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Leseprobe

 

 

 

 

CYRIL ABRAHAM

 

 

Die Onedin-Linie

Erster Band: Der Kapitän 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DER KAPITÄN 

Erstes Kapitel: Der Vater 

Zweites Kapitel: James 

Drittes Kapitel: Callon 

Viertes Kapitel: Der Laden 

Fünftes Kapitel: Die Charlotte Rhodes 

Sechstes Kapitel: Fünfhundert Pfund 

Siebtes Kapitel: Anne 

Achtes Kapitel: Angebote 

Neuntes Kapitel: Hochzeit 

Zehntes Kapitel: Liebst du mich? 

Elftes Kapitel: Der Vertrag 

Zwölftes Kapitel: Das Kommando gehört Ihnen! 

Dreizehntes Kapitel: Sturmfahrt 

Vierzehntes Kapitel: Anne gibt Kurs 

Fünfzehntes Kapitel: Land voraus 

Sechzehntes Kapitel: Nachwuchs 

Siebzehntes Kapitel: Kredit 

Achtzehntes Kapitel: Familiengeheimnis 

Neunzehntes Kapitel: Gretna Green 

Zwanzigstes Kapitel: Pampero ahoi! 

 

 

Das Buch

1860. Im Hafen von Liverpool liegt der stabile, aber heruntergekommene Frachtsegler Charlotte Rhodes. Der ehrgeizige Kapitän James Onedin, der von einer eigenen Schifffahrtslinie träumt, will ihn kaufen. Doch dazu fehlt ihm das nötige Geld. Da begegnet ihm die nicht mehr ganz junge Anne Webster, Tochter des Eigners. In einem gewagten Spiel um Aufstieg und Ruin wirbt Kapitän Onedin um das Herz der schönen Frau und nimmt den Kampf mit Wind und Wetter und seinen eiskalten Widersachern auf...

 

Cyril Abraham (* 22. September 1915; † 30. Juli 1979) war ein englischer Schriftsteller und Drehbuchautor. Die BBC-Serie Die Onedin-Linie - von der ARD in den Jahren 1971 bis 1980 ausgestrahlt - gilt als sein bekanntestes Werk. Weitere Berühmtheit erlangte er durch seine Mitwirkung als Autor an der legendären TV-Serie Mit Schirm, Charme und Melone.

Der Kapitän spielt in der rauen Welt der Seefahrt: Spannend und lebendig verwoben mit der Familiensaga der Onedins erzählt Cyril Abraham von den letzten Tagen der ruhmreichen Frachtsegler, welche auf den Weltmeeren kreuzten, ehe das neue Zeitalter der dampfbetriebenen Stahlriesen begann.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers.

  DER KAPITÄN

 

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel: Der Vater

 

 

Isabel Onedins Droschke bahnte sich ihren Weg durch das geschäftige Treiben auf den Docks von Liverpool. Klüverbäume der Schiffe ragten hoch oben so weit über die Straße, dass sie fast die gegenüberliegenden Häuser berührten. Ein Wald von Masten strebte, so weit das Auge reichte, gen Himmel. Isabel begnügte sich damit, mit gespielter Gleichgültigkeit, die sie für damenhaft hielt, über das dahintrottende Pferd und das Geschrei der sie umgebenden Menschenmenge hinwegzusehen. Verstohlen zählte sie ihre Geldmünzen. Vier Penny-Stücke, ein Six-Pence-Stück und eine kleine silberne Drei-Penny-Münze. Zusammen ein Schilling und ein Penny. Sei’s drum. Der Mann musste sich eben mit einem Penny als Trinkgeld abfinden.

Die Droschke passierte das Salthouse-Dock, bog nach links in die enge Straße von Cotton Hey ein und hielt vor dem Laden mit dem verwitterten Schild:

 

S. Onedin & Sons, Schiffsausrüster.

 

Isabel stieg aus, schüttete dem Kutscher ihre Münzen in die ausgestreckte Hand, schenkte ihm ihr betörendstes Lächeln, nahm die Reisetasche in die Hand und verschwand im Laden, bevor der arme Narr wusste, wie ihm geschah.

Der Laden war klein und dunkel, der Warenvorrat mager. Der nur allzu vertraute süßsaure Geruch nach geteertem Tauwerk, Leinwand und Rapsöl brachte ihr mit bitterer Deutlichkeit in Erinnerung, dass sie hier zu Hause war.

Robert blickte beim Kling-kling der Türglocke kurz auf, warf Isabel einen unfreundlichen Blick zu und wandte sich dann wieder der Kundin zu, die er gerade bediente. Sie war ihrem Aussehen nach Irin, denn sie trug den langen, schwarzen Strickschal und einen goldenen Ohrring, wie es bei ihresgleichen üblich war. Ihr Mann würde wohl den zweiten tragen. Zwischen den Eheleuten schien es nicht zum Besten zu stehen. Als ob, dachte Isabel, vier dreckige, hohläugige, spindeldürre Bälger, die sich der Mutter an die Rockfalten klammerten, nicht schon Anfechtung genug waren. Sie hasste es, diese Kreaturen zu bedienen, die ewig jammerten, um Kredit bettelten und dabei auch noch stahlen, was ihnen nur in den Weg kam. Sie wusste, dass auch ihr Bruder Robert trotz der für einen Ladenbesitzer angemessenen Höflichkeit diese Elendsgestalten verabscheute und sich nur nach dem Tag sehnte, da sein Laden von besserer Kundschaft aufgesucht werden würde.

Isabel lüpfte die Röcke, machte einen Bogen, als habe sie Angst, sich durch eine Berührung mit der Frau zu beschmutzen, hob die Klappe des Ladentisches hoch und verschwand im rückwärtigen Zimmer.

Robert gab der Frau für einen Penny Schiffszwieback, für einen halben Penny Trockenfleisch und ein bisschen Schmalz. – »Ich bin so frei.« Er komplimentierte sie zur Tür, dankte ihr für den Besuch und wünschte ihr höflich einen guten Tag. Wirklich, dachte er bei sich, als er die Tür hinter ihr zumachte, die Stadt wurde neuerdings von diesem Gesindel geradezu überschwemmt. Er erinnerte sich an einen ausgezeichneten Artikel im Liverpool Mercury vom selben Tag, in dem es mit schöner Offenheit hieß: »Die Wilden aus Irland, die nichts tun als betteln, sind die ärgste Plage, mit der sich unser Land auseinanderzusetzen hat.« Robert pflichtete diesem Satz aus ganzem Herzen bei. Nach seiner eigenen wohlerwogenen Meinung wurde das Unglück nur noch schlimmer, wenn man den Bettlern auch noch Geld gab. Der Liverpool Mercury fuhr in seiner schönen Offenheit fort und lenkte die Aufmerksamkeit aller ehrlichen, schwerarbeitenden angelsächsischen Staatsbürger auf die Tatsache, dass allein in diesem Jahre des Heils 1860 nicht weniger als £20750-6-4 an Wohlfahrtsunterstützung für 50.000 irische Almosenempfänger ausgegeben worden seien. Dieser Zustand sei unerträglich geworden.

Beim Thema Geld fiel Robert ein, dass Isabel ihm noch sechs Pence für das Telegramm schuldete, das er ihr hatte schicken müssen, und dass sie die Unverfrorenheit besessen hatte, vom Bahnhof in einer Droschke heimzufahren. Ihre Extravaganzen gingen ihm allmählich zu weit. Er würde dem kleinen Frauenzimmer gehörig seine Meinung sagen.

Die Tür zum Hinterzimmer war durch einen Vorhang verdeckt. Robert schob ihn beiseite und rief mit barscher Stimme nach hinten, Isabel solle sofort zu ihm in den Laden kommen.

Statt einer Antwort hörte er sogleich ein gebieterisches Klopfen aus dem Oberstock.

Er errötete über seine Vergesslichkeit, und ein Anflug kummervoller Frömmigkeit trat auf seine groben Gesichtszüge. Oben im Schlafzimmer lag sein Vater im Sterben. Er senkte die Stimme zu einem Grabesflüstern und zischte:

»Isabel!«

 

Isabel blieb einen Augenblick auf dem Treppenabsatz stehen. Aber sie hatte keine Lust, ihrem Bruder und seinen ewigen Nörgeleien zuzuhören; deshalb öffnete sie leise die Schlafzimmertür und schlüpfte wie ein heller Schatten hinein.

Drinnen stand Sarah, Roberts Frau, neben dem Bett; sie spielte in ängstlicher Nervosität mit einem kleinen Spitzentaschentuch. Isabel trat auf Zehenspitzen näher und blickte auf die verfallene Hülle ihres Vaters herab. Sein Gesicht hatte Aussehen und Farbe von zerknittertem Segeltuch angenommen. Ab und zu hoben sich die Augenlider, aber sein Blick schien schon ganz in verblasste Erinnerungen eingesponnen, und der Atem ging flach und rasselnd, als suche der Sterbende in dem stillen Raum nach einem letzten schwachen Halt.

Isabel schreckte zusammen, als sich in der dunklen Ecke plötzlich ein Schatten regte. Ein trockenes Hüsteln.

Pfarrer Samuels war herangetreten und formte hinter stummen Lippen eilige Beileidsworte. Er warf mit betonter Missbilligung einen kurzen Blick auf Isabels helles Kleid und legte dann eine tröstende Hand auf Sarahs Schulter; dabei betrachtete er ihren geschwollenen Leib mit der Anerkennung eines Mannes, der bereits zehnfacher Vater war.

»Der Herr gibt, Mrs. Onedin, und der Herr nimmt. Sein Wille geschehe.«

»Amen«, antwortete Sarah geziemend.

Aber tausend Gedanken jagten ihr durch den Kopf. Es war wirklich ganz typisch für Isabel, in einem solchen Augenblick zu stören.

Sarah hatte sich die Szene schon seit langem ausgemalt. Jedenfalls schon seit dem Tage, da ihr Schwiegervater den ersten Schlaganfall erlitten hatte.

Während der letzten Augenblicke seines Lebens würde sie allein an seinem Bett stehen. Isabel, die durch ihre bloße Anwesenheit den Todesengel zur Verzweiflung bringen würde, hätte man irgendwohin weggeschickt. Robert würde sich unten um das Geschäft kümmern, und James würde auf See sein. Die Anwesenheit Pfarrer Samuels’ war ein unverhoffter Glückszufall. Als Mann des geistlichen Standes konnte er jene letzten bewegenden Momente bezeugen, wenn der alte Mann – so stellte es sich Sarah vor – mit letzter Anstrengung nach ihrer Hand greifen würde. Mit ersterbender Stimme würde er sie wegen der Härte, die er ihr und Robert gegenüber in der Vergangenheit bewiesen habe, um Vergebung bitten. Denn er war ein Geizkragen gewesen, der jeden Pfennig zählte und den lieben Robert wie ein Stück Dreck und sie beide als seine Sklaven behandelte, und dann würde er, mit seinem allerletzten Atemzuge, noch so viel Kraft aufbringen, um Robert den Laden zu vermachen. Das war nicht mehr als recht und billig. Robert war der ältere Bruder. Das Geschäft gehörte ihm von Rechts wegen. Es gehörte ihnen. Ihnen beiden! Sie hatten sich abgeplagt. Niemand sollte es ihnen jetzt streitig machen! Aber dort stand Isabel – sie duftete nach Parfüm, war wie ein Mädchen von der Straße aufgetakelt, und in ihren großen blauen Augen blinkten Krokodilstränen. Isabel war immer sein Lieblingskind gewesen. Er hatte sie von Geburt an verwöhnt. Sie war temperamentvoll, voller verrückter Einfälle und so selbstsüchtig, dass sie an nichts anderes dachte als an die Erfüllung ihrer eigenen Wünsche. Oh, das würde sich alles ändern, wenn sie erst einmal den Laden hätten. Dann würde sie für ihr eigenes tägliches Brot arbeiten müssen – dafür würde Robert schon sorgen.

Aber wenn sich der alte Mann noch einmal aufraffen und Isabel erkennen sollte? Sarah erschauerte bei dem bloßen Gedanken. Sollte sie im letzten Augenblick noch ihrer ererbten Rechte beraubt werden? Oh, großer Gott, dachte sie, warum bloß, warum kann er nicht sterben? 

Sarah merkte, dass sie den Atem anhielt und dass sich die Finger des Pfarrers auf ihrer Schulter verkrampften. Der Raum schien plötzlich von einer seltsamen Stille erfüllt, kein Laut regte sich. Staubteilchen hingen im Sonnenlicht des heißen Augusttages. Dann verschwamm das Zimmer in die grüne Unwirklichkeit eines Traums, als Pfarrer Samuels mit sanften, weißen Fingern die Jalousien am Fenster herunterzog.

»Lasst uns beten«, begann er, »für die Seele des lieben Verstorbenen.«

 

Robert fegte das Pflaster vor dem Laden. Nicht etwa aus Rücksicht auf die Passanten, sondern nur im Hinblick auf den Dielenboden des Geschäfts. Pferdemist, der auf der Straße verrottete und über das ganze Pflaster verteilt war, wurde mehr als einmal in den Laden getragen und war, auf dem Holzboden festgetreten, nur schwer zu beseitigen. Isabel, das wusste er, hasste das Schrubben und ging dieser Art von Arbeit meistens aus dem Wege. Na, das würde sich schon sehr bald ändern. Isabel würde lernen, auch selbst mit zuzupacken oder nach der Pfeife eines anderen zu tanzen.

Zwei barfüßige Straßenjungen kamen um die Straßenecke gelaufen und schrien aus vollen Leibeskräften. Der ältere der beiden hielt plötzlich inne und wies nach oben. Er brachte seinen Spielgefährten mit gespielter Andacht zum Schweigen.

»Halt die Klappe, Willie. Da oben liegt ein Toter.«

Das Paar machte kehrt und schlich auf Zehenspitzen in das Leben und den Lärm des Hafens zurück.

Auch Robert blickte hinauf. Das leere, verdunkelte Fenster starrte ausdruckslos auf die Straße herab. Ein Gefühl der Erleichterung durchströmte ihn.

Es ist vorüber, dachte er. Es ist vorüber. Der Laden ist mein. 

Er verlieh seinen Gesichtszügen den Ausdruck stoischer Ruhe, während er mit einem raschen Seitenblick seinen Nachbarn, den Metzgermeister Simpson, herannahen sah.

Mr. Simpson nahm den Hut ab und blieb neben Robert stehen.

»Ein trauriger Tag, Mr. Onedin«, begann er mit feierlicher Stimme. »Ein trauriger Tag.«

»Ja«, pflichtete ihm Robert bei. »Ein trauriger Tag für uns alle. Aber wir waren darauf vorbereitet, Mr. Simpson. Wir waren vorbereitet.«

»Eine lange, mit großer Geduld getragene Krankheit«, zitierte Mr. Simpson. Er wiegte den Kopf weise hin und her. »Er hat nicht gelitten, hoffe ich?«

»Er blieb bis zum Ende bei klarem Verstand«, gab Robert zweideutig zurück.

Mr. Simpson liebte gute Zitate.

»Mitten aus dem Leben gerissen?«

»Ja«, sagte Robert zurückhaltend. »Ja.«

Mr. Simpson unternahm einen neuen Versuch. »Einen Mann wie ihn wird es nicht mehr geben.«

Robert nickte verständnisvoll.

»Gewiss, Mr. Simpson, gewiss.«

»Sie werden ihm ein schönes Leichenbegängnis bereiten?«, bohrte Mr. Simpson, der auf eine Einladung hoffte.

»Sie können sicher sein – wir werden das Bestmögliche tun«, erwiderte Robert und dachte dabei an die Kosten.

Sie standen einige Augenblicke nebeneinander. Zwei gesetzte Männer, die ihre eigene Welt überblickten. Ein Windstoß hob ein Stück zerrissenen Zeitungspapiers in die Höhe und wirbelte es die Straße entlang. Mr. Simpson zog prüfend die Luft ein.

»Der Wind hat sich gedreht, Mr. Onedin.«

Robert nickte zustimmend.

»Er wird Regen bringen, Mr. Simpson. Lassen Sie es sich gesagt sein: Er wird Regen bringen.«

»Und den Staub beseitigen«, verkündete Mr. Simpson. »Alles hat auch seine guten Seiten.«

Robert wiegte mit der Weisheit langjähriger Erfahrung den Kopf.

»Schlecht für die Geschäfte, Mr. Simpson, sehr schlecht für die Geschäfte.«

Der Metzger nickte unverbindlich und fand, dass er sein eigenes Geschäft schon zu lange vernachlässigt hatte.

»Er war ein guter Mann, Ihr Vater. Einer der Besten«, erklärte er, womit er das Thema beschloss und zu seinem Laden zurückkehrte.

Robert holte tief Luft und begann, die schweren, hölzernen Fensterläden zu schließen. Es war zwar höchst unbequem, aber er musste das Geschäft eine angemessene Trauerzeit geschlossen halten. Ganz sicher bis zum Tag nach dem Begräbnis. Dadurch erhielt er wenigstens Zeit, Inventur zu machen. Auch eventuell die eine oder andere Neuerung einzuführen. Da war zum Beispiel das Schild. Das war das Allererste: Es musste neu gemalt werden.

Robert Onedin. Schiffsausrüster, dachte er.

Er befestigte die Eisenstange in ihrer Halterung und dachte über die Formulierung nach. Vielleicht Schiffsausrüster & Kolonialwarenhändler? Ja, Kolonialwarenhändler klang vielversprechend.

Sein Vater war ein altmodischer Kauz gewesen, der sich gegen jede Veränderung zur Wehr gesetzt hatte und jeglichen Fortschritt mit Argwohn betrachtete. »Robert«, pflegte er zu sagen, »ist ein Naseweis und glaubt, er könne einem alten Hasen noch etwas Neues beibringen.« Der alte Samuel Onedin hatte eiserne Grundsätze. »Alles hat einen Platz und gehört an seinen Platz. Schuster, bleib bei deinen Leisten – Geschäftsmann bei deinem Geschäft.« Samuel Onedin war von Beruf Kerzenzieher gewesen. Und blieb es innerlich bis an sein Lebensende.

Robert erinnerte sich mit Bitterkeit an jene vergangenen Tage. Sein Vater kochte das heiße Wachs, während er und der junge James bis tief in die Nacht hinein die Kerzen gossen, wobei sie sich die Fingerspitzen völlig verbrannten; und Isabel saß weinerlich in der Ecke. Später wurde ihr beigebracht, dünne Peitschenkerzen herzustellen, sie aber, obwohl sie noch ein Kind war, rebellierte schon bald dagegen. Aus lauter Eigensinn machte sie die Kerzen entweder zu kurz oder zu lang, und manchmal drehte sie sie sogar in wilde Schlingen und Schlangen. Ihr Vater war ein strenger Mann und prügelte sie wütend. Aber ihr Geschrei stammte nicht von der Angst, sondern von der ohnmächtigen Wut der Hilflosigkeit. Am darauffolgenden Tag stellte man fest, dass jede Kerze im Laden gewalzt oder flachgehämmert worden war. Dafür wurde sie wieder geschlagen und dann bei Wasser und Brot im Dachboden eingesperrt. Sie reagierte, indem sie das Dachfenster einschlug und so lange hinausschrie, bis sich draußen auf der Straße eine Menschenmenge versammelt hatte und, in der Überzeugung, ein Kind werde umgebracht, drohte, das Haus und Onedin darin in Flammen aufgehen zu lassen.

Robert musste in Gedanken an damals lächeln. Isabel hatte immer eine Begabung dafür gehabt, ihren Kopf durchzusetzen. James – ja, James, der war aus anderem Holz geschnitzt. James war den Anordnungen ihres Vaters immer in stillem Gehorsam gefolgt. Er half im Laden, diente als Laufbursche und saß bis in die Nacht über seinen Kerzen – ein folgsamer Knabe, der, zwei Jahre jünger als Robert, mit einer Art verbissener Ruhe arbeitete und regelmäßig, ohne ein Wort der Klage, sein Soll an Kerzen fertigstellte. An seinem dreizehnten Geburtstag war er mit einem Bündel sauberer Hemden und Socken erschienen und hatte in aller Seelenruhe die Absicht kundgetan, er werde als Schiffsjunge auf einem nach Westen laufenden Auswandererschiff, das unter der rotgoldenen Callon-Flagge fuhr, anheuern. Ihr Vater hatte zu protestieren versucht, aber dem Blick von James’ harten Knopfaugen konnte er nicht standhalten. »Sieh dich woanders nach billigen Arbeitskräften um, Kerzenzieher«, hatte James gesagt und dem Laden für immer den Rücken gekehrt.

Und jetzt, sinnierte Robert, war James Kapitän und stand bei Callon zweifellos hoch im Kurs.

Er versperrte das Vorhängeschloss und schaute die Straße entlang.

Mr. Jenkins, dem die Pferdestallungen vier Türen weiter gehörten, streute bereits Stroh auf das Pflaster, um das Geklapper der Pferdehufe zu dämpfen. Robert nahm sich vor, auch Mr. Jenkins zu der Beerdigung einzuladen. Er würde noch mit Sarah darüber sprechen. Aber sie mussten wirklich versuchen, die Zahl der Trauergäste so niedrig zu halten, wie es mit dem Anstand noch gerade zu vereinbaren war. Sterben war eine kostspielige Angelegenheit. Er hatte den Sarg bereits ausgesucht. Billig zwar, aber aus polierter Eiche mit Messinggriffen. Keine Ausschussware. Vier Totengräber würden da sein, außerdem der Leichenbestatter und sein Gehilfe. Ein zweispänniger Leichenwagen würde genügen. Es war etwas Protziges an vier großen Rappen, die doch nur das Gewicht eines einzigen Menschen zu ziehen hatten. Zwei, vielleicht drei Kutschen. Robert beschloss, in dieser Hinsicht nicht mit sich reden zu lassen. Dann kam die Frage des Leichenschmauses hinterher. Gebackener Schinken war eine zwingende Notwendigkeit. Er würde sich einen Schinken vom Großhändler besorgen, und Sarah könnte ihn dann über Nacht kochen und im Ofen fertig backen. Tee war kein Problem; er hatte eine Viertelkiste von bestem Congou im Laden. Sarah konnte ihn ziemlich dünn aufgießen und eine Prise Bleichsoda zusetzen, damit er mehr Körper erhielt. Oh ja, er konnte diese Seite der Angelegenheit ruhig Sarah überlassen. Sie war eine gute Hausfrau. Eine Frau, auf die jeder Mann stolz sein konnte. Robert empfand eine gewisse wohltuende Selbstgefälligkeit. An dem Tag, an dem sie sich zum ersten Mal begegnet waren, hatte sie, barfuß und schmächtig, die Schweine zum Markt getrieben. Wer hätte damals ahnen können, dass dasselbe verwahrloste Kind heute die Frau eines Mannes sein würde, der selbständiger Geschäftsmann war? Ja, beschloss er, das Schild dort oben musste weg. Er würde ein neues anbringen lassen: Robert Onedin. Schiffsausrüster und Kolonialwarenhändler.

Den Kopf voller Zukunftspläne, ging Robert hinein, zog den Rollladen herunter und verriegelte die Tür.

Ein Windstoß huschte wieder über die Straße und hob spielerisch

Mr. Jenkins’ frisch ausgelegtes Stroh in die Höhe, bevor er ebenso rasch wieder mit einem leisen Seufzer des Bedauerns erstarb, als ob die Anstrengung zu groß gewesen wäre.

 

Derselbe böige Wind hatte eine schmale Wolkenbank weit im Südwesten heraufgeführt. Die Wolken hatten die Aufmerksamkeit des Ausgucks der Maisie Rose erregt. Sein lauter Ruf wies nach steuerbord.

James Onedin kniff die Augen vor dem gleißenden Sonnenlicht zusammen und hielt in der Richtung Ausschau, in die der ausgestreckte Arm des Seemannes zeigte.

»Wo?«, rief er hinauf.

Der Ausguck ließ den Arm sinken.

»Südwest. Tief auf der Kimm.«

James dachte nach.

Liverpool lag vor ihnen. Aber in den letzten drei Tagen hatte die Maisie Rose gegen den Wind, der stetig aus südöstlichen Richtungen den Mündungsarm des Mersey entlang wehte, ankämpfen müssen. Eine Wolke über dem Horizont könnte darauf hindeuten, dass sich der Wind bald drehen würde. Wenn ja, würde eine Reihe neuer Probleme entstehen. Wie konnte man die Situation am besten ausnutzen? James sah zu den anderen, über den ganzen Mündungsarm verstreuten Schiffen hinüber, die wie eine Schar Möwen verbissen gegen eine unsichtbare Felswand anzukämpfen schienen. Und die Tide hatte den Höhepunkt fast erreicht; bald würde die Ebbe einsetzen. Kein Schiff konnte hoffen, gegen die volle Strömung des Mersey Fahrt über Grund zu machen.

Ein auslaufender Clipper, der die rot-gelbe Flagge der Callons führte, kam ihnen stromabwärts entgegen. Auf Steuerbordhalsen segelnd und mit festgezurrten Bram- und Stagsegeln, weißen Gischt vor dem Bug, dippte sie die Reedereiflagge zum Gruß der Maisie Rose und setzte mehrere Signalwimpel.

James nahm das Fernrohr und las:

»Von Reederei: Erwarten Fracht. Empfehlen Dampfschlepper.«

Diese Reise hatte sich bereits als beschwerlich genug erwiesen, und James lehnte es als seiner unwürdig rundweg ab, sich zu guter Letzt noch von einer stinkenden Dampfmaschine in den Hafen schleppen zu lassen.

Während Mr. Baines, der Steuermann, den Antwortwimpel hisste, schwang sich James in die Wanten und kletterte Hand über Hand nach oben.

Sechzig Fuß über Meereshöhe erweiterte sich für James die Sicht von vier auf neun Meilen. Fünfzehn Fuß über ihm saß der Ausguck.

Dieser wies wieder in die Ferne, und James ließ den Blick über den Horizont in südwestlicher Richtung schweifen. Gewiss, da stand eine weiße Wolkenwand, die fast die Kimm berührte. James nahm das Glas aus dem Gürtel, stellte es ein und suchte weiter westlich, Richtung Irland. Irgendetwas leuchtete weiß und golden und reflektierte das Sonnenlicht. James stemmte sich fester gegen das langsame Rollen des Schiffes und stellte das Fernglas noch schärfer ein. Der Fleck löste sich in die Ambossform einer Kumuluswolke auf, die einen Regenvorhang hinter sich herzog.

Er atmete befriedigt auf und schob das Fernrohr wieder zusammen. Erst würde der Wind kommen, dann der Regen.

Einen kurzen Augenblick genoss er das Hochgefühl des Alleinseins. Ein Ausschnitt der Welt, seiner Welt, lag wie auf einer Karte vor ihm ausgebreitet.

Die krause Oberfläche der Liverpool Bay wurde hier und da von den Sandbänken der Great Burbo und den Untiefen von East Hoyle unterbrochen. Der stumpfe Daumen der Wirral-Halbinsel stieß gegen den engen Hals des Mersey vor. Auf der anderen Seite lag der Hafen von Liverpool. Auch Mitte August hing ein Schleier von Kohlendunst über der Stadt und streckte vom Wind zerzauste Arme über den Fluss. Dampffähren bahnten sich den Weg über den Strom; ihre das Wasser aufwühlenden Schaufelräder vermittelten den Eindruck, als hüpften schwarze Insekten über die Wasseroberfläche.

James hatte das seltsame Gefühl, als brauche er nur den Arm auszustrecken, und die ganze Welt liege ihm zu Füßen.

Eine zänkische Möwe ließ sich mit lautem Geschrei auf dem Ende der Rah nieder und brachte ihn aus seinen Träumen wieder in die Wirklichkeit zurück.

Das Problem war jetzt ein mathematisches und geometrisches. Geometrisch kam es darauf an, dem hereinkommenden Wind genau am richtigen Punkt zu begegnen, dann zu wenden und wie ein immer schneller dahingleitender Wellenreiter in den Mersey einzulaufen. Mathematisch hing alles davon ab, die Gezeiten so zu berechnen, dass die Maisie Rose Wind und Strömung von achtern haben würde. Ein starker Südwest würde die Ebbe zurückhalten, dann würde die Flut das Schiff sicher über die Sandbänke direkt in die Mersey-Mündung hineintragen, bevor die Kapitäne der übrigen Schiffe überhaupt merkten, was gespielt wurde.

Noch ganz mit seinen Berechnungen beschäftigt, stieg er auf Deck hinunter und trat neben den Steuermann.

»Fertig zum Halsen, Mr. Baines«, sagte er.

Baines mochte erstaunt gewesen sein, aber er stellte einen Befehl nie in Frage.

»Klar zum Halsen«, brüllte er. »Nun belebt euch mal ein bisschen, ihr pockennarbigen Hafenarbeiter! Los, Tempo!«

Während der Rudergänger das Rad herumwarf, war Baines tretend, fluchend und schlagend mitten unter der Besatzung.

Zu erschöpft, um sich noch dagegen aufzulehnen, holten die Leute den Besan ein, brassten die Rahen; die Leute vom Fock- und Großmarssegel hasteten das Deck entlang, um müde nach oben zu klettern.

Das Schiff machte eine scharfe Wendung und nahm Kurs auf die offene See.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel: James

 

 

Das Begräbnis fand am Donnerstag nachmittags um drei Uhr statt. Ein wolkenbruchartiger Regen durchnässte die Trauergäste trotz ihrer Schirme bis auf die Haut und sorgte dafür, dass sich alle gleichermaßen hundeelend fühlten.

Robert und Sarah stapften verdrossen durch den Morast und folgten dem Sarg auf dem scheinbar endlosen Weg vom Friedhofstor zur Kapelle. Sie klammerten sich wie zwei Schiffbrüchige aneinander. Hinter ihnen machte Isabel ihrem Missvergnügen Luft und umfasste Onkel Will Perkins’ stützenden Arm nur umso fester. Onkel Will Perkins, ein strenger Moralist, schrak bei der unmissverständlich weiblichen Berührung zusammen und schob alle sündigen Gedanken mit Festigkeit von sich. Der Kopf hing ihm fast bis auf die Brust herab; er schritt mit der Starrheit einer Gliederpuppe dahin und nahm die Wasserbäche, die ihm den Rücken hinunterliefen, sowohl als Segen wie auch als Warnung des Allmächtigen hin. Vetter Wilberforce Onedin, der vierzigjährige Junggeselle, geleitete Tante Annie Wagstaffe, die sich, an einem Ebenholzstock mit Silberknauf dahinhumpelnd, vergangener Begräbnisse erinnerte und nach Lavendel und Pfefferminzplätzchen roch.

Hinter ihnen folgten die übrigen Trauergäste – Ladenbesitzer aus der Nachbarschaft einschließlich Mr. Simpson und Mr. Jenkins, die beide wünschten, sie hätten als Ausdruck ihres Beileids einen Kranz mit einer Karte geschickt, statt eine Lungenentzündung zu riskieren bei dieser Nässe. Mr. Simpson nieste heftig, und Mr. Jenkins schnäuzte sich geräuschvoll in sein Taschentuch. Wie der Vater, so der Sohn, dachte er, indem er die vom Regen gepeinigten Augen auf Roberts gekrümmten Rücken richtete. Durch und durch ebenso niederträchtig wie sein Vater, und Mr. Jenkinsʼ Hoffnungen auf einen steifen Grog nach dem Begräbnis schienen sich in dem wolkenbruchartigen Regen in nichts aufzulösen.

Die Glocke beendete ihr monotones Trauergeläut, als sie endlich die Kapelle betraten. Sie schritten den Mittelgang hinunter und verteilten sich, streng nach der Rangordnung, auf die ersten beiden Sitzreihen, wo sie sich auf die Knie niederließen, als wollten sie beten. Pfarrer Samuels entledigte sich der Handschuhe und des Umhangs und reichte beides an den Küster weiter, bevor er die Stufen zur Kanzel emporstieg.

Tante Annie Wagstaffe zog verstohlen ein neues Pfefferminzplätzchen hervor. Vetter Wilberforce Onedin krächzte und hustete, sah sich hilflos nach einem Spucknapf um und erleichterte sich, da er keinen fand, in sein Taschentuch. Onkel Will Perkins blähte die nonkonformistischen Nasenflügel so weit auf, wie es ging, und schnupperte nach dem geringsten Anzeichen des verräterischen Weihrauchs. Mr. Simpson hielt mitten im Niesen inne, was zur Folge hatte, dass er fast geplatzt wäre, und Mr. Jenkins kam zu dem Schluss, dass gewiss das mindeste, was sie von Robert erwarten könnten, ein Kasten Bier um neun Schilling sei.

Pfarrer Samuels fröstelte in der feuchtkalten Luft der Kapelle; er lauschte einen Augenblick dem Prasseln der Regentropfen auf den Dachschindeln und erwählte sich dann als seinen Text die Worte aus dem Prediger Salomo, Kap. 5, Vers 15: »Was hilftʼs ihm denn, dass er in den Wind gearbeitet hat?« Er hielt diese Stelle in einer seefahrenden Gemeinde für besonders angemessen – umso mehr, da es sich bei den Trauergästen hauptsächlich um Geschäftsleute handelte, deren Broterwerb von den gottgesandten Winden des Meeres abhing. Er begann mit dem Lob auf die Tugend der Sparsamkeit, wie sie der Verblichene geübt habe, pries dessen Fleiß und versicherte der trauernden Familie, dass ihr Vater in das ewige Leben eingehen werde.

Er fuhr mit dem Gleichnis vom guten und schlechten Saatkorn fort, betonte die Bedeutung des guten Haushaltens, forderte die Anwesenden auf, der Vorsehung für ihre mannigfachen Segnungen zu danken, erinnerte sie daran, dass jedes Menschenkind, wenn die Zeit gekommen ist, vor seinem höchsten Richter stehen werde, und warnte sie, vor den götzendienerischen Praktiken der Ritualisten und Traktarianer auf der Hut zu sein.

Onkel Will Perkins kreuzte die Arme vor der Brust und nickte zustimmend, während draußen schließlich die Sonne doch noch durchbrach und das Regenwasser wie ein goldener Seidenvorhang von dem Dach herniederrann.

Die Trauergäste schritten zu dem offenen Grabe mit seinem frisch ausgehobenen Hügel aus rotem Lehm und dem Grabstein aus Schiefer mit der Inschrift:

 

Hier ruht Mary Onedin, geb. 1809, gest. 1897 – R.I.P.

 

Als Samuel Onedin an der Seite seiner Frau zur letzten Ruhe gebettet wurde und Pfarrer Samuels das Gebet In der Mitte des Lebens sind wir vom Tod umgeben intonierte, schluchzte Sarah laut vor sich hin. Robert starrte wie versteinert auf seine Stiefel, und Onkel Will Perkins bewegte stumm die Lippen, als wolle er jedes Wort des Pfarrers sorgfältig prüfen – wie ein Mann, der einem Falschmünzer auf der Spur ist und Isabel hob den Blick und sah direkt in das bärtige Gesicht und die blassblauen Augen eines großen, jungen Mannes, der aus dem Nichts aufgetaucht zu sein schien und jetzt plötzlich neben ihr stand.

Er hatte einen teerbeschmierten Zylinder auf dem Kopf, trug einen schwarzen Gehrock und einen hohen Kragen, der ihn fast zu ersticken drohte.

Sie hauchte »James!«, und das Gespenst grinste und blinzelte ihr zu, bevor es seinem Gesicht wieder den Ausdruck gesammelter Feierlichkeit gab.

»Asche zu Asche, Staub zu Staub«, sprach Pfarrer Samuels mit eintöniger Stimme, und Robert hob eine Handvoll nassen Lehms hoch und ließ ihn mit einem dumpfen Plumps in das Grab fallen. Die übrigen taten es ihm nach, und die Zeremonie war vorüber.

James und Robert gaben sich die Hand und gingen an der Spitze der Trauergemeinde zu den wartenden Wagen und den ungeduldig scharrenden, mit schwarzen Federbüschen gezierten Pferden zurück.

»Wir haben vor zwei Stunden festgemacht«, sagte James. »Ich erfuhr die Neuigkeit und bin gleich hergekommen.« Er half Sarah und Isabel beim Einsteigen. »Wann ist es passiert?«

Robert stieg auch ein und setzte sich neben seinen Bruder.

»Vor drei Tagen«, sagte Sarah und betupfte sich die Nase mit einem schwarzen Leinentaschentuch.

»Es war ein ganz plötzlicher Anfall«, sagte Robert.

»Ein Schlaganfall«, korrigierte Sarah. »Der dritte. Er kam während der Nacht. Wir waren bis zum Ende bei ihm. Es ist ein großer Jammer«, fügte sie hinzu, »dass seine beiden Söhne nicht zugegen sein konnten. Ich bin sicher, dass es eine große Tröstung für ihn gewesen wäre.«

James verzog das Gesicht zu einem maliziösen Grinsen. »Ich fürchte, nicht einmal mir würde es gelingen, ein Schiff in den Wind zu segeln, auch wenn ich Vater damit einen Gefallen hätte erweisen können. Und so, wie die Dinge nun einmal liegen, möchte ich behaupten, dass meine Anwesenheit seinen Tod eher beschleunigt als hinausgezögert hätte.«

Sarah war empört. »James! Dein eigener Vater!«

James rümpfte die Nase. »Er war ein zänkischer alter Teufel, das lässt sich nicht leugnen.« Er drehte sich zu Robert um. »Hat er viel hinterlassen?«

Robert besaß soviel Takt, den Eindruck zu erwecken, als sei er von der Frage peinlich berührt, und überließ Sarah die Antwort.

»Nur den Laden«, sagte Sarah. Ihre Worte klangen schärfer, als sie beabsichtigt hatte. Bei James wusste man nie, woher der Wind wehte.

»Er hinterließ ihn Robert«, fügte sie boshaft hinzu. »Und dir einen guten Rat.«

»Also scheint er niemandem etwas von Wert vermacht zu haben«, meinte James.

»Er hat gesagt«, sagte Isabel, »dass ein Mann, der einem gewundenen Pfade folgt, weit zu gehen hat, aber schließlich ans gleiche Ziel gelangen wird.«

James meinte geringschätzig: »Da sprach ein Mann mit wenig Richtungssinn.« Er wandte sich wieder Robert zu. »Ohne Vater, der dich jetzt nicht mehr zurückhält, solltest du das Geschäft bedeutend erweitern können, Robert.«

Robert war unbehaglich zumute; der alte Groll stieg wieder in ihm hoch. James hatte es leicht, gute Ratschläge zu geben; sie kosteten ihn nichts. Deshalb antwortete Robert nur kurz.

»Ein Schritt nach dem anderen, James. Ein Schritt nach dem anderen. Ich bin mit den Dingen, wie sie zurzeit sind, durchaus zufrieden.«

James blickte seinen Bruder missbilligend an. Der Narr konnte nie weiter sehen, als seine Nase lang war.

»Das solltest du aber nicht sein«, sagte er. »Man baut jetzt Schiffe mit einer Länge von zweihundert Fuß und mehr, ganz aus Eisen...«

»Das ist ungeheuerlich und wider die Natur«, fiel ihm Sarah ins Wort. »Eisen«, verkündete sie belehrend wie jemand, der eine unwiderlegbare Tatsache feststellt, »Eisen schwimmt nicht.«

James hörte ihr gar nicht zu. Sein Blick schweifte in die Ferne.

»Sechzig Mann Besatzung, und für jeden einzelnen muss Verpflegung da sein. Gewaltige Mengen Segeltuch. Meilen von Tauwerk. Das ist deine Chance, Robert. Ergreif sie.«

Robert schüttelte den Kopf. »Die Reeder und Schiffseigner werden sich nie dazu bereit finden, von einem kleinen Mann wie mir zu kaufen. Ich kann mir auch keinerlei sogenannte Zuwendungen an die Kapitäne leisten.«

»An der Westküste Amerikas liegt ein Ort mit Namen Sacramento. Dort zahlt man bis zu zwanzig Goldstücke für ein Fass Mehl. Denk an den Gewinn, Robert«, drängte er, »denk an den Gewinn.«

»Denk an die Verluste«, erwiderte Robert. »Das Schiff mit der Ladung Mehl muss um Kap Hoorn herum; und auf dieser Route ist die Verlustrate hoch. Das solltest du erst recht wissen, James.« Er hatte sich ereifert. James entgegnete voller Verachtung: »Schwächliche Schiffe und schwächliche Männer. Gib mir ein Schiff – ein einziges, gut ausgerüstetes Schiff und ich bringe dir ein Vermögen ein, Robert.«

Robert fing an, sich zu ärgern. James redete, als wenn man Schiffe und Ware aus der Luft herbeizaubern könne.

»Zum Geschäft gehört noch ein kleines bisschen mehr als nur Kaufen und Verkaufen«, sagte er und hoffte, dem Gespräch damit ein Ende gesetzt zu haben. »Das kannst du mir glauben.«

James zwang sich zur Ruhe. Er streckte eine Hand offen aus.

»Ich kaufe.« Dann streckte er die andere aus. »Ich verkaufe. Wo liegt der Profit?«

Robert wies in die Mitte. »Dazwischen natürlich.«

James schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein, Robert. Der Profit liegt bei demjenigen, der etwas besitzt. Der Schiffseigner macht den Gewinn. Nicht der Angestellte, wie gut er auch bezahlt sein mag.«

»Schön«, sagte Robert säuerlich, »und er riskiert auch den größten Verlust.«

Jamesʼ Verärgerung wuchs; er sagte mit rauer Stimme: »Ein Mann, der nichts hat, kann auch nichts verlieren und liegt als Beweis dafür in einem Armengrab.«

Sarah war schockiert. »Aber James! So von deinem eigenen Vater zu sprechen!«

In Isabels Augen spielte ein spöttisches Lächeln.

»Würde es dir denn lieber sein, als Reicher begraben zu werden?«

James verzog das Gesicht zu einem verächtlichen Grinsen.

»Klar. Denn ich werde es mir verdient haben.«

Die Kutsche rumpelte über das holprige Kopfsteinpflaster vor den Goree Piazzas dahin. Zänkische Möwen, im taumelnden Fluge vor dem Wind dahinsegelnd, stießen ihre hässlichen Schreie aus. James ließ das Fenster herunter und streckte den Kopf hinaus.

»Halten Sie hier, Kutscher«, rief er, öffnete die Tür und sprang auf die Straße hinunter. »Ich habe hier zu tun«, erklärte er und wandte sich, als der Kutscher mit der Peitsche knallte und das Pferd mit schnalzenden Zungenlauten wieder antrieb, auf der Stelle um, schritt erhobenen Hauptes an Kneipen, Hafenschenken, Schiffsausrüstern und Getreidehandlungen vorbei und blieb vor einem rußgeschwärzten Säulenportal stehen. Ein in die Mauer eingelassenes blankes Messingschild verkündete: Callon & Company, Reederei, Schiffsmakler, Transportagentur. 

Ein Bettler saß dort, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt; er stellte Narben und Verstümmelungen zur Schau, die, wie einem ihm um den Hals gehängten Schild zu entnehmen war, die Folge einer Schiffskatastrophe waren. James ignorierte die klappernde Blechschüssel ebenso wie den Straßenmusikanten, der barfüßig und barhäuptig in der Gosse stand und auf einer Geige herumstrich. Zwei Dirnen stritten sich lauthals um den Besitz eines betrunkenen Seemannes, und ein Schmuggler trieb eine Herde Auswanderer in den Toreingang eines schmierigen Absteigequartiers. Die Vertrautheit der Szene kam James nicht einmal zum Bewusstsein, als er, zwei der geweißten Steinstufen auf einmal nehmend, den Gruß des einarmigen Portiers entgegennahm und die Treppe zu den Geschäftsräumen der Reederei hinauflief.

 

 

 

 

  Drittes Kapitel: Callon

 

 

Agnew, Callons Büroleiter, kam eilends von seiner Estrade herunter und schüttelte James die Hand. Die an langen Tischen sitzenden Angestellten beugten die Köpfe noch emsiger über ihre Bücher und kopierten mit kratzenden Federn Frachtbriefe, Konnossemente, Charterverträge, Charterpartie-Dokumente, Dockempfangs- und Warenhauslagerscheine; Tausende von Verträgen, Schriftstücken und Briefen, die nötig sind, bevor ein Schiff auslaufen oder bei der Heimkehr an der Pier festmachen und seine Ladung löschen kann.

Agnew war ein kleiner Graubart mit stahlgeränderter Brille und unübertroffenem Wissen über die Geschäftslage aller Reedereien im Hafen von Liverpool. Seinen Oberen gegenüber willfährig und unterwürfig, war er ein Tyrann zu seinen Untergebenen und herrschte über das Kontor mit der eisernen Disziplin eines Kriegsschiffskommandanten.

»Mr. Callon möchte Sie unverzüglich sehen, Captain Onedin. Hier bitte, Sir.«

James brummte eine Dankesformel und folgte Agnew über die kleine Treppe bis zur Tür von Callons Allerheiligstem. Agnew klopfte leise an und führte James hinein.

Mr. Callon erhob sich, entließ Agnew mit einem Kopfnicken und lud James zum Sitzen ein.

Jamesʼ Arbeitgeber war ein breitschultriger Mann von derbem Gesichtsschnitt. Mit 58, Jahren war er dreißig Jahre älter als James, trug einen Anzug aus schwerem Wollstoff und eine dicke goldene Uhrkette über dem hervorquellenden Bauch. Er hatte schwärzliche Zähne, eine breite, spachtelförmige Nase und zornige, dunkle Augen, die wie zwei Rosinen in einem Korinthenbrötchen wirkten; das ganze

Gesicht war von einem ingwerfarbenen Backenbart eingerahmt. Er stellte eine Flasche und ein Glas vor James hin.

»Sie werden ein Glas Jamaica nehmen, Captʼn Onedin.«

Es war ebenso ein Befehl wie eine Einladung, und James, der Rum verabscheute, hielt es für klüger, das Angebot nicht abzulehnen. Er schenkte sich ein und trank auf die Gesundheit seines Arbeitgebers.

Callon war zum Stuhl hinter dem wuchtigen Schreibtisch zurückgekehrt. Er dankte kurz und wandte sich dann mürrisch den vor ihm liegenden Schiffspapieren zu.

»Sie waren überfällig, Captain?«

James nickte. Er wusste, dass dies erst der Auftakt war. Das eigentliche Gefecht musste noch kommen.

»Wir verließen Lissabon vor achtzehn Tagen«, sagte er. »Es war keine Reise, auf die man stolz sein könnte. Die ganze Zeit Gegenwind, und wir mussten die letzten drei Tage vor den Sandbänken kreuzen.«

Callon brummte etwas vor sich hin. Es war immer die alte Geschichte. Der Wind, der ein Schiff in den Hafen blies, würde es wahrscheinlich nicht wieder hinausblasen. Er tat so, als prüfe er noch einmal die Schiffspapiere.

»Volle Ladung, wie ich sehe?«

James war müde. In den letzten zweiundsiebzig Stunden hatte er nicht geschlafen und davor auch nur sehr wenig. Außerdem hatte er für Katz-und-Maus-Spiele wenig übrig; besonders dann nicht, wenn ihm die Rolle der Maus zugedacht war. Er antwortete deshalb kurz und mit einem Anflug von Gereiztheit.

»Wein. Häute, Schaffelle. Und eintausend Kisten Sevilla-Orangen. Aber ich fürchte, wir haben ein Leck im Vorschiff, Sir. Seit dem fünften Tag der Reise stehen die Leute an den Pumpen.«

Callon war wütend. »Ein Leck im Vorschiff! Sie haben ihm zu viel zugemutet, Mann!«

Der Vorwurf war ungerecht, und beide wussten es.

»Im Dienst für Sie, Sir«, entgegnete James ungerührt.

»Der Himmel möge mich vor einem solchen Dienste bewahren«, fuhr Callon auf. »Zusätzliche Kosten, verdammt. Einem Schiffseigner fließt das Geld heutzutage nur so aus der Tasche.«

»Das Schiff ist unterhalb der Wasserlinie vermorscht.« James sprach steif und unterdrückte seinen Zorn nur mit Mühe. »Ich habe Sie in meinem letzten Bericht auf diesen Umstand aufmerksam gemacht, Sir.«

»Und obwohl Sie davon wussten, sind Sie mit Vollzeug gesegelt?« Callon hob den Blick, als wolle er den Himmel zum Zeugen anrufen.

»Sie verlangten eine schnelle Reise«, gab James zurück. Er hatte das Spiel satt. Callon war das Risiko bewusst eingegangen und hatte auf günstige Winde gehofft. Die Rechnung war nicht aufgegangen. Daran konnten auch alle Wutausbrüche nichts ändern.

Callon schlug auf den Tisch. »Zum Teufel noch mal, Sir. Was nützt eine schnelle Reise, wenn Sie mir das Schiff halb voll Wasser und mit einer verdorbenen Ladung zurückbringen? Ich sage Ihnen, Captain Onedin, ein nochmaliges Vorkommnis wie dieses wird Sie teuer zu stehen kommen.« Immer noch wütend, zog er die Taschenuhr heraus, brummte das Zifferblatt an, als wolle es ihn hinters Licht führen, und klappte den Deckel wieder zu. James unterdrückte ein Gähnen, indem er vorsichtig einen Schluck Rum trank. Er konnte beim besten Willen nicht begreifen, wie ein vernünftiger Mensch diesem Zeug etwas abgewinnen konnte. Sein widerwärtiger süßlicher Geschmack ekelte ihn an. Callons Gesicht, stellte er fest, war fleckig vor Zorn. Der Mann ist ein Narr, dachte er bei sich. Mein Gott, wenn er nur ein eigenes Schiff hätte! Ein einziges Schiff. Dann würde er Callon und seinesgleichen schon zeigen, was die Uhr geschlagen hat. Er merkte, dass Callon zu einem etwas versöhnlicheren Ton übergegangen war.

»Eines Tages«, sagte der Reeder, »werden Sie ein Schiff auf den Westmeeren übernehmen, eh? Dürfte Ihnen mehr zusagen als der portugiesische Weinhandel, eh, eh?«

James blieb völlig ungerührt. Callons leere Versprechungen waren ebenso bekannt wie sein Poltern und Toben. Im festen Glauben an die Nützlichkeit von Zuckerbrot und Peitsche pflegte er zunächst über den Untergebenen herzufallen und ihn entweder zu einem zitternden Nervenbündel zu machen oder, wenn es sich um einen härteren Burschen handelte, ihn zu reizen, den ungleichen Kampf aufzunehmen. Dann, wenn er sich über den Wert des Betreffenden für die Gesellschaft klargeworden war, gaukelte er ihm künftige Reichtümer vor. Darauf gab es nur eine Reaktion: ein angemessenes Wort des Dankes, das Eingeständnis eigener Fehler und das Versprechen, man werde sich Mr. Callons Vertrauen würdig zu erweisen suchen.

James ignorierte den Köder, indem er sagte: »Señor Braganza übermittelt Ihnen seine Komplimente, Sir, und bittet Sie, daran zu denken, dass sein Vertrag in sieben Wochen erneuert werden muss.«

»Ich hatte es nicht vergessen.« Callon lächelte so leutselig, wie er nur konnte. »Ich werde Agnew sofort schreiben lassen. Wir müssen uns den Señor warmhalten, eh? Dieser portugiesische Weinhändler ist unser tägliches Brot.«

James pflichtete ihm höflich bei. Diese Feststellung war zweifellos richtig. Callon & Company hatte sechs Schiffe auf der Route nach Lissabon eingesetzt. Zwei Zweimaster und vier Schoner; und der Handel weitete sich aus. James empfand eine ausgesprochene Hochachtung vor der Geschäftstüchtigkeit Callons. Zunächst hatte er sich mit Hilfe des Weinhandels einen Rückhalt in Lissabon gesichert. Dann klapperten seine Schiffe die portugiesische und spanische Küste ab und nahmen Ladung, wo immer sie konnten – und gnade Gott dem Kapitän, der sein Schiff nicht vollbeladen zurückbrachte. Jetzt vergrößerte Callon die Tonnage seiner Flotte und ersetzte die Schoner durch die größeren und schnelleren Briggs. Aber obwohl das Weingeschäft – mit seinen Nebenprodukten – ohne Zweifel das tägliche Brot der Reederei darstellte, wurden die Hauptgewinne, wie James nur zu gut wusste, durch das Auswanderergeschäft auf den westlichen Meeren erzielt. Wenn auch die neumodischen Segelschiffe mit Dampfmaschinen als Hilfsantrieb die Überfahrt in der Hälfte der Zeit bei einem wesentlich höheren Komfort bewerkstelligten, so waren die Preise für eine Passage eben auch wesentlich höher – acht Pfund sechzehn Schilling mit dem Dampfer gegenüber drei Pfund zehn Schilling auf dem Segelschiff. Die Armen hatten keine Wahl und mussten sich wie die Sardinen in der Büchse zusammenpferchen lassen. Die Hochkonjunktur der fünfziger Jahre war zwar vorbei, aber es ließen sich immer noch beachtliche Gewinne mit Schiffen erzielen, die eine Ladung elender Auswanderer nach Übersee transportierten und mit Baumwolle und Leinöl zurückkamen. Reedereien wie Callon & Company hörten anscheinend nicht auf, in großem Maßstab Geld zu scheffeln. Es war eine Zeit der Expansion, und James spürte schon seit geraumer Zeit den immer stärker werdenden Drang in sich, endlich selbständig zu werden. Der Mann, der besitzt, ist der Mann, der den Profit macht. Diese Worte hallten wie

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Cyril Abraham/Apex-Verlag/Successor of Cyril Abraham.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Korrektorat: Mina Dörge.
Übersetzung: Karl-Otto und Friederike von Czernicki (OT: The Onedin Line, Book 1: The Shipmaster).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 22.09.2021
ISBN: 978-3-7487-9550-6

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