CYRIL ABRAHAM
Die Onedin-Linie
Zweiter Band: Der Reeder
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DER REEDER
Erstes Kapitel: Das Gelobte Land
Zweites Kapitel: Geld stinkt nicht
Drittes Kapitel: Ein guter Handel
Viertes Kapitel: Die neue Crew
Fünftes Kapitel: Sklavenbefreiung
Sechstes Kapitel: Taufe
Siebtes Kapitel: Argwohn
Achtes Kapitel: Beförderung
Neuntes Kapitel: Die armen Verwandten
Zehntes Kapitel: Menschenhandel
Elftes Kapitel: Auswandererschiff
Zwölftes Kapitel: Mann über Bord
Dreizehntes Kapitel: Auf Biegen und Brechen
Vierzehntes Kapitel: Nur hunderttausend Pfund
Das Buch
Kapitän James Onedin, ein Mann mit eiserner Tatkraft, plant das Geschäft seines Lebens: Er gibt einen dampfgetriebenen Stahlriesen in Auftrag. Die übereilt geschlossene Ehe seiner Schwester Isabel mit dem wohlhabenden Werftbesitzer und Konstrukteur Elmer Frazer kommt ihm gerade recht. Onedin setzt alles auf eine Karte...
Cyril Abraham (* 22. September 1915; † 30. Juli 1979) war ein englischer Schriftsteller und Drehbuchautor. Die BBC-Serie Die Onedin-Linie - von der ARD in den Jahren 1971 bis 1980 ausgestrahlt - gilt als sein bekanntestes Werk. Weitere Berühmtheit erlangte er durch seine Mitwirkung als Autor an der legendären TV-Serie Mit Schirm, Charme und Melone.
Der Reeder spielt in der rauen Welt der Seefahrt: Spannend und lebendig verwoben mit der Familiensaga der Onedins erzählt Cyril Abraham von den letzten Tagen der ruhmreichen Frachtsegler, welche auf den Weltmeeren kreuzten, ehe das neue Zeitalter der dampfbetriebenen Stahlriesen begann.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers.
DER REEDER
Erstes Kapitel: Das Gelobte Land
Die Pampero glitt wie ein grauer Schatten durch den über dem Meer hängenden Frühnebel, während sich Anne, in einen warmen Wollmantel gehüllt, die Augen aus dem Kopfe starrte, um den ersten Anblick Amerikas nicht zu verpassen.
Sie hatten Lissabon vor achtunddreißig Tagen bei strahlendem Winterwetter verlassen, ein großer weißer Vogel, der seine Schwingen auszubreiten schien, und hatten die Klipperroute in südwestlicher Richtung genommen. Eine breite Wind-Wasserstraße, die sich in großem Bogen quer über den Atlantik zog und die Pampero in eine endlose Wasserwüste führte. Am tiefsten Punkte des Bogens schlug der Wind um und blies von jetzt an stetig aus Südost. Die Segel wurden gebrasst, das Schiff legte sich auf die andere Seite, und der Bug schnitt durch die tiefgrüne See, während sie Kurs auf das Karibische Meer und von dort nach Norden in Richtung auf den kalten Himmel und die schiefergraue See der amerikanischen Küste nahmen.
Anne fand, dass die Pampero wirklich das schönste Schiff sei, das sie je gesehen hatte.
Weiß gestrichen, mit der Galionsfigur einer dürftig bekleideten Jungfrau mit langen, wallenden Locken und einer trichterförmigen Muschel, die sie an die Lippen hielt, Zierplanken und Heck reich geschnitzt und teilweise vergoldet, war die Pampero zweihundert Fuß lang und fünfunddreißig Fuß breit, und ihr weithinausragender Bug war scharf wie ein Messer. Die Masten aus gelber Fichte ragten einhundertzwanzig Fuß über die Decks hinauf und trugen die Last von sechsunddreißig Segeln. Eine Riesenwolke schneeweißer Segelleinwand, die das Schiff zügig durch das Wasser trieb und ein langes, schäumendes Kielwasser hinter ihm zurückließ.
Unter dem Achterdeck lag der Speiseraum; er war die Eleganz par excellence aus prächtigem spanischem Mahagoni, mit Säulen, die mit Gold abgesetzt waren, und einer weiß-goldenen Decke. Ihre eigene Kajüte war ein Traum von verschwenderischem Luxus. Mit weißem Seidenholz getäfelt, einem türkischen Teppich auf dem Boden, Sessel und Sofa mit blauen Samtüberzügen, schweren, mit Plüsch eingefassten Fenstervorhängen und einem Esstisch aus poliertem Nussbaum und Einlegearbeiten aus Perlmutt, war er, fand Anne, ein Raum von unübertrefflicher Pracht, während die Einrichtung ihres Schlafzimmers einem türkischen Sultan alle Ehre gemacht hätte. Sie erinnerte sich, dass sie beim Eintreten das Gefühl gehabt hatte, die Tür zu Aladins Höhle aufzumachen, denn der frühere Besitzer der Pampero, der arme, ertrunkene Narr, Captain Thomas, hatte den Eingang mit Brettern vernagelt und Bibeltexte über den Türstock geschrieben, mit denen der Betrachter ermahnt wurde, dem göttlichen Zorn zu entfliehen und sich vor den Fallstricken des Teufels in acht zu nehmen.
Die Decke war mit japanischer Ledertapete und die Wände mit Seidenbrokat bezogen. An der Wand stand ein herrliches Himmelbett mit grüner Decke, deren Quasten bis auf den Parkettboden hinunterreichten, der wie Honig glänzte. Da war sogar ein mit Gold verzierter Kleiderschrank aus Ebenholz mit einem großen Kristallspiegel – ein beinahe männlich wirkendes Möbelstück, das missbilligend auf den weiblichen Flitterkram ihres Toilettentisches mit seinem gerafften Volant und den Musselinrüschen herabblickte, die den kleinen Toilettenspiegel mit seinen Schleifen und Putten umgaben.
Nach der engen Unterbringung auf der Charlotte Rhodes mit ihren schmalen Einzelkojen und niedrigen Deckenbalken, an denen man sich ständig den Kopf anstieß, schien Anne das Leben auf der Pampero wie ein Leben im Paradies zu sein.
Es gab nur ein einziges Problem. Die Zeit lastete schwer auf ihr. Während James und Mr. Baines nie auch nur einen Augenblick untätig zu sein schienen, kam sie sich wie eine wohlhabende Einsiedlerin mit einer für ihre Bedürfnisse zu großen Dienerschaft vor. Da war Jáo, ihr Steward, der kleine Portugiese mit den gummiartigen Gesichtszügen und hervorquellenden Augen, der ihre Kajüte blitzsauber und wie geleckt hielt, sie ständig bediente und ihr jeden Wunsch von den Augen ablas, bis sie vor lauter Langeweile hätte aufschreien mögen.
Einmal hatte sie es selbst übernommen, einen gründlichen Frühjahrsputz durchzuführen, und war gerade dabei, im Schlafzimmer das Unterste zuoberst zu kehren, als Jáo eingetreten und, nach einem entsetzten Blick, in Tränen ausgebrochen und zu James geeilt war, um diesen um Gerechtigkeit zu bitten. Was habe er denn für eine unverzeihliche Sünde begangen, hatte er den Himmel gefragt, dass er vor seinen Kameraden so gedemütigt werden müsse? Habe er sich nicht völlig aufgearbeitet? Und der Dame gut gedient? Wenn man mit seiner Arbeit nicht zufrieden sei, sei er bereit, sich an den Daumen aufhängen und sich das Fleisch von den Knochen reißen zu lassen.
Baines hatte übersetzt.
»Vielleicht sollten wir ihn beim Wort nehmen«, hatte er gebrummt. »Vielleicht sollten wir ihn das Tauende spüren lassen. Dann wird er ein anderes Lied singen, das garantiere ich.«
James hatte den Kopf geschüttelt. »Sagen Sie ihm«, hatte er mit ernster Stimme erklärt, »dass es sich Mrs. Onedin zur Gewohnheit macht, gelegentlich die Art und Weise zu überprüfen, wie ihr Dienstpersonal seine Pflichten ausführt. Sollte sie je Grund zur Klage haben, wird er sicher der erste sein, der davon erfährt.«
Baines hatte eine Sturzflut von unverständlichem Portugiesisch hören lassen, und Jáos Kopf war mit solcher Geschwindigkeit auf- und niedergegangen, dass er Gefahr zu laufen schien, sich von seiner Verankerung loszureißen. Dann hatte er sich tief verneigt und war mit Siegermiene unter Deck gegangen.
»Armer Mann«, hatte Anne mit einem Anflug von Lächeln gesagt. »So viel Diensteifer ist unglaublich. Er muss uns für Leute der oberen Zehntausend halten.«
»An Bord sind wir das auch«, hatte ihr James rundweg erklärt. »Und die Erklärung, die ich ihm gegeben habe, ist die einzige, die er begreift. Auf diese Weise wird er letzten Endes allen Anforderungen gerecht werden.«
Er hatte sich abgewandt und das Thema offensichtlich aus seinen Gedanken verbannt, aber sie hatte deutlich die versteckte Rüge empfunden und später Mr. Baines dazu befragt.
Sie löste ihr Versprechen ein, ihm das Abc beizubringen, und die tägliche Unterrichtsstunde war geradezu zu einem Ritual geworden. Baines war ein langsamer, aber verbissener Schüler und hatte sich von Die Katze saß auf der Matte bis zu der Stufe hinaufgeschwungen, wo er mit großer Mühe das Gift aus der verschlungenen Prosa der Liverpool Shipping Gazette, einer inzwischen drei Monate alten Nummer, saugen konnte. Baines war das kleine Einmaleins viel lieber gewesen, bis er plötzlich vor der unüberwindlichen Hürde des Elfmalelf stand. Sein Mund ging auf und zu wie bei einem großen Karpfen, der aus dem Wasser aufs Trockene geworfen worden war, und er hatte einen Seufzer der Erleichterung ausgestoßen, als Anne das Thema wechselte.
»Sehen Sie, Madam«, hatte er erläuternd gemeint, »er musste wahrscheinlich tief in die Tasche greifen, um diesen Job überhaupt zu erhalten.«
Sie hatte ihn verständnislos angeblickt. »Der Mann musste sich diesen Posten kaufen?«
»Ein armer Schlucker. Der Chef des Heuerbüros behält einen Teil seiner Heuer ein. Ein Pfund im Monat ist üblich, und zwar in Form einer Schuldverschreibung. Das ist allgemeiner Brauch, Madam, aber Sie sehen jetzt, dass der Mann Angst hat, seine Stellung zu verlieren.«
Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass solche Praktiken angewandt wurden, und hatte ihrer Meinung mit scharfen Worten Ausdruck verliehen. Wie war es denn möglich, dass der arme Teufel mehr als ein Drittel seiner Heuer an irgendeinen gemeinen, habgierigen Beutelschneider zahlen musste, nur um sich eine so untergeordnete Tätigkeit zu sichern? Eine derartige Ausbeutung menschlicher Einfalt könne nicht geduldet werden, und sie würde bei ihrer Rückkehr nach Lissabon dafür sorgen, dass der Schuft hinter Gitter käme.
Baines machte ein verlegenes Gesicht. »Die Sache ist die, Madam, Steward des Kapitäns ist ein vielbegehrter Job. Wegen der Nebeneinnahmen, wissen Sie?«
Sie wusste es nicht.
»Allerlei aus der Kombüse – er und der Smutje essen beide wie Passagiere. Und dann wird von ihm natürlich nicht verlangt, bei jedem Wetter in die Wanten zu klettern, außer wenn Gefahr im Verzuge ist. Und er hat die erste Wahl bei den abgelegten Sachen des Kapitäns, kümmert sich um die Kleiderkiste und kann am Ende der Reise mit einem dicken Trinkgeld rechnen. Keine Angst, Madam, er macht mehr Geld nebenbei als seine ganze Heuer.«
Sie hatte gar nicht gewusst, dass eine solche Käuflichkeit an Bord üblich war, und hatte sich bei James darüber beschwert.
Er hatte die Sache mit einem Achselzucken abgetan. Wie die meisten Kapitäne hasste und verabscheute er die Anwerber, betrachtete sie aber als ein notwendiges Übel. Sie kontrollierten die Dockanlagen in jedem größeren Hafen und verlangten, dass jedes Besatzungsmitglied durch ihre Absteigequartiere gehen müsse, wobei sie einen fetten Profit einstrichen. Sie stellten die Crews bereit und nahmen eine Monatsheuer im Voraus als ihr Honorar in Anspruch.
»Blutgeld«, meinte James.
Annes Empörung ging in Verblüffung über. Die Behörden konnten doch sicherlich solchen verbrecherischen Taktiken nicht tatenlos zusehen?
James hatte säuerlich gelächelt und sie aufgeklärt. Die Anwerber kontrollierten nicht nur die Docks mit Hilfe von Schlägerbanden, sondern besaßen außerdem – er zählte an den Fingern ab – Absteigequartiere, Tanzdielen, Bordelle und Gaststätten. Es war eine Stadt für sich, wo die Werber das Gesetz verkörperten, wo jeder, der nicht dazugehörte, sei er nun Polizist oder Pfarrer, sich bald nach gewaltsamer Entführung an Bord eines Yankee-Clippers wiederfinden würde. »Und Baltimore«, fügte James hinzu, »ist für solche Werber das reinste Paradies. Du wirst es schon sehen.«
So stand sie auf dem Achterdeck, und die Wintersonne stieg auf und verwandelte den Nebel in einen goldenen Schleier, durch den der monotone Singsang der Handloter wie der unheimliche Klang wesenloser Geister wirkte, die auf ewig dazu verdammt waren, aus den aufsteigenden Dunstschwaden ihren Ruf aus dem Jenseits ertönen zu lassen.
»Fa-aden – sieben. Fa-aden – acht. Fa-aden... Fa-aden...«
James trat neben sie. Er räusperte sich und zeigte nach steuerbord.
Dort verschwanden die Nebelschwaden plötzlich, als habe eine unsichtbare Hand einen dünnen Seidenvorhang beiseitegeschoben. Einen kurzen Augenblick schien die Luft so klar wie Kristall, und Schiffsmasten standen dort so dicht wie ein Zauberwald, der seiner Blätter beraubt und mit dem Netzwerk phantastischer Spinnweben behängt war.
»Baltimore«, sagte James.
Sie konnte die Kaianlagen und die hin- und hereilenden Gestalten erkennen. Ein Pferd zog mühsam einen schwerbeladenen Karren. Langgezogene, niedrige Holzschuppen mit Eisbärten und Schneeperücken, dann drei, an eine Hütte sich drängende dunkle Gestalten. Irgendetwas an ihnen erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie schienen kegelförmige Hüte zu tragen und sahen aus der Entfernung wie Gnome aus. Anne griff nach dem Schiffsteleskop.
Die drei Gestalten traten scharf ins Bild. Sie konnte jede Einzelheit erkennen und glaubte fast, sie mit der ausgestreckten Hand greifen zu können. Es waren Schwarze, jeder mit einem dünnen zerschlissenen Hemd und Baumwollhosen bekleidet. Die kegelförmigen Hüte erwiesen sich als einfache Säcke, die sie sich als Kapuzen über den Kopf gezogen hatten. Sie kauerten im Schneematsch und ließen die Köpfe in verzweifelter Resignation hängen – eine Haltung, die den unglücklichen Menschen auf der ganzen Welt gemein ist.
Während sie noch durch das Teleskop schaute und dabei das Gefühl hatte, als dränge sie sich in das Leiden anderer ein, erschien in ihrem Blickfeld ein großer Mann mit Biberpelz und Lammfellmütze. Er zog an seiner Zigarre, die er sich zwischen die Lippen geklemmt hatte. Er blieb stehen, warf die Zigarre weg und trieb das Trio mit ein paar gleichgültigen Fußtritten in die Höhe.
Sie konnte es fast nicht glauben, aber sie sah, dass die Schwarzen an den Händen gefesselt und mit einem langen, um den Hals geschlungenen Strick aneinandergebunden waren.
Baines wollte gerade nach vorn gehen. Sie hielt ihn am Arm fest.
»Mr. Baines. Maryland ist doch kein Sklavenstaat?«
Baines folgte ihrem Blick, nahm das Fernrohr und blickte mit einem Auge hindurch.
»Nein, Madam, das nicht«, sagte er. »Aber ich halte die Nigger für Ausreißer, die man erwischt hat. Sie versuchen oft, sich bis zu einem Hafen durchzuschlagen, um sich dann als blinde Passagiere auf ein auslaufendes Schiff zu schleichen oder sich anheuern zu lassen – eine echte Chance haben sie nie. Auf ihre Ergreifung ist immer eine hübsche Belohnung ausgesetzt. Der große Kerl dort in dem Pelzmantel ist wahrscheinlich ein Sklavenfänger.« Baines räusperte sich und spuckte über die Reling. »Prämienjäger, könnte man sagen. Bei etwa hundert Dollar pro Kopf kann der Sklavenfang zu einem durchaus einträglichen Geschäft werden. Für den, dem so etwas Spaß macht.« Er räusperte sich wieder und spuckte noch einmal über die Reling.
»Das ist ein Skandal«, sagte Anne.
»So ist es, Madam«, erwiderte Baines. »Entschuldigen Sie mich bitte jetzt, Madam.« Er eilte fort, um das Ankern zu beaufsichtigen.
Anne spähte noch einmal durch das Teleskop. Die Gruppe hatte eine Hausecke erreicht und war stehengeblieben, da sie anscheinend nicht wusste, welche Richtung sie einschlagen sollte. Einer der Neger, ein großer, muskulöser Mann mit langen Bartstoppeln im Gesicht, schien ihr geradewegs in die Augen zu blicken. Seine gebeugten Schultern und der hängende Kopf drückten ein verzweifeltes Verlangen aus. Sicher galt sein unverwandter Blick der trügerischen Freiheit, die ihm der ruhig dem Meer zufließende Strom zu versprechen schien. Aber in dem vergrößerten Ausschnitt des Teleskops schien sich seine Qual ihr, nur ihr, mitteilen zu wollen.
Der große Mann trieb sie wieder vorwärts, doch da drehte sich das Schiff, und das Klüversegel nahm ihr die Sicht.
Der Anker löste sich vom Davit und tauchte in die Umarmung der See, und während die Ankerkette durch das Klüsenrohr rasselte, rauschte das Stagsegel herab und gab Anne den Blick auf Baltimore frei.
Verstreut liegende Holzhäuser zogen sich von den Dockanlagen bis zu den Kirchtürmen und Plätzen und Parks der Monument City hin.
Dies war Amerika. Das Gelobte Land. Das Land der Freien und die Heimstatt der Tapferen. Die Pampero war am Ziel.
Zweites Kapitel: Geld stinkt nicht
In Roberts Laden drängte sich eine dichte Menge säuerlich riechender Menschen. Schottische und irische Auswanderer, die sich die ersparten Gold- und Silberstücke in das Futter ihrer Mäntel eingenäht hatten. Sie scharrten mit den Füßen und gaben dunkle Laute wie eine Rinderherde von sich, während ihre hoffnungsvollen Blicke über die Mehl- und Zwiebackbehälter hinwegglitten, die geöffnet vor ihnen aufgebaut worden waren. Geräucherte Schinken und Speckseiten hingen von den Deckenbalken herab, und Berge getrockneter Erbsen und Linsen türmten sich neben dicken Käserädern. Sarahs Hände flogen wie Windmühlenflügel hin und her, als sie die weiche, gelbe Butter mit dem Formholz zu Kugeln, Würfeln und Riegeln zusammendrückte.
Es bestand kein Zweifel, dachte Robert, die Abmachung mit Mr. Miles, dem Besitzer des Absteigequartiers, war das beste Geschäft, das er je gemacht hatte. Gegen eine Kommission von fünfzehn Prozent hatte Mr. Miles dafür gesorgt, dass seine Gehilfen die bei ihm Abgestiegenen zu Roberts Laden brachten, wo sie den Proviant für die Überfahrt einkauften.
»Der nächste«, sagte Robert. Er arbeitete in Hemdsärmeln, und der Schweiß rann ihm über das Gesicht. Seine Füße schmerzten, aber er würde sich später trösten können, wenn der Laden geschlossen und die Einnahmen gezählt werden würden. Silber war der beste Balsam.
Der Kunde war groß und hatte ein zerfurchtes Gesicht wie roh behauener Stein. Er trug die Überreste eines schottischen Kilts und Plaids, und an dem breiten, abgetragenen Ledergürtel hing ein alter Säbel mit Korbgriff. Er folgte Roberts Blick und berührte den Griff.
»Er hat meinem Vater gehört«, sagte er in dem weichen, singenden Akzent der Bevölkerung auf den Inseln an der Westküste. »Und seinem Vater vor ihm.«
»Aha«, sagte Robert kurz, denn er wollte endlich auf das Geschäftliche zu sprechen kommen.
»Ich bin Dugald McCraig aus Dunvegan, und ich, meine Frau und die Kinder wollen nach Kanada.«
Die Frau war hager und abgemagert. Die Kinder hingen ihr an den Röcken und blickten aus großen, hungrigen Augen voller Angst auf eine feindselige Welt.
»Beste Chancen«, sagte Robert knapp. »Beste Chancen.«
»Der Gentleman meinte, wir sollten am besten hierherkommen, um das Notwendige einzukaufen.«
»Bester Proviant zu vernünftigen Preisen, gestützt auf jahrelange Erfahrung. Man hätte Ihnen nichts Besseres empfehlen können«, sagte Robert ganz mechanisch. »Sie werden folgendes benötigen...«
Dugald unterbrach ihn. »Wie ich unterrichtet bin«, sagte er, »ist das Schiff verpflichtet, Lebensmittel in ausreichender Menge für die Dauer der Reise zur Verfügung zu stellen?«
»Hm«, machte Robert. Er nahm ein Brett in die Hand, auf dem eine gedruckte Liste mit dem Wappen der Regierung Ihrer Majestät befestigt war. Er las den Text rasch herunter: »Jeder erwachsene Passagier ist von Gesetzes wegen berechtigt, jede Woche die folgende Ration zu erhalten: Wasser 25 Liter; Zwieback 2V2 Pfund; Weizenmehl 1 Pfund; Reis 2 Pfund; Hafermehl 5 Pfund; Kartoffeln, falls vorhanden, als Ersatz für oben erwähnten Reis und Hafermehl. Kinder sind in Rationen für Eltern inbegriffen. Damit werden Sie nicht fett, Mr. McCraig.«
»Wir werden schon nicht verhungern«, sagte Dugald.
»Eine lange Reise«, entgegnete Robert. »Die Verpflegung an Bord ist nicht von der besten Sorte und oft die Ursache von Skorbut und Typhus. Wenn Sie erst einmal auf See sind, werden Sie Ihren Speisezettel ergänzen müssen – und alle Extras sind an Bord sehr teuer.«
»Ich hatte«, sagte Dugald, »an ein oder zwei Pfund Speck, ein Dutzend eingelegte Eier und vielleicht einen kleinen Käse gedacht.«
Robert blickte zum Schlepper von Mr. Miles, einem Mann namens Gruber, hinüber, der an der Tür Wache hielt. Dieser hatte das narbige, brutale Gesicht eines ehemaligen Preisboxers, einen Brustkasten wie ein Fass und Arme von Riesenpolypen. Seine Aufgabe bestand darin, seine Herde zu Roberts Laden zu treiben und sicherzustellen, dass sich niemand aus dem Staube machte oder den Schleppern der Konkurrenz in die Hände fiel. Er entblößte gelbe, zum Teil abgebrochene Zähne und nickte grinsend.
Robert war befriedigt. Auswanderer waren nach seiner wohlerwogenen Meinung ein faules Pack, dem es ohne die hilfreiche Hand von Männern wie Mr. Miles und ihm selbst nicht einmal gelingen würde, einen Fuß vor den anderen zu setzen, geschweige denn, die gefahrvolle Reise über den stürmischen Atlantik zu überstehen.
»Mr. Miles hat Ihnen doch eine Liste ausgehändigt«, sagte Robert. Es klang wie eine Feststellung, nicht wie eine Frage. Er hatte sich mit Mr. Miles zur beiderseitigen Zufriedenheit darauf geeinigt, dass jeder Auswanderer die gleiche Proviantaufstellung erhalten sollte. Diese diente einem doppelten Zweck: Einmal verhinderte sie unnötige Streitereien zwischen den beiden Partnern und zum anderen drückte sie die oft absurden Forderungen der Auswanderer auf ein vernünftiges Maß herab.
»Ja, das stimmt«, erwiderte Dugald und zog ein mehrfach zusammengefaltetes Stück Papier aus dem Plaid hervor. »Ich habe mehrere Posten gestrichen. Ich halte zum Beispiel Tee und Kaffee für einen Luxus, ohne den wir auskommen können, und ich sehe nicht ein, warum wir uns einen Laib Brot kaufen sollten, denn entweder müsste er vor dem Auslaufen des Schiffes gegessen werden, oder er wird hart wie Stein.«
Das hatte Robert schon oft gehört. Er spießte die Liste auf einen Dorn, bückte sich und holte zwei Weidenkörbe hinter dem Ladentisch hervor.
»Reedereibestimmungen«, sagte er und warf dem Boxer einen bedeutungsvollen Blick zu. »Jeder Auswanderer hat auf eigene Kosten folgenden zusätzlichen Proviant mit an Bord zu nehmen: 7 Pfund Speck, 12 Pfund Hartkäse, 14 Pfund Trockenerbsen, die gleiche Menge Linsen, 4 Pfund Zwiebeln, 3 Pfund Schmalz, die gleiche Menge Butter, 2 Pfund Tee, die gleiche Menge Kaffee, 6 Pfund Trockenfleisch, 2 Dutzend Kalkeier, 7 Pfund Salz, 4 Unzen Pfeffer, 1 Landbrot, 1 Flasche Leinöl, 1 Schachtel Fieberpillen. Das alles in einem Korb allerbester Qualität. Gesamtpreis drei Sovereigns. Sie werden mir dafür noch dankbar sein, Mr. McCraig.«
»Sechs Pfund!«
McCraigs lautstarker Protest übertönte das Stimmengewirr im Laden.
»Das ist eine Unverschämtheit!«, dröhnte er.
»Reedereibestimmungen«, sagte Robert, leicht nervös geworden. »Strenge Vorschrift.« Aus dem Augenwinkel heraus sah er, wie sich die massige Gestalt des Schleppers den Weg durch die Menge bahnte. Dann geschah das Unerwartete. Dugald ergriff Robert am Bart und schlug ihm den Kopf auf den Ladentisch.
»Sie sind ein Lügner und Betrüger«, brüllte Dugald.
Sarah kreischte auf und schlug mit dem Butterholz wie wild auf den Highlander ein. Die ausgemergelte Frau des Schotten, die ein schrilles, heidnisches Kauderwelsch von sich gab, krallte sich mit aller Kraft an Sarah fest.
Robert brummte der Schädel, Tränen traten ihm in die Augen, und seine Nase kam ihm wie eine zerquetschte Tomate vor. Dann ließ ihn McCraig, Gott sei Dank, los, und Robert erkannte wie durch einen Vorhang, dass man den Kerl auf die Knie gezwungen hatte und der Boxer mit eisenharten Fäusten wild auf ihn einschlug.
Sarah schrie: »Der Schurke! Dieser Halbwilde! Schmeißt ihn hinaus, den gemeinen Verbrecher! Hinaus mit ihm! Hinaus!«, kreischte sie. »Ihr alle! Schert euch hinaus!«
Die übrigen hielten ihre Warenlisten hoch und erklärten lauthals, sie seien zum Einkauf durchaus bereit, während der bewusste Dugald zur Tür geschleppt und in die Gosse geworfen wurde. Seine Frau folgte ihm mit den vor Angst heulenden Kindern laut wehklagend auf die Straße.
Blut rann aus Roberts Nase und bildete rote Pfützen auf dem Ladentisch. Er griff mit unsicherer Hand an die Beule auf seiner Stirn und beschmierte sich das Gesicht mit der roten Handschrift des Teufels. Ihm war übel, und er hatte das Gefühl, als müsse er sich erbrechen. Diese Leute waren ein ungehobeltes, elendes Volk. Ein ungewaschenes, übelriechendes, gemeines Pack. Blutgierige Teufel, die keinerlei menschliche Rücksicht verdienten.
»Werft sie hinaus«, sagte er, und seine Stimme klang etwas nasal. »Alle, auch den letzten. Und verriegelt die Tür.«
Die Leute wichen vor Sarahs wütendem Ansturm zurück, hinaus auf die Straße, wo Dugald McCraig stöhnend auf dem Boden lag, während sich seine Frau vergeblich bemühte, ihm sein zerschundenes Gesicht mit dem Saum ihres Schals sauberzutupfen. Der Wind blies nass und kalt vom Fluss herauf, und Wolkenfetzen flogen wie zerrissene Wimpel über einen allmählich dunkel werdenden Himmel.
Die Leute standen hilflos in Gruppen auf dem Pflaster herum, traten von einem Fuß auf den anderen und warteten darauf, dass ihnen jemand sagte, was sie jetzt tun sollten.
Sarah wandte sich an den Schlepper von Mr. Miles.
»Lassen Sie sie hier warten. Wir machen in einer Stunde wieder auf.«
Sie stürzte in den Laden zurück, schlug die Tür hinter sich zu und schob den Riegel vor. Ein dreckbeschmiertes, bärtiges Gesicht war undeutlich hinter dem geriffelten Glas zu sehen. Die Lippen verzogen sich über einem lückenhaften Gebiss zu einem gewinnenden Lächeln, und eine grotesk wirkende Hand drückte ein Exemplar der Warenliste gegen die Fensterscheibe.
Sarah zog mit raschem Griff die Jalousie herunter und drehte sich zu Robert um.
»Oh, diese Ungeheuer«, sagte sie. »Diese gewissenlosen, hemmungslosen Ungeheuer.«
Robert hatte den Kopf zurückgelehnt und versuchte, das Blut zu stillen, das ihm unaufhörlich aus der Nase rann.
»Ich glaube, er hat mir das Nasenbein gebrochen«, sagte er.
»Du musst dich hinlegen, Liebster«, sagte Sarah. »Ich werde dir eine Essigkompresse richten.«
Mit dem unsicheren Gang eines Mannes, der sich mit verbundenen Augen vorsichtig vor unsichtbaren Hindernissen in Acht nimmt, ließ sich Robert von ihr in das kleine Wohnzimmer hinter dem Laden führen.
Er legte sich auf das Sofa und ließ den Kopf über die Lehne herabhängen, während Sarah eiligst Essig und Wasser herbeiholte, und sehnte sich von ganzem Herzen nach dem Tag, da sie eine bessere Sorte von Kunden zu bedienen haben würden.
Es war Jamesʼ Schuld, dachte er. Nur James war an allem schuld. Die ganzen Schwierigkeiten hatten an dem Tag begonnen, als die Charlotte Rhodes unter Führung eines fremden Kapitäns mit einem ausländisch klingenden Namen und mangelhaften Kenntnissen der englischen Sprache in den Hafen eingelaufen war. Der Mann überbrachte einen Brief, dessen Inhalt Robert jetzt auswendig kannte.
Er diente zur Einführung von Captain Miguel Esperanzo und wies Robert an, die Crew auszuzahlen, den Wein unter Zollverschluss zu legen und an etwa ein Dutzend Weinhändler zu schreiben, um diese von dem wohlbehaltenen Eintreffen ihrer Ware zu unterrichten. Er sollte außerdem den Verkauf einer Teilladung von 450 Gallonen Terpentin mit einer Gewinnspanne von mindestens zwanzig Prozent übernehmen. Dann sollte er das Schiff neu verproviantieren und unverzüglich vollbeladen wieder auf die Reise schicken. Vergiss nicht, hatte James ermahnend hinzugefügt, dass im Hafen liegende Schiffe nur Geld fressen. Robert hatte es nicht vergessen, denn er wusste nur zu gut, wessen Tasche in Mitleidenschaft gezogen werden würde. Er war aufs höchste aufgebracht, hatte mit den Fäusten auf dem Tisch herumgetrommelt und war voller Zorn durch das Haus gestürmt, den Brief in der Hand, und hatte lautstark seine Ablehnung hinausgebrüllt, bis das Baby aufgewacht war und mit durchdringendem Geschrei Roberts Toben nur noch verstärkt hatte.
»Das Schiff neu versorgen! Die Crew auszahlen! Hafengebühren! Dockgelder! Der Mann glaubt anscheinend, das Geld liegt auf der Straße. Habe ich die Teilhaberschaft nun aufgelöst oder nicht?«, hatte er Sarah gefragt. »Ich bin für nichts verantwortlich. Ich zahle keinen Penny!«
Sarah hatte angespannt nachgedacht. »Wenn ein Schiff für James einen Profit abwerfen kann, besteht eigentlich kein Grund, warum nicht auch wir daran verdienen könnten.«
Robert hatte mürrisch erwidert: »Ich verstehe nichts vom Kauf und Verkauf von Schiffsladungen. Was für Frachtraten soll ich verlangen? Und wie fange ich die Sache an? Soll ich etwa von Haus zu Haus rennen und die Leute um Aufträge anbetteln?« Er hatte verächtlich geschnaubt. Aber er hatte irgendwie Angst. Er hatte Angst, da gab es nichts zu beschönigen.
»Eins nach dem anderen«, hatte die praktisch veranlagte Sarah geantwortet. »Verkauf das Terpentin und benutze das Geld für die Schiffsverpflegung. Und da keine Teilhaberschaft mehr besteht, können wir die gesamten Gewinne allein einstreichen.«
»Da wird James auch etwas mitzureden halten.«
»Mag sein, aber nicht einmal Jamesʼ Stimme dringt von Amerika bis hierher.«
Robert hatte seine Zweifel, aber bevor er etwas entgegnen konnte, hatte ein Kunde den Laden betreten. Es war ein Ire, der gerade aus Dublin angekommen war und mit einem Akzent sprach, dass man ihn kaum verstand. Er hatte eine Kerze für einen Farthing, Lampenöl für einen halben Penny und etwas Tabak gekauft und Robert auf eine glänzende Idee gebracht.
»Auswanderer«, hatte er verkündet, als der Mann gegangen war. »Eine Ladung ohne Probleme. Sie gehen in Dublin an Bord und kommen in Liverpool an Land. Wir können uns eine Senkung der Frachtraten leisten – gerade um soviel, dass die Charlotte Rhodes rentabel wird.« Er hatte sich voller Begeisterung die Hände gerieben. »Auswanderer. Das beste Geschäft, denn auch dieser Abschaum der Menschheit muss schließlich was essen.«
Sie hatten bis tief in die Nacht beisammen gesessen, um die Einzelheiten für Roberts großartigen Plan auszuarbeiten.
Wie alle großen Ideen, zeichnete er sich durch besondere Einfachheit aus.
Irische Auswanderer, die sich in Cork oder Dublin eingefunden hatten, wurden an Bord gebracht und dort zusammengepfercht wie Salzheringe in einem Fass. Bei der Ankunft in Liverpool wurden sie ohne viel Federlesens an Land gesetzt, wo sie, eingeschüchtert und hilflos, Schleppern und Menschenfängern zum Opfer fielen, die sich gegenseitig ihre Beute streitig machten und Ehemänner von ihren Frauen und Mütter von Kindern trennten, bevor sie die Unglücklichen in billige Absteigequartiere schleppten, wo den armen Kreaturen das Fell über die Ohren gezogen wurde.
Roberts Idee bestand darin, ein völlig der Willkür überlassenes Geschäft in eine gewisse organisatorische Ordnung zu bringen. Zunächst natürlich in kleinem Maßstab, aber aus der kleinen Eichel wächst ein Baum, der eines Tages zur Rieseneiche wird.
Mr. Miles war ein schwabbeliger Dickwanst mit einem Buckel und Augenbrauen so buschig wie Fuchsschwänze; er war ein geübter Kopfrechner. Er erfasste sofort das Wesentliche: die Charlotte Rhodes würde ganze Schiffsladungen von Auswanderern seinem Absteigequartier einfach dadurch zuführen, dass in die Schiffspassage Übernachtung und Verpflegung für einen Tag miteingeschlossen wurde. Alles andere blieb Mr. Miles überlassen, der zweifellos auf seine Rechnung kommen würde.
Mit dem Auswanderergeschäft war viel Geld zu machen, und manch ein Besitzer solcher Absteigequartiere, der ganz klein angefangen hatte, war inzwischen dick und fett geworden. Es bestand nach Roberts Ansicht eigentlich kein Grund, warum nicht auch ein ehrlicher Schiffsausrüster seinen Gewinn daraus ziehen sollte.
Abgesehen von dem heutigen Zwischenfall, hatte er Grund zur Zufriedenheit. Als Lebensmittellieferant versorgte er Mr. Milesʼ aufblühendes Unternehmen mit billigem Proviant, wie Schinkenknochen, ranziger
Butter und Schmalz, das von seiner übrigen Kundschaft zurückgewiesen wurde, und Salz und Kartoffeln – lauter Nahrungsmittel, die die Iren offenbar nicht missen wollten. Dann hatte er mit Mr. Simpson, dem Metzger, eine kleine Vereinbarung getroffen, derzufolge dieser ihm Abfälle und wenig genießbare Fleischsorten lieferte, die zu nahrhaften Eintöpfen verarbeitet werden konnten. Auch Mr. Jenkins, der Stallbesitzer, wurde nicht vergessen. Er stellte zweimal wöchentlich einen Pferdekarren zur Verfügung und transportierte die Kisten und Kasten der Auswanderer unter der Aufsicht von Mr. Milesʼ Schleppern in das Quartier. Wie nicht anders zu erwarten, zeigten sich Mr. Simpson und Mr. Jenkins dadurch erkenntlich, dass sie einen wöchentlichen Diskont von zehn Prozent gewährten.
Während er noch das Nasenbluten zu stillen versuchte, dachte Robert bei sich, dass es zwar gedankenlose und böse Menschen gebe, die der Auffassung waren, eine Rechnung von drei Pfund für Waren im Werte einer Guinea einschließlich eines Korbes sei glatter Wucher. Aber solche heimtückischen Gerüchtemacher berücksichtigten offenbar nicht die Tatsache, dass Auswanderer als eine besondere Klasse, und speziell die Iren, bekanntermaßen schwach und leichtsinnig waren und jedem Gauner zum Opfer fielen, der ihnen etwas aufschwatzte und einen Berg von Plunder zu verhökern hatte. Mehr als einmal-wurden den armseligen Leuten Anzüge verkauft, die sich beim ersten Regentropfen in ihre einzelnen Bestandteile auflösten, oder Stiefel, die schon nach einem Tag auseinanderfielen, oder so nutzlose Gegenstände wie Taschenspiegel, Feuersteingewehre, Puderbüchsen, Glaskugeln zum Verkauf an Indianerstämme und gefälschte amerikanische Dollar für gutes englisches Gold. Nach Roberts wohlerwogener Meinung betrieben er und Mr. Miles ein faires Geschäft. Aber Geschäft bleibt Geschäft, und man musste seinen Vorteil wahrnehmen, wo er sich bot.
Sarah hielt ihm die kalte Essigkompresse an die Schwellung auf der Stirn, Robert setzte sich auf, neigte sich vor und berührte vorsichtig seine Nase. Sie schien zur Größe eines Kürbisses angeschwollen zu sein und pulste im Gleichklang mit der darüber liegenden, enteneigroßen Beule. Wenigstens nicht gebrochen, dachte er erleichtert. Er zog den Atem ein und stieß ihn vorsichtig durch die Nase aus.
»Sei vorsichtig, Lieber«, sagte Sarah beschwichtigend. »Mach keine Flecken auf den Teppich.«
Robert legte gehorsam den Kopf zurück, während ihm Sarah sorgfältig Gesicht und Bart mit einem Handtuch abwischte.
»Es sind lauter Wilde«, sagte sie. »Wilde. Man sollte sie sich selbst überlassen.«
»Beim Geschäft darf man auf Gefühle keine Rücksicht nehmen«, sagte Robert heroisch.
Sarah trocknete sein Gesicht.
»Du bist tapfer wie ein Löwe, geliebtes Herz, aber ich werde mit allen Mitteln verhindern, dass du diesem Rudel reißender Wölfe noch einmal allein gegenübertreten musst. Das nächste Mal wird Mr. Gruber neben dem Ladentisch stehen und mit einem einzigen Schlag jeden Schurken erledigen, der es auch nur wagen sollte, laut zu werden. Und was diesen Schotten anbetrifft, diesen elenden Schuft – mir fehlen die Worte.«
Robert dachte nach. »Stell ihn ans Ende der Schlange«, entschied er. Geschäft war schließlich Geschäft, und das Geld eines Gauners hatte denselben guten Klang wie das eines ehrbaren Bürgers.
Sarah nickte beifällig. »Er bekommt die miesesten Körbe. Und keinen Preisnachlass«, fügte sie ausdrücklich hinzu. Dann ging sie, um Robert ein Glas Whiskey, seine Lieblingsmedizin, zu bringen.
Sie aßen an diesem Abend mit Elmer und Isabel zusammen.
Während Robert in aller Bescheidenheit die Spuren seines Kampfeinsatzes zur Schau stellte und Sarah, beinahe atemlos, die bewegende Geschichte seines titanischen Ringens gegen eine schier unüberwindliche Übermacht erzählte, saß Isabel da und dachte über ihr eigenes Unglück nach.
Im siebten Monat der Schwangerschaft, wurde sie jetzt täglich von Zweifeln und Ängsten heimgesucht. Nachts peinigten sie Alpträume, in denen das Kind bei der Geburt wie das Ebenbild Daniel Fogartys aussah und Elmer sie, in höchster Empörung, mit ausgestrecktem Arm in die unwirtliche Öde leerer Straßen verbannte, wo ihr alle Türen und Fenster verschlossen blieben. Der liebe Elmer. Sie konnte echte salzige Tränen vergießen. Sie war seiner nicht wert. Wenn er doch nur nicht so rücksichtsvoll, so zärtlich und so aufmerksam gegenüber allen ihren Wünschen sein würde. Manchmal, wenn sie mit ihrer Weisheit am Ende war, gebärdete sie sich wie eine Verrückte, fiel dem armen Mann gereizt ins Wort und schimpfte mit dem Personal. Aber Elmer blieb dann immer ganz ruhig, er nahm auf ihren Zustand Rücksicht, und die Dienerschaft zuckte nur zusammen und nickte sich verständnisinnig zu. Es war natürlich nur das Kind, dem man all diese Rücksichtnahme entgegenbrachte, nicht sie selbst. Sie war nichts als ein Gefäß, das dazu verdammt war, diese lästige Bürde mit sich herumzuschleppen, bis eines Tages... Dann kamen neue Alpträume, und sie hörte wieder Sarahs Schreie, die in ihren Ohren widerhallten. Isabel fand, sie sei in ihrem ganzen Leben noch nicht so unglücklich gewesen. Es war nicht fair. Es war einfach nicht fair. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich nach einem glanzvollen Haus, mit Dienerschaft und einer zweispännigen Kutsche, und nach einem zartfühlenden, selbstlosen Ehemann gesehnt. Nach all der Bequemlichkeit, die man sich mit Geld kaufen konnte. Dieser Wunsch war ihr in Erfüllung gegangen; sie wurde verhätschelt und umsorgt wie nie zuvor, aber trotz alledem hatte sie das Gefühl, als halte man sie in Wänden aus Watte gefangen, hinter denen die Dämonen der Angst ihr Unwesen trieben.
Nicht einmal ihr geliebter Lesestoff bot irgendeinen Trost. Ohne Ausnahme hatten alle gefallenen Heldinnen unter der Rache einer verletzten Moral zu leiden. In Sieg der Tugend starb Gloria Mandrake, als sie ihr Kind aus einer Feuersbrunst retten wollte. »Sie nahm ihr Geheimnis mit ins Grab«, lautete ein Bildtext, und ein phantasiebegabter Künstler hatte Gloria abgebildet, wie sie, vor Angst wie von Sinnen und mit lodernden Haaren, in das tobende Inferno zurückfiel. Auch Iris Pinworthys Geheimnis war keine Hilfe. Miss Pinworthy kam zu Tode, als sie, auf einer Sandbank stehend, ihr Baby in den hocherhobenen Händen hielt, während ihr die Wogen über dem Haupt zusammenschlugen und eine verzweifelte Rettungsmannschaft versuchte, sie von einem Boot aus zu retten. Bei anderen war das Ende nicht so spektakulär, sie erhängten sich entweder an Deckenbalken oder nahmen Gift. Isabel hatte nicht die Absicht, es ihnen gleichzutun, was auch der Grund dafür war, warum sie Robert und Sarah zum Abendessen eingeladen hatte. Mit etwas Glück würde es ihr vielleicht gelingen, dieses eine Klatschmaul zu stopfen.
Sie wachte aus ihren Träumereien auf, als Elmer sagte: »Du solltest die Charlotte Rhodes mit einem Hilfsmotor ausrüsten. Eine solche Maschine wäre allein schon durch die Zeitersparnis mehr als ihr Geld wert.«
»Es sind nur Auswanderer«, sagte Robert. »Zeit spielt da keine Rolle.«
»Ich bezweifle«, sagte Elmer trocken, »ob auch ein Haufen armer Auswanderer eine Vorliebe für das Ertrinken hat. Ein Hilfsmotor könnte das Schiff davor bewahren, nach Lee abgetrieben zu werden und auf Grund zu laufen.«
»Hm«, brummte Robert; ihn langweilte die ganze Sache. »Du solltest dies mit James besprechen. Es ist sein Schiff, nicht meines.«
Elmer fing Isabels Blick auf und erhob sich.
»Mit Rücksicht auf den Zustand meiner lieben Frau sollten wir, finde ich, die Tradition umkehren, und die Herren sollten sich eine Weile von den Damen zurückziehen. Wir werden Zigarren und Port im Billardzimmer haben, Robert.«
Er drückte Isabel einen flüchtigen Kuss auf die Stirn, blinzelte ihr in geheimem Einverständnis zu und geleitete Robert hinaus.
»Ein Spielchen bis hundert, Robert«, sagte er gutgelaunt, »und der Verlierer muss eine Flasche Wein spendieren.«
Er war wirklich, fand Isabel, der reizendste Ehemann, den man sich nur vorstellen konnte. Gesittet, mit guten Manieren und immer so taktvoll. Aber hinter seiner Umgänglichkeit lag etwas Stahlhartes, das sie mit Angst erfüllte. Wenn er je von ihrem Täuschungsmanöver erfahren sollte! Und ein Betrug zog den anderen nach sich, bis sie auf einem ganzen Berg von Lügen und Halbwahrheiten zu leben schien. Auch ihre bevorstehende Unterhaltung mit Sarah musste sorgfältig überlegt werden. »Liebster«, hatte sie gesagt, »ich möchte mit Sarah allein sprechen. Über ihr Wochenbett.« Sie hatte weitergeplaudert, und Elmer hatte gelächelt und sie beruhigt, dass sie alles haben würde, was ihr Herz begehrte. »Du sollst dich auch mit der Königin aussprechen, falls du es für nötig hältst. Sie würde durchaus eine Autorität auf diesem Gebiet sein, denn sie hat mehr Kinder auf die Welt gebracht, als manche andere Frau im Lande.« Es war als Scherz gemeint, aber aus seinen Augen sprach echte Sorge, und er hatte sie davor gewarnt, Altweibergeschichten zuzuhören. »Dr. Loveless wird dir mit Rat und Tat zur Seite stehen«, hatte er hinzugefügt.
Dr. Loveless. Der Name passte auf ihn. Sie konnte sich keinen liebloseren Menschen vorstellen. Er kam täglich – ein großer, unpersönlich wirkender Mann mit langem Backenbart, allwissenden Augen und dem strengen Gesicht des hartgesottenen Moralisten. Sie hatte immer Angst vor seinem Besuch und wusste mit absoluter Sicherheit, dass er kein Wort von ihren ziemlich konfusen Zeitangaben glaubte. Er fühlte ihr schweigend den Puls, untersuchte sie mit knochigen Fingern, fragte, ob sie sich wohl fühle, und ließ ihr eine Flasche eklig schmeckender Medizin da, die er ihr als Blutstärkungsmittel empfahl; dann wies er sie an, sich zusammenzunehmen und regelmäßig zu beten, und erklärte, dass Kinder mit Schmerzen geboren würden, aber dass eine wohltätige Vorsehung schon bald die Erinnerung daran auslöschen werde. Dann pflegte er sich steif zu verabschieden, um Elmer zu begrüßen, der hinter der verschlossenen Tür ruhelos auf dem Korridor hin und her ging. Aber obwohl sie mit aller Macht die Ohren spitzte, konnte sie nie ein Wort ihrer geflüsterten Unterhaltung verstehen. Dann blieb ihr immer fast das Herz stehen, wenn sich die Tür wieder öffnete und Elmer eintrat, bis sie aus dem aus Sorge und Entzücken gemischten Ausdruck auf seinem Gesicht erkannte, dass ihr das sauertöpfische alte Krokodil noch einen Tag Aufschub gewährt hatte.
Isabel goss einen Schuss Brandy in ihren Kaffee und schob Sarah die Karaffe hin.
»Geistige Getränke werden deine Milch sauer machen«, sagte Sarah missbilligend und schenkte sich selbst ausgiebig aus der Teufelsflasche ein.
»Es ist mir gleich«, sagte Isabel gedrückt und ließ ihren Zweifeln und Ängsten in einem Sturzbach tränenreicher Selbstverleugnung freien Lauf.
Sarah hörte ihr in eisigem Schweigen zu; dann hob sie den Kopf, atmete hörbar aus und erklärte mit fester Stimme:
»Es ist Elmers Kind. Daran kann auch nicht der geringste Zweifel bestehen. Du musst dir alle diese verruchten Gedanken sofort aus dem Kopf schlagen, oder du wirst ein Monster zur Welt bringen.«
»Aber du weißt doch«, jammerte Isabel, »dass es Daniels Kind ist. Mrs. McCready hat es Robert und Robert hat es dir gesagt. Es ist ein Familiengeheimnis.«
»Das wird es nicht mehr lange bleiben, wenn du dich weiter so aufführst«, gab Sarah zurück. »Ich weiß wirklich nicht, wie du auf solche Gedanken gekommen bist. Wahrscheinlich durch diese elende Mrs. McCready, die, wie mir Robert versichert hat, völlig dem Trünke ergeben ist. Es ist unsere wohlerwogene Meinung, dass sich diese schreckliche Person einfach die Unschuld eines jungen Mädchens zunutze gemacht hat, um ihm den Kopf mit allerlei törichtem Zeug anzufüllen.«
Isabel trommelte mit den Fäusten auf den Tisch.
»Aber du hast es doch gewusst, du hast es doch gewusst«, schluchzte sie. »Du hast doch sogar vorgehabt, mich aufs Land zu deiner Familie zu schicken, bis das Kind geboren ist.«
»Es ist allgemein bekannt«, sagte Sarah ätzend, »dass Frauen von labilem Charakter, wenn sie in andere Umstände kommen, von wilden Phantasien heimgesucht werden. Wir haben dir lediglich, aus reiner Herzensgüte, einen Landaufenthalt angeboten, weil du dich ganz offensichtlich in einem Zustand seelischer Verwirrung befandst.«
»Wegen Daniel«, sagte Isabel wie ein Kind, das seine Schulaufgabe lernt. Sie betupfte sich die Augen und versuchte, einen zerknirschten Eindruck zu machen. Es war ganz klar, woher der Wind wehte. Sarah und Robert wollten den Kopf in den Sand stecken und so tun, als hätten sie von nichts gewusst, nur um dem Makel eines Skandals zu entgehen. Sie würden sich lieber durch einen Meineid um Kopf und Kragen bringen als zugeben, dass sie schon vorher von ihrem Zustand gewusst hätten.
Also gut. Aus dieser Ecke würde es jedenfalls kein Getratsche geben.
»Während meiner Schwangerschaft«, sagte Sarah, »dachte ich immer nur ganz fest an Robert. Und unser kleiner Samuel ist infolgedessen das genaue Ebenbild seines Papas geworden. Alle reden davon.«
Ein Kind, das Robert weniger ähnlich sah als dieses kleine, dicke, knopfäugige Wesen konnte sich Isabel nicht vorstellen. Es erinnerte sie nur an einen in Windeln gewickelten Pudding.
»Du musst alle unreinen Gedanken von dir weisen«, fuhr Sarah fort, »und dich ganz auf das bevorstehende Ereignis konzentrieren.«
»Ja, Sarah«, sagte Isabel kleinlaut. Wirklich, die ganze Sache schien sich viel besser zu entwickeln, als sie erwartet hatte. Besser jedenfalls als mit dem unglückseligen Mädchen in Die Sünde der Clara Cartwright, denn dieses musste die Demütigung über sich ergehen lassen, von der Kanzel herab öffentlich gebrandmarkt zu werden.
Drittes Kapitel: Ein guter Handel
Das über Nacht von einem Druckereigehilfen als Gelegenheitsarbeit hergestellte Plakat lautete:
Der berühmte Erster-Klasse-Clipper PAMPERO,
der soeben direkt aus Lissabon, Portugal, eingelaufen ist, versteigert seine Ladung, bestehend aus 8501 bestem Seesalz und 150t erstklassigem Kork.
Die obige Ladung wird im Namen der Eigentümer von Captain James Onedin an Bord des oben bezeichneten Schiffes am 15. Januar 1861 um zwei Uhr nachmittags öffentlich versteigert
Pier 17 Baltimore.
Dieses Plakat war nur eines von vielen, die an Häuserwände und Pfeiler des Hafens von Baltimore geklebt worden waren und zum Teil ein anderes überdeckten, das eine Belohnung von einhundertfünfzig Dollar demjenigen versprach, der den entlaufenen Sklaven Josiah Kane, Alter 28, Ohren eingeschnitten und Narben von Auspeitschungen, ergreift und seinem Besitzer übergibt. Daneben hing ein weiteres Plakat mit der Überschrift Jedem Staat sein Recht! und einigen erläuternden Zeilen, deren Sinn jedoch schwer zu verstehen war, weil jemand mit einem Teerpinsel darübergeschmiert hatte: Freiheit und Union, jetzt und für immer!
Auf einem dritten Plakat wurde die politische Arena durch das Geschäft verdrängt. 2 Dollar pro Tag und mehr für starke und ehrgeizige Männer!!! verkündete es lauthals in feuerroten Lettern. Schienenleger und Streckenarbeiter gesucht. Kommt alle zu uns! 2 Silberdollar tagein, tagaus! Bewerbungen bei J. J. M'Guire. Chesapeake R. R. Co. Unmittelbar daneben mähte eine Feuer und Rauch speiende Lokomotive hilflose Frauen und Kinder nieder, und in ihrem Qualm standen die Worte geschrieben: »Eisenbahnen verbreiten Tod und Vernichtung! Mütter, gebt auf eure Kinder acht! Nieder mit den Eisenbahnen!«
Anne, die sich auf dem Rückweg zum Schiff befand und mühsam gegen einen Wind ankämpfte, der immer wieder das Schneetreiben zerriss, blieb einen Augenblick stehen, um sich die weißen Kristalle unter der Kapuze ihres Mantels wegzuklopfen. Sie las von neuem die ihr allmählich vertraut gewordenen Plakate und riss dann verstohlen Josiah Kanes Beschreibung in Fetzen. Das nasse und klebrige Papier löste sich, leicht, wurde vom Wind erfasst und um die nächste Ecke gewirbelt, wo es unter einer Schneedecke verschwand. Obwohl sie wusste, wie wenig Sinn ihre Handlungsweise letzten Endes hatte, erleichterte sie doch damit ein wenig ihr Gewissen; dann rückte sie das Gewicht der Pakete an ihrer Hüfte zurecht und stapfte mit gesenktem Kopf weiter gegen den Wind. Eine ferne Kirchenuhr schlug die Stunde, und Schiffsglocken gaben den Refrain weiter. Es war drei Uhr, und sie fragte sich, ob die Auktion wohl ein Erfolg gewesen sei. Ihre Plakatanschläge waren rechtzeitig, mindestens zehn Tage vorher, erschienen. Natürlich musste man das ungünstige Wetter berücksichtigen, aber die Geschäftsleute von Baltimore, hatte ihr James versichert, würden wahrscheinlich die Bequemlichkeit nicht über das Geschäft stellen.
Sie schritt weiter in einer weißen Welt, wo jeder Ton erstarb, bis der Klüverbaum der Pampero hoch über der Pier in den Himmel ragte. Die schneebedeckten Masten und Spieren verliehen dem Schiff etwas Unwirkliches, wie in einem Traum. Halbblind, fand sie nur mit Mühe die Gangway und bahnte sich den Weg über den dunklen Abgrund zwischen Kai und Schiff. Eine Erscheinung, die wie ein Schneemann aussah, trat auf sie zu und half ihr an Bord. Die Gestalt schüttelte sich wie ein Hund, und ein Schneeschauer fiel auf den Boden. In Jáos wässrigen Augen lag ein missbilligender Blick, als er ihr die Pakete abnahm und sie in ihre Kajüte geleitete.
Beim Eintreten begegnete sie einem zornigen James, der ruhelos auf und nieder ging, während Baines, mit philosophischer Ruhe, von einem allmählich kleiner werdenden Haufen von Sandwiches aß, die eigens für eventuelle Käufer vorbereitet worden waren. Anne blickte sich in der leeren Kajüte um.
»Wo sind sie?«, fragte sie.
»Sie kommen nicht«, knurrte James. »Die Blutsauger von Baltimore!« Er verschränkte die Arme hinter dem Rücken, zog geräuschvoll die Luft durch die Nase ein und blies sie in ohnmächtigem Zorn wieder aus.
Sie konnte ihre Frage völlig verständnislos nur noch einmal wiederholen.
»Kommen nicht? Überhaupt nicht?«
»Überhaupt nicht. Wir werden boykottiert. Die Händler haben einen Preisring gebildet. Man verkauft nur über sie, zu ihrem Preis, oder überhaupt nicht. Sie versuchen sogar, im Kongress ein Gesetz durchzubringen, das Auktionen an Bord für gesetzwidrig erklären soll. Sie nennen es die Freiheit der Persönlichkeit, wenn man von beiden Seiten Profite einstreicht. Geldgierige Mittelsleute!«
Sie hatte ihn noch nie so wütend gesehen.
»Wir können nicht direkt verkaufen?«
Baines nahm sich noch ein Sandwich, schob ihn in einen Mundwinkel und schüttelte den Kopf.
»Die Salzhändler haben das Monopol.«
Sie dachte einen Augenblick nach.
»Und an wen verkaufen sie weiter?«
»Metzger. Fischhändler. Fleischfabriken. Räuchereien. Köche. Alle brauchen Salz, aber sie müssen den Preis der Händler zahlen, sonst bekommen sie nichts.« James schnaubte vor Wut. »Ich habe 850 Tonnen zu verkaufen, deshalb kann ich kaum mit einer Schiebkarre durch die Straßen laufen und es an jeder Straßenecke verkaufen. Dann würden wir bis zum Jüngsten Tage hierbleiben.« Er nahm seinen Rundgang durch die Kajüte wieder auf. »Es gibt keine andere Wahl – ich muss mit Verlust verkaufen. Es geht jetzt hauptsächlich um Señor Braganzas Rebstöcke. Aber ich bin sicher«, fügte er sarkastisch hinzu, »dass es auch in Rebstöcken einen Zwischenhändler geben wird. Dieses Land geht vor die Hunde!«
Baines brummte mit vollem Mund: »Das Hinterland steckt voller Reben. Man braucht sie nur mitzunehmen. Alles, was hierzu benötigt wird, sind Arbeitskräfte.«
Jamesʼ Gesicht erhellte sich ein wenig.
»Die sollten nicht allzu schwer zu beschaffen sein.«
James nahm das letzte Sandwich und schüttelte den Kopf.
»Es ist kein arbeitsfähiger Mann mehr zu finden. Die Kneipen sind halb leer, und sogar die Weber spüren die Flaute.« Er schluckte das Brot mit dem gesalzenen Schinken hinunter und spülte mit einem halben Glas von Jamesʼ bestem Whiskey nach, rülpste, bat Anne um Verzeihung und fügte hinzu: »Die Leute sind alle weg, um Eisenbahnen für zwei Dollar pro Tag zu bauen.« Er leckte sich über die Lippen und griff wieder nach der Flasche. »Kein Wunder, dass das Land hier den Namen Paradies der Iren erhalten hat. Zwei Dollar pro Tag!«
James blinzelte.
»Iren?«
»Ganze Schiffsladungen voll«, sagte Baines. »Sie sind jetzt draußen auf dem Land und graben sich durch die Erde wie Hunde nach einem Knochen. Wenigstens werden sie es tun, sobald der Wind dreht und das Schneetreiben aufhört.«
»Iren?«, wiederholte James.
»Tausende«, sagte Baines.
»Ich habe gehört«, sagte James nachdenklich, »dass die Iren von Kartoffeln und einer Handvoll Salz leben.«
Baines nickte. »Die Iren sind wild auf Salz. Ich habe einmal einen Haufen Auswanderer verschifft. Die aßen Salz wie Türken ihren Hammel.«
Anne kannte diesen Ausdruck auf Jamesʼ Gesicht bereits.
»James«, protestierte sie. »Nicht einmal ein Ire kann sich durch eine halbe Tonne Salz hindurchessen!«
»Wenn man ihm Zeit lässt, kann er es«, sagte James. »Wenn man ihm Zeit lässt. Mr. Baines!«, entfuhr es ihm. »Der Inhalt dieser Flasche wird Ihnen von Ihrer Heuer abgezogen werden.«
»Wenn das so ist«, sagte Baines und schob sich die Flasche unter den Arm, »werde ich mich schadlos halten.« Er verabschiedete sich gutgelaunt und stapfte befriedigt hinaus.
James rieb sich die Hände. »Damit bleibt also nur ein Problem. Den Kork zu verkaufen und nach einer Ladung für die Heimreise Ausschau zu halten. Und obendrein eventuell noch etwas Getreide.« Er räusperte sich. »Ich glaube wirklich, du solltest dir diese nassen Kleider ausziehen, meine Liebe, sonst ziehst du dir noch einen Anfall von Rheumatismus im – eh – in den Extremitäten zu.«
Anne lächelte. James war wieder der alte. Er war, dachte sie, ein höchst bemerkenswerter Mann.
J. J. MʼGuire nahm sich eine neue Prise von Loverʼs Friend. Eine Mischung aus Rum, Melasse und Tabak war Loverʼs Friend nach J. J. MʼGuires oft geäußerter Auffassung der mit Abstand beste Kautabak in den ganzen Vereinigten Staaten. Aber heute hatte er an seinem Lieblingslaster wenig Freude. Er schob sich einen fünf Zentimeter langen Streifen in die linke Backe, erhob sich schwerfällig und öffnete die Tür der Eisenbahnerhütte. Er blickte zu dem bleiernen Himmel und dem leise herabrieselnden Schnee hinauf. Dann fluchte er langsam, aber ununterbrochen vor sich hin, ganz ohne leidenschaftliche Erregung. Es war eine lange Kette von Verwünschungen, und sie kamen von einem Mann, dessen Geduld auf eine harte Probe gestellt wurde. Er blickte nach rechts zu einer Anzahl von Holzhütten und Zelten hinüber, wo sich dunkle Gestalten gegen den Schnee abhoben und Rauch von Feuerstellen aufstieg. Geklapper von Pfannen und Töpfen war zu hören. Stimmengewirr wurde lauter und verebbte wieder. Plötzlich brach Gelächter aus, das von schrillen Misstönen eines Streits übertönt wurde. Der süßliche Geruch nach verbranntem Holz zog wie ein dünner, blauer Schleier durch den weißen Vorhang fallenden Schnees.
Der Schnee deckte alles zu und begrub die Schienen unter einem buckligen, weißen Teppich; nur die schwarze Silhouette des Waldes stand wie gestochen im
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Cyril Abraham/Apex-Verlag/Successor of Cyril Abraham.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Korrektorat: Mina Dörge.
Übersetzung: Karl-Otto und Friederike von Czernicki (OT: The Onedin Line, Book 2: The Iron Ships).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 26.09.2021
ISBN: 978-3-7487-9576-6
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