Cover

Leseprobe

 

 

 

 

CYRIL ABRAHAM

 

 

Die Onedin-Linie

Dritter Band: Auf hoher See

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

AUF HOHER SEE 

Erstes Kapitel: Abschied von der Vergangenheit 

Zweites Kapitel: Vertrauliche Ermittlung 

Drittes Kapitel: Zukunftsträume 

Viertes Kapitel: Zweifel 

Fünftes Kapitel: Bedrohliche Schatten 

Sechstes Kapitel: Eine bedeutungsvolle Wette 

Siebtes Kapitel: Captain Baines 

Achtes Kapitel: Expansion 

Neuntes Kapitel: Intermezzo im Treibhaus 

Zehntes Kapitel: Härtetraining 

Elftes Kapitel: Ein guter Vorsitzender 

Zwölftes Kapitel: Arme Emma 

Dreizehntes Kapitel: Gestrandet vor Kap Hoorn 

Vierzehntes Kapitel: Seitensprung 

Fünfzehntes Kapitel: Im Chinesischen Meer 

Sechzehntes Kapitel: Zwischenfall im Nebel 

Siebzehntes Kapitel: Das Teerennen 

Achtzehntes Kapitel: Gewonnen und verloren 

 

 

Das Buch

Durch Tüchtigkeit und harten Willen hat es James Onedin vom Kapitän zum Reeder gebracht, doch sein Erzrivale George Callon hegt einen niederträchtigen Plan, ihn auszubooten...

Bei einer atemberaubenden Wettfahrt der Frachtschiffe steht alles auf dem Spiel: Wer wird als erster in den Hafen von Liverpool einlaufen? Für Kapitän Onedin und seine tapfere Frau Ann geht es um Leben und Tod...

 

Cyril Abraham (* 22. September 1915; † 30. Juli 1979) war ein englischer Schriftsteller und Drehbuchautor. Die BBC-Serie Die Onedin-Linie - von der ARD in den Jahren 1971 bis 1980 ausgestrahlt - gilt als sein bekanntestes Werk. Weitere Berühmtheit erlangte er durch seine Mitwirkung als Autor an der legendären TV-Serie Mit Schirm, Charme und Melone.

Auf hoher See spielt in der rauen Welt der Seefahrt: Spannend und lebendig verwoben mit der Familiensaga der Onedins erzählt Cyril Abraham von den letzten Tagen der ruhmreichen Frachtsegler, welche auf den Weltmeeren kreuzten, ehe das neue Zeitalter der dampfbetriebenen Stahlriesen begann.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers.

  AUF HOHER SEE

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel: Abschied von der Vergangenheit

 

 

Das Wasser gurgelte schäumend unter ihrem Bug, als die Pampero sich auf die Seite legte und mit eleganter Bewegung in den Wind drehte. Der Backbordanker rutschte vom Ankerbalken, und als seine Schaufeln festen Halt im Grund suchten, setzte das aufspritzende Wasser sein Siegel unter die soeben abgeschlossene Reise. Das Schiff lehnte sich an dem sich spannenden Ankerkabel zurück, die Rahen rasselten herunter, und die weiße Segelleinwand wurde eingeholt. Die Pampero hatte eine schnelle Reise nach Alexandria unternommen und eine kostbare Ladung ägyptischer Baumwolle zurückgebracht. Jetzt, da der amerikanische Bürgerkrieg in sein zweites Jahr eintrat, war Baumwolle eine besonders gesuchte Ware. James hatte allen Grund, zufrieden zu sein. Er blickte die weißgescheuerten Decks entlang, betrachtete die blitzenden Beschläge und sah den barfüßigen Matrosen zu, die munter plaudernd die Leinen belegten.

»Sie werden es schon schaffen«, sagte er. »Sie werden es bestimmt schaffen, Mr. Baines.« Er hatte Baines gestattet, die Führung des Schiffes auf der Hin- und Rückreise zu übernehmen – ein Kapitän, der sein Handwerk lernen sollte.

Baines strahlte vor Freude. Ein Lob von Mr. Onedin war etwas Seltenes, ein besonderes Geschenk, das man in Ruhe genießen musste. Er strich sich mit dem Unterarm über die Stirn.

»Das ist es gar nicht, Mr. Onedin«, erwiderte er. »Es ist das Rechnen, das mir große Sorgen macht.«

James verstand. Im Umgang mit Schiffen und Seeleuten hatte der Riese nicht seinesgleichen, sobald er aber eine Zahlenreihe vor sich hatte, war er so hilflos wie Samson, dem man die Haare geschoren hatte. Es war eine Tatsache, die James einfach nicht begreifen konnte. Für ihn waren Zahlen kleine Präzisionsinstrumente, wie Soldaten, die nie aus dem Tritt gerieten. Zwei plus zwei war vier, mit unausweichlicher Logik.

Anne hatte zu den Dockanlagen von Liverpool und einem Dampfschlepper hinübergeschaut, der unter der gestreiften Flagge der Frazers bereits auf sie zu dampfte. Jetzt drehte sie sich um.

»Unsinn, Mr. Baines«, erklärte sie kurz. »Ich habe volles Vertrauen, dass Sie mit fliegenden Fahnen bestehen werden.« Sie lächelte ihm aufmunternd zu. »Es ist einfach eine Frage der Konzentration.«

James bezweifelte dies. Baines würde nie das Kapitänsexamen bestehen, auch wenn er sich bis in die Ewigkeit konzentrierte.

Baines schien derselben Meinung zu sein, denn er kratzte sich nachdenklich den Kopf. »Ich kann meine Kugeln zählen wie kaum ein anderer, aber ich weiß nicht, ob man mich ein Rechenbrett mit in das Prüfungszimmer nehmen lässt.«

James brummte etwas vor sich hin, dachte an Annes mit viel Geduld abgehaltene Unterrichtsstunden und wich Bainesʼ Blicken aus. Jeden Tag hatte der Mann eine geschlagene Stunde über diesem verdammten Kinderspielzeug gesessen und mit größter Mühe an Aufgaben herumgerechnet, die für jedes denkende Wesen sonnenklar waren.

»Versuchen wir mal einen einfachen Test«, sagte Anne. »Drei mal neun mal achtzehn, bitte.«

James sah, wie Baines seine Gesichtszüge in eine Grimasse wilder Konzentration verzog und dann wie in einem Anfall plötzlicher Erleichterung den angestauten Atem ausstieß. »Vierhundertsechsundachtzig?«, antwortete er erwartungsvoll.

James blinzelte und nickte dann verwundert. »Vierhundertsechsundachtzig, das stimmt.«

Baines beantwortete die unausgesprochene Frage. »Ich mache einfach die Augen zu und stelle mir den Zählrahmen vor, dann schiebe ich die kleinen Kugeln hin und her und zähle sie zusammen.« Er verzog das Mondgesicht zu einem Ausdruck falscher Bescheidenheit. »Da ist nichts weiter dran, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat.«

Anne schob sich den Hut zurecht und strich eine widerspenstige Haarlocke zurück. »Siehst du, James«, sagte sie sanft, »Mr. Baines kann das Zählbrett wirklich mitnehmen.«

Sie sah ihn lachend an. Er lächelte zurück. Sie war wirklich eine höchst bemerkenswerte Frau. »Ich teile Mrs. Onedins Zuversicht, Mr. Baines, und freue mich schon darauf, Ihnen als erster gratulieren zu können.« Er gab sich alle Mühe, im Tonfall so aufrichtig wie möglich zu klingen, aber zum Kapitänspatent war mehr nötig als nur ein paar Taschenspielertricks.

Die Ankunft des Schleppers setzte der weiteren Unterhaltung ein Ende. Die Schaufelräder drehten sich langsam, als das kleine Fahrzeug längsseits kam und die schwarze, aus seinem Schornstein hervorquellende Rauchwolke ein Callonschiff einhüllte, das nur ein paar Meter entfernt vor Anker lag.

Eine Glocke ertönte, die Schaufelräder standen still, und als der Schlepper leicht gegen die Bordwand stieß, sahen sie Elmer, der an Steuerbord auf der Radkastenplattform stand. Er trug eine schwarze Hose mit feinem, weißem Nadelstreifen, einen hochgeschlossenen blauen Rock und gelbe Krawatte. Er schwenkte freudig einen Zylinder in modischem Braun und verzog seine mephistophelischen Gesichtszüge zu einem freundlichen Grinsen, während sich die Pampero schwerfällig im Kielwasser des Schleppers wiegte. Ein in den Wanten hängender Matrose streckte hilfreich einen Arm aus, der so dick wie eine Kabeltrosse und braun wie Teakholz war. Elmer übersprang den Meter brodelnden Wassers, landete leichtfüßig an Deck und machte eine tiefe Verbeugung in Richtung auf Anne.

»Ergebenster Diener, Madame«, sagte er in feierlichem Ernst und wandte sich dann James zu. »Eine einträgliche Reise, nehme ich an?«

»Willkommen an Bord«, erwiderte James in gleichem Tonfall und fragte sich im Stillen, was seinen wie ein Dandy herausgeputzten Schwager veranlasst haben könnte, sich von seinem geliebten Zeichenbüro wegzureißen. Sicher mehr als nur die Freude des Wiedersehens, dachte er misstrauisch.

»Isabel lässt herzlich grüßen«, fügte Elmer hinzu, als ob ihm dieser Gedanke gerade noch eingefallen wäre.

Der Schlepper dampfte voraus, und ein Dutzend Hände griffen in die Handspaken, um die Schleppleine überzuholen. Die Leine spannte sich, die stampfenden Füße der Männer bewegten sich schneller, die Schlepptrosse rasselte durch das Klüsenrohr, und über dem Gekreische der Möwen und dem dumpfen Maschinengeräusch des Schleppers sangen atemlose Stimmen den rhythmischen Refrain:

 

Der Absteigewirt wartet auf uns schon an Land, mit Schnaps und mit Huren, wie jedem bekannt, erzählt uns das Märchen von Mutter McCree.

Ein Narr, wer zur See fährt – vergesst das nie!

 

Elmer kletterte die Leiter zum Achterdeck hinauf und sah James lächelnd an. »Du wirst jeden Penny brauchen, den du zusammenkratzen kannst. Wie ich höre, ist Callon eifrig damit beschäftigt, Aktien aufzukaufen.«

James räusperte sich. »Sein Geld ist so gut und so schlecht wie jedes andere«, meinte er mürrisch.

»Besser als deines«, sagte Elmer ungerührt. »Jedenfalls hat er mehr davon.«

James zog sich am Ohrläppchen und ging ein paar Schritte auf und ab, während er sich über die Bedeutung dieser Bemerkung klarzuwerden versuchte. Er erinnerte sich an den Rat seines Anwalts Tapscott: Da eine Aktiengesellschaft ein Unternehmen ist, das seine Anteile dem breiten Publikum zum Kauf anbietet, wird ein umsichtiger Geschäftsmann dafür sorgen, dass er die Aktienmehrheit, das heißt einundfünfzig Prozent, in Händen hält. Das Kapital der Onedin Line Steamship Company war durch die Ausgabe von einhunderttausend Aktien aufgebracht worden. Einundfünfzigtausend Pfund mussten irgendwo aufgetrieben werden. James hatte angesichts der Unmöglichkeit den Kopf geschüttelt. Der Anwalt hatte eine große Prise Schnupftabak genommen, und seine wässrigen Augen waren hinter dicken Brillengläsern verschwommen. Es ist allerdings möglich, auch ohne den Luxus derartig großer Aufwendungen eine wirksame Kontrolle zu behalten. Da die Aktionäre bekanntermaßen nie der gleichen Meinung sind, dürften vierzig Prozent genügen. Außerdem können Sie, wenn Sie wünschen, zunächst nur die Hälfte des Kapitals einzahlen und den Rest auf Abruf bereithalten. Dies heißt, dass jeder Aktionär zehn Shilling für die Ein-Pfund-Aktie einzahlt und die Differenz auf Abruf nachschießt. James hatte den Sinn dieser Worte sofort begriffen: Wer Aktien im Wert von über fünfundzwanzigtausend Pfund besaß, hätte die Gesellschaft in der Hand. Er selbst hatte fünfzehntausend Pfund zusammengebracht, wodurch er sich eine Beteiligung von dreißig Prozent sicherte. Elmer hatte weitere zehntausend Anteile übernommen, während Robert, nach langen Nörgeleien, schließlich kümmerliche fünfhundert Pfund investiert hatte.

Er ging zur Bordwand, ergriff die Reling mit beiden Händen und starrte geistesabwesend auf das Kielwasser, das unter der Gilling hervorquoll. Einundvierzigtausend Anteile. Ein schöner Betrag, aber zehntausend zu wenig, um völlig sicherzugehen. Diese Reise würde etwa siebentausend Pfund abwerfen. Er würde Tapscott anweisen, jede nur mögliche Aktie zu kaufen. Callon wollte die Dinge offensichtlich auf die Spitze treiben.

Elmer trat neben ihn. »Er lässt durch Strohmänner kaufen.« Er runzelte die Stirn. »Was will der Kerl eigentlich?«

»Er will uns das Genick brechen«, erklärte ihm James rundheraus. »Sobald er erst einmal die Mehrheit hat, wird er als ersten Schritt die Differenz einfordern. Das würde dich noch einmal fünftausend kosten, und dein Schiff käme nie von der Helling herunter. Und ich ginge bankrott.«

Ein Anflug von Besorgnis huschte über Elmers Gesicht. »Fünftausend, und dazu noch kurzfristig? Das ist eine Menge Geld. Ich bezweifle, ob ich es auftreiben könnte.« Er glaubte anscheinend, dieses Eingeständnis bedürfe der Erklärung. »Isabel hat einen extravaganten Geschmack.« Er sprach in verdrossenem Tonfall; aus seinen Worten war eine gewisse Verlegenheit zu erkennen, die ihm sonst fremd war.

»Callon kann sich den Luxus einer Niederlage leisten, wir nicht«, sagte James kurz, ohne auf Elmers häusliche Probleme einzugehen. »Wir müssen jede zum Verkauf angebotene Aktie an uns ziehen. Wieviel Prozent besitzt Callon im Augenblick?«

Elmer zuckte mit den Achseln. »Dein Buchhalter Tupman hat sich offenbar umgehört. Kluger Kopf, dieser Mann. Sehr kluger Kopf. Er hat über das, was er in Erfahrung bringen konnte, natürlich an Robert berichtet.« Er gestattete sich ein verächtliches Grinsen. »Robert kam mit stolzgeschwellter Brust zu mir und machte sich erbötig, weitere hundert aufzubringen. Er schien unter dem Eindruck zu stehen, dass jede Gesellschaft, die Mr. Callon zu Investitionen veranlasst, einfach finanziell gesund sein müsse.«

James zweifelte nicht daran, Robert besaß den Geschäftssinn eines kleinen Kindes. Trotzdem belustigte ihn der Gedanke, und er fragte Elmer mit einem Grinsen: »Hat er gekauft?«

»Es waren keine zu haben. Callons Käufe haben die Preise hinaufgetrieben. Die übrigen Aktionäre halten ihre Anteile zurück.«

Dies war ernst. Es zeigte, dass in großem Stil gekauft worden war. »Und du hast keine Ahnung, wie groß Callons Aktienpaket zurzeit ist?«

Elmer schüttelte den Kopf. »Tupman ist dabei, dies festzustellen.«

James nickte. »Ich glaube, ich weiß, wie ich Mr. Tupmans Scharfsinn beflügeln kann. Inzwischen kümmerst du dich um den Bau des Schiffes. Ich werde mich der finanziellen Seite annehmen.«

 

Die Ankertrosse der Pampero hing senkrecht. Das Geräusch stampfender Füße nahm zu, und der Ankerstock tauchte triefend aus dem Wasser auf. Die Ankerschaufeln berührten die Wasseroberfläche, und der Schiffsbug drehte in Richtung auf die fünfstöckigen Lagerhäuser und die dorischen Eisensäulen des Albert-Docks zu. Der Schlepper tutete heiser, das Tempo der Schaufelräder beschleunigte sich, und das Schlepptau spannte sich plötzlich, worauf vielfarbige Regenbögen tanzend über dem Abgrund zwischen Dampf und Segel aufschimmerten. Der Gesang der Matrosen schwoll zu triumphierender Lautstärke an:

 

Los, Kumpels, los, zugleich – zugleich!

Die Mädchen von Liverpool warten auf euch!

 

Und der Anker kam frei und pendelte träge am Schiffsrumpf.

Elmer wandte sich um, als Anne auf ihn zukam. Ihre Krinoline bauschte sich unter dem Druck der von Land her wehenden Brise. Sie hielt einen schwarzen Wollschal um die mageren Schultern gezogen und lächelte ihm zu. Elmer ergriff die dargebotene Hand, die durch die Sonne des Mittelmeers und den beißenden Wind der Seefahrt ein verpöntes Braun angenommen hatte.

»Du siehst aus wie die leibhaftige Gesundheit, Anne«, sagte er mit warmer Stimme und fragte sich im Stillen, warum die sonst so vernünftige Frau um alles in der Welt so töricht gewesen sein sollte, Gesicht und Hände den schädlichen Einwirkungen des Sonnenlichts auszusetzen, was dem weiblichen Teint bekanntermaßen nur abträglich sein konnte. Bei jeder gesellschaftlichen Veranstaltung würde sie wie eine Zigeunerin aussehen. Er seufzte, denn er wusste, dass ihr die Meinung anderer Menschen gleichgültig war, und ging zu einem anderen Thema über.

»Ihr hättet in keinem günstigeren Augenblick zurückkommen können.« Er hüstelte. »Für die Hochzeit, wisst ihr.«

Beide starrten ihn verständnislos an.

Elmer betupfte sich den Schnurrbart und genoss den Augenblick. »Fogarty und Emma Callon. Der Kerl ist ein Mitgiftjäger, versteht sich. Habe immer gewusst, dass er ein prinzipienloser Glücksritter ist. Hat sich in Callons Vertrauen eingeschlichen und die Tochter geschnappt.«

Anne glaubte Elmers Bitterkeit zu verstehen. »Ich bin sicher, dass du Mr. Fogartys Charakter falsch siehst; er hat als ein junger, hochanständiger Mann stets einen großen Eindruck auf mich gemacht.«

Elmer rümpfte in wohlerzogener Manier die Nase, um seine Missbilligung auszudrücken, und trommelte mit den Fingern auf dem Zylinder herum, womit er Daniel Fogarty in die zweifelhafte Kategorie der Emporkömmlinge verwies.

»Der Mann kommt aus keiner Familie«, erklärte er kalt.

Eine Wolkenarmada ballte sich wie eine Masse von Galionen zusammen, um den Fluss mit kurz aufzuckenden Blitzen von Sonnenlicht zu überziehen. Der Schlepper pflügte eine Zwillingsfurche weißen Kielwassers durch den Fluss, und das Gestampfe und Gedröhne seiner Maschinen beleidigte das Ohr. Der ranzige Gestank nach heißem Schmierfett und Öl drang ihnen in die Nase und verdrängte den vertrauten Geruch nach Teer und Hanf. Beißender, schwarzer Qualm trieb über das Deck der Pampero und veranlasste die drei, unten Schutz zu suchen.

Baines, der auf dem Achterdeck geblieben war, betrachtete seine Welt mit einer Art von Besitzerstolz.

Auf dem Fluss herrschte ein geschäftiges Treiben. Eine Reihe von Frachtern mit Holz aus Kanada und dem Ostseeraum wartete auf Liegeplätze an der neuen Kanadapier. Weiter nach Süden waren Männer emsig bei der Arbeit, um das Becken des längst überfälligen Herkulaneumdocks herzurichten. Baines zählte einundzwanzig Docks, die alle mit Schiffen voll belegt waren: Ostindienfahrer löschten ihre Fracht im Albertdock; Georgeʼs war voll von Schonern mit Obst; Briggs und Barken von Reedereien aus dem Kontinent lagen Seite an Seite in Kingʼs und Queenʼs; Qualmwolken quollen aus hohen Schornsteinen von Dampfschiffen mit rauchgeschwärzten Segeln hervor, und Sirenen ertönten, um Clipper mit Wolle aus Australien, die stromauf fuhren, zu warnen; am anderen Ufer, auf der Seite von Birkenhead, war das Great Float für die Schifffahrt geöffnet, und ein Wald von Masten, Spieren und Segeln ragte über grüne Felder und Gruppen von Häusern hinaus. Der Lärm von Lairdʼs Eisengießerei wetteiferte mit dem Gehämmer der Werftarbeiter und forderte die mit den Schätzen ferner Länder beladenen Segelschiffe heraus.

Fährschiffe fuhren hin und her, und an der Pier verkündeten laute Sirenen töne die baldige Abfahrt der Dampfschiffe, die den Linienverkehr mit der Insel Man aufrechterhielten. Passagiere drängten sich winkend an der Reling, während die Schaufelräder das lehmige Wasser des Mersey zu weißem Schaum aufwühlten und die beiden Schiffe langsam in die Mitte des Stromes hinausglitten.

Baines beobachtete mit Interesse, wie die wuchtige, mit Eisenplatten gedeckte Monaʼs Queen allmählich an ihrer Rivalin, der kleinen Manx Fairy, vorbeizog. Das kleinere Schiff hatte elegantere Linien. Ein hübsches, blau und golden bemaltes Spielzeug mit dem Wappen der Insel Man auf den Radkästen. Sie machte erstaunlich viel Fahrt, allerdings gekoppelt mit einem gewaltigen Appetit auf Kohlen. Während die weißen Schaufelräder durch das Wasser peitschten, stieß das winzige Fahrzeug tief in die Wellenkeile hinein, die von dem Clipperbug des größeren Schiffes zur Seite geschleudert wurden.

Er schüttelte über so viel Torheit den Kopf. Der Geschwindigkeitsrausch trieb die Schiffe auf allen Weltmeeren zu immer neuen Rekordversuchen an. Segelschiffe setzten so viel Zeug, bis der Sturm sie unter Wasser drückte; Dampfer beanspruchten ihre Kessel bis zum Bersten, nur um ihre Überlegenheit gegenüber den Segelschiffen zu beweisen. Die Männer auf den Seglern warfen mit höhnischem Gelächter Schlepptaue über Bord und riefen den stampfenden Dampfbooten hämisch zu: »Euer Kessel kocht wohl nicht mehr!« oder »Schiebt lieber noch ein Holzscheit ins Feuer!« Aber seit einiger Zeit schien ihnen das Lachen vergangen zu sein; Hassgefühle stauten sich unter der Oberfläche an. In den Häfen kam es gelegentlich zu Schlägereien zwischen den beiden Parteien. Die Welt veränderte sich, aber nicht zum Besseren, fand Baines.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel: Vertrauliche Ermittlung

 

 

Es war der letzte Tag der Seereise, und die Seemannsfrauen hatten sich im Sonntagsstaat, mit schwarzen Schals, hochgeschnürten Stiefeln und den traditionellen weißen Strümpfen – wie es sich für die Damenwelt geziemte – eingefunden und bei Roberts Laden versammelt. Hier zirpten sie und stritten sich wie eine Schar vielfarbiger Stare, während die Männer von der Pier des Onedin Line Shipping Office bis hinunter auf die Straße eine lange Schlange bildeten.

James saß hinter dem Schreibtisch. Vor ihm lag die Heuerliste. Einer nach dem anderen trat vor, um mit seinem Namen zu unterschreiben – oder, was häufiger vorkam, ein Kreuzchen zu machen –, worauf James mit lauter Stimme die jeweilige Lohnsumme bekanntgab. Es war eine kurze Reise von nur achtundneunzig Tagen gewesen, von denen sie den größten Teil mit Lösch- und Ladearbeiten in verschiedenen Häfen zugebracht hatten. Bei 2 Pfund 10 Shilling im Monat, einer Monatsheuer im Voraus an den Vermittler und einer Monatsheuer an die Ehefrau blieb für drei Monate harter Arbeit nicht mehr viel übrig.

»Der nächste«, sagte James, und Kees, der Holländer, trat vor. Er grüßte verlegen, setzte einen unleserlichen Namenszug mit langem Schnörkel auf die Liste und streckte seine mit dichtem Haarpelz bewachsene Pranke aus. Jamesʼ Angestellter, Mr. Tupman, zählte mit großer Sorgfalt den Betrag von 5 Pfund, 3 Shilling und 4 Pence aus; hiervon waren bereits fünf Shilling als Strafe für Trunkenheit und ungebührliches Betragen sowie weitere fünf Shilling für den fahrlässigen Verlust eines Eicheneimers abgezogen. Kees hielt diese Geldbußen offenbar für angemessen, denn er grinste breit, nahm seinen Heuerschein entgegen, steckte das Geld in die Tasche, entbot James ein fröhliches Dank schön, Captain und bahnte sich den Weg hinaus, um Fiddlerʼs Green aufzusuchen, das Paradies der Seeleute, Werber, Strichjungen und Huren. Kees würde sicherlich eines Tages an Bord irgendeines Rahseglers aufwachen, der die Route um das Kap Hoorn befuhr. James warf einen Blick auf die Heuerliste: Der Holländer hatte keinen Empfangsberechtigten für seine Heuer und keine Adresse nächster Familienangehöriger angegeben; offenbar gehörte er zu den ruhelosen Nomaden, die wie Strandgut über die Meere trieben, bis ihre Gebeine irgendwann einmal am anderen Ende der Welt ans Ufer gespült wurden.

James ließ den Blick über das Büro schweifen. Geschwärzte Eichenbalken stützten das Dach und ließen die schuppige Unterseite der Schieferplatten erkennen, die im Wind leise klapperten. Winzige Staubteilchen tanzten wirbelnd in dem aus dem Oberlicht schräg hereinfallenden Sonnenlicht. Brütend heiß im Sommer und eiskalt im Winter, hatte der Raum wenig zu bieten, außer dass er bequem gelegen und billig war.

Tupmans Feder kratzte emsig dahin. Der letzte Seemann hatte seine Heuer abgeholt. Die Sonnenstrahlen flackerten wie ein Seidenbanner; von draußen drang das Rumpeln von Wagenrädern herein; eine Stimme lachte laut auf, und eine Amsel, die unter der Dachrinne zufrieden vor sich hin gesungen hatte, flog plötzlich unter schrillem Gekreische davon.

James gähnte; er streckte sich und wartete geduldig, bis Tupman die Abrechnung beendet hatte. Er sah zu, wie die Feder des Buchhalters, ohne auch nur einen Augenblick innezuhalten, die langen Zahlenreihen hinauffuhr. Winzige Schweißperlen erschienen auf dem wächsernen Gesicht des Mannes, während sich die dünnen Lippen beim Addieren und Subtrahieren in stummem Gleichmaß bewegten. Dann übertrug er die Summen, zog mit dem Lineal einen sauberen Schlussstrich und reichte James das Kontobuch hinüber. James nickte und klappte das Buch zu.

»Wieviel verdienen Sie jetzt, Mr. Tupman?«

Es war eine rhetorische Frage, denn beide kannten die Antwort. Tupman befeuchtete sich die Lippen und betete im Stillen, dass Mr. James nicht etwa eine Lohnkürzung im Sinne habe. Da die Kartoffeln einen Penny das Pfund, das Fleisch beim Metzger neun Pence und ein vierpfündiges Brot zehn Pence kosteten, wusste er nicht, wie er mit weniger als seinem augenblicklichen Gehalt würde auskommen können.

»Zwölf Shilling, Sir«, antwortete er und spürte, wie ihm erneut der Schweiß ausbrach.

James schaufelte sich die restlichen Münzen in die Hand und klimperte nachdenklich mit ihnen herum. Gold und Silber blinkten in dem gedämpften Licht.

»Sagen wir fünfzehn Shilling, Mr. Tupman«, erklärte er unvermittelt. »Ab Montag.«

Tupman traute seinen Ohren nicht und begann überschwängliche Dankesworte zu stammeln. James schnitt ihm mit einer Handbewegung den Redeschwall ab.

»Der Arbeiter«, sagte er dozierend, »hat Anspruch auf angemessene Entlohnung«, und dachte sich im Stillen, dass sein Buchhalter als Angehöriger einer im allgemeinen schmählich ausgenutzten Berufsgruppe eigentlich erheblich unterbezahlt sei. »Sagen Sie mal«, fügte er hinzu, um das Eisen zu schmieden, solange es heiß war, »könnten Sie eventuell einen kleinen Auftrag für mich erledigen?«

Tupman nickte eifrigst. Er werde jede Arbeit, auch die niedrigste, ausführen; Mr. James brauche nur zu befehlen.

Dieses tat Mr. James. »Eine vertrauliche Ermittlung«, sagte er. »Ich möchte – ganz diskret – in Erfahrung bringen, wie hoch sich die Anteile Mr. Callons an meiner Gesellschaft belaufen, und außerdem möchte ich die Namen seiner Beauftragten wissen. Glauben Sie, Sie könnten dies feststellen?«

Tupman dachte nach. Im Geiste ging er alle seine Bekannten durch und kam, wenn auch zögernd, zu dem Schluss, dass nur ein einziger Mann in Frage käme.

»Drummond«, sagte er. »Ich glaube, er könnte für...« Er zögerte etwas verlegen. »Eine kleine Nachhilfe empfänglich sein.«

»Bestechung«, sagte James und zählte zehn halbe Sovereigns auf die Tischplatte. Er schob die Münzen zu Tupman hinüber. »Ködern Sie ihn. Immer nur Stück für Stück, Mr. Tupman. Der Appetit kommt beim Essen.«

»Ich verstehe, Sir.«

Tupman legte das Geld sorgfältig in seine Börse, ließ sie zuschnappen und schob sie in sicherer Entfernung von seiner eigenen Geldtasche in die Hose. Drummond! Er konnte sich an den Gauner nur allzu lebhaft erinnern. Das Fuchsgesicht mit der rattenhaften Schläue. Liebedienerisch gegenüber seinen Arbeitgebern und prahlerisch vor denen, die er für unter seinem Niveau hielt; Callons Kreatur, die ihn einmal in Versuchung geführt und auf heimtückische Art betrunken gemacht hatte. Ja, Drummond war hierfür der richtige Mann, durchaus der richtige Mann.

Drummond, den Kopf tief über seine Schreibarbeit gebeugt, riskierte einen verstohlenen Blick in Richtung auf Mr. Agnew, als dieser ausgetrocknete Tyrann zur letzten Phase des üblichen Abendrituals überging. Zunächst schloss er das Firmenregister, anschließend das Hauptbuch, das Personalbuch, das Privatbuch und schließlich das Kassabuch. Diese wurden dann zur rechten Hand des Bürovorstehers zu einem Haufen gestapelt, während die minderen Angestellten – wenn sie wussten, was ihnen geziemte – die Köpfe in stummer Verehrung gesenkt hielten. Gnade Gott dem Schreiberling, der so unbesonnen sein sollte, während dieser letzten Minuten aufzuatmen. Dieser unglückliche Tropf würde dann nicht nur mit beißender Ironie gefragt werden, ob er seine bisherigen Leistungen für befriedigend hielte, sondern er würde außerdem aufgefordert werden, noch eine halbe Stunde sitzen zu bleiben, damit er die Richtigkeit des Sprichworts voll zu würdigen wisse, dass die Zeit, wenn sie erst einmal vergangen ist, nicht mehr zurückgedreht werden könne. Drummond hatte in der Vergangenheit schon zu oft nachsitzen müssen, um diese Schande noch einmal zu riskieren; deshalb widmete er sich mit noch größerem Eifer dem Kopieren von Frachtrechnungen.

Von seinem erhöhten Platz aus überblickte Agnew sein kleines Reich. Die Stille wurde nur durch das Kratzen der Federkiele und die leisen Atemzüge der Angestellten unterbrochen. Er löste seine schwere, silberne Taschenuhr von der Kette, klappte den Sprungdeckel auf und legte die Uhr neben sich auf den Tisch.

Drummond war überzeugt, dass der Schweinekerl dies absichtlich tat, weil Agnew wusste, dass das laute Ticken der Uhr ihn und seine Kollegen früher oder später um den Verstand bringen würde. Drummond übertrug die Zahlenangaben in gestochener Handschrift von einem Blatt auf das andere und spitzte die Ohren. Agnew ließ mit dem nächsten Schritt nicht lange auf sich warten: der Stuhl knarrte, als sich der Bürovorsteher erhob, um die letzte Runde einzuleiten. Mit hängenden Schultern, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, schritt er langsam die Reihe der Schreiber entlang und blieb gelegentlich stehen, um Schönschrift und Lesbarkeit zu prüfen; wie immer räusperte er sich unwirsch über die nach links geneigte Handschrift des Rettichkopfes, Mr. Arnold, bevor er Drummond seinen übelriechenden Atem ins Genick blies. Keine Inspektion verlief ohne irgendeine abfällige Bemerkung, und der heutige Tag bildete davon keine Ausnahme.

»Ihre Handschrift ist grauenhaft, Drummond, grauenhaft«, sagte die verhasste Stimme.

Drummond stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als der sauertöpfische alte Habicht zu seinem Horst zurückkehrte. Eines Tages, das nahm er sich fest vor, eines Tages würde er es dem schlurfenden alten Ziegenbart tausendfach heimzahlen.

Der schlurfende alte Ziegenbart warf einen letzten Basiliskenblick auf die vor ihm sitzenden Schreiber, stellte an dem Übereinanderstehen der beiden Uhrzeiger fest, dass es genau sechs Uhr war, warf die Lippen auf und verkündete wie jeden Abend:

»Schön, meine Herren, Sie können Ihre Arbeit jetzt abschließen.«

Drummond hütete sich, allzu große Eile zu zeigen. Er fügte noch einen verbotenen Schnörkel an ein G, durchstrich ein T und setzte den letzten Punkt auf ein I; dann schärfte er die Federkiele für den nächsten Morgen und wischte die Eisenfedern an einer Filzunterlage ab. Erst dann spießte er die Originalrechnungen auf den Dorn und schob die Kopien unter einen bleiernen Briefbeschwerer. Seine Kollegen schoben geräuschvoll ihre Hocker zurück. Dann ging er mit den übrigen hinaus und stimmte in den allgemeinen Chor Guten Abend, Mr. Agnew mit ein, während er sich insgeheim wünschte, der alte Geizhals möge sich zum Teufel scheren. Dann war er frei und lief die Treppe hinunter – vier Pence in der Tasche und durstig wie nie zuvor.

Callons Kontor lag mit der Frontseite zur Goree. Gegenüber befand sich das St.- Georgeʼs-Dock, wo lebhaftes Treiben herrschte. Zahlreiche Pferdekarren standen mit leeren Deichseln unter den Aufzügen der Lagerhäuser, während Stallknechte die schweren Zugpferde zu den Wassertrögen führten. Die Büros der Schiffsmakler drängten sich auf Tuchfühlung mit Auswandereragenturen und Geschäften für Schiffsproviant. Wein- und Schnapsspelunken lehnten sich baufällig an Kneipen und Bierhäuser an. Die eisenbeschlagenen Räder von Kutschen aller Art holperten über das Kopfsteinpflaster, während schwer atmende Pferde alle Mühe hatten, Wagenladungen von Getreide zu den wartenden Mühlen zu schleppen. Straßenhändler priesen mit heiserer Stimme ihre Ware an, und Laufjungen schlängelten sich durch Gruppen braungebrannter Seeleute und grell herausgeputzter Prostituierter. Würdevolle Geschäftsleute mit Zylinder und hochgeknöpften Gehröcken taten so, als ginge sie das ganze Gedränge nichts an.

Drummond trat aus der stickigen Enge des Kontors ins Freie. Er genoss die Strahlen der untergehenden Sonne und die frische Brise, die vom Fluss herüberwehte. Er spielte mit den vier Pennymünzen in der Tasche und beschloss, eine davon für eine heiße Pastete auszugeben. Dann würde ihm noch genug für Bier und Gin übrigbleiben. Mit etwas Glück würde er vielleicht einen Saufkumpan finden, der ihn zu einer weiteren Runde einlud.

Der Verkaufsstand befand sich in einer langen Reihe von Behelfsbuden, die aus Holzverschlägen, Teerpappe und altem Segeltuch errichtet worden waren. Kaffee-, Kakao- und Fruchtsaftbuden drängten sich neben Verkäufern von Erbsensuppen und Schweinefüßen, während Verkaufsstände mit Nierenpasteten und heißen grünen Erbsen in Konkurrenz mit Verkäufern von heißen Pellkartoffeln und Schweinefleischpasteten um Kundschaft warben. Alle machten ein glänzendes Geschäft. Der Bäckerjunge schwang seine Glocke und übertönte den Mann in der Fischbraterei, der mit monotonem Singsang seine Ware anpries: »Gebratener Fisch, das Stück ein Penny. Gebratener Fisch, das Stück ein Penny!«

Drummond entschied sich für einen Stand, wo Pasteten aus Hammelfleisch und Kartoffeln feilgeboten wurden. Er bahnte sich den Weg bis zum Verkaufstisch und war gerade im Begriff zu bestellen, als hinter ihm eine bekannte Stimme sagte: »Einen Augenblick, Drummond, alter Freund. Lassen Sie mich das erledigen.«

Er wandte ungläubig den Kopf und sah Tupman, das Bleichgesicht, der ihn süßlich anlächelte. Drummond verzog das Gesicht zu einer Grimasse, aber eingedenk des Grundsatzes, dass man einem geschenkten Gaul – so unvollkommen dieser auch sein mochte – nie ins Maul sehen solle, nahm er die Einladung mit der Herablassung eines Menschen, der an solche kleinen Gunstbezeigungen gewöhnt war, gnädig an.

»Hallo, Tupman. Nett von Ihnen. Wirklich sehr nett«, antwortete er und steckte seinen Penny rasch wieder in die Tasche.

Tupman ging voraus, und sie trugen ihre Pasteten in den nahe gelegenen Cocoa Room, ein kahles, ungemütlich aussehendes Speisehaus, das innen braun gestrichen war und Tische mit Marmorplatten hatte. Der aus großen Kupferkesseln aufsteigende Dampf schlug sich an den Fenstern nieder, so dass man die Passanten draußen nur wie durch einen Nebelschleier wahrnahm. Plakate der Gesellschaft zur Bekämpfung des Alkoholismus klebten an den Wänden, ermahnten alle zum Kampf gegen den Teufel des Trinkens und empfahlen die nahrhaften Wohltatendes Kakaos. Ein paar Handwerker und heruntergekommene Angestellte in zerschlissenen Anzügen saßen an einigen der Tische. Drummond konnte sich eine trübsinnigere Atmosphäre nicht vorstellen. Aber eine geschenkte Pastete nebst einer Tasse Kakao würde jetzt seinen Magen beruhigen, und mit dem gesparten Penny konnte er sich jetzt den Luxus von zwei Gläsern Gin zu je zwei Pence leisten. Er fragte sich im Stillen, ob Tupman, der sich offenbar gut bei Kasse befand, zu einem kleinen Pump überredet werden könnte. Sixpence oder vielleicht ein Shilling? Ein Shilling, beschloss er, als Tupman mit zwei großen, dampfenden Kakaobechern von der Theke zurückkam, mindestens ein Shilling. Er biss in seine Pastete und wischte sich ein paar Tropfen Bratensoße ab, die ihm am Kinn herunterliefen.

»Hervorragende Pastete«, verkündete er mit Kennermiene, »hervorragend. Tut mir leid, dass ich die Einladung nicht erwidern kann, alter Junge, aber« – er lachte kurz auf – »Tatsache ist, dass ich im Augenblick schwach bei Kasse bin. Natürlich nur bis zum Ende der Woche.«

Er brach ab, und seine Augen weiteten sich, als Tupman ein funkelnagelneues Goldstück aus der Tasche zog und den Halfsovereign lässig auf die Tischplatte fallen ließ.

»Irgendetwas von Blenkinsop gehört?«, fragte Tupman beiläufig.

Drummond sah seinen Kollegen misstrauisch an, aber dessen Gesicht verriet nichts Besonderes.

»Sie denken doch nicht etwa«, meinte er hastig, »dass ich mit der damaligen Geschichte etwas zu tun gehabt habe?«

Tupman kaute schmatzend an seiner Pastete.

»Was für eine Geschichte meinen Sie denn, alter Junge?«, fragte er mit Unschuldsmiene.

Drummond wand sich verlegen; er wusste immer noch nicht, wie es diesem Narren gelungen war, sich aus dem Staube zu machen. Blenkinsop befand sich an Bord eines amerikanischen Seglers auf dem Weg nach Valparaiso, und Tupman, dieser Einfaltspinsel, sollte eigentlich mit von der Partie sein. Mein Gott, Callon war wirklich außer sich gewesen, und Agnew hatte ihm die Hölle heiß gemacht, als Tupman unerwartet wieder auf der Bildfläche erschien. Er hatte schon mit seiner fristlosen Entlassung gerechnet, aber der Sturm hatte sich wieder gelegt; und jetzt saß der Kerl hier neben ihm und lud ihn zu Kakao und Pasteten ein, als ob das verflixte Ding nie gedreht worden wäre.

Er sah zu, wie Tupman scheinbar unabsichtlich mit dem Goldstück spielte.

»Hm – wissen Sie«, sagte er, wie um sich zu entschuldigen. »Das letzte Mal, als wir uns trafen, da haben wir im Lazarette einen zusammen gehoben – wissen Sie noch?«

»Zur Feier von Blenkinsops Verlobung, wenn ich mich recht erinnere«, erwiderte Tupman todernst und setzte hinzu: »Ich könnte mir vorstellen, dass die junge Dame ganz untröstlich ist.«

»Ach, hören Sie doch damit auf. Ja, natürlich«, murmelte Drummond schnell und nahm einen langen Schluck dicken, süßen Kakaos.

Großer Gott, dachte er, der Narr glaubt offenbar noch immer an diese Geschichte. 

»Ich kann Ihnen leider nichts Stärkeres als diesen Kakao anbieten«, sagte Tupman. »Ich trinke nämlich keinen Alkohol mehr, müssen Sie wissen.«

»Aha«, sagte Drummond und verfluchte sein Pech. »Sehr weise, alter Junge. Wirklich sehr weise. Ich wünschte, auch ich käme von dem Zeug los.« Er betrachtete das Goldstück mit unverhohlenem Interesse. »Kein Wunder, dass die Gastwirte dick und fett werden.«

Tupman lächelte, legte die Goldmünze auf die Tischplatte und zog noch eine aus der Tasche. Diese legte er neben die erste – zwei goldene Zwillinge.

»Mr. Onedin ist ein großzügiger Chef. Wirklich großzügig.« Er sah die Begehrlichkeit in den Rattenaugen seines Gegenübers. »Gute Arbeit wird von ihm auch gut entlohnt. Dies hier ist nur eine kleine Anzahlung.«

»Oh?« Drummond leckte sich die Lippen.

»Ein ganz einfacher Auftrag für Leute unseres Schlages, Mr. Drummond.« Tupman legte bedeutsam einen Finger an die Nase. »Denn wer weiß mehr über die Geschäftsangelegenheiten eines Mannes als der Angestellte, finden Sie nicht auch? Ich könnte mir gut vorstellen, dass auch Sie eine Menge erzählen könnten, wenn Sie wollten.«

»Ein wahres Wort, Mr. Tupman, ein wahres Wort. Die Vorgesetzten sehen in uns nichts als Schreiberlinge; sie glauben, wir hätten keine Seelen, außer an Sonntagen, und keine Herzen und kein Gefühl, als wären wir aus Holz. Es gibt nichts als Schreiben, Schreiben, Schreiben, den lieben langen Tag, mit billigen Federn und ausgedienten Federkielen, und mit einer Tinte, die klumpt und dicke Flecken macht; aber trotz alledem halte ich die Ohren offen und rede mit niemandem darüber. Ich kann Ihnen sagen, Mr. Tupman, dass mir auch nicht die geringste Kleinigkeit in dem Kontor entgeht.«

»Wie ich weiß, haben Sie immer ein scharfes Auge und einen scharfen Verstand besessen, Mr. Drummond.« Tupman beugte sich vor und senkte die Stimme zu einem vertraulichen Flüstern. »Da ist eine Sache, mein Lieber, die ich Ihnen gerne anvertrauen möchte.« Das Goldstück klapperte auf der Tischplatte wie ein goldenes Versprechen.

»Wenn ich Ihnen irgendeinen Gefallen tun kann, Mr. Tupman, brauchen Sie es nur zu sagen.« Drummond schloss verständnisinnig ein Auge und lutschte, um seinen Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen, an einem Stück Fleisch, das sich zwischen den Zähnen festgesetzt hatte.

»Es ist uns aufgefallen«, sagte Tupman im Tonfall eines Mannes,

der das volle Vertrauen seines Arbeitgebers genießt, »dass Mr. Callon seit einiger Zeit Anteile an der Onedin-Linie aufkauft. Wir wären Ihnen für jede Information dankbar, die Sie in dieser Hinsicht in Ausübung Ihres Dienstes beschaffen könnten. Es kommt uns dabei vor allem darauf an, die Namen und Adressen seiner Strohmänner zu erfahren.« Der Halfsovereign rutschte verführerisch ein paar Zentimeter vorwärts.

Drummond holte tief Luft. »Schwierig, Mr. Tupman. Sehr schwierig. Derartige Informationen laufen nicht durch das Kontor, wie Sie selbst wissen.«

Tupman zuckte mit den Achseln, trank seinen Kakao aus und wischte sich abschließend die Lippen ab.

»Die gewünschten Angaben sind entweder im Privatregister oder im persönlichen Tagebuch enthalten. Wenn Sie jedoch den Auftrag für zu belastend halten sollten, so zögern Sie bitte nicht, mir dies zu sagen; ich brauche dann nur die Unbequemlichkeit auf mich zu nehmen, unser eigenes Aktienregister durchzusehen.« Weniger unbequem, dachte er bei sich, als vielmehr so gut wie unmöglich.

Drummond kaute an einer Schnurrbartsträhne, die unter seiner langen Nase hing. Er rieb sich die Hände voller Verzweiflung, da er die in Aussicht gestellte Belohnung dahinschwinden sah. Als aber Tupman daranging, die Goldstücke wieder einzustecken, hatte er plötzlich einen Einfall. Das Tagebuch lag in Callons Privatbüro. Er brauchte also nur einen Vorwand zu suchen, um noch eine Weile dazubleiben, wenn Agnew gegangen war. Er streckte beschwörend die Hand aus.

»Ich werde es schaffen, Mr. Tupman«, erklärte er mit fester Stimme. »Und ich kann mich doch darauf verlassen, dass Sie diese kleine Dienstleistung Mr. Onedin zur Kenntnis bringen werden?«

Das Goldstück rutschte über den Tisch. Drummond nahm es in die flache Hand und ließ es blitzschnell in der Westentasche verschwinden. Er schien die Ironie in Tupmans Tonfall gar nicht zu bemerken.

»Ich kann Ihnen versichern, Mr. Drummond«, erklärte Tupman in tiefem Ernst, »dass Mr. Onedin als erster von Ihrer loyalen Haltung erfahren wird, und ich hege keinen Zweifel, dass Sie entsprechend belohnt werden.« Er öffnete seine Geldbörse und ließ das zweite Goldstück hineingleiten, doch entging es Drummond nicht, dass sich noch mehrere leuchtende Goldstücke darin befanden.

Tupman schloss die Geldbörse, steckte sie in die Tasche, entbot Drummond herablassend einen »Guten Abend« und verabschiedete sich in dem beruhigenden Bewusstsein, dass Mr. James in Kürze die erwünschten Informationen erhalten werde.

 

 

 

 

  Drittes Kapitel: Zukunftsträume

 

 

Ein ohrenbetäubender Lärm hallte wie das Geschrei der Verdammten aus einer Hölle von Hitze und Qualm wider. Tief unterhalb einer Galerie spuckten grinsende rote Mäuler Feuer und Flammen und beleckten den Boden mit weißglühenden Zungen. Halbnackte, schwarzgesichtige Dämonen schleppten große Schöpfer mit Feuer unter Kaskaden glühenden Goldes herum. Andere mühten sich ab, den brüllenden Hunger einer Reihe rundbäuchiger Idole zu füttern. Eisen schlug gegen Eisen. Ein Ungeheuer mit hammerförmiger Nase spie Dampf aus und erschütterte die Erde mit gewaltigen Schlägen. Ein Funkenregen stieg aus dem versengenden Atem einer riesenhaften Schmiede auf.

Heiße Schwefeldämpfe schlugen ihnen ins Gesicht und brannten ihnen in den Augen. Anne fand, dass die Hölle selbst nicht schlimmer sein könne, und wandte den Kopf, um ihre Begleiter zu beobachten. Elmer, auf dessen Gesicht sich das rötliche Glühen der Hochöfen widerspiegelte, wirkte noch mephistophelischer denn je. Er neigte sich vor und beobachtete mit höchster Konzentration jede einzelne Bewegung. James stand nachdenklich neben ihm; sein Gesicht verriet keinerlei innere Bewegung. Isabel fächelte sich Luft zu. Ihr Mund öffnete und schloss sich wie der eines gestrandeten Fisches, und sie wandte die Augen, wie hilfesuchend, Anne zu.

Sie waren eingeladen worden, der Zeremonie beim Ausgießen des Kiels beizuwohnen, doch konnte sich Anne kaum etwas weniger Feierliches vorstellen, obwohl sie wusste, dass Elmer zwei Fässer Bier für die gnomenhaften Gestalten da unten gestiftet hatte; sie selbst sollten anschließend ein Glas eisgekühlten Champagners mit dem Gießereimeister trinken, einem Mann mit ledrigen Gesichtszügen und einer donnernden Stimme, die soeben die letzten Anweisungen für die Belegschaft gab.

Elmer fasste James an der Schulter und wies nach unten. Reden war in dem entsetzlichen Lärm einfach nicht möglich.

Der Abstich eines Hochofens fand gerade statt, und während sie zusahen, sprangen Arbeiter, die mit langen Eisenstangen am Werk gewesen waren, eiligst zurück, als am Boden des Ofens ein Lichtschein von gleißender Helle erschien. Dann schoss brüllend eine Masse geschmolzenen Metalls heraus und wurde in die wartende Form geleitet. Zuerst war die herausquellende Masse dick und weiß, dann traten dunkle Adern und Blasen auf, während Männer neben dem Strom einher liefen und auf die kirschrote Schlackendecke einhackten. Andere schwangen Hämmer, um die Masse

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Cyril Abraham/Apex-Verlag/Successor of Cyril Abraham.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Korrektorat: Mina Dörge.
Übersetzung: Karl-Otto und Friederike von Czernicki (OT: The Onedin Line, Book 3: The High Sea).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 27.09.2021
ISBN: 978-3-7487-9580-3

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /