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Leseprobe

 

 

 

 

RICHARD NEELY

 

 

Lügen

 

 

 

 

 

 

 

Apex Crime, Band 242

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

LÜGEN 

ERSTER TEIL 

ZWEITER TEIL 

DRITTER TEIL 

 

 

Das Buch

Der Gärtner entdeckte die Toten: den Schriftsteller Julian Harper, seine Frau und seine Sekretärin - ermordet in ihrer Villa in Kalifornien.

Und Betty, Harpers Stieftochter, ist schwer verletzt...

Nur Jessica, Harpers Tochter aus erster Ehe, hatte Glück. Sie war zur Tatzeit nicht im Haus.

Jessica - die Erbin von Harpers Vermögen...

 

Der Thriller Lügen von Richard Neely erschien erstmals im Jahr 1978; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1979 (unter dem Titel Lauter Lügen). Dieser klassische, düstere Krimi erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Reihe APEX CRIME.

  LÜGEN

 

 

 

 

 

 

 

 

  ERSTER TEIL

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Entdeckt hatte sie Sebastian, der Gärtner. Als er der Polizei von Santa Barbara die Szene beschrieb, verzerrte sich sein normalerweise gleichmütiges Gesicht zu Grimassen; er rollte die Augen, und die Zunge zuckte wiederholt zu den Mundwinkeln, leckte den dicken Speichel ab. Aber so erregt er auch war, sein angeborener Ordnungssinn zügelte ihn doch genügend, dass er die Geschichte von Anfang an und in der genauen Reihenfolge berichtete.

Sein Sohn Tornas hatte ihn in ihrem Chevrolet-Kastenwagen zum Tor an der Auffahrt der Harpers gefahren und ihn dort pünktlich um acht Uhr morgens abgesetzt. Als er sich dem Haus auf der abgeflachten Hügelkuppe näherte, hatte Sebastian, wie er sich erinnerte, das Gefühl, als ob es unbewohnt und verlassen sei: »Keine Geräusche. Nichts. Nur die Vögel. Wissen Sie, die Harpers stehen sonst früh auf. Vor allem Mr. Harper. Normalerweise hab’ ich Licht in seinem Arbeitszimmer gesehen. Aber ich sah kein Licht. Ich denke, vielleicht schlafen sie noch. Wie am Morgen nach einer Party, Sie wissen schon.«

Später, im Fernsehen und in den Zeitungen, sah man Fotos von dem Haus. Ein zweistöckiges Gebäude im spanischen Kolonialstil aus behauenen Steinblöcken, mit dicken Balken eingefasst; das Dach mit roten Ziegeln gedeckt; Steinsäulen, die den drei Meter breiten Dachvorsprung über einem gefliesten Portiko trugen. Obwohl nur ein paar Hundert Meter von einer Gruppe Sommerhäuser entfernt, wirkte das herrschaftliche Haus der Harpers mit seinem Blick auf die zypressenbewaldeten Hügel und den unendlichen Pazifik so isoliert wie ein einsamer Adlerhorst.

Sebastian entschloss sich, die Bepflanzung am Rand des Swimming-Pools zu bearbeiten, weil sie unterhalb des Hauses und weit genug davon entfernt war, dass man das Geräusch der Heckenschere oben nicht hören konnte. Er ging leise die Steintreppen hinunter und kappte hier und da überstehende Zweige der Riesenfarne. Als er den Swimming-Pool erreicht hatte, blieb er stehen und warf einen Blick hinüber auf das Badehaus, ein quadratisches Bauwerk mit einem spitzen Dach aus einem Material, das an Rattan erinnerte. Das Badehaus enthielt einen elegant möblierten Barraum und ein halbes Dutzend Umkleidekabinen. Die breite Schiebetür stand offen, und das fand Sebastian höchst ungewöhnlich. Er dachte: Vielleicht wollte Mrs. Harper das Haus ein wenig lüften, zuckte mit den Schultern und konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit; die Bougainvilleen auf der einen Seite des Pools mussten zurückgestutzt werden. Er ging darauf zu, die Heckenschere in der Hand. Dabei fiel sein Blick auf das L-förmige Schwimmbecken. In diesem Augenblick stockte sein Atem.

Zuerst dachte er, dass das dichte Büschel Haare unter dem Sprungbrett zu einem sonderbaren Tier gehörte. Doch dann bemerkte er, dass das umgebende Wasser dunkelrot war, an den Rändern zu hellem Rosa verblasste. Er trat an den Rand des Beckens, schnappte nach Luft. Die Heckenschere fiel klappernd zu Boden. Unter dem Haarbüschel war ein zusammengekrümmter, nackter Körper, dessen Gewicht dicht unter der Oberfläche schaukelte, dessen Arme schwer nach unten hingen, und dessen Beine auf den Ablauf am Grund des Beckens zeigten.

Sebastian war mit einem Satz neben der Gestalt; er bückte sich, streckte die Arme aus, langte nach dem Haar, zerrte den Körper an den Beckenrand. Als er ihn heraushob und bis zum Terrazzo-Sonnendeck schleifte, war er sich nur bewusst, dass es sich um einen weiblichen Körper handelte. Er brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass das Gesicht, das ihn unheimlich angrinste, Ruth Wylie, der Sekretärin von Mr. Harper, gehörte.

Entsetzt und verwirrt, wie er war, folgte Sebastian seinem Instinkt: Er drückte seinen Mund auf die Lippen von Ruth Wylie und presste Atemluft in ihre Lungen. Er wiederholte die Prozedur an die zehn oder zwölfmal, und jedes Mal vernahm er einen klatschenden und gurgelnden Laut, der gegen seinen Brustkorb vibrierte. Als er sich einen Augenblick zurücklehnte, entdeckte er den Grund dafür: die hineingepresste Luft entwich wieder durch einen weiten, fahlen Schlitz an Ruth Wylies Hals. Das Wort Mord kam ihm in den Sinn. Er sprang auf und rannte zum Badehaus. In der Bar gab es ein Telefon, das mit den Apparaten im Haupthaus in Verbindung stand, und von dem aus man auch nach draußen telefonieren konnte. Er würde Mr. Harper anrufen, und der sollte die Polizei verständigen.

Er erreichte die Bar im Laufschritt. Packte den Hörer des Telefons. War bereit zu wählen. Und erstarrte in der Bewegung. Hinter ihm im Halbdunkel, halb sitzend auf dem mattenbelegten Boden, die Beine gespreizt, den Rücken gegen die Ledercouch gepresst, war... Sebastian knallte den Hörer auf die Gabel. Heilige Mutter Gottes, das war Mrs. Harper!

Sie hatte nur das Oberteil eines blauen Bikinis an. Das Unterteil lag auf dem zusammengeknüllten, weißen Bademantel neben ihr. Ihr Kopf war zur Seite gedreht, das Kinn ruhte auf der rechten Schulter. Blut war ihr über die Brüste und den Bauch gelaufen, konzentrierte sich rings um tiefe Löcher, die wie Stichwunden aussahen, und in einer kleinen Pfütze, die sich unter ihren Oberschenkeln gebildet hatte. Ihr Mund war offen. Ihre Augen starrten ihn an. Und diesmal wusste Sebastian auf den ersten Blick, dass hier nichts mehr zu retten war.

Sein Entsetzen steigerte sich zur Panik. Vielleicht war der Mörder noch in einer der Umkleidekabinen und lauerte. Sebastian trat zurück, drehte sich herum und schoss auf das Haupthaus zu. Während er sich ihm näherte, begann er zu schreien, erhob die Stimme zu einem gellenden Kreischen, als er mit den Fäusten an die Vordertür trommelte. Niemand kam. Er lauschte auf die schreckliche Stille, versuchte dann, die Tür aufzubrechen. Das solide Eichenholz gab nicht nach. Er raste um das Haus herum zur Hintertür, packte einen der lackierten, eisernen Boulevardstühle von der Terrasse und schmetterte ihn gegen die Glasscheibe der Tür.

Dann rannte er durch den Vorplatz zur Diele, über einen kurzen Korridor und stand auch schon in Mr. Harpers Arbeitszimmer. Mr. Harper war da. Aber er war nicht in der Lage, Sebastians plötzliches Hereinplatzen zu bemerken. Er lag mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf dem blutgetränkten Teppich hinter dem wuchtigen, mit Schnitzwerk versehenen Schreibtisch, und seinen leblosen Körper umfasste noch der umgekippte Drehsessel.

Sebastian rief die Polizei an. Dann vorsichtig, um nichts zu berühren, kehrte er zu der Hintertür zurück, die er eingeschlagen hatte, ging hinaus und stand schließlich zitternd auf der Terrasse. Unten am Pool, den er durch die Bäume erkennen konnte, lag der Leichnam von Ruth Wylie, und dahinter sah er unscharf die steifen Beine von Mrs. Harper, die im Badehaus lag. Er übergab sich in ein Petunienbeet.

Dann schleppte er sich zur Auffahrt und hockte sich auf den Rand der Einfassung, um die Ankunft der Polizei abzuwarten. Und ihm wurde schon wieder übel, als ihn plötzlich ein Gedanke hochriss. Er hatte eine weitere Hausbewohnerin vergessen: Mrs. Harpers zwanzigjährige Tochter aus erster Ehe, Betty Archer.

Sebastian starrte auf das Fenster von Bettys Schlafzimmer im oberen Stockwerk. Versuchte, einen Schritt auf das Haus zuzugehen, aber seine Beine versagten. Er verfluchte sich, versuchte, sich unter Kontrolle zu bekommen, aber sein Körper weigerte sich standhaft, irgendeine Bewegung auszuführen. Er stand da, erstarrt vor Entsetzen, und die Tränen der Frustration liefen ihm über sein gebräuntes, narbiges Gesicht, als zwei Polizeiwagen mit heulenden Sirenen die Auffahrt heraufkamen.

Betty Archer, einen Trenchcoat über ihrem kurzen Nachthemd, fand man kurz danach in der geschlossenen Garage, zwischen dem Cadillac und dem Porsche zusammengebrochen am Boden liegend. Sie hatte zwei Stiche abbekommen, einen in die Schulter, den anderen in den Hals, wobei die Stichwaffe die Hauptschlagader nur angeritzt hatte. Sie hielt die Schlüssel für den Porsche in ihrer geballten, verkrampften Faust, was darauf hindeutete, dass sie versucht hatte, zu fliehen und Hilfe zu holen. Aber sie war nicht tot. Noch nicht. Bewusstlos fuhr man sie ins Krankenhaus.

Julian und Paula Harper sowie Ruth Wylie dagegen wurden ins Leichenhaus gebracht.

Auf dem ganzen Grundstück fand man kein Zeichen für die Identität des Mörders.

Der einzige Hinweis darauf, dass jemand in den Besitz der Harpers eingedrungen war, wurde von einem jungen Ehepaar geliefert, das in einem alten Haus eine Viertelmeile von den Harpers entfernt wohnte. Es war um zwei Uhr morgens durch das Dröhnen eines Wagens mit schadhaftem Auspuff geweckt worden, der mit hoher Geschwindigkeit den Hügel vom Haus der Harpers hinuntergerast war.

 

 

 

Zweites Kapitel

 

 

Lee Brewer lag lässig ausgestreckt in dem hellbraunen Vinylsessel, die nackten Füße auf dem durchgelegenen Bett, und las den Bericht. Er beherrschte die ganze Titelseite der Zeitung. Dicke, schwarze Schlagzeilen:

 

BEKANNTER SCHRIFTSTELLER,

DESSEN FRAU UND SEKRETÄRIN ERMORDET AUFGEFUNDEN. TOCHTER IN LEBENSGEFAHR.

RASENDER MÖRDER AUF FREIEM FUSS.

 

Und die Fotos der vier:

 

OPFER DES NÄCHTLICHEN MASSAKERS.

 

Interviews mit Nachbarn und Bekannten:

 

EINE ZURÜCKGEZOGEN LEBENDE,

STILLE FAMILIE, SAGEN DIE FREUNDE.

 

Betty Archer lag noch im Koma - verursacht durch das Trauma und den Blutverlust, wie die Ärzte erklären. Ihr Zustand galt als besorgniserregend.

Die vermutliche Mordwaffe, ein dreißig Zentimeter langes Schlachtmesser, war in der gefüllten Geschirrspülmaschine in der Küche des Hauses gefunden worden, die auf die Garage hinausging. Das Messer war offensichtlich hastig abgewaschen worden; Fingerabdrücke waren keine mehr vorhanden, wohl aber Spuren von Blut. Das Messer gehörte übrigens zu einem Satz von Küchenbesteck, das an einem Regal im Barraum des Badehauses hing.

Der Polizeichef hatte bei seiner Pressekonferenz erklärt: »Allem Anschein nach war Betty Archer die letzte, die der Mörder erwischte. Er hielt sie entweder für tot, oder er bekam es mit der Angst zu tun, vielleicht auch beides. Er lief von der Garage in die Küche, ließ rasch etwas Wasser über das-Messer laufen und steckte es dann in die Geschirrspülmaschine. Der Fund der Mordwaffe hilft uns allerdings kaum weiter. Wir erkennen daraus nur, dass die Mordserie in der Gegend des Swimming-Pools begonnen haben muss.«

Gab es eine Theorie, was das Motiv der Tat betraf?

»Keine Theorie - höchstens eine schwache Vermutung. Der Mörder ist vielleicht eingedrungen, um das Haus auszurauben, und traf in der Gegend des Swimming-Pools auf die beiden Frauen. Vielleicht hatte er auch nur in seinem Wagen gesessen, möglicherweise unter dem Einfluss von Drogen, und war durch das Klatschen des Wassers geweckt worden. Also hielt er die Gelegenheit für einen Einbruch für günstig. Vielleicht auch für einen Überfall auf die beiden Frauen. Immerhin gibt es keinen Hinweis darauf, dass aus dem Haus irgendetwas entwendet wurde.«

Ein Überfall? Waren die Frauen denn vergewaltigt worden?

»Das ist schwer zu sagen. Aber so, wie es aussieht, hat Mrs. Harper versucht, ihn abzuwehren, und er hat sie daraufhin erstochen.«

Aber in diesem Fall musste Ruth Wylie, die Sekretärin, bereits tot gewesen sein, oder? Sonst wäre sie vermutlich während des Kampfes des Eindringlings mit Mrs. Harper davongelaufen und hätte Hilfe besorgt.

»Offensichtlich hat sie genau das getan. Aber der Täter erwischte sie auf der gegenüberliegenden Seite des Schwimmbeckens. Er musste sie töten, um zu verhindern, dass man ihn identifizieren konnte.«

Ob er sicher sei, dass Ruth Wylie nicht vergewaltigt worden sei, ehe sie umgebracht wurde. Der Coroner meint, dass nach so langer Zeit im Wasser alle Hinweise auf eine mögliche Vergewaltigung zerstört seien.

War sie tot, ehe man sie in den Pool geworfen hatte?

»Rein technisch gesehen ist sie ertrunken. Aber sie hatte nicht mehr genügend Blut im Körper, dass man eine Probe hätte nehmen können.«

Glaubte er nicht, dass es sonderbar war, wenn die beiden Frauen zu so später Stunde noch ein Bad im Swimming-Pool nahmen?

»Nun, es war eine ziemlich warme Nacht. Und soweit ich das verstanden habe, hielt sich die Familie nicht an die üblichen Zeiten. Wahrscheinlich deshalb, weil Mr. Harper Schriftsteller war - ein ziemlich berühmter Autor, wie Sie ja wissen - und weil er häufig bis ein oder zwei Uhr morgens zu arbeiten pflegte, manchmal sogar noch länger. Ich nehme an, dass sich alle anderen Hausbewohner, namentlich die Sekretärin, seinem Zeitplan angepasst haben.«

Fand er es nicht bemerkenswert, dass Miss Wylie keinen Badeanzug anhatte?

»Was ist daran so bemerkenswert, wenn man nackt badet in seinem eigenen, privaten, abgeschlossenen Swimming-Pool?«

Nichts. Aber wäre es nicht möglich, dass Miss Wylie hinuntergegangen ist zum Badehaus, und zwar nicht, um zu schwimmen, sondern weil sie irgendein verdächtiges Geräusch gehört hatte?

»Sicher, das haben wir uns auch bereits durch den Kopf gehen lassen. Aber dann hätte sie sicher nicht ihren Bademantel und das Nachthemd in einem der Umkleideräume des Badehauses aufgehängt. Wir haben beide Kleidungsstücke dort gefunden, sauber und ordentlich an einem Kleiderhaken. Daraus kann man wohl mit ziemlicher Sicherheit schließen, dass Miss Wylie und Mrs. Harper gemeinsam hinunter zum Pool gegangen sind.«

Vielleicht hat der Mörder die Kleidungsstücke aufgehängt?

»Mein Gott! Wollen Sie damit sagen, dass ein Mann erst zwei Frauen brutal ersticht und nachher die Kleidungsstücke der einen aufhängt, nur um zu beweisen, dass die beiden Frauen zusammen zum Schwimmen gegangen sind? Können Sie mir vielleicht sagen, warum er das getan haben soll?«

Wäre es nicht denkbar, dass es sich um eine Affäre zwischen den Hausbewohnern gehandelt hat?

»Sie meinen, einer der Angestellten? Es gibt nur zwei: einen Koch und eine Haushälterin, die Frau des Kochs. Die beiden haben das Haus um neun Uhr abends verlassen, hatten von Sonntagabend bis Dienstagnachmittag frei und sind zu einer Familienfeier eines Verwandten gegangen, wo sie auch übernachteten. Dafür gibt es eine ganze Reihe von Zeugen. Als sie das Haus der Harpers verließen, gab es dort keine Gäste, und es wurden auch keine erwartet.«

Ob er sich bereits Gedanken gemacht habe über die Person des Täters?

»Ich nehme an, dass es sich um einen ziemlich jungen Menschen handeln muss. Vielleicht ein Rauschgiftsüchtiger. Ein Psycho wäre die logische Erklärung - einer von jenen Verrückten, die ohne Hemmungen töten. Es wäre möglich, dass er einen ziemlich vernachlässigten Wagen besitzt, vielleicht einen Sportwagen. Und in dem Punkt könnte die Presse unsere Arbeit unterstützen. Der Coroner hat die Tatzeit auf ein bis drei Uhr morgens beschränkt. Wie Sie bereits wissen, hat man gegen zwei Uhr einen Wagen gehört, der die Auffahrt vom Haus der Harpers hinuntergerast ist. Es hörte sich so an, als sei der Auspuff des Wagens beschädigt oder nicht vorhanden, und der Wagen hat einen erheblichen Radau verursacht. Okay. Ich fordere jeden, der jemanden mit einem Wagen ohne Auspuff kennt, auf, sich bei der Polizei zu melden und uns einen Hinweis zu geben. Der Anrufer braucht sich nicht zu identifizieren, braucht sich also auch nicht vor Repressalien des Täters zu fürchten.«

Letzte Frage. Hat sich die Polizei schon mit Julian Harpers Tochter unterhalten?

»Ich sagte Ihnen bereits, sie liegt noch im Koma. Sobald sie...«

Nein, nicht Betty Archer. Sie ist seine Stieftochter. Seine leibliche Tochter, Jessica Harper.

»Oh. Nein, die haben wir noch nicht aufgetrieben. Es ist möglich, dass sie unterwegs ist und noch nichts von der Sache gehört hat.«

Der Zeitungsbericht endete mit dem Hinweis darauf, dass Julian Harper einen Besitz im Wert von mehreren Millionen hinterlässt, ein Vermögen, das er größtenteils bereits von seinem Vater übernommen hatte. Und dass Jessica Harper seine einzige noch lebende Blutsverwandte war.

 

Lee Brewer ließ die Zeitung auf den Schoß sinken und sah sich in dem Zimmer mit Kochnische - das Bad war draußen auf dem Korridor - um, das in der Anzeige als Apartment bezeichnet worden war. Der einzige Umstand, der eine solche Bezeichnung auch nur halbwegs rechtfertigte, war der eigene Eingang - eine Tür, die man in die Wand gebrochen hatte, die hinausging zur Seitenstraße mit der zerbröckelnden Betondecke. Er betrachtete die V-förmige Kochnische mit dem Zweiplatten-Kocher, der rostigen Spüle, den brummenden Kühlschrank, dann wandte er den Blick wieder auf den länglichen Wohnraum mit seinen Flohmarkt-Möbeln. In der Anzeige hätten sie mieses Loch schreiben sollen...

In Gedanken überquerte er den Kontinent, wohnte eine Minute lang in dem Herrenhaus im Tudor-Stil, wo er eine behütete Kindheit und eine rebellische Jugendzeit verbracht hatte. Sein Bad war damals größer gewesen als dieser elende Raum, mit blaugetönten Spiegeln, die die marmornen Waschtische, die Badewanne und die vergoldeten Armaturen reflektierten. Er sah sich dort auf einem Hocker sitzen - war vier oder fünf Jahre alt - während ihn seine Mutter stolz kämmte; sie hatte darauf bestanden, dass er das Haar lang trug, weil sie die natürlichen Locken erhalten wollte. Dann, in die Obhut eines Kindermädchens gegeben, sah er sich den ankommenden Gästen gegenüber, die in der Erinnerung alle ölig und heuchlerisch und rosagesichtig waren und unmenschlich rochen, und hinter deren aufgesetztem Lächeln er eine ständige Feindseligkeit fühlte. »Was für schönes Haar«, hatte die fremde Frau gesagt. »Und die schönen Augen. Du bist wirklich ein hübsches Mädchen.« Er war in sein Zimmer gerannt, hatte gebrüllt: »Ich bin kein Mädchen!« hatte dort eine Schere gefunden und sich damit die Locken abgeschnitten. Seine Mutter war rasend gewesen vor Zorn, hatte aber von da an niemals mehr versucht, sein wirkliches Geschlecht zu verhüllen und somit aufs Spiel zu setzen.

Dieses Zimmer, dachte er, dieses miese Loch war Teil des Preises, den er für die Freiheit bezahlen musste. Aber sie war es wert, weil Freiheit - oder besser Zügellosigkeit - das einzige war, was verhinderte, dass das Leben abglitt in eine stetige Wiederholung ritualisierter Funktionen. Und jetzt - er warf wieder einen Blick auf die Schlagzeile in der Zeitung -, jetzt war eben diese seine Freiheit bedroht.

Fingernägel pochten leise gegen die Tür zum Korridor. Er dachte eine Minute nach, ehe er antwortete. Dann faltete er die Zeitung zusammen, steckte sie in die Schublade des Schreibtischs und sagte: »Die Tür ist nicht abgeschlossen, Donna.«

Sie trug einen gelben Bademantel und darunter nichts als Haut. Ihr welliges, rotes Haar war nach hinten gebunden und enthüllte die Jadeohrringe, die an ihren durchstochenen Ohrläppchen baumelten. Der Blick, den sie ihm zuwarf, war der einer Schauspielerin, die häufig Nutten-Rollen spielte. Sie war achtzehn.

»Das Ungeheuer schläft«, sagte sie.

Vor den anderen nannte sie ihren zehn Monate alten Jungen, der Todd hieß bei seinem Namen. Aber in Gegenwart von Lee hieß er immer nur das Ungeheuer. Er wusste, sie wollte damit ausdrücken, dass das Kind ein Unfall war und ihre Heirat eine daraus resultierende Notwendigkeit; in Wirklichkeit war ihr Herz und Körper für Eroberungen frei.

»Um drei Uhr nachmittags?«, fragte er. »Hast du ihm ein Schlafmittel gegeben?«

»Nur eine halbe Beruhigungstablette.« Sie kam näher und strich mit der Hand über seinen nackten, muskulösen Oberkörper. Ihre Finger näherten sich seinen schmalen Kieferknochen, hielten kurz inne, zeichneten seine vollen Lippen nach, überquerten dann seine Nase und liebkosten sein zerwühltes Haar. Ihre Stimme klang rauchig. »Ich mache gerade Kaffeepause.«

»Wie lange?«

»Oh - lange, sehr lange. Jimmy arbeitet bis Mitternacht in der Bar. Also trinken wir einen Schluck. Hast du Wein da?«

»Eigentlich müsste welcher da sein. Du hast ihn doch besorgt.«

»Das stimmt. Ich bin zu gut zu dir. Aber es macht mir Spaß.«

Es stimmte. Sie liebte es, seine Wäsche in den Salon zu bringen, seine Lebensmittel einzukaufen, seinen Alkohol zu besorgen, ihm das Zimmer aufzuräumen und zu putzen, war glücklich, wenn er sich dafür mit jener tierischen Leidenschaft revanchierte, die er ihr gelegentlich zukommen ließ.

Drüben in der Kochnische goss sie zwei Gläser eisgekühlten Sauterne aus dem Vierliter-Ballon ein. Er saß in seinem Sessel, als sie ihm das Glas reichte. Dann sank sie auf das Bett und trank ihr Glas in einem einzigen Zug aus.

»Du bist gestern spät nach Hause gekommen«, sagte sie, keineswegs anklagend. »Ich hab’ dich gehört.«

»Wann?«

»Ich weiß es nicht. Ich bin nur ganz kurz aufgewacht und hab’ nicht auf die Uhr geschaut.«

»Es war eins«, sagte er. »Ist das spät?«

»N - nein -, aber es kam mir später vor.«

»Es war aber eins.«

»Hast du dich amüsiert?«

Er zuckte mit den Schultern.

»War sie hübsch?«

Das Spiel fing wieder einmal von vorne an, dachte er müde. Sie versuchte ihn zu provozieren, damit er sie bestrafte. Das Auspeitschen, der Flagellantismus, war die bevorzugte Buße, ein Vorbeugemittel gegen die Schuld, eine Strafe im Voraus für die Todsünden, die sie begehen wollte. Er war diesem ihrem Wunsch niemals nachgekommen. Also war sie gezwungen, sich ihre Strafen selbst zu erteilen. Einmal hatte sie es mit den Scherben eines Glases getan, das sie versehentlich in die Spüle fallen ließ. Ein andermal war sie gestolpert und mit dem Kopf gegen den Türrahmen gestoßen. Das letzte Mal hatte sie sich die Hand in die Kühlschranktür geklemmt.

»Darf ich nicht fragen, ob sie hübsch war, Lee? Macht dich das wütend?«

»Es macht mich wütend, dass du nicht sagst, was du wirklich meinst. Du willst doch nur wissen, ob ich mit jemand gebumst habe.«

Sie schwieg.

»Und das, Donna, geht dich nun wirklich nichts an.«

Sie schaute ihn zerknirscht an, das Gesicht schmal, die Augen groß und weit offen. »Ich weiß. Oh, Gott, es tut mir leid, wirklich, Lee.«

»Okay. Vergessen wir es.«

»Ich kann es nicht vergessen. Das weißt du doch, Lee.« Mit beschleunigtem Atem erhob sie sich und knotete den Gürtel ihres Bademantels auf. »Du solltest mich verprügeln.«

Er gab keine Antwort. Sie zog den Bademantel aus.

Er betrachtete ihren schmalen, mageren Körper, bewegte sich aber nicht. Er hatte schon öfters Frauen wie sie gekannt, aber keine von ihnen war so pathetisch gewesen. Für ihn lag das Vergnügen des Verführens darin, dass er die meist unterdrückten Bedürfnisse einer Frau entdeckte und sich darauf einstellte, sie zu befriedigen. Aber die dreiste Anmaßung dieses Verlangens, das nicht mehr als manuelle Anstrengung erforderte, reichte nicht aus, um ihn herauszufordern, stieß ihn sogar ab. Dennoch konnte er nicht auf sie verzichten. Er überlegte sich eine andere Form der Absolution.

»Trinken wir erst noch einen Schluck Wein«, sagte er.

Sie war mit einem Satz in der Kochnische und brachte den Ballon herüber. Als sie einschenkte, zitterten ihre Hände. Und als sein Glas voll war, ließ er es absichtlich gegen den Ballon stoßen und zu Boden fallen. Der Wein ergoss sich über den abgetretenen Teppich.

»Oh, Lee! Es tut mir so leid. Ich putze es sofort weg.«

Sie lief wieder in die Kochnische und kam zurück mit einem feuchten Tuch. Dann sank sie auf Hände und Knie und begann wie wild zu schrubben. Er beobachtete sie, weit entfernt, seine Hilfe anzubieten, bis sie schließlich erschöpft zusammensank. Dann stand er auf und zerrte sie hoch. Schließlich gab er ihr das volle Glas in die Hand.

»Okay«, sagte er. »Nun bist du genug gestraft.«

Sie sah ihn niedergeschlagen an. Starrte auf das Glas, führte es an den Mund und leerte es in einem Zug. Jetzt konnte sie es auf den Alkohol schieben, dachte er. Jetzt war sie nicht mehr für das verantwortlich, was sie tat.

Und dann waren sie auf dem Bett.

»Zwing mich dazu, dass ich alles tue, was du willst«, flüsterte sie. »Zwing mich dazu.«

Er brauchte sich nicht sonderlich anzustrengen.

»Oh, mein Gott! Gib es mir, gib es mir! Oh, mein Gott, oh, mein Gott!«

 

»Du solltest lieber mal nach dem Ungeheuer sehen«, sagte er.

»Okay, ich schaue hinüber und komme gleich zurück.«

»Nein, ich muss weg.«

Sie setzte sich auf, zog eine Schnute. »Oh, Lee...«

»Und ich brauche deinen Wagen. Der meine ist gestern kaputtgegangen, kurz vor der Einfahrt.«

»Hoffentlich nichts Schlimmes.«

»Nein, nur die Lichtmaschine. Ich muss mir eine Austauschmaschine besorgen.«

Sie strahlte. »Dann bist du ja bald zurück.«

»Es dauert sicher eine Weile. Ich muss mich erst in ein paar Geschäften umsehen.«

»Aber wir haben noch genügend Zeit. Jimmy kommt erst nach Mitternacht heim.«

»Ja, wir haben Zeit.«

»Ich werde bereit sein. Ich nehme ein ausführliches, heißes Bad.«

»Es wird vielleicht drei, vier Stunden dauern. Sagen wir, gegen neun.«

Er brauchte die Zeit, um in irgendein Kaff abseits der Küste zu fahren und eine Garage zu finden, deren Besitzer keine großen Fragen stellte, wenn er etwas so Gewöhnliches wie einen Auspuff kaufte. Und er brauchte einen Auspuff für einen Chevrolet Nova, nicht für einen Sportwagen, wie der Polizeichef gemeint hatte.

 

 

 

Drittes Kapitel

 

 

»Hallo, Jessica?«

»Ja?«

»Hier spricht Daniel Hastings; erinnern Sie sich?«

»Ja, natürlich. Vaters Anwalt.«

»Wie geht es Ihnen?«

»Mir? Gut. Wie geht es...«

»Ich versuche schon den ganzen Tag, Sie zu erreichen.«

»Ich bin eben erst nach Hause gekommen. Ich habe Montag frei und war den ganzen Tag über am Strand.«

»Hier in Santa Barbara?«

»Nein, ich bin ein Stück nach Norden gefahren. Ist irgendetwas...«

»Darf ich fragen, mit wem Sie am Strand waren?«

»Ich war allein. Warum...«

»Ich muss Sie unbedingt sehen. Darf ich vorbeikommen?«

»Ist etwas nicht in Ordnung, Mr. Hastings?«

»Ich möchte es Ihnen lieber persönlich sagen.«

»Es ist also etwas nicht in Ordnung. Ist es etwas mit Vater?«

»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«

»Am Samstag, gleich nachdem ich aus der Bibliothek gekommen bin. Ich habe ihm ein paar Bücher gebracht, die er haben wollte. Warum fragen Sie das alles? Was ist mit meinem Vater passiert?«

»Das erkläre ich Ihnen, wenn wir uns sehen. Ich kann in zehn Minuten bei Ihnen sein.«

»Moment, bleiben Sie am Apparat. Da ist jemand an der Tür.«

Daniel Hastings legte die Hand auf die Sprechmuschel des Hörers und sagte zu seiner Frau: »Lillian, sie weiß es noch nicht. Du kommst also besser mit, bleibst vielleicht über Nacht bei ihr. Wir können nicht riskieren, dass Sie etwas Unvernünftiges tut... Hallo! Ja, Jessica?«

»Mr. Hastings, eben sind zwei Kriminalbeamte gekommen. Was soll das alles bedeuten? Sie müssen es mir sagen. Jetzt gleich, Mr. Hastings.«

Er sagte es ihr. Sie unterbrach ihn nicht. Er sagte, er würde die Anordnungen für die Beisetzung übernehmen, als sein linkes Trommelfell vom Geräusch eines Knalls vibrierte.

»Mr. Hastings«, meldete sich eine männliche Stimme, »ich höre von Miss Harper, dass Sie der Anwalt ihres Vaters sind. Richtig?«

»Ja. Ich bin sofort bei Ihnen. Und in der Zwischenzeit will ich nicht, dass Sie sie verhören.«

»Das geht gar nicht. Sie ist bewusstlos.«

 

Sie lag auf dem Bett und starrte ins Dunkel. Konzentrierte sich auf das, was sie den Kriminalbeamten gesagt hatte, nachdem sie aus ihrer Ohnmacht erwacht und Mr. und Mrs. Hastings angekommen waren. Es war nicht viel mehr als das, was sie Mr. Hastings am Telefon gesagt hatte. Sie war früh aufgestanden, hatte sich die Sachen für ein Picknick zusammengepackt und war zu einem einsamen Strand sechzig Meilen nördlich von Santa Barbara gefahren. Bis sie gegen vier zurückfuhr, hatte sie nichts getan als gelesen, sich gesonnt, gebadet und im Schatten eines Grashügels geschlafen.

Das war das Äußerliche. Und nichts von ihrer innerlichen Welt: ihre Phantasien von einem Segelboot, das vor der Küste ankerte, einem bronzebraunen Mann, schön wie Byron, der auf sie zu schwamm, lächelte, sich groß und stark aus dem Wasser erhob, während sie ihm entgegenlief, um sich von ihm davontragen zu lassen auf eine endlose Kreuzfahrt ins Nirgendwo...

Wo sie am Sonntagabend gewesen sei? hatte der vierschrötige Kriminalbeamte gefragt. Hier, in ihrem Haus. Die ganze Nacht über? Ja. Ob das jemand bestätigen könne? Kopfschütteln. Mr. Hastings war dazwischengefahren. »Jetzt ist es genug. Sehen Sie nicht, dass sie im Schock ist?« Sie waren gegangen, hatten sich entschuldigt und angekündigt, dass sie das Verhör später fortsetzen würden. Aber es gab nichts, was sie ihnen noch mitteilen konnte.

Sie hörte ein Rascheln. Als sie den Kopf umwandte, sah sie, dass die Tür weit offenstand und ein bleicher Lichtschein hereinfiel. Mrs. Hastings saß im Wohnzimmer. Sie hatte darauf bestanden, hierzubleiben. »Nur für den Fall, dass Sie etwas brauchen.«

Zum Beispiel jemanden, der ihr die geöffneten Pulsadern verband? Oder das Seil löste, das sich um ihren Hals zugezogen hatte?

Das waren die einfacheren Lösungen. Die schwerere Lösung war langsamer, zermürbend. Tod auf Raten, gekauft mit abstrakter Valuta: Enttäuschung, Zurückweisung, Einsamkeit.

Sie hatte schon fast alle Raten für den Rest ihres Lebens vorausbezahlt.

War es wert, weiterzumachen, jetzt, nachdem ihr Vater fort war?

Lieber Gott, alle waren sie fort!

Sie war die einzige, die überlebte.

Nein, da war noch Betty Archer. Aber es gab nichts, was sie mit ihr verband, weder das Blut noch eine geistige Verwandtschaft.

Und vielleicht war sie inzwischen auch schon tot.

 

 

 

Viertes Kapitel

 

 

»Miss Archer«, sagte der Mann, »es tut mir wirklich leid, Sie jetzt schon stören zu müssen. Aber es ist notwendig. Ich werde versuchen, die Sache so schnell wie möglich hinter mich zu bringen.«

Seine Stimme war sanft, triefte vor Mitleid. Deshalb haben sie ihn wahrscheinlich ausgesucht, dachte sie. Diese Stimme, und dann die hohlen Wangen, die traurigen Augen unter den daumendicken, dunklen Brauen, das Silberhaar - er sah aus wie ein Fernsehpfarrer.

Sie starrte ihn ausdruckslos an.

»Ich nehme an, Sie wissen, was geschehen ist«, sagte er und setzte sich auf den Plastikstuhl neben das Krankenbett.

Sie begann zu nicken, fühlte dann aber den Widerstand der Bandagen, die ihren Hals und die Schulter umgaben. »Ja«, sagte sie, presste das Wort mühsam heraus.

Als sie in der Intensivstation gelegen hatte, in einem Gewirr von Schläuchen, den Blick starr auf eine über ihr hängende Flasche, hatte sie sich an nichts erinnert. Das war in den frühen Morgenstunden gewesen - Dienstagmorgen um vier, hatte man ihr gesagt -, und ihr erster Gedanke war gewesen, dass sie einen Unfall mit dem Porsche gehabt haben musste, vielleicht durch die Windschutzscheibe geflogen war. Dann wurde ihr klar - das einzige, woran sie sich überhaupt erinnern konnte -, dass der Porsche ja in der Garage gestanden hatte. Sie war zum Wagen gelaufen, die Schlüssel kalt und zackig in ihrer Hand, war gelaufen und - gelaufen und vor irgendetwas Gestaltlosem, Entsetzlichem geflohen. Was?

Dann plötzlich hatte ihr Herz wie wild zu pumpen begonnen, und alles kehrte zurück in einem Alptraum aus blitzenden Klingen und unterdrückten Schreien und verkrümmten Gestalten. Sie hatte jede der grauenvollen Minuten noch einmal durchlebt, während eine Krankenschwester sie ausdruckslos ansah, während die Schläuche entfernt wurden, während man sie in dieses Zimmer gefahren hatte, in dieses Bett gehoben, wo sie die Wahrheit, die sie bis dahin nur gefühlt hatte, in Worte fasste, und wo ein junger bärtiger Arzt auf und ab gegangen war, unsicher, ob sie den Schock des Wissens überstehen würde. »Sie sind tot«, hatte sie tonlos gemurmelt. »Sie sind alle tot, nicht wahr?« Er hatte genickt, und über sein verschlossenes Gesicht lief so etwas wie Erleichterung. Sie hatte nichts empfunden, nicht einmal, dass jegliches Gefühl von den barmherzigen Medikamenten unterdrückt wurde. Sie war eingeschlafen.

Jetzt, am Nachmittag, als das Sonnenlicht in den hellgrünen Raum hereinflutete, hatte sie das Gefühl, als stehe sie neben sich, ein Zuschauer, der Zeuge war bei einem übernatürlichen Ereignis.

»Können Sie mir etwas darüber sagen?«, fragte der Kriminalbeamte.

Bevor er aufgetaucht war, hatte sie Zeit gehabt, nachzudenken und alles in die richtige Reihenfolge zu bringen. Du darfst nichts empfinden, hatte sie sich gesagt. Du hast nur gehört und gesehen. Du bist nichts als ein Instrument. Du hast alles aufgezeichnet, nun musst du es wiedergeben.

»Ich lag im Bett, habe geschlafen. Ich wachte auf, hörte Stimmen aus der Gegend des Swimming-Pools. Ich nahm an, es war meine Mutter und Ruth - Ruth Wylie, Julians Sekretärin.«

»Wann war das?«

»Kurz vor zwei. Ich erinnere mich, dass ich auf die Uhr geschaut habe. Ich lag dann eine Weile wach, stand schließlich auf und ging ins Bad. Als ich zurückkam, blieb ich am Fenster stehen und schaute hinunter zum Pool. Ich konnte nichts sehen - es war dunkel, und außerdem stehen große Bäume dazwischen.«

»Aber der Swimming-Pool hat eine Beleuchtung, und außerdem gibt es viele Gartenlaternen rings um das Becken und das Badehaus. Haben Sie die denn nicht gesehen?«

»Sie brannten nicht.«

»Fanden Sie das nicht merkwürdig?«

»Nein. Mutter und Ruth sind oft im Dunkeln schwimmen gegangen.«

»Warum?«

»Nun, Ruth hat gern nackt gebadet, und ich nehme an, sie wollte nicht von Julian gesehen werden, wenn er zufällig herauskäme. Er arbeitete im Studio, auf der anderen Seite des Hauses. Ich erinnere mich auch, dass meine Mutter einmal gesagt hat, die Lichter würden in mein Zimmer scheinen und mich am Einschlafen hindern.«

»Ich verstehe. Weiter.«

»Ich stand also am Fenster. Aber ich habe nichts gehört. Ich dachte, sie seien vielleicht ins Haus zurückgekommen, während ich im Bad war. Und ich wollte mich schon wieder hinlegen, als ich hörte...« Betty begann krampfhaft zu husten. Sie legte eine Hand über ihre Augen. Das Husten hörte auf.

»Ich weiß, dass es schwer ist für Sie, aber...«

»Schon gut. Ich hörte eine Stimme - ich glaube, es war die von, Ruth -, aber es war mehr ein Kreischen. Sie schrie: Oh, mein Gott, .nein, nein, nein! Ich konnte nur an irgendeinen schlimmen Unfall denken, dass sich vielleicht jemand den Kopf an der Einfassung des Beckens aufgeschlagen hatte, oder sogar ertrunken war. Jedenfalls war ich zu Tode erschrocken. Ich rannte nach unten, wie ich war, und dachte nicht einmal daran, Julian zu rufen. Als ich den Swimming-Pool erreichte, sah ich den Körper, der im Wasser schwamm. Er zuckte und wand sich wie im Krampf. Ich konnte nicht erkennen, wer es war.«

»Es war Ruth Wylie.«

»Dann sah ich den anderen - ich sah eigentlich nur die Beine, die weitgespreizt auf dem Boden im Badehaus... Das war...« Sie stieß wimmernd die Luft aus. »Das war meine...«

»Ja, ich weiß. Was haben Sie dann gemacht?«

»Ich hatte nur den einen Gedanken: den Körper aus dem Becken zu ziehen. Ich wusste, sie würde ertrinken, während die andere - nun, vielleicht war sie nur bewusstlos. Ich kam gar nicht auf die Idee, dass noch, jemand anders in der Nähe sein könnte.«

»Wie dachten Sie denn dann, dass es passiert sei?«

»Ich habe nichts gedacht. Ich war viel zu aufgeregt.«

»Versuchen Sie jetzt, nachzudenken. Sie sagten, Sie seien gar nicht auf die Idee gekommen, dass noch jemand in der Nähe war. Aber in diesem Fall...«

»Sie glauben, ich muss gedacht haben, dass sie - dass sie sich - gegenseitig umgebracht haben? Ich weiß nicht. Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie so etwas möglich wäre.«

»Nein, natürlich nicht. Wenn es so geschehen wäre, hätte keiner von den beiden das Messer in die Geschirrspülmaschine stecken können.«

»Haben Sie es denn dort gefunden? Im Geschirrspüler, in der Küche?«

»Ja. Aber ich wollte Sie nicht durcheinanderbringen. Sie sagten, Sie seien zum Becken gelaufen.«

»Richtig. Dann hörte ich dieses Geräusch von der anderen Seite. Schritte, die sich rasch näherten. Ich schaute mich um und sah eine Gestalt. Ich glaube, sie war gerade aus dem Badehaus gekommen und lief ebenfalls auf das Becken zu, auf die Gestalt im Wasser, genau wie ich. Der Mann hielt den Arm hoch, hatte etwas in der Hand, und ich wusste sofort, dass es ein Messer war.«

»Konnten Sie sehen, wie dieser Mann aussah?«

»Es war zu dunkel. Ich könnte nicht einmal sagen, ob er groß oder klein war...Gar nichts. Und ich weiß nicht, warum er dann auf mich losgegangen ist. Er muss doch gewusst haben, dass ich nichts sehen konnte. Warum ist er nicht einfach davongerannt?«

»Wahrscheinlich hatte er Angst, Sie würden Ruth Wylie retten. Wenn sie lebte, hätte sie ihn vermutlich identifizieren können.«

»Möglich. Jedenfalls - ich wusste nur, dass er mich auch umbringen würde, wenn ich zu dem Körper im Wasser, zu Ruth, hinlaufen würde. Also machte ich kehrt und lief in die entgegengesetzte Richtung, die Treppen hinauf zum Haus. Ich hörte ihn hinter mir. Wahrscheinlich dachte er jetzt, ich hätte ihn erkannt, sonst hätte er mich wohl laufen lassen. Ich rannte durch die Seitentür ins Haus, die ich-offengelassen hatte, als ich nach unten gegangen war. Ich stieß sie zu, aber ich glaube, sie ist nicht richtig eingeschnappt. Dann hörte

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Richard Neely/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx. Model: Anna Borkowska.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Friedrich A. Hofschuster und Christian Dörge (OT: Lies).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 27.07.2021
ISBN: 978-3-7487-8993-2

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