JOSÉ VAN DEN ESCH
Januar im Jahr 2000
Roman
Apex Science-Fiction-Klassiker, Band 67
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
JANUAR IM JAHR 2000
Erster Januar
Vom zweiten bis zum achten Januar
Vom neunten bis dreizehnten Januar
Vom vierzehnten bis einunddreißigsten Januar
Das Buch
José van den Esch wurde im Jahr 1912 in Namur in Belgien geboren. Sein Studium der Geschichte wurde durch die Mobilmachungen zum Zweiten Weltkrieg unterbrochen. Acht Jahre lang gehörte er der französischen Armee an, fünf davon brachte er in deutscher Gefangenschaft zu. Die Erinnerungen an das Kriegsende, welches er in Ostdeutschland erlebte, an den Einmarsch der Russen und das Berlin der Nachkriegszeit fanden ihren Niederschlag in seinen Romanen Le Rendez-vous de Berlin (1952) und Le Haie de Temps (1955). Der bekannte Journalist, Theaterkritiker und Bühnenautor war zudem einer der Chefredakteure der großen Pariser Tageszeitung L’Aurore.
Jose van den Esch hat die apokalyptischen Visionen einer absoluten Zivilisation und einer definitiven Technik beschrieben. Die dramatischen Auseinandersetzungen entstehen aus den unabdingbaren gesellschaftlichen Gepflogenheiten dieses Zukunftsstaates. Die Plastikrevolution hat nicht nur die Weltkultur, sondern alle Ideen der Menschheit entscheidend verändert.
Man ist dem Termitenstaat gefährlich nahegerückt...
Der Autor nahm sich möglicherweise Aldous Huxley und George Orwell zum Vorbild, denn in seinem Roman verbindet er wie sie Science Fiction mit philosophischem Gedankengut.
Die Jury des Grand Prix International du Roman d'Anticipation et de Science Fiction in Lugano hat Jose van den Esch den Ersten Preis für diesen Roman zuerkannt.
Der Apex-Verlag veröffentlicht Januar im Jahr 2000 (eine deutsche Erstausgabe erschien im Jahr 1964) als durchgesehene Neuausgabe in seiner Reihe APEX SCIENCE-FICTION-KLASSIKER.
JANUAR IM JAHR 2000
Erster Januar
Guillaume wurde durch das Telefon aus leichtem Schlaf geweckt. Das Zimmer war von einem Licht überflutet, das an ein Aquarium erinnerte. Die grünen transparenten Platten zur Straßenseite hin erzielten diesen Effekt. Wie ein Fisch in einer Glaskugel, dachte er und rieb sich die Augen. Unter dem Einfluss des Ortes, den er bewohnte, verfolgte ihn dieses Bild. Die Wissenschaftler, die für die Architektur den Baustoff der PVS (Plastikvolkssiedlung) entwickelt hatten, hätten diesen Punkt nicht außer Acht lassen dürfen.
Guillaume träumte in seinem grünen Kubus nicht von irgendeinem Fisch. Er dachte an den Coeclanthide; vielleicht deshalb, weil er einmal dem Fernsehpublikum diesen Kaltblüter vorgestellt hatte. Der Coeclanthide sagt Ihnen nichts? Wohl kaum möglich! Dieses hechtähnliche Tier primitiver Meere – dieses sechzig Millionen alte Urtier – nimmt einen ehrenwerten Platz unter unseren Vorfahren ein. Älter als der Dinosaurier und der Diplodokus! Und liebenswerter!
Guillaume hatte seinem Publikum auf Kanal 13 auseinandergesetzt, dass die Nachkommen des Coeclanthide, also sie, die Zuschauer, und er selbst, zu diesem Urfisch zurückkehren würden. Wenn das Atom nach zweimaligem Versagen bei einem dritten Versuch die Erde von jeglichem Leben gesäubert haben würde, gäbe es in der Tiefe der Meere nur noch den letzten der Coeclanthiden – einen traurigen Philosophen, der auf den Tod wartete... Aus Scham über dieses Ende würden Gott und er es nicht wagen, sich ins Antlitz zu sehen.
Das Telefon klingelt immer noch, aber Guillaume hat keine Lust, zu antworten. Wenn man ihn doch an diesem ersten Januar des Jahres 2000 in Ruhe ließe! Der Himmel dringt durch die transparente Decke über seinem Kopf. Ein grauer Dunstschleier hängt über der Stadt. Das beginnende Jahrtausend erscheint schmutzig und kalt.
Trunken, ohne getrunken zu haben, gejagt von Schlagworten aus seiner Silvesterrede, hatte Guillaume schlecht geschlafen. Das Thema: Der Fortschritt seit der Verdrängung von Stein, Ziegel und Beton durch synthetische Stoffe. Das angenehme Leben im Zeitalter der Plastik. Verherrlichung der Definition Zivilisation.
Ein Lobgesang auf die Zeitverhältnisse – eine lästige Aufgabe! Im Allgemeinen lässt die Zensur den wissenschaftlichen Berichterstatter in Ruhe. Guillaume versteht sich mit der elektronischen Maschine Anastasia, die unter anderem die Fernsehsendungen kontrolliert, recht gut, obwohl sie mit dem Altwerden einen Zug zur Bitterkeit zu bekommen scheint. In ihrem Stromkreis treten ab und zu unkontrollierte Impulse auf. Anastasia zeigt sich krankhaft argwöhnisch. Doch auf Guillaumes mutwillige Phantastereien geht sie immer noch ein und erlaubt ihm, unter dem Vorwand, eine glänzendere Zukunft zu malen, die Gegenwart zu ironisieren.
Doch am Vorabend nichts dergleichen. Anastasia hatte Anweisung von Oben erhalten: »Jegliche Art von Witz, Spott oder Humor ist untersagt; an diesem Silvesterabend kann die Definitive Zivilisation nur mit äußerstem Ernst behandelt werden.«
Das Telefon hört nicht auf zu klingeln, und Guillaume nimmt endlich den Hörer ab. Eine Frauenstimme klingt schmeichelnd an sein Ohr.
»Alles Gute zum Jahr 2000, mein Liebling.«
»Vielen Dank. Gutes Neues Jahr.«
»Hast du gut geschlafen, mein Liebling?«
Er kennt die zärtliche Stimme nicht.
»Bitte, mit wem...«
»Aber mein Liebling! Mit wem hast du Silvester gefeiert? Solltest du mir etwa untreu geworden sein, du...«
Er legt auf. Es kann sich hier nur um irgendeinen dummen Witz oder eine Bosheit handeln. Millionen von Menschen wünschen sich heute alles Gute über Leitungen, die von diesen Wünschen überlastet sind. Aber Guillaume erwartet keinen Anruf.
Er hat keine Familie; weder Onkel noch Tante noch Cousin. Nicht einmal entfernte Verwandte. Alle Rousseaus sind vor fast genau dreißig Jahren bei der Katastrophe umgekommen. Guillaume hat den Zusammenbruch als Säugling auf dem Lande überlebt. Sein Name ist die einzige Verbindung zu einer zerstörten Wurzel. Der junge Mann weiß nicht, wer seine Eltern waren. Er hat niemanden getroffen, der sie gekannt hat. Zwischen 1930 und 1940 geboren und gegen 1960 getraut – unter welchen Verhältnissen mochten sie gelebt haben? Arbeiter? Angestellte? Geschäftsleute? Der Staat hat den kleinen Rousseau aufgezogen. Ein Kind unter Millionen anderer Opfer der Katastrophe.
Aber der Staat – anonymer Vater und anonyme. Gesellschaft – war weder Kamerad noch Freund. Und die Freunde...
Nur ein Mensch konnte Guillaume aus einem echten Gefühl heraus alles Gute wünschen: Nathalie.
Nein! Nicht ihren Namen aussprechen! Nicht an sie denken...
Aber er hat sich nicht genug in der Gewalt, um das Bild der jungen Frau zu verscheuchen. Er hat ihr weiches Gesicht vor Augen, ihr gelocktes Haar, kurzgeschnitten, gleich dem toskanischen Hirtenknaben, den Donatello in der Gestalt des heiligen Jean-Baptiste unsterblich machte.
Wie er sie nah und lebendig vor sich sieht! Nicht ein Zug von Nathalie ist verschwommen. Die zwölf Monate, die seit ihrer Trennung verstrichen sind, breiten Trostlosigkeit auf dieses tote Jahr aus. Vielleicht hat Nathalie neben einem neuen Glück vergessen können... Guillaume krallt seine Finger in das Kopfkissen. Er streckt seinen linken Arm aus: Der Platz, wo sie schlief, ist leer, wo er sie umarmte, sie an sich zog, mit ihr unterzugehen schien, wo sie am Morgen zu neuer Liebe erwachten. Zwölf Monate! Fast vierhundert Tage sind vergangen, seit er sie zum letzten Mal in seinen Armen hielt. Er schluchzt tränenlos. Ein Mann von Dreißig weint nicht!
Wie hat wohl Nathalie diese Nacht und dieses Fest verbracht? Er möchte schwören, dass sie sich nicht für die Inszenierung dieses Neujahrstages interessiert hat. An seiner Seite hatte sie sich über alles mokiert. Die Gesetze der Ordnung, die Vermassung der Lebensfreuden riefen in ihr Ironie, und Zorn hervor. Die Kommissare hätten zu ihrer Erziehung nur eins sagen können: Fehlgeschlagen.
Es wäre für Guillaume und Nathalie besser gewesen, wenn beide sich nicht begegnet wären. Sie haben sich nicht gesucht. Das Büro für wissenschaftliche Forschungsarbeit stellte dem Fernsehen für Guillaumes Sachgebiet eine Mitarbeiterin zur Verfügung: Nathalie, ein junges Mädchen, das mit Diplomen geradezu gepanzert schien, was ihr zwar eine äußerst gute Klassifizierung eingebracht hatte, worüber sie sich aber selbst am meisten lustig machte. Zu Zeiten ihres Glücks hatte sie einmal in ihrer eigenwilligen Art gesagt: »Wir haben uns nach dem Index 780 geliebt.«
Aber, wozu das alles...? Doch trotz des Kummers, den die Einsamkeit dieses Neujahrstages wieder heraufbeschwört, bereut Guillaume nichts. Er bedauert nicht, den kurzen Weg des Glücks mit Nathalie gegangen zu sein.
Alles ist still. Eine befremdende Ruhe herrscht über der Stadt. Weit weg, in der unfertigen Nacht der östlichen Welt, geht das Fest weiter. Die erste Minute des Jahres 2000 hat die verlassene Gegend des früheren New York und Chicago überflogen; sie gleitet über Kalifornien hinweg. Los Angeles und San Francisco, die modernen Großstädte der ehemaligen Vereinigten Staaten, treten in das Leben des dritten Jahrtausends. Ganz Amerika lacht, tanzt, trinkt und gibt sich der Liebe hin. Asien, Afrika und Europa liegen erschlagen von Müdigkeit und Alkohol, die Nerven abgestumpft, mit satten Sinnen.
Eine Nacht – der Abschluss von tausend Jahren. Guillaume hatte mit dem Gedanken gespielt, darüber im Fernsehen zu sprechen. Es erschien ihm eine gute und recht ungewöhnliche Idee, durch das Wunder von Wellen ein Jahrtausend auszulöschen. Ein Jahrtausend von Revolutionen und unzähligen Kriegen, von weltbewegenden Fortschritten... Beim Durchblättern einer deutschen Chronik hatte er ein interessantes Thema entdeckt: Die Auferstehung von Fulda. An Hand dieser Ausführungen hätte er aufzeigen können, wie das Christentum am Silvesterabend des Jahres 999 furchtgequält auf den Knien lag und das Ende der Welt erwartete, wie es beim Morgengrauen des ersten Januar 1000 in gläubiger Freude aufsprang, weil Gott und seine Würgeengel nicht über die Menschheit gekommen waren.
Die Leute von Oben hatten dieses Sendeprogramm abgelehnt. »Nicht aktuell, dann sprechen Sie schon lieber über das Jahr 3000!«
Wieder klingelt das Telefon. Wieder die gleiche Stimme...
»Ich flehe Sie an«, sagt Guillaume, »nennen Sie Ihren Namen oder lassen Sie mich in Ruhe! Ich bin heute Nacht sehr spät schlafen gegangen.«
»Ah, sieh an!« Einen Moment Stille, dann: »Hier ist Monique!«
Er kennt keine Monique!
Dieser Name hat einen seltsam altmodischen Klang. Nur noch Großmütter wagen, ihn zu tragen. Ihre Töchter, die man bis gegen 1970 noch so getauft hat, fürchten sich derart vor dem Lächerlichen, dass sie sich einen gebräuchlichen Vornamen zugelegt haben: Oktavia, Olympia, Sigismunde...
»Entschuldigen Sie, ich erinnere mich an keine Monique.«
Die Stimme klingt aufgebracht: »Das geht zu weit, wie Sie sich über eine Frau lustig machen!«
»Und Sie über einen Mann!«
Guillaume würde über diese telefonische Zänkerei laut auflachen, wenn ihm danach zumute wäre. Er konnte dieses Gespräch nicht komisch finden, denn er hatte im Unterbewusstsein zu sehr auf Nathalies Anruf gewartet. Sie wusste, wo er zu finden war, während er keine Ahnung hatte, wo er sie suchen sollte.
»Madame, ich bitte Sie inständig! Lassen Sie mich schlafen. Sie haben die falsche Nummer gewählt und wollen nun nicht zugeben...«
Die Stimme unterbricht ihn aufgebracht. »Ich habe mich nicht getäuscht. Man macht nicht zweimal den gleichen Fehler. Du betrügst mich. Das ist der Grund für deine abgeschmackte Komödie. Du bist nicht allein. So ist es. Ich bin die erste betrogene Frau dieses Jahrtausends... Schalte deinen Bildschirm ein, wenn du es wagst, mir mein Unglück zu zeigen!«
Diesmal lächelt Guillaume. Das Operettenhafte dieser Situation bezwingt seine schlechte Laune. Abgesehen davon, dass die Stimme angenehm wohlklingend und weich ist... Die Stimme einer Frau eines gewissen Alters und sicherlich einer gewissen Bildungsschicht; ihr Wortschatz hat nichts mit dem Basic zu tun, jenem Gemisch von fünfhundert Vokabeln aus dem Englischen, Deutschen, Skandinavischen, Russischen, Arabischen und Sambischen, das heute die Sprache der Menschen mit niedrigem Index darstellt.
Aus Neugierde zieht Guillaume seinen freien Arm unter der Bettdecke hervor und dreht den Knopf des Televisors. Die Kamera überflutet ihn mit blauweißem Licht. Er glaubt natürlich, dass seine Gesprächspartnerin das gleiche tut.
Aber auf seinem Bildschirm macht sich nur eine milchige Helligkeit breit. Kein Bild erscheint. Doch irgendwo in der Stadt muss sein Kopf in einem Televisor aufgetaucht sein, denn die Stimme im Hörer lacht belustigt auf: »Tatsächlich ein Irrtum! Aber ich hätte auch mehr Glück haben können. Was für eine Enttäuschung! Soll das einundzwanzigste Jahrhundert so für mich anfangen?«
Guillaume fährt sich hastig durchs Haar. Am anderen Ende der Leitung lacht die Frau von neuem: »Damit machen Sie auch nichts besser.«
Er schaltet die Kamera aus.
»Und Sie, Gnädigste?«, ruft er außer sich vor Zorn. »Zeigen Sie sich.«
»Meinem Geliebten erlaube ich, mich zu sehen wie ich bin. Aber einem Fremden...«
»Na, und? Was riskieren Sie dabei? Auch ich möchte gern feststellen können, welches Gesicht das neue Jahrtausend für mich hat.«
»Na gut.«
Er hört ein Knacken in seinem Televisor und stellt den milchigen Bildschirm ein. Wie aus tiefem Nebel taucht eine Silhouette auf. Durch irgendwelche Störungen in der Leitung zittert das Bild und wechselt sekundenschnell von hell nach dunkel. Bei grellem Licht gleicht die Frau einer entfleischten Totenmaske.
Und das sollte das erste Gesicht sein, das Guillaume im neuen Jahrtausend sah?
»Regulieren Sie Ihren Apparat, stellen Sie die Bildschärfe ein. Das ist ja...«
Er beißt sich auf die Lippen, aber die Frau weiß, was er sagen wollte.
»Sprechen Sie es doch aus! Das ist scheußlich, nicht wahr? Das meinten Sie doch, oder?«
Und er liest aus ihren Augen Teilnahmslosigkeit und zugleich Traurigkeit.
Eine alternde Frau? Nein. Das Licht auf dem Fernsehschirm wird weicher und verwischt die Hässlichkeit der Frau. Außerdem war ihre Stimme so voll und jung.« Wie auch das vom Schlaf zerwühlte Haar, das auf ihre Schultern herunterfällt. Die Frau muss blond sein. Der tiefe Ausschnitt ihres Nachthemdes bedeckt die festen, wohlgeformten Brüste nur halb.
»Sie sehen verwirrt aus«, stellt sie fest. »Warum?« Und sie setzt mit einem traurigen Lächeln hinzu: »Eine komische Art, sich kennenzulernen, nicht wahr?«
Guillaume fragt sich, wie er wohl auf dem Bildschirm der Unbekannten aussieht, wem er auf dem Glasviereck gleicht, das wie unruhiges Wasser von Wellen durchzittert wird. Hat er, irgendwo dort in der Stadt, das schlaffe Gesicht eines Mannes, der sein Leben am Schreibtisch verbringt? Einen vom Fernsehen ausgewaschenen Bück? Stumpfes, lebloses Haar? Ein abscheulicher Gedanke. Wie oft hat er vom Triumph eines gesunden Körpers im Wind geträumt... am Meer oder auf dem Land, im Herbst auf der Jagd. Nathalie hatte ihn immer dazu angehalten, Sport zu treiben. Aber sie war nicht mehr da.
Die Unbekannte hat die absurde Unterhaltung abgebrochen. Das Gerät verblasste und schwieg.
Er steht auf. Sein Pyjama klebt ihm an der Haut. Das Thermometer über seinem Bett zeigt zwanzig Grad – die gesetzliche Dauertemperatur der PVS. Trotzdem herrscht im Zimmer eine Gluthitze. Nathalie hat diesem Wärmemessgerät nie getraut und seine starre Gleichmäßigkeit als Lug und Trug betrachtet.
Nur einmal frische, kalte Luft einatmen zu können! Guillaume sehnt sich danach. Aber die moderne Architektur erlaubt keine Fenster. Keine Lüftung. Der Plastikkubus schließt seinen menschlichen Bewohner ein wie das Seidengespinst die Puppe des Insekts. Die Leute, die außerhalb der Städte in zugigen Steinhäusern wohnten, waren zu beneiden.
Gestern Abend, am Fernsehen, hat Guillaume das Gegenteil behauptet. Er hasst es, nach Notizen zu sprechen und hat daher seinen Vortrag auswendig gelernt. Er könnte ihn fehlerfrei wiederholen:
Achtundvierzig Millionen Tests, meine Damen und Herren, haben zu Ergebnissen geführt, die Sie heute in Ihrem Haushalt, in Ihrem Leben genießen. Material, das sich die Intelligenz der Menschheit zu eigen gemacht hat, formt ihr Bett, Ihren Tisch, Ihren Televisor, Ihre Wände aus einem einzigen Guss. Vielleicht, meine Damen, sind Sie manchmal verärgert, die Möbel nicht nach Ihrem Willen stellen zu können. Zu Unrecht! Achtundvierzig Millionen Tests haben für jeden Gegenstand den genauen Platz bestimmt. Für immer. Denn, wie Sie wissen, Plastik ist unzerstörbar! Aber, man hat die Anbringung der Klappsitze Ihrem Geschmack überlassen. Sie werden einfach mit Haftscheiben an die Wand gepresst. Die achtundvierzig Millionen Zeugen konnten sich über den arteigenen und somit besten Platz dieser Sitzgelegenheiten nicht einig werden. Aber lassen Sie mich Ihnen sagen, dass auch dieses Problem kurz vor der Lösung sieht. In den neuesten Appartements gibt es bereits keine verrückbaren Stücke mehr. Ein Druck mit dem Fuß auf einen Knopf genügt, und schön fallen aus den Wänden Klappsitze. Und ich darf Ihnen versichern, dass die Anordnung dieser Sitze genauestens nach den Bedürfnissen des Familienlebens berechnet ist. Im Wohnzimmer ist eine romantische Ecke eingebaut, die für intime Gespräche gedacht ist und geradezu als Wunderwerk der Plastik bezeichnet werden kann.
Was das Fernsehen von Guillaume verlangt hatte, war nicht etwa eine Beschreibung der Wohnungen, die alle Zuschauer vor Augen hatten, sondern eine Lobrede auf das Schaffen der Architekten, die die zerstörte Stadt wieder aufgebaut hatten! Er sollte erklären, warum es logisch erschien, die PVS in Gruppen von tausend zu Wohngemeinschaften (nach der Terminologie der Verwaltung Schäften genannt) zusammenzufassen. Es waren praktisch einzelne Städte innerhalb der Stadt, die mit allen Mitteln für individuelle und kollektive Bedürfnisse ausgestatte. waren. Etwa wie zu früheren Zeiten ein Überseedampfer.
Nachdem er den Verwendungszweck in Heim und Familie kurz gestreift hatte, wandte sich Guillaume der revolutionären Veränderung zu, die die Anwendung von Plastik gebracht hatte. Dieses Material hatte in der Geschichte der Menschheit ein neues Zeitalter geprägt – wie einstmals das Eisen oder die Bronze. Es war unausbleiblich, dass die universelle Verwendung dieses Stoffes von einmaliger Gestaltungsfähigkeit Lebensgebräuchen einen anderen Stempel aufdrückte und die bisherigen Anschauungen von Grund auf änderte. Was sich natürlich auf das ganze Universum auswirkte. Und zwar so erfolgreich, dass durch die ersten Wohnsiedlungen auf den Planeten die Bewohner von Mars und Venus mit einem Schlag aus ihrer Vorgeschichte gerissen und in die Definitive Zivilisation hineingestellt wurden. (DZ laut offizieller Bezeichnung) Der Homo Definitivus regiert über das Sonnensystem, die Zeit scheint nicht mehr fern, wo das Plastikmaterial die Milchstraßensysteme bis zu den Sternen vierter und fünfter Größe verändern wird.
Ein Vortragsthema, so unendlich wie das Weltall, Warum hat Guillaume ein ungutes Gefühl, wenn er an seine Rede im Fernsehen denkt? Warum hat er ein schlechtes Gewissen? Waren seine Ausführungen über die DZ ernst gemeint gewesen oder nicht? Er kennt sich selbst nicht mehr aus.
Guillaume steht vor den transparenten Platten der Außenwand seines Zimmers und schaut auf die Stadt, Draußen muss es bitter kalt sein. Wie aus dem Aufriss einer technischen Landschaft laufen die Linien ins Unendliche. Wo mochte die Unbekannte in diesem Spiel von Kuben wohnen? Ganz in der Nähe erhebt sich die Schaft 189, ein Riesenblock aus gelbem Plastikmaterial. Dahinter, in mattem Rosa die Schaft 190. Und weiter... Guillaumes Augen schweifen über die aufeinanderfolgende Flucht von Formen und Farben bis zum Rand der Hügelkette hin, die im Süden den Horizont abschließt. Obwohl er sie nie gekannt hat, denkt er mit Sehnsucht an die Wälder, die früher die Landschaft schmückten, und stellt sie sich vor. Es waren sehr alte Wälder gewesen, wie sie schon Caesar in seinem Bericht über Gallien und die Gallier beschrieb. Die Katastrophe hatte sie verwüstet. Und später war an ihrer Stelle eine riesige und beängstigende Vegetation aus dem Boden geschossen, eine Flora, die dem zweiten Zeitalter glich.
Und hier in der Stadt wuchs kein Halm. Der Boden war in der Feuersbrunst metertief zu einer glasartigen Masse zusammengeschmolzen. Und aus Mangel an Grünflächen sah man sich dazu gezwungen, einen Chlorophyll-Ersatz Anstrich an allen Geländern bis zum zehnten Stock hinauf anzubringen. Guillaume hasste dieses Grün, doch es war bewiesen, dass gerade dieser Farbton eine ausreichende, wenn nicht größere Wirkung auf das menschliche Auge hatte als natürliche Wälder. Außerdem vermittelte es den Bürgern eine Art Sattheit, sodass sie keinerlei Wunsch verspürtem sich am Sonntag mit Fahrten aufs Land zu strapazieren.
Alles war gut durchdacht, und nur ein missmutiger oder völlig rückständiger Mensch hätte diese Stadt hässlich nennen können. Was konnte man mehr verlangen? Sie war der Ausdruck einer praktischen, rationellen, hygienischen Welt; einer Gesellschaft ohne Sorgen und Probleme. Sie hat die Aufgabe, fünf oder sechs Millionen Menschen zu beherbergen oder vielmehr einzuordnen. Dieser Grundsatz entsprach der Arbeit der Stadtplanung des dritten Jahrtausends. Ihrer Pflicht, die Behausungen der Menschen so zu errechnen, dass ihre Bewohner davon abgehalten wurden, sie zu verlassen. Welchen Umtrieb hätte die Zwanzig- Stunden-Woche zur Folge gehabt, wenn nicht diese phantastische Lösung der Einordnung getroffen worden wäre! Die Arbeitsfreiheit ist heute das Privileg der hohen Indexziffern; ein Vorrecht, das Guillaume zufällt und über das er sich nicht beklagt. Im Gegenteil. Wenn er in der Rangordnung des Fernsehens aufsteigen würde, wären ihm noch wenige Schranken gesetzt, und er könnte die Einnahme von Beruhigungsmitteln völlig aufgeben. Unsere Generation hat die Krise noch nicht vergessen, in der die entstehende DZ unterzugehen drohte. Eine Höllenangst vor den Maschinen überfiel die Menschen. Die Massenpsychose wurde durch Serien falscher Informationen ausgelöst, die von einem Atomzentrum aus die Erde überfluteten. Die Programmierungsstation war der Kontrolle der Techniker entkommen. Auf diese Weise angetrieben, entzogen sich die Maschinen der Befehlsgewalt der Menschen und produzierten irrsinnige Mengen unzählbarer Gegenstände. Sie anhalten? Natürlich war das der erste Gedanke. Aber wie? Im Laufe der Jahre war die Automatisierung so vorangetrieben worden, dass die Maschinen die Aufgaben, die man ihnen anvertraut hatte, selbständig ausführten. Die Kommandoinstrumente gehorchten irregeleiteten Impulsen und strahlten wahnsinnige Befehle aus. Niemand wagte, sich ihnen zu nähern. Besonders ein Beispiel ging durch aller Mund: Ein kleiner Industriebetrieb, der Kaffeemühlen herstellte – eine Ware, die nur noch von unterentwickelten Völkern gekauft wurde – produzierte in einer Woche mehr als eine Milliarde unbrauchbarer Mühlen.
Die Energie griff wie eine Feuersbrunst um sich und ruinierte den Finanzhaushalt der Völker. Die Welt erlitt einen Zusammenbruch, dessen Folgen ebenso vernichtend gewesen wären wie die der Katastrophe, wenn man nicht Herr der Lage geworden wäre. Die betreffenden Rechenzentren waren nicht mehr zu reparieren – sie mussten zerstört werden. Damit bekam man langsam die Dinge wieder in ihren gewohnten Gang. Dieses schreckliche Ereignis war der Grund für die Verordnungen des sogenannten Sozialschutzes Verringerung der zulässigen Arbeitszeit, Geldstrafen gegen die Überschreitung der Normen, Prämien für Unterproduktion, und so weiter.
Aber die Ausführung dieser Gesetze wäre auf unüberwindbare Schwierigkeiten gestoßen, wenn die pharmazeutische Forschung nicht durchgreifende Erfindungen für den öffentlichen Frieden gemacht hätte. Die Arzneimittelindustrie brachte Beruhigungstabletten heraus, die es ermöglichten, den Energieüberschuss des Proletariers, der hundertachtundvierzig Stunden pro Woche sich selbst überlassen war, abzubauen.
Das war in groben Zügen Guillaumes Silvesterrede gewesen. Hatte ihn seine zerstreute, satte oder betrunkene Zuhörerschaft verstanden? Seine Ausführungen wurden glücklicherweise nur über den Kanal 13 ausgestrahlt, einen Sender, der für den Index 430 bis 450 bestimmt ist und nur Leute anspricht, die sich einer gewissen Bildung erfreuen und einen Wortschatz beherrschen, der ihnen ermöglichte, den kulturellen Stand eines früheren Akademikers zu erreichen.
Das Geräusch eines Helibusses lässt Guillaume zusammenfahren. Die Maschine fliegt wie ein Rieseninsekt von Blume zu Blume, von Schaft zu Schaft, landet einen Moment auf der Plattform, spuckt einige Reisende aus und schluckt andere, steigt wieder hoch... Aber an diesem Neujahrstag ist der Verkehr auf das Äußerste eingeschränkt.
Der junge Mann denkt voll Unlust daran, dass er bald umziehen muss. Die Verwaltung hat es beschlossen. Am ersten Januar 2001 würde er nicht mehr den gleichen Ausblick auf die Stadt haben. Aber das Panorama wird sich nicht ändern. Die Ähnlichkeit der Riesengebäude und ihre Geradlinigkeit geben der Stadt von jedem Blickwinkel aus das gleiche Aussehen. Die einzige Verschiedenheit der Wohnungen untereinander besteht in der Zusammensetzung oder Schattierung der Farben und dem Spiel des Lichtes auf den Plastikflächen.
Guillaume ist seine momentane Umgebung gewöhnt und empfindet es als lästig, sich an eine neue gewöhnen zu müssen. Außerdem... außerdem war das Verlassen dieses Ortes für ihn wie ein Schlussstrich unter eine Zeit, an die ihn die Erinnerung kettete. Aber der Direktor der PVS hatte ihm einen Kubus in der Schaft 12-37 zugewiesen, die zum Gebäudekomplex des sogenannten Junggesellensilos gehörte. Die Wohnung, aus der man ihn nun vertrieb, war ihm zu einer Zeit zugewiesen worden, als Nathalie einem Glück entgegensah, das die Zukunft zerstörte.
Guillaume geht niedergeschlagen in seiner Wohnung auf und ab. Er kann sich nicht dazu entschließen, sein Frühstück aus der Ernährungszentrale, achtunddreißig Stockwerke unter ihm zu bestellen. Nathalie, die wie alle Frauen dieser Zeit von Haus und Küchenarbeiten befreit war, hatte an der Perfektion dieses Systems nichts auszusetzen: Man wählte auf einer Reihe von Drucktasten die gewünschte Nahrung, die in der Zentrale von Robotern zubereitet und durch eine Art Lift nach oben befördert wurde. Doch manchmal zeigte sie sich auch darüber verärgert: »Wenn ich doch nur einmal Hausfrau sein dürfte! Ich träume davon, in einem alten Topf im Freien auf einem Feuer feuchter Blätter Spinat zu kochen.«
Guillaume hat sich wieder auf sein Bett gelegt, die Arme unter seinem Kopf gekreuzt. Wenn es uns schon bestimmt war, denkt er, den Wechsel von zwei Jahrtausenden mitzuerleben, warum haben dann Nathalie und ich nicht 999 gelebt?
Damals hätte niemand daran gedacht, sie zu trennen.
Denn sie hatten sich nicht aus eigenem Willen scheiden lassen.
Das Gesundheitsamt, die Kontrollstelle für werdende Mütter, das Büro zum Schutze der persönlichen Freiheit, die Justiz... eine ganze Maschinerie von Behörden hatte ihre Ehe zerschlagen.
Sie haben sich gebeugt. Was wäre ihnen auch übriggeblieben? Was hätten sie unternehmen können? Da man ihn in jenem Oktober 1998 schuldig erklärte, gestand sich Guillaume aus Liebe zu seiner Frau nicht das Recht zu, Nathalie an sich zu binden. Er fühlte, dass sie zögerte und sich innerlich dagegen auflehnte, und hielt es für seine Pflicht, sie davon zu überzeugen, dass sie ihn verlassen müsse... Hatten sie nicht beide das Dazwischentreten der Kontrollstelle für werdende Mütter bei einigen Ehepaaren aus ihrem Bekanntenkreis richtig gefunden? War es nicht besser, physische Unstimmigkeiten zu unterbinden? Es gab keinen Ehezwist, der nicht auf einen nachweisbaren, konkreten Grund zurückzuführen war und sich nur zu lange Zeit schon hinter der Maske der Gefühlsduselei versteckte. Unsere Väter und Mütter liebten sich wie im Zeitalter der Höhlenmenschen. Es war mehr als nötig gewesen, etwas dagegen zu unternehmen! Die heutige Einmischung der Medizin in die Liebe ist lediglich die vernünftige Erweiterung früherer Gebräuche: die voreheliche Gesundheitsbescheinigung.
Guillaume unterbricht seine Träumerei. Wen will er überzeugen? Sich selbst? Oder sein Publikum? Er reibt sich die Stirn und dreht sich um. Seine nächste Fernsehsendung wird er einem völlig neuen Thema widmen: Die Anwendung des Basic in der Liebe. Sechs Kurzformen fassen die Windungen des Gefühlslebens zusammen. »Liebst du?« – »Klar.« – »Hast du deine Gesundheitskarte?« – »Klar.« – »Also, gehen wir?« – »Meinetwegen.«
Soll man die Vereinfachung der Sprache bekämpfen oder verteidigen? Warum ist die Sprache nicht nur Mittel zum Zweck?
Ein gutes Diskussionsthema für das Fernsehen.
Im Oktober 1998 lachten die Ärzte des Gesundheitsamtes die Kontrollstelle für werdende Mütter auf Nathalie und Guillaume aufmerksam. Nach einem Jahr Ehe begann die junge Frau unter Asthma und Ekzemen zu leiden, die sich in beunruhigendem Maße verschlimmert. Ein Fall von Allergie. Die Kontrollstelle riet dem Paar, sich drei Wochen zu trennen. Nathalies Zustand besserte sich. Damit war bewiesen, dass Guillaume der Schuldige war. Seine Gegenwart rief bei Nathalie eine unbeeinflussbare physiologische Reaktion hervor, die beim augenblicklichen Stand der Wissenschaft unheilbar war. Das einzige Mittel war die Trennung. Die Kontrollstelle für werdende Mütter hätte nicht auf einer Scheidung bestanden, sondern sich mit periodischen Trennungen zufrieden gegeben, wenn nicht eine zweite Behörde dazwischengekommen wäre: das Büro zum Schutz der persönlichen Freiheit. Guillaume wurde wegen unwillkürlicher und untrüglicher Gefährdung der Gesundheit Dritter angeklagt. Ein kurzer Prozess, das Urteil – ihre Ehe galt als aufgelöst.
Das ist eine Geschichte unserer Zeit, die niemanden erstaunt, der in ihr gelebt hat. Denn das ist das Gesetz des Fortschritts.
Guillaume hat natürlich nach dem Weggehen Nathalies Zuflucht zu den Tabletten genommen. Das Gesundheitsamt verschrieb ihm die Formeln 74A und B. Dragees brachten ihm ein wenig Erleichterung.
Er litt wie ein Tier.
Nachdem er die erste Krise überwunden hatte, las er nochmals die Anmerkungen, die dem Beruhigungsmittel beigegeben waren. Er stellte fest, dass diese Arznei – Euphorie garantiert! – gegen Störungen des seelischen Gleichgewichts auf Grund von betrogener Liebe anzuwenden sei. Nathalie hätte ihn also betrügen müssen, damit das Mittel seine volle Wirkung erreichte. Guillaume protestierte beim Gesundheitsamt und verlangte die Formel 73. Man lehnte ab: »Dieses spezielle Heilverfahren beruht auf Schockwirkung und wird nur bei Todesfällen unter Ehegatten angewandt.«
Nathalie leidet sicherlich nicht mehr unter Asthma, und ihre Haut ist geheilt. Also – alles in Ordnung. Ein gutes neues Jahrtausend!
Ihre Haut! Die Erinnerung überfällt den jungen Mann. Er stöhnt auf... Mit goldenem Flaum bedeckte Haut. Vom matten Glanz des weißen Nackens bis zu den Fesseln, die wie Elfenbein...
Sicherlich, es fehlt nicht an Mädchen, mit denen... Aber, was sie von ihm verlangen und das wenige, was er ihnen gibt, bleibt im Schatten einer tiefen und in ihrer Wahrheit nackten Liebe, die Nathalie und Guillaume vereinte.
Er steht wieder auf. Dieses leere Bett – der Tag, der leer vor ihm liegt... Alles scheint sich um ihn zu drehen.
Guillaume geht ins Wohnzimmer. Eine unbezwingbare Lust überkommt ihn, den Tisch zu zerstören. Er tritt mit dem nackten Fuß gegen die Platte des rosa Plastikpilzes. Biegsam wie ein Eibisch, elastisch wie Kautschuk, schwingt der Tisch leicht hin und her, bis er in einer ruhigen Bewegung wieder seine alte Form und seinen alten Platz einnimmt. Nicht einmal ein Riss im Fuß des Pilzes.
Ein wenig später, unter der Dusche, denkt der wissenschaftliche Berichterstatter des Kanal 13 über ein neues Fernsehthema nach: Dem Menschen die Möglichkeit und das Recht zurückzugeben, etwas zu zerstören. Aber es bestand wohl kaum eine Chance, dass Anastasia sich über die Absicht hinwegtäuschen ließe, die Guillaume bezweckte.
Aus dem Rohrpostkasten dringt ein ratterndes Geräusch. Ein Brief! Guillaume öffnet die Klappe, nimmt die Hülse heraus und reißt hastig den Deckel herunter. Das Herz droht ihm zu zerspringen, als er den Umschlag auseinanderrollt. Aber die Adresse beginnt mit Madame... Was dann folgt, hat nichts mit seinem Namen zu tun. Es war also nicht einmal ein verspäteter Brief für Nathalie.
Guillaume ruft den Schaftwart im Erdgeschoss an. Ohne sich für seinen Fehler zu entschuldigen, erklärt der Mann, dass er wegen des Umtriebs der tausend Mieter die ganze Nacht kein Auge zugetan habe. Das Gebäude sei zwar schalldicht, aber...
»Ich hatte irgendetwas für Sie«, sagte er.
»Was?«
»Ich hatte etwas für den Kubus 3-31«, meinte er mit verschlafener Stimme.
»Und wo haben Sie es hingeschickt?«
»Keine Ahnung! Irgendwo muss ein Fehler unterlaufen sein.«
Der Mieter des Kubus 3-31 verliert die Beherrschung; er flucht und schnauzt den Mann an, sich gefälligst zu erinnern. Zumindest, ob es sich um offizielle oder private Post gehandelt habe.
»Privat, glaube ich.«
Eine Vorahnung überfällt Guillaume. »Um Gottes Willen! Finden Sie den Brief wieder.«
Der Schaftwart lachte. »Gott? Den gibt es nicht.«
»Was wissen denn Sie schon davon?«
»Ich weiß... Na, hören Sie mal! Für wen halten Sie mich eigentlich?«
Die nervöse Müdigkeit des einen prallt mit dem sarkastischen Humor des anderen zusammen. Beide werfen sich abgeschmackte Reden an den Kopf. Der Mann aus dem Erdgeschoss glaubt, dass er auf Grund seiner Stellung als Stadtangestellter, Index 300, seine Umwelt mit Verachtung behandeln kann; er reitet auf den Vorschriften herum und ist nicht dazu bereit, irgendwo selbst Hand anzulegen. Allerdings muss man zugeben, dass die Arbeit eines Schaftwarts in diesen Riesenbauten unbezwingbar wäre, wenn die Maschine nicht die Aufgaben des Hausmeisters von früher übernommen hätte. »Ich drücke nur auf den Knopf«, verteidigte er sich. »Der Rest erledigt sich von selbst. Wenn das Ding nicht richtig funktioniert, dann wenden Sie sich an den Ingenieur oder reichen Sie eine schriftliche Beschwerde ein. Die Schaftverwaltung wird sich dann schon darum kümmern. Die Bearbeitung dauert höchstens sechs Monate.«
Da er von dem Mann ja etwas erreichen will, nimmt sich Guillaume zusammen.
»Streiten wir uns nicht. Ich weiß, dass man Ihnen zu viel zumutet und Sie nicht für die Fehler der Maschine verantwortlich sind.«
»Gut, dass Sie wenigstens das einsehen.«
»Aber wäre es Ihnen vielleicht möglich... Ich möchte natürlich keinesfalls, dass Sie gegen die Vorschriften verstoßen. Aber gibt es nicht irgendein technisches Mittel, um meinen Brief wiederzufinden? Es ist mir klar, dass Sie nicht alle tausend Wohnungen abklappern können.«
»Das möchte ich wohl meinen«, erwiderte der Schaftwart. »Da wäre ich in einem Jahr noch unterwegs. Abgesehen davon, dass es mir verboten ist. Das ist Ihnen doch bekannt, nicht wahr? Ich darf meinen Dienstraum weder verlassen noch in die einzelnen Stockwerke hinaufsteigen.«
»Ich weiß«, seufzte Guillaume.
»Ich bin an meinen Posten geschmiedet wie ein Leuchtturmwächter.«
Er lachte über seinen witzigen Vergleich, und Guillaume fiel bereitwillig ein. Dadurch entstand eine Unterhaltung, die man, gemessen an der Logik eines Schaftwarts, als privat hätte bezeichnen können.
»Kein Mieter kennt die Vorschriften, das ist nicht zu fassen! Ich stamme aus dem Metier. Schon mein Vater und Großvater waren Hausmeister. Heute dürfen wir uns ja nicht mehr so nennen. Das war noch ein Leben zu Zeiten des Kapitalismus!«
»Die Epoche ist vorbei. Friede sei ihrer Asche. Ich bringe den neuen Institutionen große Achtung entgegen. Ich finde, dass sie uns einen unbezahlbaren Fortschritt gebracht haben, aber...«
»Es gibt kein Aber. Sehen Sie, das müssen Sie sich in den Kopf setzen.«
»Trotzdem würde ich gern mit Ihnen die Frage regeln, wie...«
»Es ist verboten, Fragen der einzelnen Schäften mit den Mietern zu regeln. Die Verwaltung ist in diesem Punkt besonders streng, das können Sie mir glauben.«
»Gut, aber wenn es sich um einen einfachen Fehler in der Zustellung von...«
»Es ist verboten, sich um die Angelegenheiten der Weltpost zu kümmern. Einmal war die Maschine völlig durcheinander. Ich habe die Verwaltung verständigt. Zu acht sind sie gekommen und haben eine Woche herumgedoktert, bis sie das Ding wieder zur Vernunft gebracht hatten. Und ich war angeblich an allem schuld!«
»Schon, aber der Irrtum von heute Morgen scheint mir einfacher zu sein. Ich kann ihnen helfen, den Fehler zu suchen, und bin auch gern bereit, Sie für Ihre Mühe zu...«
»Es ist verboten, Trinkgelder und Geschenke anzunehmen. Zu Zeiten unserer Großeltern hätte man leben müssen. Da hätte sich die Jahrtausendwende für einen Hausmeister gelohnt.«
»Gut, aber wir könnten doch zusammen untersuchen – natürlich, ohne die Maschine zu berühren – ob sich mein Brief nicht bei dieser Madame... Madame Baniere befindet. Ich kann ja mit der Post für sie auch nichts anfangen.«
»Es ist verboten, mit einem Mieter über die Angelegenheiten anderer Mieter zu sprechen.« Er lachte laut auf. »Wenn meine Mutter diesen Paragraphen der Vorschrift zu beachten gehabt hätte, würde ihr die Lust am Leben genommen worden sein.«
Guillaume fühlte sich wie kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Der andere redete weiter: »Sie sehen also, dass wenig zu machen ist.«
»Weiß Gott! Naja... ich gebe es auf. Gegen das Schicksal kann man eben nicht angehen.«
»Tja... Wobei ich betonen möchte, dass ich nicht abergläubisch bin. Ich bin freidenkend und Mitglied der Gewerkschaft.«
»Freut mich zu hören.«
»Ist es nicht letztlich komisch?«, meint der Schaftwart gutgelaunt. »Wir hätten fast für nichts und wieder nichts Streit miteinander bekommen.«
»Genau. Für nichts und wieder nichts, da ich keine Möglichkeit sehe, meinen Brief wiederzufinden, und den für Madame Baniere behalten muss.«
»Nein! Dann haben Sie mich also doch nicht verstanden. Sie können mir den Brief zurückschicken, und ich werde mich darum kümmern. Falls Sie heute noch ins Erdgeschoss herunterkommen, können Sie ihn mir auch hereinreichen. Ich würde mich freuen, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
»Aber Sie kennen mich doch! Wir sind uns schon oft begegnet. Ich verlasse die Schaft nicht immer über den Heliport.«
»So? Und wie sehen Sie aus?«
»Mittelgroß. Dunkelblond. Welliges Haar.«
»Wie alt?«
»Dreißig.«
»Komisch. Ich erinnere mich an einen Mann mit Locken. Aber der muss um die Vierzig sein. Vielleicht sehen Sie älter aus als Sie sind.«
»Möglich.«
»Passen Sie auf! Eben kommt mir eine Idee. Sie sind 3-31, Kubus 3, Stock 31. Baniere 18-34, Kubus 18, Stock 34. Erzählen Sie keinem Menschen, dass ich Ihnen das gesagt habe. Warum gehen Sie nicht einfach zu der Dame? Vielleicht hat sie Ihren Brief.«
»Tausend Dank. Und alles Gute im neuen Jahrtausend.«
»Ebenfalls. Immer zu ihren Diensten.«
Kaum hatte er geklingelt, als Guillaume aus dem Inneren der Wohnung ein Ja hörte, das ihn erstaunte. Die Stimme dieser Madame Baniere glich der, die ihn heute Morgen aus dem Schlaf geweckt hatte. Guillaume spielte nervös mit seinem Schlüsselbund. Träumte er? Schon eben, als er auf dem gelben Flur hin und her gerannt war, hatte er sich gefragt, ob alles nur Einbildung war. In seiner Aufregung hatte er den Kubus 18-34 nicht gleich gefunden. Die Türen zu den einzelnen Wohnungen waren nur durch die phosphoreszierenden Nummern erkenntlich, die m die Plastikplatten eingegossen waren. Aber 18-54 schien es nirgends zu geben Guillaume kehrte immer wieder um, und die Angst wuchs in ihm, dass er schließlich auch
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: José von den Esch/Apex-Verlag. Successor of José van den Esch.
Bildmaterialien: Steve Mayer/Apex-Graphixx.
Cover: Steve Mayer/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Korrektorat: Mina Dörge.
Übersetzung: Elisabeth Simon (OT: Janvier, An 2000).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 10.08.2021
ISBN: 978-3-7487-9123-2
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