mrs. Cabot?« Tanis Gesicht blieb völlig ausdruckslos.

»Sagen Sie, Tani...« - Sheila zögerte einen Moment - »...bedrückt Sie irgendetwas?«

»Was sollte mich bedrücken, Madam?«

»Ich weiß nicht, ich hab' seit ein paar Tagen das Gefühl, dass Sie anders zu mir sind«, sagte Sheila unsicher.

»Inwiefern, Madam?«, fragte Tani.

»Ich habe den Eindruck«, sagte Sheila, »Sie gehen mir irgendwie aus dem Weg.«

»In keiner Weise, Mrs. Cabot«, sagte Tani, ohne sich auch nur eine Sekunde zu besinnen. »Es war niemals meine Absicht, und ich bitte vielmals um Verzeihung, wenn ich diesen Eindruck erweckt habe.« Sie wandte sich ab und folgte Peter die Halle hinunter. Sheila sah ihr gedankenvoll nach und öffnete dann die Tür zur Seitenveranda. Sie blieb auf der Stelle stehen und erstarrte. Cob stand unmittelbar neben der Tür, und Sheila fragte sich, ob er gehorcht hatte.

Er lächelte breit und zeigte das Flugzeugmodell vor.

»Ähm - Madam, Peter lässt seine Spielsachen überall herumliegen. Ich wollte dies nur hereinbringen, damit es keinen Regen kriegt.«

Er stellte das Flugmodell in eine Ecke und eilte dann die Stufen hinunter, um Sheila den Wagenschlag der Limousine aufzuhalten.

Auf der Fahrt in die Stadt schien es Sheila ganz deutlich, dass Cob etwas auf dem Herzen hatte. Immer wieder versuchte er ihren Blick im Rückspiegel einzufangen, doch er

brauchte eine ganze Weile, ehe er genug Mut fand zu sprechen.

»Ähm, Mrs. Cabot?«

»Ja?«

»Würden Sie mir wohl erlauben, Ihnen eine persönliche Frage zu stellen?«

Sie sah ihn im Rückspiegel an. »Eine persönliche Frage?«

Er lächelte entwaffnend. »Persönlich - das heißt, mich betreffend.«

»Und um was handelt es sich, Cob?«

»Nun, um es ohne Umschweife zu sagen, Madam - ich wollte Sie fragen, ob Sie mir vielleicht einen - ähm - Vorschuss auf mein Gehalt geben könnten.«

Sheila runzelte die Stirn. »Aber ich habe es Ihnen doch schon bereits für Monate im Voraus gezahlt!«

»Gewiss, Madam«, sagte Cob gedehnt, als handele es sich um eine Angelegenheit, die längst abgetan sei. »Ich kann mich keineswegs beklagen. Sie waren sehr großzügig. Aber vielleicht lässt es sich doch machen, dass Sie mir - äh - das Gehalt für die nächsten Monate anweisen. Für - äh - das wäre dann bis einschließlich März, sagen wir.«

»Wofür brauchen Sie denn all das Geld, Cob?«

»Für...« Cob lächelte wieder. »Frauen, Pferderennen und Champagner. Seien Sie unbesorgt, Madam, es wird bestens angelegt.«

Sheila musste wider Willen lächeln. Cob konnte, wenn er wollte, ein verflixt charmanter Bursche sein. Er sah ihr Lächeln im Rückspiegel und nutzte seinen augenblicklichen Vorteil sofort aus.

»Im Vertrauen gesagt, Madam, mir sind ein paar Gläubiger auf den Fersen. Und, um es rundheraus zu sagen, sie wollen mich hochgehen lassen, wenn ich nicht zahle.«

»Tut mir leid, das von Ihnen zu hören«, sagte Sheila. »Ich werde mir die Sache überlegen.«

»Vielen Dank, Madam«, sagte er. »Es ist ein sehr unangenehmes Gefühl, wenn ständig eine Drohung über einem schwebt; wenn Sie verstehen, Madam, was ich damit meine.«

Im Rückspiegel trafen sich ihre Augenpaare und starrten sich an.

»Was wollen Sie damit sagen, Cob?«, fragte sie.

Er zuckte die Achseln. »Nun, niemand hat es gern, wenn jemand hinter einem her ist.«

Sie wollte etwas erwidern, überlegte es sich dann aber anders, und bis sie das Haus erreichten, in dem sich Davids Praxis befand, fiel kein weiteres Wort. »Warten Sie hier auf mich, Cob«, sagte sie. »Es wird nicht lange dauern.«

»Gewiss, Madam.«

Oben im Sprechzimmer erzählte sie David, worum Cob sie angegangen hatte.

»Hast

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Authors/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Christian Dörge, Heinz Otto und Renate Blodow (Original-Zusammenstellung).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 10.10.2021
ISBN: 978-3-7487-9659-6

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /