Victor Koman
Der Jehova-Vertrag
Roman
Apex Horror, Band 61
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DER JEHOVA-VERTRAG
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Das Buch
Ich begann von innen heraus zu verrotten - genauso wie die Stadt.
Mein ganzes Leben lang als Berufskiller hatte ich den Tod von außen erwartet, durch eine Kugel in die Brust oder durch einen Messerstich. Doch jetzt saß ich in den radioaktiv verseuchten Ruinen von Los Angeles und wartete auf den Tod wie eine alte Frau auf einen lang ersehnten Besucher...
Der Jehova-Vertrag des US-amerikanischen Schriftstellers Victor Koman (Jahrgang 1954) gilt als Klassiker der modernen Horror-Literatur und erschien erstmals im Jahr 1984; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1985.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Romans in seiner Reihe APEX HORROR.
DER JEHOVA-VERTRAG
Für Sondra Hendrick, eine dreifache Dame.
Erstes Kapitel
Ich habe das alles schon erlebt und zur Hälfte selbst verschuldet und – offen gestanden – ich war voll und ganz bereit, die Konsequenzen zu ziehen. Also warf mich das, was der Doktor sagte, nicht um. Ich hatte die Times zur Hälfte ausgelesen, als Schwester Evangeline ins Wartezimmer kam und mich ansah. Ihre braunen Rehaugen waren feucht, als hätte sie gerade von einem geliebten Teddybär Abschied genommen.
»Mr. Ammo? Dr. La Vecque erwartet Sie.«
Ich schaltete die elektronische Zeitungsplakette aus und ließ sie in meine Brusttasche gleiten. Als ich an ihr vorüberging, klopfte ich ihr mit der Hand aufs Kreuz, ungefähr da, wo sich die Lawine ihres platinblonden Haares zu kräuseln begann. Diesmal lächelte sie nicht wie sonst. Jetzt wusste ich Bescheid.
»Du musst lernen, die Dinge mit mehr Gefasstheit zu akzeptieren, Evvie. Verstehst du?« Ich grinste sie an. Sie warf mir noch einen Blick zu, und ihre Spannung schien nachzulassen. Ich versetzte ihr noch einen Klaps und ging ins Sprechzimmer.
Dr. La Vecque behandelte die meisten der alternden Vagabunden, die sich in der Gegend von Figueroa und Fourth herumtrieben, sodass ich mich ihnen automatisch zugehörig fühlte. Und – ebenso selbstverständlich – sein Sprechzimmer war den Patienten angepasst. Alle Nadeln waren weggeschlossen, ebenso die Drogenmuster und ähnliches. Seine Praxis lag acht Stockwerke unter meinem Büro in Arco Tower, oder vielmehr jenem Teil, der noch steht.
Nachdem ich etwa zwanzig Minuten mit feuchten Handflächen gewartet hatte, hörte ich, wie sich die Tür öffnete.
»Nehmen Sie Platz.« La Vecque hielt nicht viel von Formalitäten. Ich setzte mich auf die Tischplatte, und er ließ seine schmächtige, vogelartige Gestalt in den zerschlissenen Sessel daneben sinken. Er warf die Akte, die er in der Hand hielt, auf den Tisch, rieb sich den Nasenrücken und seufzte.
»Soll ich es Ihnen schonend beibringen, Dell?«
»Nein.«
»Sie haben noch sechs Monate – höchstens ein Jahr. Das Sarcoma ist metastatisch. Hat schon sämtliche Knochen angegriffen.«
»Hört sich schmerzhaft an.«
»Wird es auch sein. Ich kann Ihnen schmerzstillende Mittel geben.«
»Vergessen Sie es, Doktor. Ich will nicht als Junkie sterben.«
Einen Moment lang sah er gekränkt aus, ließ die Bemerkung aber durch. Kopfschüttelnd lehnte er sich zurück und musterte mich mit dem unparteiischen Blick eines Technikers.
»Das staatliche Institut für Krebsforschung unterhält eine Klinik für osteogenes Sarcoma. Die könnten Sie umsonst behandeln.«
»Ja, und dann sehe ich aus wie ein plastisches Skelett, imprägniert mit Kobalt Sechzig. Nein, danke. Wenn es soweit ist, kratze ich eben ab.«
Er zog seine spärlichen Augenbrauen hoch und fragte: »Sind Sie ein religiöser Mann?«
»Ich bin ein Mann. Und ich will nichts anderes sein, bis ich sterbe.« Ich stand auf. Er sah mich an, als hätte ich die Portokasse ausgeraubt, was mich daran erinnerte, warum er wohl seine Praxis mitten in Skid Row betrieb. Ich dankte ihm für seine Prognose und verschwand, wobei ich Evangeline noch einmal zuwinkte. An der Art, wie ihre Augenlider zuckten, erkannte ich, dass sie als Krankenschwester recht ungeeignet war. Aber ich konnte mir denken, warum La Vecque sie behielt.
Ich stieg die acht Stockwerke bis zu meinem Büro hinauf und überlegte mir dabei, wie lange es wohl noch dauern würde, bis der Schmerz und die Anstrengung zu viel wurden. Wie lange noch, bis ich mich auf den klapperigen Fahrstuhl verlassen musste, bis ich starb, oder das Ding mich umbrachte. Zwanzig Stockwerke in einem Stahlsarg in die Tiefe zu sausen, schien mir ein sauberer Tod als nachts wach zu liegen und zu fühlen, wie die Knochen langsam verfaulten.
Ich bekam Depressionen. Lieber besoffen als deprimiert, dachte ich und ging durch die Tür mit der Aufschrift D LL AMMO, SOLUTIONS, I C., wobei ich mir überlegte, ob ich wohl das Rätsel lösen könnte, wer die Buchstaben E und N gestohlen hatte. Ich holte eine Flasche Whiskey aus der Schreibtischschublade und begann mich zu besaufen, wie gehabt.
Immer wenn ich mich betrank und mein Kopf anfing zu summen und sich zu drehen, dachte ich darüber nach, warum ich mir überhaupt die Mühe machte. Zehn Millionen panamerikanischer Dollars warteten auf mich, und ich lebte wie eine Made, die zusammen mit den anderen Maden in einem sterbenden Kadaver herumkroch und sich bemühte, nicht so madenartig zu sein wie die anderen.
Zehn Millionen, die ich unter verschiedenen Namen, die ebenso falsch waren wie mein jetziger, gespart hatte, und die ich bis zum Jahr 2000 nicht abrufen konnte. Also noch sechs Monate.
Ich kam mir vor wie ein Marathon-Läufer, der hart vor der Ziellinie tot zusammenbricht.
Sehen Sie, in meiner Branche wird man gut bezahlt, ist aber nicht geneigt, das Geld auszugeben. Plötzlicher Wohlstand könnte auffallen. Irgendein neugieriger Bulle oder FBI-Agent kann plötzlich anfangen herumzustochern. Wenn er dann genug herausfindet...
Leute in meinem Beruf kommen gewöhnlich nicht vor Gericht. Sie beschließen ihr Leben mit einem Messer im Rücken, in einem Dreckloch wie diesem, mit veränderten Fingerabdrücken, unkenntlichem Gesicht und vernarbter Netzhaut. Oder manchmal verschwinden sie ganz einfach.
Das Leben eines Killers ist im besten Falle ein schlechtes Risiko.
Mit Hilfe von Professor Jack Daniel – der Whiskeyflasche vor mir auf dem Tisch – kehrten die Erinnerungen zurück. Es wird behauptet, dass ich der beste Fachmann in diesem Geschäft bin. Ich bin seit siebenunddreißig Jahren als Killer beschäftigt und verdiene meinen Unterhalt ausschließlich in diesem Beruf. Mit fünfzehn ließ ich hinter dem Grashügel in Dallas Knallfrösche hochgehen. Die Jungs vom Geheimdienst hatten mir gesagt, es sei zu Ehren des Präsidenten. Aber ich wusste, dass sie nur zur Ablenkung bestimmt waren. Und ich hielt den Mund – meine beste Eigenschaft und das Kennzeichen des echten Profis. Dafür bekam ich fünfzig alte amerikanische Dollars ausbezahlt.
In den sechziger Jahren amüsierte ich mich königlich. Ich war jung, und es gab viele politischen Morde. Der eine Nachteil bei diesem Geschäft sind all die pressegeilen Hunde, die dir die Schau stehlen, weil du dich nicht traust, öffentlich aufzutreten. Aber mir passte das gerade. Das einzige Mal, wo ich fast berühmt geworden wäre, war, als sie im Jahr ‘68 im Ambassador-Hotel überall Kameras hatten. Fast hätten sie mich dabei aufgenommen, als ich mich hinter den Fußballspieler duckte und Sirhan die Knarre in die Hand drückte, als ich mit ihr fertig war. Ich war auch derjenige, der Bobby den Rosenkranz überreichte. Es schien mir angebracht.
Viele Leute dachten, es sei ein politischer Job gewesen. Ich wusste es besser. Es handelte sich um diese Schauspielerin und was er mit ihr gemacht hatte. Aber dieser Job verschaffte mir viel Kundschaft und größere und bessere Aufgaben. Johnson zum Beispiel.
Manchmal besteht Mord nur darin, dass man die richtige Person ins richtige Bett zu dem richtigen Plappermaul legt und dann in aller Gemütlichkeit zusieht, wie er umgelegt wird oder einem Verkehrsunfall zum Opfer fällt oder an Krebs stirbt.
Das ernüchterte mich. Krebs ist für manche Leute in meinem Beruf die bevorzugte Waffe. Sie wird für gewöhnlich von Killern benutzt, die ihre Opfer in ein Krankenhaus oder ins Gefängnis einschleusen können. Regierungskiller wenden sie oft an. Ich halte das für unsportlich – außerdem dauert es zu lang.
Ich überlegte, ob man das wohl bei mir angewandt hatte. Vielleicht ein überzufriedener Kunde? Osteogenes Sarcoma wurde von niemandem angewandt, den ich kannte.
Spielte das überhaupt eine Rolle? Ich war ohnehin geliefert, wie immer es mich erwischt haben mochte. Und was spielte es schon für eine Rolle, wenn jemand bemerkte, dass ich hie und da etwas über die Stränge schlug und zu gut lebte. Eine Garrotte um den Hals, in irgendeiner stinkenden Seitengasse von Los Angeles, würde es mir nur ersparen, mich selbst umzubringen, wenn der Schmerz unerträglich wurde.
Ich fasste einen Entschluss.
Als ich morgens aufwachte, tanzten tausend übergewichtige Kobolde auf meinem Schädel herum. Ich hob den Kopf vom Tisch und torkelte durch die Halle zum Badezimmer. Benny, der Dipsomane, lag auf dem Boden ausgestreckt, einen Ellbogen im Klo, und schnarchte fröhlich vor sich hin. Ich schob ihn zur Seite, in eine würdevollere Position, und benutzte das Klo für den ihm zugedachten Zweck. Der Smog von Los Angeles drang durch den Ventilationsschacht ein. Ich war froh, dass ich keinen Lungenkrebs hatte.
Als ich fertig war, ging ich in mein Büro zurück und trank zum Frühstück ein Glas Whiskey. Ich musste mich rasieren. Und baden – oder wenigstens kurz mal in Karbolsäure schwimmen. Ich steckte mir meinen .45er Colt Lightweight Commander in den Gürtel und ging zur Treppe.
Diesmal spürte ich es. Bis ich in die Lobby kam, tat mir alles weh. Ich setzte mich einen Moment, aber davon wurde es nicht besser. Wenigstens wusste ich jetzt, was all die kleinen Stiche und Schmerzen der letzten Wochen zu bedeuten hatten.
Ich sah mich um. Die Lobby diente als Aufenthaltsraum für die alten, sterbenden Verlierer der Arco-Slum-Gegend. Sie saßen, lagen oder kauerten wie Bündel aus Lumpen und Gin herum und warteten darauf, dass der Tod ihnen den Gnadenstoß versetzte. Männer und Frauen, die der Fortschritt gleichgültig hinter sich gelassen hatte.
Und ich war einer von ihnen.
Ich fühlte mich wie ein alter, kranker Hund. Ich zupfte mein Halstuch zurecht – wie all meine Kleidung der letzte Modeschrei von 1985 –, reckte mich zu meiner vollen Höhe von zwei Metern auf und trat über die anderen Vagabunden hinweg ins Freie. Ich war sowieso erledigt. Wenn mich schon ein kosmisches Geschoss erwischen sollte, wollte ich wenigstens stilvoll abtreten.
Ich ging zu meiner nächsten Bank. Dort hatte ich etwa fünfhunderttausend panamerikanische Dollars deponiert, die von einem Job an einem Senator stammten, der sich gegen den Privatbesitz von Solarkraft-Satelliten gesträubt hatte. Ihm ließ ich poetische Gerechtigkeit widerfahren. Er fuhr in sein Wochenendhaus nach Vermont. Abgelegene Landstraße. Dort wartete ich an einer scharfen Biegung auf ihn, einen blankgeputzten parabolischen Reflektor in der Hand. Leichtes Geld.
Ich bemerkte schon von weitem die Menschenschlange, die sich außerhalb der Bank bis zur nächsten Ecke erstreckte. Die Auszahlautomaten waren abgeschaltet und durch menschliche Schalterbeamte ersetzt worden, die an Tischen in der Bankhalle saßen. Wachmänner mit Lasergewehren und Revolvern bildeten eine drohend aussehende Reihe zwischen den Kunden und den Bankangestellten.
Trotz meines Katers fiel mir auf, dass etwas nicht stimmte. Ich zog die Times von gestern aus der Tasche und drückte auf den Knopf für Seite eins, Kolonne eins. Da ich gewöhnlich mit der Witzseite begann, dann die Todesanzeigen las, danach die Sportseite und zum Schluss die Nachrichten, war die kleine Notiz meiner Aufmerksamkeit entgangen.
Schon wieder eine Entwertung.
Die Dame mit der Schubkarre hätte mich darauf bringen müssen.
Ich seufzte und holte meine Bankkarte aus der Tasche. Ein Plastik-Plättchen mit dem Banksiegel. Wann hatte ich nur das Geld eingezahlt? ‘94? ‘95? Ich ignorierte das Protestgemurmel der nach drängenden Kunden und stellte mich an, bis ich an die Reihe kam.
»Der Nächste«, rief der Mann hinter dem Tisch und fügte hinzu: »Beruhigen Sie sich doch. Wir wechseln alles um. Es besteht kein Geldmangel.«
»Das ist ja gerade das Problem«, flüsterte jemand. Ich legte meine Bankkarte auf den Tisch. Der Angestellte, ein hagerer junger Mann in rotem Jumper, steckte sie in den Computer neben ihm. Gähnend zog er sie wieder heraus und gab sie mir zurück.
»Einzahlung oder Auszahlung?«, fragte er.
»Alles, was da ist. Sofort.«
»Bar oder Debitkarte?«
»In bar.« Er blickte mich an, als hätte ich ihn um Glasperlen oder Bärenfelle gebeten, dann langte er unter den Tisch und holte ein Päckchen orangefarbene Papierscheine hervor, mit dem eingravierten Konterfei eines mir unbekannten Mannes, dessen Kleidung noch altmodischer war als meine. Er blätterte zehn Scheine vor mir auf den Tisch.
»...vierhundert, vier-fünfzig, fünfhundert.« Er steckte die Hand in einen Sack an seiner anderen Seite, brachte ein paar mit bunten Fäden durchwirkte Plastik-Jetons zum Vorschein und drückte sie mir in die Hand. »Und noch achtundfünfzig Cents.«
»Ich hatte doch eine halbe Million Dollar hier deponiert!« Ungläubig starrte ich auf das Monopoly-Geld in meiner Hand und dann auf das wieselartige Geschöpf hinter dem Tisch.
»Dieses Geld haben Sie im April 1992 eingezahlt. Seitdem hat es sieben Entwertungen und Umwertungen gegeben. Jetzt haben Sie noch fünfhundert pan-pazifische Dollars und achtundfünfzig pan-pazifische Cents: Der Nächste.«
Ich hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ohne mich noch einmal umzusehen, drängte ich mich durch das Spalier der Bundesbankpolizei.
Ich wich einem Mann aus, der einen Sack, prall gefüllt mit dem lilafarbenen Papier der gestrigen Währung, heranschleifte. Dann trat ich hinaus auf die Straße und ging in Richtung Plaza. Ich strich mir das Haar zurück, wobei ein paar graue Haare an meinen Fingern haften blieben.
Großartig. Und zu allem war diese Einzahlung eine meiner letzten gewesen. Ich rechnete nach. Über den Daumen gepeilt besaß ich zwischen sieben- und zehntausend pan-pazifische Papierfetzen.
Mein Plan war also futsch. Ohnehin würde ich sterben, bevor ich ihn hätte ausführen können. Ich hätte mein Geld in Gold anlegen sollen, aber das hatte ich für ein noch größeres Risiko gehalten, weil der Besitz von Gold schon seit '88 gesetzwidrig war.
Der Heimweg erschien mir länger und tat noch mehr weh. Eine Raumfähre, die zur Erde zurückkehrte, donnerte über meinen Kopf hinweg. Ich gab meine Betrachtung der verschmutzten Gehsteige auf und starrte die Arco-Plaza an.
Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als beide Türme groß und schwarz dastanden und sich wie zwei steinere Götzenbilder gegen den blauen Himmel abhoben. Jetzt sah der Himmel stets etwas bräunlich aus, und es stand nur noch ein Turm, sozusagen. Ich entsinne mich, wie damals im Jahre ‘87 die revolutionäre Volksbrigade des Zwölften November im siebenundzwanzigsten Stock des südlichen Turmes eine kleine Kernspaltung vornahm. Die gesamte Südseite des Gebäudes brach zusammen und riss auch einen großen Teil des nördlichen Turmes mit sich, wobei fast alle vorderen Fenster herausgesprengt wurden. Ein Fall von unmittelbarer Grundstücksentwertung.
Nicht sehr viele der Überlebenden wollten es riskieren, in dieser radioaktiven Scheiße wohnen zu bleiben, und so wurde die alte Innenstadt – obgleich sie ziemlich gründlich entgiftet wurde – über Nacht zu einem Slum. Wer dort noch hauste, war der Abschaum der Menschheit, und für mich war der Ort das perfekte Versteck. Solutions Inc. war lediglich eine Deckung. Ich übernahm hin und wieder sogar ein paar kleine Aufträge: verlorene Wertgegenstände, von zu Hause weggelaufene Töchter und dergleichen. Keine Scheidungsfälle. Es war eine prima Deckung.
Ich ging in eine Telefonzelle, steckte meine Fernsprechkarte in den Schlitz und wählte die Nummer eines Kollegen. Es läutete dreimal.
»Ja«, dröhnte seine Stimme wie ein Nebelhorn.
»Pete – schau mal nach deinen Ersparnissen auf der Bank. Es sieht ganz so aus, als ob der Lobby-Plan im Eimer ist. Weitersagen.« Ich legte auf. Pete würde sich schon vorstellen können, dass aus unserem Zehnjahresplan nichts werden würde.
Sehen Sie, wir – das heißt ein paar Leute, die den gleichen Beruf hatten wie ich – hatten geplant, unsere Ersparnisse dazu zu verwenden, ein Gesetz durchzupauken, das eine Amnestie für alle politischen Verbrechen, die im zwanzigsten Jahrhundert begangen worden waren, gewährleisten würde. Wir hatten dafür sogar größere Politiker, die uns dabei im Weg standen, umgelegt. Ein toller Anwalt hatte den Wortlaut des Gesetzentwurfes aufgesetzt, und die Bestechungsgelder lagen bereit.
Nur dass wir jetzt kein Geld mehr hatten. Wenigstens die meisten von uns. Ohne meine Ersparnisse war das Ganze eine große Pleite. Mein Ruhestand und mein Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung waren im Rauch von brennenden, entwerteten Geldscheinen aufgegangen.
Ich habe die Angewohnheit, einen Plan, der nicht mehr aktuell ist, sofort fallenzulassen. Meine Vorstellungen von Amnestie schlug ich mir aus dem Kopf und beschloss, alles zu vergessen und die mir verbleibenden paar Monate so gut es ging zu verleben.
Es gibt da eine Gegend im Stadtzentrum, wo das Gesetz vorwiegend durch Abwesenheit glänzt. Wobei angenommen werden muss, dass es sich an anderen Orten durchsetzt. Unter den Slums von Bunker Hill, wo sich sogar die Ratten nicht hineintrauen, zieht sich ein unterirdisches Labyrinth hin. Dort war für Geld alles zu haben: Sex, Rauschgift, Valuta, Waffen, Informationen, Glücksspiele – es gab alles. Nur durch eines unterschied es sich von allen anderen Rattenlöchern des Verbrechens.
Ein Blinder konnte mit einer Handvoll Gold durch die unterirdischen Gänge gehen, ohne belästigt zu werden. Da konnte einer seine Tochter in den Laden im Erdgeschoss schicken, um eine Eiswaffel zu holen, und sie brachte die Waffel, das Wechselgeld wie auch ihre Jungfräulichkeit unversehrt nach Hause. Bewaffnete Wächter im Smoking verhinderten jedes Verbrechen. Die Manager wollten keinesfalls ihre wohlhabende Kundschaft aus Malibu, Valley Rim und Disney County verscheuchen.
Gleichermaßen verhinderten die Wachen das Eindringen von Spielverderbern – wie das FBI und die Polizei von Los Angeles. Angesichts der Tatsache, dass die halbe Stadtverwaltung dort die Casinos und Puffs aufsuchte, waren diese Vorsichtsmaßnahmen vielleicht unnötig. Dennoch waren die Sicherheitsstreifen mit Lasergewehren, Nervenlähmern und automatischen Pistolen bewaffnet.
Ich ging über das freie Feld, wo die Gäste ihre Luxusautos abgestellt hatten, und betrat die Auberge. Im ersten Stock befanden sich die Casinos, Läden und Nachtclubs.
»Willkommen im Auberge, Sir. Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?«
Ich überließ der Rotblonden hinter dem Tresen meinen Trenchcoat. Sie nahm ihn mit höflichem Lächeln entgegen und zeigte mir auf meine Frage hin den Weg zum Casino Grande. Ich war schon einige Male dort gewesen – meistens als Gast bei geschäftlichen Anlässen, aber ich habe die schlechte Gewohnheit, mich in geschlossenen Räumlichkeiten zu verirren. Wenn das geschieht, verirre ich mich gewöhnlich dorthin, wo ich nichts zu suchen habe. In meinem Beruf wirklich eine schlechte Gewohnheit.
Trotz der Weisungen der Rotblonden verirrte ich mich schon wieder und ging den richtigsten oder auch falschesten Weg meines Lebens. Es kommt immer darauf an, von welchem Gesichtspunkt aus man es betrachtet.
Zweites Kapitel
Ich hatte nicht bemerkt, dass der vollbesetzte, elegante Raum, den ich betreten hatte, das Casino of the Angels und nicht das Grande war. Nicht, dass es mir im Moment etwas ausgemacht hätte. Ich wollte nur mein Geld verspielen. Genau das tat ich dann auch – und ohne viel Geschick.
Der Blackjack-Tisch schluckte die Hälfte von dem, was ich besaß. Ich las den schäbigen Rest auf und schlenderte hinüber zu den Würfeln. Rundherum drängten sich die Leute. Meistens reiche Leute, aber auch eine Menge Verlierer – wie Ihr sehr Ergebener die gerne noch mehr verloren, um sich als Teil der glitzernden, diamantenbestückten Gesellschaft zu fühlen. Der Abschaum und die krankhaften, neurotischen Spieler hielten sich an die Lokale in den Untergeschossen, wo schmierige Hurenhäuser und Drogenverkaufsstellen anzutreffen waren. Ich war froh, dass es im Auberge außer den Fahrstühlen separate Eingänge zu den verschiedenen Stockwerken gab.
Am Würfeltisch sah ich sie dann.
Ich hatte mich eben zwischen zwei Kiebitze gedrängt, die aussahen, als würden sie keinen Cent darauf wetten, dass die Sonne untergeht. Alle anderen wetteten wie verrückt, besonders die Männer. Ich sah auch, warum.
Sie stand am Kopfende des Tisches und hielt die Würfel locker in der Hand. Ihr blondes Haar hing ihr über die Schultern, bis an den Ausschnitt des silberfarbenen Abendkleides. Mit dunkelroten Fingernägeln klopfte sie gegen die kleinen grünen Würfel, schüttelte sie in der Hand und warf sie dann quer über den Tisch. Sie landeten neben mir. Eine Zwei und eine Drei.
»Schon wieder fünf«, rief jemand. Die Zuschauer – besonders die Männer – klatschten Beifall. Mit stoischer Ruhe nahm der Croupier die Würfel auf und schob ihr ein paar Jetons zu. Sie lächelte, aber es war kein Lächeln, wie man es im Allgemeinen von Blondinen erwartet. Wenn es noch etwas Schlimmeres gibt als den blöden, hirnlosen Ausdruck der meisten Blondinen, dann ist es die gespielte Intelligenz, welche die anderen zur Schau tragen. Aber es gibt Ausnahmen, und diese Lady war eine.
Sie erschien unbeeindruckt von ihrem Gewinn, aber nicht gelangweilt. Sie spielte offenbar nur zum Zeitvertreib, ohne dem Spiel ihre volle Aufmerksamkeit zu widmen. Dagegen waren die Männer äußerst aufmerksam. Die öligen Gigolos blickten aufmerksam auf den Berg von Jetons, der sich vor ihr aufhäufte. Die Wölfe wandten ihre Aufmerksamkeit dem Abendkleid zu, welches hautnah eine Haut umschloss, die es verdiente, hautnah umschlossen zu werden. Ich sah genau, wer von uns am Tisch sich darüber klar war, dass wir bei ihr keine Chance hatten. Das waren nur ganz wenige, die ihre arktischen blauen Augen bemerkt hatten sowie ihren Blick, der die Wärme eines Schneesturms besaß und auf niemandem haften blieb.
Ich riss meine Augen von ihr los und ließ den Blick durch den Raum schweifen, wobei mir zwei interessante Ereignisse nicht entgingen. Zunächst trat einer der Aufseher aus einer Spiegeltür auf den Besitzer des Spielclubs zu, sagte ihm etwas und deutete dabei auf die silberne Lady. Dann kam ein Trio nervöser Wiesel, denen man schon von weitem die Gangster ansah, einzeln durch den Haupteingang herein und traf zusammen.
Kurz bevor der Inhaber die Lady am Würfeltisch erreichte, sammelte sie die meisten ihrer Jetons ein, nickte den Umstehenden höflich zu und ging zur Kasse. Der Eigentümer ging an ihr vorbei, als hätte er sie nicht bemerkt, zählte mit einem Blick die auf dem Tisch verbliebenen Jetons und machte im Unterton dem Aufseher Vorwürfe. Der strich sich mit der Hand über sein Toupet und zuckte mit den Schultern. Dann entfernten sie sich in verschiedenen Richtungen. Eine Matrone in den Wechseljahren ergriff die Würfel und begann zu spielen. Sie seufzte hörbar, als das Glück sie im Stich ließ.
Die Silberlady erreichte die Kasse etwa zur gleichen Zeit wie die drei nervösen Gauner im Smoking. Ich sah mich nach den Wächtern um. Zwei von ihnen waren auf der anderen Seite des Saales mit einem Besoffenen beschäftigt. Das Trio griff sich an die Hüften, und ich wusste, was ich zu tun hatte.
Ich drängelte mich vor und erreichte die Kasse noch vor der Blonden, wobei ich mich zwischen sie und die drei Gangster schob. Ich stoppte unvermutet, so dass sie in mich hineinlief und ihre Jetons fallen ließ. Gleichzeitig hatten die drei schon ihre Pistolen in den Händen und bedrohten den Kassierer. Die Blonde hatte sich gebückt, um ihren Gewinn vom Boden aufzulesen.
»Warum passen Sie nicht auf...« Ich bedeutete ihr, ruhig zu sein, ging in die Kniebeuge und zog meine Automatik aus dem Gürtel. Einer der drei Gangster schlug jemanden zu Boden, der an die Kasse getreten war. Eine Frau schrie auf, und das Publikum wich zurück.
Die drei kleinen Kerle wurden von Panik ergriffen. Einer fuhr herum und richtete seine Waffe aufs Publikum. Der zweite folgte seinem Beispiel, während der dritte einen Sack mit orangefarbenen Scheinen vollstopfte. Die Wächter versuchten, von hinten heranzukommen, ohne die Aufmerksamkeit der Gauner auf sich zu lenken.
Mich hatten sie anscheinend noch nicht bemerkt. Ich zielte mit der Automatik nach oben. Dann richtete der mieseste der drei, dessen Smoking am schlechtesten saß, seine Waffe auf mich. Das Flackern in seinen Augen verriet den Dilettanten. Hinter mir zog die Blonde scharf die Luft ein – mehr aus Überraschung als aus Angst.
Ich feuerte.
Der erste Kerl kippte um. Auf seinem Rockaufschlag erblühte ein blutiger Fleck wie eine Rose. Ich legte auf den nächsten Knilch an, im gleichen Augenblick wie die Wachen, die – die Ablenkung durch mich ausnutzend – vorstießen und ihre Nervenlähmer abfeuerten.
Ich befand mich genau am Rande des Aktionsfeldes, das diese Dinger haben. Ich war fast gelähmt. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, wäre es mir vorgekommen wie ein Herzanfall.
»Wir müssen hier raus«, flüsterte eine Stimme hinter mir. Hier rauszukommen war genau das, was ich am meisten begehrte. Ich richtete mich auf. Sobald ich merkte, dass ich ohne allzu große Mühe gehen konnte, strebte ich dem Ausgang zu. Die Wächter waren anscheinend zu beschäftigt, um mir Beachtung zu schenken, obgleich ich meinen .45er immer noch in der Hand hielt. Einer von ihnen blickte mich kurz an, wandte sich aber wieder dem Toten und seinen schlafenden Kameraden zu.
An der Tür wandte ich mich um und sagte: »Hey, Ihre Jetons...«
Sie war nicht mehr da.
Ich sah mich im Casino um, dann draußen im Gang. Dort sah ich eine Silberfigur, die unbemerkt durch den Tunnel ging.
»Hey, Lady!«, rief ich ihr nach. Wenn sie ihre Jetons nicht haben wollte, dann eben nicht. Aber ich musste mich bei ihr bedanken, dass sie mir beim Aufstehen geholfen hatte.
Quatsch!
Ich ärgerte mich ja nur, weil sie sich nicht bei mir dafür bedankt hatte, dass ich ihr das Leben gerettet hatte. Glaubte sie etwa, da würde jedes Mal einer mit der Pistole bereitstehen, wenn sie ihn brauchte?
Sie hörte mich und blieb stehen. Ihr Gesicht trug den eigenartigsten Ausdruck, den ich jemals bei einem Weib gesehen hatte. Sie sah schockiert aus. Hätte ich sie nicht früher schon aus nächster Nähe gesehen, hätte ich geglaubt, es sei ganz einfach Hochnäsigkeit. Aber sie schien tatsächlich nicht zu erwarten, dass ich mich weiterhin um sie kümmerte.
Sie wandte sich ab und ging davon, wobei sie nicht mehr ganz so hochmütig erschien. Bevor sie um die Ecke verschwand, blickte sie noch einmal zurück.
Ich zuckte mit den Schultern und begab mich zum Ausgang des Auberge. Die Sicherheitsmaßnahmen waren mal wieder recht lasch. Die Wachen am Ausgang hatten wahrscheinlich gar nicht gemerkt, dass in einem der Casinos etwas vorgefallen war. Sie waren hauptsächlich dazu da, Betrunkenen und Drogensüchtigen den Weg hinaus zu zeigen.
Ich ging die Hope Street in Richtung Flower hinunter und dachte an die Silberlady. Wofür hielt sie sich eigentlich, dass sie gelassen zusehen konnte, wie ein Mann einen anderen umbrachte, ohne dass es sie sonderlich zu berühren schien. Als ob sie es erwartet hätte?
Was zum Teufel kümmert es mich, dachte ich. Vielleicht nahm sie an, ich sei ein Angestellter des Clubs oder so was. Ich steckte die Hände tief in die Taschen und ging ins Büro.
Im Vorzimmer brannte Licht.
Normalerweise schließe ich mein Büro ab und lasse das Vorzimmer offen. Auf diese Weise bekomme ich mehr Aufträge. Manchmal liegt allerdings nur Benny, der Dipso, auf dem Fußboden herum.
Aber diesmal hatte ich Besuch.
Er erhob sich, als ich eintrat. Obgleich er nur wenige Zentimeter größer war als ich, ließ seine Haltung, durch die er mich zu überragen schien und die darauf abzielte, mich psychologisch einzuschüchtern, den erfahrenen Geschäftsmann erkennen. Ich beschloss, dem entgegenzuwirken, indem ich den starken Mann markierte.
»Mr. Dell Ammo, nehme ich an?« Er trug den elegantesten Maßanzug aus feinstem Stoff, den ich je gesehen hatte. Sein dunkelbraunes Haar fiel ihm in einer Art loser Shag-Frisur über die Ohren. Es passte zu ihm, obgleich er schon Mitte Vierzig zu sein schien. Alles, was er an sich hatte, passte zu ihm. Sogar die sanften braunen Augen, mit denen er mich ansah. In jeder Hinsicht strahlte er Perfektion aus – in Haltung, Kleidung, Manieren und Selbstsicherheit. Er war mir auf Anhieb unsympathisch.
»Ja, ich bin Dell Ammo. Damit hätten wir uns zur Hälfte vorgestellt. Wer sind Sie?« Ich schloss meine Bürotür auf, ging hinein, machte Licht und ließ mich vorsichtig in meinen Drehsessel sinken. Meine Knochen fühlten sich an wie zerbrechliche Rosenstängel, bei denen die Dornen nach innen gerichtet waren. Ich war bemüht, meine Schmerzen zu verbergen. Ich deutete auf den Besucherstuhl, aber er blieb stehen und stützte sich auf einen sündhaft teuer aussehenden antiken Spazierstock. Es hätte gut zu ihm gepasst, wenn der Stock einen Degen enthalten hätte, der in Kurare getaucht war.
»Mein Name ist Emil Zacharias.« Na klar. Gebrauchte heute niemand mehr seinen richtigen Namen? Emil passte ebenso wenig zu ihm wie Dell zu mir. Aber ich ging auf ihn ein.
»Was kann ich für Sie tun?«
Jetzt setzte er sich und lehnte den Stock an sein Bein.
Er faltete die Hände und sagte: »Wie ich höre, Mr. Ammo, haben Sie in der Vergangenheit auch Lösungen für äußerst – äh – schwierige Probleme gefunden.«
»Das steht ja in meiner Broschüre.«
»Ja.« Er spielte mit seinem Spazierstock und klopfte damit auf eine der weniger abgetretenen Stellen im Teppich. Er sah recht besorgt aus, als blieben ihm die Fragen, die er stellen wollte, wie Angelhaken im Hals stecken. Er starrte mir ins Gesicht.
»Ich brauche jemanden...« Er zögerte. Ich wusste genau, welches Wort er gebrauchen wollte, aber ich half ihm nicht, es auszusprechen. Schließlich wurde er des Wartens überdrüssig und sagte: »Einen Killer. Ich will jemanden umbringen lassen. Mehr oder weniger.«
Ich lehnte mich im Sessel zurück und seufzte. »Tut mir leid.«
»Wie bitte?«
»Tut mir leid. Mit so was beschäftige ich mich nicht.«
»Oh.« Er holte ein Etui aus poliertem Ebenholz hervor, entnahm ihm eine Zigarette und steckte sie in den Mund, nachdem er sie kurz auf dem Handrücken festgeklopft hatte. Jede seiner Bewegungen war langsam und routiniert – dazu bestimmt, meine Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. Er steckte das Etui wieder in die Tasche und hob beide Hände an die Zigarette. Ich konnte nicht sehen, welche Art von Feuerzeug er in der Faust hielt, als die rotgelbe Flamme die Spitze seines Sargnagels erfasste. Er inhalierte tief und blies dann den Rauch durch den halbgeöffneten Mund wieder aus.
»Ich habe mir sagen lassen, Sie seien der Beste auf Ihrem Gebiet.«
Ich blickte ihn aus zusammengekniffenen Augen an und sagte nichts.
»Ich bin in der Lage, sehr gut zahlen zu können«, sagte er. »Der Job wird mit großen Schwierigkeiten verbunden sein, aber das Honorar ist angemessen. Das kann ich Ihnen versichern.«
Mit einem Mal kamen mir mein Alter, mein Gesundheitszustand und meine Wünsche zum Bewusstsein. »Tut mir leid, Zach«, sagte ich in der Hoffnung, dass die freche Anrede ihn in Empörung versetzen und vertreiben würde. »Es tut mir leid, aber ich kann im Moment keine weiteren Klienten annehmen, was immer das Honorar sein mag. Vielleicht können Sie in etwa einem Jahr wiederkommen.«
»Das wäre zu spät.«
Eben. »Tut mir leid«, sagte ich nochmals und öffnete die letzte Pulle Whiskey, die ich im Büro hatte.
Emil stand auf, wobei er seinen Spazierstock lose in der Hand hielt. »Nun gut«, sagte er und streckte mir die rechte Hand entgegen. »Vielleicht kann ich Ihnen etwas dalassen, worüber Sie in den nächsten Tagen nachdenken können.«
Automatisch erhob ich mich und gab ihm die Hand. Sein Händedruck war kräftig, nicht so lasch, wie ich erwartet hatte.
»Ich nehme keine Vorschüsse an. Daraus entstehen nur Missverständnisse. Guten Abend.« Ich lehnte mich nach hinten und legte die Füße auf den Tisch.
»Wie Sie wünschen. Trotzdem nehme ich an, dass Sie in den nächsten Tagen Anlass haben werden, über meinen Vorschlag nachzudenken. Guten Abend.« Er drehte sich um und verließ das Büro.
Ich mochte ihn nicht. Ich mochte weder sein Selbstbewusstsein noch seine Sicherheit, ich würde mir die Sache überlegen.
Es machte mir keinen besonderen Spaß, mich zu besaufen. Aber es war besser, als an ihn denken zu müssen. Ich band mir die Schnürsenkel auf und lockerte mein Halstuch.
Auf halbem Wege zum Besoffensein stand ich noch einmal auf und schaltete die Lüftung ab, die wieder mal verrücktspielte. Beim Einschlafen dachte ich daran, dass es in meinem Büro stank wie in einer alten Ölraffinerie.
Ich wachte in der gleichen Position auf, in der ich eingeschlafen war – Füße auf dem Schreibtisch, Hände im Schoß, den Sessel rückwärts gegen die Bücherwand gelehnt. Ein Gefühl der Übelkeit überfiel mich. Auf dem Weg zum Klo, draußen in der Halle, versuchte ich, mich daran zu erinnern, was ich geträumt hatte. Benny hockte in einer der Kabinen und sang alte Seemannslieder. Ich stellte mich ans Pissbecken an der Wand. Meine Blase war zum Platzen voll. Vor dem Becken wurde ich fast ohnmächtig.
Es war, als pinkelte ich Reißzwecken. Ich blickte nach unten und sah, dass ich Blut und eine milchige Substanz ausschied.
Ein Mann in meinem Alter gerät nicht so leicht in Panik. Ich habe schon schlimme Verkehrsunfälle gesehen, war bei Jobs beschäftigt, wo die Köpfe von Männern zu einem schmierigen Brei zermalmt wurden, und habe gesehen, wie Panzerfahrzeuge kleine Kinder überfuhren. Aber das ist nicht das gleiche, als wenn die Anzeichen des nahen Todes in einem rot-goldenen Strahl aus einem herausströmen. Alles drehte sich im Kreis. Ich packte den Beckenrand und hielt mich daran fest.
Ich musste unbedingt Dr. La Vecque aufsuchen.
Es war wohl meine Sorge wegen des ausgeschiedenen Blutes, die mich meine Knochenschmerzen vergessen ließen, als ich zu ihm in die Praxis eilte. Unterwegs dachte ich an alle möglichen Dinge. Vielleicht hatte mich der Doktor angelogen, um meine letzten Tage etwas angenehmer zu gestalten. Vielleicht waren Komplikationen eingetreten, die er nicht bemerkt hatte. Oder vielleicht war Zacharias der Beauftragte von Leuten, die ich durch einen Mord gekränkt hatte. Möglicherweise hatte er mir irgendein Kontakt-Gift beigebracht. Man musste das alles in Erwägung ziehen.
La Vecque runzelte die Stirn. »Sieht nicht gut aus. Außer dem Blut scheiden Sie Krebszellen und verschiedene Proteine aus. Ich nehme an, die Metastasen haben sich schon weiter ausgebreitet, als ich gedacht hatte.«
»Und?«
»Ich will noch eine Generaluntersuchung vornehmen. Morgen. Und Sie sollten für eine Weile ins Krankenhaus.«
»Nein.« Ich erhob mich. »Wenn ich weg bin, bin ich weg. Wir sehen uns morgen.«
»Hoffentlich.«
Ich ging ins Büro zurück – halb ärgerlich und halb erstaunt darüber, warum mir das alles so wichtig erschien. Das Rädchen in der Maschine kümmert sich nicht darum, ob man es auswechseln kann oder ob sein Versagen die Maschine zum Stehen bringt. Meine Welt geht mit mir unter – ja, natürlich aber alle anderen Welten bestehen weiter.
Den Tag und Abend verbrachte ich damit, ein altes Buch mit dem Titel Der Würfelmann nochmal zu lesen. Ein Satz, den ich noch in Erinnerung hatte und der mir Kummer machte, als ich ihn wieder las, lautete: »Das Leben besteht aus Inseln der Ekstase, in einem Meer von Qualen, und nach dem dreißigsten Lebensjahr sieht man selten noch Land.«
In der Nacht besoff ich mich wieder.
Morgens – eigentlich war es schon Nachmittag – erhob ich mich von meiner Pritsche im Hinterzimmer meines Büros und ging die First Street hinunter zum Belvedere Hospital, wo die Apparaturen für die Generaluntersuchung mich erwarteten. Der Weg dauerte über eine Stunde. Es schien mir ein sehr schlechtes Zeichen zu sein, dass mir meine Knochen beim Gehen überhaupt nicht wehtaten. Vielleicht war mein Nervensystem schon am Zusammenbrechen.
Schwer atmend kam ich an der Rezeption an. Das gedrungene, dickliche Mädchen hinter dem Tresen schmatzte an ihrem Kaugummi herum und überreichte mir eine Plakette mit Formularen zum Ausfüllen. Ich las: Seite 1 von 17.
»Muss ich das alles ausfüllen?«, fragte ich, die Augen zum Himmel erhebend.
»Ja«, erwiderte die Sprecherin des Himmels hinter dem Tresen.
Eine Stunde später lag ich auf einem Tisch, der aussah und sich anfühlte wie ein Eisblock. Ich betrachtete mich. Immer noch ziemlich fleischig, obgleich ich jede Wette eingegangen wäre, dass viele von den Muskeln im Laufe der letzten Jahre erschlafft waren. Ich hätte gern gewusst, ob ich immer noch achtzig Liegestütze in vier Minuten ausführen konnte. Als ich merkte, wohin meine Gedanken liefen, wandte ich mich an La Vecque.
»Wie geht es mir?«
»Halten Sie den Mund und drehen Sie den Kopf nach hinten. Normal atmen. Alles läuft prima.«
»Dr. La Vecque?« Ein hagerer Junge mit Brille steckte den Kopf durch die Tür. Dann folgten eine Akte und eine Plakette. Der Doktor nahm dem Jungen beides ab und las sich den Befund durch.
»Mein letztes Muster?«, fragte ich.
Bebend, wie vom Schlag getroffen, fuhr er mit der Hand durch die Luft und setzte sich zu dem Techniker am Bildschirm. Der zeigte ihm meinen Computerbefund. Er kniff seine kleinen Schweinsäuglein zusammen.
»Die Untersuchung wird wiederholt«, sagte er.
»Das kostet aber Geld.«
»Ich zahle dafür.«
Noch nie im Leben hatte ich gehört, dass La Vecque sich erboten hatte, etwas zu bezahlen. Ich erstarrte vor Erstaunen.
»Liegen Sie still«, er erschien mit einem Mal sehr nervös. Reihen von Schweißtropfen standen in den Falten auf seiner Stirn. Er stand auf, setzte sich dann wieder und las die Befunde nochmals durch.
»Hier ist es«, sagte der Techniker nach ein paar Minuten. »Das gleiche wie vorhin.« La Vecque betrachtete den zweiten Befund, blickte auf den Bildschirm und sagte lange Zeit gar nichts.
»Kann ich aufstehen, Doc?«
»Ja, sicher, Dell, sicher.« Seine Finger trommelten auf seinem Kinn herum wie eine tanzende Spinne.
»Hat es sich verschlechtert?«
Der Techniker ging um uns herum und machte die Apparatur für den nächsten Patienten fertig. Während ich mich anzog, beobachtete ich den braven Doktor, der aussah wie ein sinkendes Schiff.
Nach fünf Minuten sprach er die ersten Worte: »Haben Sie heute schon Verdauung gehabt?« Nette Banalitäten.
»Nein.«
»Dann gehen Sie ins Labor.«
Die Prozedur war mir widerwärtig. Aber ich ging ins Labor, tat, was sie wollten, und wartete anschließend auf die Analyse des Computers. La Vecque sagte mir, ich solle nach Hause gehen und am nächsten Morgen wiederkommen. Er zitterte so stark, als stünde er vor einem Exekutionskommando. Nicht gerade Hoffnung erregend.
Der Weg zurück ins Büro ist mir kaum noch in Erinnerung. Es fiel mir nur auf, dass ich weniger keuchte. Ich zog mir einen Smoking an, der von dem Geld gekauft war, das ich auf einem anderen Sparkonto bei einer anderen Bank unter einem anderen Namen liegen gehabt hatte, und machte mich auf zu Auberge. Wenn die Nachrichten so schlimm waren, wie es – nach La Vecques Verhalten zu urteilen – den Anschein hatte, wollte ich mich wenigstens noch mal richtig amüsieren, bevor ich abkratzte.
Oder vielleicht gab es noch einen Grund, hinzugehen.
Auf dem Weg zum Casino of the Angels empfand ich etwas wie... ja, wie Erwartung. Würde ich die Lady in Silber wiedersehen? Der Gedanke ließ mich mitten im Schritt stocken. Was erwartete ich eigentlich? Ein letztes Abenteuer? Zum Abschluss meines Lebens eine Affäre mit einer Frau, die halb so alt war wie ich?
Jemand stieß mich von hinten an. Ich drehte mich um und sah ein blutjunges Ding vor mir. Natürlich kein normales Mädchen. Soviel Glück habe ich nicht.
Sie trug ein pfirsichfarbenes Kleid, das eng am Körper anlag oder vielmehr an dem, was in ein paar Jahren ein Frauenkörper sein würde. Ihr Make-up, gekonnt aufgetragen, verlieh ihr ein erwachsenes und sinnliches Aussehen. Ihre langen Fingernägel hatten die gleiche Farbe wie ihr Kleid. Nach der Art, wie sie über den Teppich stapfte, war anzunehmen, dass sie Schuhe mit hohen Absätzen trug. Sie strich ihre lange, kastanienbraune Mähne nach hinten und sprach mit leiser Kleinkinderstimme.
»Pass doch auf, wo du hintrittst, du Arschloch.«
Ich sah sie einen Moment lang an und brach in lautes Gelächter aus. Ihre orangebemalten Lippen schmollten.
»Pass doch auf, wo du hingehst«, verlangte sie, die Fäuste in die Hüften gestützt, und starrte mich aus grünen Augen mit kindlicher Wut an.
»Warum passt du nicht auf? Du warst doch hinter mir.«
»Ach, haltʼs Maul.« Sie rauschte an mir vorbei und ging mit provozierendem Schwingen der Hüften den Gang hinunter, bis ich sie in dem Gewirr aus den Augen verlor. Halb belustigt, halb mitleidig, schüttelte ich den Kopf.
Als ich um die nächste Ecke bog, trat die Kleine wieder vor mich hin, die Arme überkreuzt, eine Zigarette zwischen den schmalen Fingern.
»Bist du nicht im falschen Stockwerk?«, fragte ich sie. »Angeschafft wird zwei Etagen tiefer.«
»Nein, ich bin schon im richtigen Stockwerk«, sagte sie. »Ein paar von den Wächtern mögen mich, und die lassen mich hier herumlaufen, bis mich jemand mitnimmt. Dann gehen wir runter ins Dritte.«
»Dann will ich dich nicht aufhalten und dir dein Geschäft verderben. Auf Wiedersehen.« Ich ging an ihr vorbei und bemerkte ihren erstaunten Blick, den ihre Jugend nicht ganz verbergen konnte.
»Hey, Mister!«, rief sie mir nach. Sie lief hinter mir her und packte mich am Rock. »Willst du nicht mit mir ins Bett gehen?« Sie
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Victor Koman/Apex-Verlag
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Korrektorat: Mina Dörge.
Übersetzung: Wolfgang Lotz (OT: The Jehova Contract).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 06.09.2021
ISBN: 978-3-7487-9344-1
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