RICHARD NEELY
Schwarzer Vogel
über der Brandung
Apex Crime, Band 236
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
SCHWARZER VOGEL ÜBER DER BRANDUNG
DIANE
JENNIFER
DIANE
JENNIFER
DIANE
JENNIFER
DIANE
JENNIFER
DIANE
JENNIFER
Das Buch
Diane Ridgway ist reich, attraktiv - und einsam. Doch dann tritt ein Ex-Colonel in ihr Leben. Erst nachdem sie ihn geheiratet hat, gesteht sie ihm, dass sie über ein Millionen-Vermögen verfügt.
Und dann hört Diane zufällig ein Telefongespräch ihres Mannes mit, das ihr Idyll auf einen Schlag zerstört. Ihre sichere, gefestigte Welt verwandelt sich in einen Alptraum aus Verdacht und Angst...
Der Thriller Schwarzer Vogel über der Brandung von Richard Neely erschien erstmals im Jahr 1975; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1978. Dieser klassische, düstere Rätsel-Krimi erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Reihe APEX CRIME
SCHWARZER VOGEL
ÜBER DER BRANDUNG
DIANE
1.
Das erste Wort, das ich Christopher Warren sagen hörte, sprach er geradezu ehrfurchtsvoll im Inneren eines offengelassenen Bahnhofs aus roten Klinkersteinen, den man in eine Kunstgalerie verwandelt hatte.
»Phänomenal«, sagte er.
Das Wort tönte in meinem Inneren nach wie ein Stück Poesie.
»Es ist wirklich ganz hübsch«, sagte ich; es klang ein wenig missgünstig.
Er drehte sich überrascht um. Wahrscheinlich hatte er gar nicht bemerkt, dass ich direkt hinter ihm stand.
»Hübsch?«, sagte er leicht schockiert.
Ich schenkte ihm das, was ich für ein geheimnisvolles Lächeln hielt. »Konventionell«, sagte ich.
Zwischen seinen buschigen Augenbrauen erschien ein Ausrufezeichen. »Das Thema - ja, vielleicht. Aber nicht die Ausführung. Weiß Gott nicht.«
Er drehte sich weg, als leugne er meine Existenz, und kehrte wieder zurück zur Betrachtung des Gemäldes. Ein Seestück in Öl auf einer Leinwand mit den Maßen 1,20 m mal 1,50 m. Im Vordergrund brach sich eine aufgetürmte Woge in Schaum und Gischt an einem riesigen Felsblock. Im Hintergrund erkannte man einen Ausschnitt der Mendocino-Küste von Nordkalifornien - nebelverhangener Ozean, schroffe Klippen, ein düsteres Vorgebirge unter einem perlmuttschimmernden Himmel. Der Felsblock war der Held des Bildes: seine gezackte, wilde Schönheit wurde durch tiefes Schwarz, Grau und Braun verstärkt, das der Maler dick mit dem Spachtel aufgetragen hatte. Die Szene vermittelte eine Düsterkeit, die genau der Stimmung des Künstlers entsprach.
Ich konnte das behaupten. Denn ich selbst hatte das Bild gemalt, am Strand unterhalb meines Hauses, an einem trüben Nachmittag. Es war erst am Vormittag hier aufgehängt worden, um die Lücke auszufüllen, die durch den Verkauf eines anderen Gemäldes entstanden war.
Der Mann trat ganz nahe an das Bild heran und betrachtete das Preisschild. Er war groß, ging aufrecht und hatte breite Schultern; sein Haar war dunkel und dicht, die kurzen Koteletten silbergrau meliert. Das Gesicht, das er mir zugewandt hatte, war schmal und sonnengebräunt, und mir fiel darin besonders die lange Nase mit der breiten Nasenwurzel auf. Er hatte hochpolierte schwarze Schuhe an, eine dunkle Hose und eine braune Wildlederjacke über einem gelben Sporthemd mit offenem Kragen. Die moderne Ausgabe des Landedelmannes nach den Maßstäben des vornehmen Herrenausstatters Brooks Brothers, dachte ich, und wurde mir plötzlich meiner zerknitterten Blue Jeans, meines grauen Pullovers und meiner Pferdeschwanzfrisur bewusst.
Ich beobachtete ihn, wie er zu dem Tisch hinüberschlenderte, wo Liz Proctor heute freiwillig an der Kasse saß. Ihr gnomenhaftes Gesicht spaltete sich in einem entzückten Lächeln, als er auf das Bild deutete, ein Scheckbuch aus der Tasche zog und mit eiliger Präzision einen Scheck ausstellte. Ganz ohne zu feilschen, wie das bei den Wochenend-Touristen der Fall war, so dass ich mich fragte, ob er hier in der Gegend wohnte.
Mein Verdienst jedenfalls überschritt damit alle Rekorde - drei Verkäufe in drei Tagen, und jedes Bild zum kalkulierten Preis. Das war mehr, als ich sonst in zwei Monaten verkaufte. Ich hätte diesen Mann umarmen können.
Nachdem die Transaktion beendet war, kehrte er zu dem Bild zurück und betrachtete es, Hände an den Hüften, als sei es ein echter Wyeth. Liz folgte ihm und steckte das Schildchen Verkauft an den Rahmen. Dann drehte sie sich um und sah mich an. Ihre Augenbrauen gingen vor Entzücken nach oben.
»Nun«, sagte sie zu dem Mann, »es freut mich, dass Sie den Künstler kennen.«
»Ich kenne ihn nicht«, entgegnete er. Er hatte eine tiefe, fast ein wenig gebieterische Stimme.
Liz gab sich überrascht, merkte dann, dass meine Anwesenheit reiner Zufall war, und schaute ihn schelmisch an. »Es ist kein Künstler«, sagte sie, »sondern eine Künstlerin.«
Ich machte ihr ein Zeichen, dass sie schweigen solle. Sie tat so, als hätte sie es nicht bemerkt. Die Szene schien ihr großen Spaß zu machen.
»Hier steht D. Ridgway«, sagte er. »Ich nahm an...«
»Sie steht da drüben«, erklärte Liz und nickte in meine Richtung, zwinkerte dazu mit ihren kleinen Äuglein.
Er drehte sich rasch herum, und auf seinen Lippen formte sich ein erwartungsvolles Lächeln. Es zerbröckelte, als er mich erkannte, und machte einem einfältigen Ausdruck Platz. Ehe er ein Wort sagen konnte, baute sich Liz mit ihrer kleinen, drahtigen Gestalt zwischen uns auf. Sie breitete-die Arme ein wenig geziert aus und deutete mit erhobenen Händen auf mich und auf ihn.
»Diane Ridgway«, sagte sie mit übertriebener Förmlichkeit, »darf ich dir einen Bewunderer deiner Kunst vorstellen...«
Er grinste. »Christopher Warren«, sagte er dann. »Und ich bin wirklich ein Bewunderer.«
Ich murmelte ein paar Höflichkeitsfloskeln, dankbar darüber, dass es Mittwochnachmittag war, mit nur wenigen Besuchern in der Galerie, und die außerhalb der Hörweite.
Er kam einen Schritt näher und drohte mir mit dem Zeigefinger. »Hübsch!«, sagte er und versuchte, meinen Ton zu imitieren. »Ich fand, dass Sie meinen Geschmack damit beleidigt haben.«
»Es gefällt Ihnen also wirklich?« Ich kam nie darüber hinweg, dass es Leute gab, wenn auch nur wenige, die bereit waren, für etwas Geld zu bezahlen, was mir zuvor so viel Freude gemacht hatte.
»Es gefällt mir über alle Maßen.«
»Er hat es schließlich gekauft«, sagte Liz. Sie zwickte das eine Auge zu wie immer, wenn sie klug dreinschauen wollte. »Ich habe seinen Scheck über dreihundertfünfzig Dollar in der Tasche.«
Ich musste lachen. »Aber Sie hätten es auch für weniger bekommen können, Mr. Warren.«
»Ich hätte sogar noch mehr dafür bezahlt.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und sagte bedauernd: »Eigentlich hätte ich es am liebsten gleich mit nach Hause genommen, aber ich fürchte, es ist schon zu spät.«
»Zu spät?«, sagte Liz. »Aber wir brauchen es doch nur von der Wand abzunehmen.«
»Ich habe meinen Wagen nicht dabei. Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich heute ein Bild erwerben würde. War unterwegs, auf einem Spaziergang, und kam zufällig hier vorbei.« Er lächelte mich an. »Und ich bin sehr glücklich über diesen Zufall.«
Die Antwort sprudelte aus mir heraus, ohne dass ich lange darüber nachdachte: »Es wäre mir ein Vergnügen, Sie mit meinem Wagen nach Hause bringen zu dürfen. Sie und das da.«
»Vielen Dank, aber Sie sollen sich keine Mühe machen.«
»Ich mache damit ja nur den Verkauf perfekt. Wenn Sie das Bild erst zu Hause haben, können Sie nicht mehr vom Kauf zurücktreten.«
Er hatte eine sympathische Art zu lachen.
Wir verstauten das Bild hinten in meinem Ford-Kombi, als ich ihn fragte, wo er wohnte. Er deutete auf das Binnenland jenseits einer blühenden Wiese, auf einen bewaldeten Hügel mit Pinien und Redwood-Bäumen.
»Ich wohne da drüben im Wald. Die Besitzer des Hauses heißen Connors. Ich habe es nur gemietet.«
Ich sagte, dass ich die Connors flüchtig kenne. Sie wohnten in San Francisco, wo George Connors arbeitete, und benützten das Haus im Wald als Wochenend- und Feriensitz, vermieteten es nicht selten. Wir stiegen in meinen Wagen.
»Dann sind Sie nur besuchsweise hier«, sagte ich. Er war viel zu jung, um schon pensioniert zu sein. Mitte Vierzig, schätzte ich.
»Ja. Ich habe das Haus für einen Monat gemietet.« Er wandte sich um und schaute sehnsüchtig hinaus auf das Meer. »Ich wollte, ich könnte den Rest meines Lebens hier verbringen.«
Ich fühlte, dass wir zumindest in diesem Punkt etwas Gemeinsames hatten.
Das Gefühl verstärkte sich, als wir an einer Ranch mit grasenden Schafen vorbeikamen und in eine schmale Straße einbogen, die von Eukalyptusbäumen und Lattenzäunen begrenzt wurde. Er pries die jahrhundertealten viktorianischen Häuser in der Gegend, die Felsenhöhlen, das zarte, geheimnisvolle Leben in den bei Ebbe entstehenden Brackwasserteichen und - als wir uns dem Haus der Connors näherten - die erschreckende Majestät der Redwood-Bäume. Ich sagte wenig, bestätigte nur seine Schwärmereien und war glücklich, einem so beredten Mann zuhören zu können, der genau meine eigenen, tief empfundenen Gefühle über dieses Land ausdrückte, in dem ich meinen Frieden und meine Freiheit gefunden hatte.
Ich bog mit dem Wagen in den gefurchten Weg zum Haus ein und hielt hinter einem Jeep - ebenfalls gemietet, wie er sagte. Das Haus war nicht sehr groß, aus ungehobeltem Redwood, mit einem Giebeldach. Wir stiegen aus, ich öffnete die Heckklappe, und er nahm vorsichtig das Gemälde heraus. Er hielt es auf Armeslänge vor sich hin, blickte lächelnd erst auf die Leinwand, dann auf mich.
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, sagte er. »Warum kommen Sie nicht auf einen Sprung mit hinein?«
Ich dachte an seine Frau, an die Erklärung. »Ich sollte schon zu Hause sein.«
»Und ich hatte gehofft, Ihr Mann sei nicht allzu ungeduldig.«
Er schlug auf den Busch, wusste, dass ich es wusste, und wusste auch, dass es mich freute. Ich ließ eine kleine Pause entstehen. Dann: »Ich habe keinen Mann.«
Er atmete langsam aus. »Sie machen es so spannend, dass man die Luft ziemlich lange anhalten muss. Na schön, fragen Sie mich schon, ob meine Frau nichts dagegen hat.«
»Hat sie?«
Er grinste. »Ich habe keine Frau.«
Ich machte mir Vorwürfe, dass mich seine Antwort so sichtlich erleichterte. Und ich starrte zweifelnd auf die blaugestrichene Tür. »Ja, dann...«
»Kommen Sie schon. Da drinnen sind ein paar Freunde, die Sie kennenlernen sollten. Aber ich glaube, Sie kennen sie bereits.«
»Freunde - die ich schon kenne?«
»Ja. Sagen Sie ihnen wenigstens guten Tag.«
Er ging rasch auf die Tür zu, als zweifle er nicht daran, dass ich ihm folgte. Und ich folgte ihm.
Ich stand drinnen neben der Tür, während er das Bild vorsichtig gegen die Wand lehnte. Das untere Geschoss des Hauses bestand aus einem einzigen großen Raum mit einer Theke, die den Wohntrakt von der Küche abgrenzte. Die Möbel waren einfach - bunt bezogene Sessel und eine Couch, Teppichinseln auf einem braunen Kunststoffboden, ein schwarzer, schmiedeeiserner Kamin in einer Ecke, rote Vorhänge. Eine Treppe, die an eine Hühnerleiter erinnerte, führte hinauf in die Schlafräume.
Keine Freunde. Das Zimmer lag im Halbdunkel. Mir wurde ein bisschen unbehaglich zumute. Er kam auf mich zu, ohne das Licht anzuschalten.
»Ihre Freunde scheinen ausgeflogen zu sein«, sagte ich. Meine Hand wanderte hinter meinen Rücken und umschloss den Türknopf.
»Oh, nein«, sagte er. Seine Stimme klang lässig. Er fasste mich am Ellbogen und zerrte mich weiter hinein in den Raum. Ich mokierte mich innerlich über meine Befürchtungen, konnte sie aber nicht vergessen.
»Stellen Sie sich hierher«, sagte er, als wir die Mitte des Raumes erreicht hatten. Es war ein Befehl. Seine Augen funkelten seltsam.
Vielleicht ist er verrückt, dachte ich. Vielleicht wurde er längst von der Polizei gesucht, weil er überall im Land ungedeckte Schecks ausstellte.
Ich stand starr da, als er meinen Ellbogen losließ. Dann ging er zurück zur Haustür. Ein Schalter klickte, und das Zimmer war hellerleuchtet. Ich begann mich umzudrehen, entschlossen, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden.
»Schauen Sie mal geradeaus«, sagte er.
Zögernd gehorchte ich, blickte auf das Gemälde, das er eben an die Wand gelehnt hatte. Zwei andere Bilder von ähnlichem Format standen daneben. Plötzlich begann ich laut zu lachen, die Hände an die Wangen gepresst, Tränen in den Augen.
»Unsere lieben Freunde«, sagte er leise.
Die beiden anderen Bilder stammten ebenfalls von mir - das eine stellte eine Gruppe von Lappentauchern dar, die am Strand entlangspazierten, das andere eine Wiese im Wind, mit blühendem Stechginster und Lupinen. Ich verdankte meinen plötzlichen Erfolg diesem einen Mann.
»Ich bin ein Sammler von Ridgways geworden«, sagte er.
»Oh, das freut mich aufrichtig. Es freut mich sehr.« Die Worte klangen albern. Aber ich konnte ihm nicht ausdrücken, wie entzückt und bewegt ich war. Es war das ungewöhnlichste Kompliment, das man mir jemals gemacht hatte, und obendrein ein aufrichtiges, denn die Beweise dafür lehnten an der Wand.
»Das muss begossen werden«, sagte er.
Wir tranken Sherry am Kamin, und er erzählte mir über sich. Er war ein ehemaliger Colonel bei der Luftwaffe, zuletzt in Frankreich und Deutschland stationiert. Und er war erst kürzlich in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt.
»Und jetzt?«, fragte ich.
»Ich weiß es noch nicht. Ich habe dreißig Jahre außerhalb der Staaten zugebracht. Zeit, dass ich mich mal wieder umsehe, wie man hier als Zivilist lebt. Wenn ich dieses Paradies verlasse, werde ich in San Francisco wohnen und mir irgendeine Beschäftigung suchen.« Er stand auf und stocherte im Feuer herum. »Ich habe keine Angehörigen.«
»Waren Sie nie verheiratet?«
Er hatte mir den Rücken zugewandt. »Meine Frau starb vor mehr als einem Jahr.« Seine Stimme klang verletzt. »Und Sie?«, fragte er schnell, als wollte er sich vor meinem Mitleid schützen.
»Ich bin seit zehn Jahren Witwe.«
Er schaute mich überrascht an, als er sich wieder setzte. Sein Blick berührte mein blondes Haar - ich wünschte, ich hätte es losgebunden -, meine Augen - mit ein bisschen Eyeliner hätten sie blauer gewirkt -, und er schien meinen Wasser- und Seifenteint zu begutachten.
»Bemerkenswert«, sagte er schließlich. »Sie müssen als Kind geheiratet haben.«
»Ich bin achtunddreißig«, erklärte ich. Es schien wichtig zu sein, gleich zu Beginn alle Illusionen zu zerstören.
»Nein!«
»Ich habe eine Tochter mit zwanzig Jahren.«
Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Und ich dachte, ich sei ein junggebliebener Achtundvierziger.«
Er war es, und ich sagte es ihm. Zugleich sagte ich mir, dass es Zeit war zu verschwinden.
Ich stand auf, ehe er mir ein zweites Glas Sherry anbieten konnte. Er erhob sich ebenfalls und betrachtete mich bedauernd, aber ohne zu protestieren. »Oh, ja, sicher wartet Ihre Tochter auf Sie.«
»Sie wohnt nicht bei mir«, sagte ich. Genau gesagt, wusste ich gar nicht, wo sie zurzeit wohnte.
»Verheiratet?«
»Noch nicht.« Vielleicht war sie inzwischen auch verheiratet - ich wusste es nicht. Ich beendete das Thema, indem ich ihm für den angenehmen Nachmittag dankte.
Er begleitete mich zum Wagen und zollte abschließend noch einmal meinen Bildern Tribut: Er sei so froh, dass er nun etwas von dieser herrlichen Küste überall mit hinnehmen könne. Es war eine charmante kleine Rede, wenn auch nicht das, was ich eigentlich hätte hören wollen. Ich wollte, dass er mich fragte, wo ich wohne. Aber er fragte nicht.
Als ich wegfuhr, warf ich einen Blick in den Rückspiegel und sah, wie er grüßend die Hand hob. Ich winkte zurück und fuhr in meinem treuen Ford der sinkenden Sonne entgegen, während vor meinen Augen die Schrift Ende erschien.
Mein Haus stand, als ich mich ihm über die einspurige Straße näherte, scharf Umrissen gegen den rötlichen Schein der eben untergegangenen Sonne. Es war ein ziemlich großes, zweistöckiges Gebäude aus verwitterten Holzschindeln und mit gegiebelten Fenstern. Die Gartengestaltung hatte ich der Natur überlassen, und sie umgab das Haus mit Geißklee, wildem Senf und Pastinak. Am Stadtrand, in einer Villenstraße, hätte es einfach verwahrlost ausgesehen, aber hier, auf einer Felsenklippe, mit dem blauen Pazifik zu Füßen, wirkte es wie ein verwunschenes Schloss.
Ich parkte den Wagen und betrat das Haus durch einen Seiteneingang, der direkt in die große, weiträumige Küche führte. Ich schaltete rasch das Licht ein, stand einen Augenblick im fluoreszierenden Zwielicht, ging dann hinüber in die Diele, wobei ich eine Spur von Licht durch das Haus zog, überall die Lampen einschaltete und zuletzt das Wohnzimmer betrat. Nie war mir das Gebälk der Decke so hoch vorgekommen, nie waren die Sessel und die Couch so leer gewesen, nie die Bilder an den getäfelten Wänden so unpersönlich. Ich goss mir an der kleinen Hausbar ein Glas Sherry ein und nahm es mit hinaus auf die Terrasse.
Die lange, rosa-purpurne Wolke am Horizont war ein Klischee. Die Treppen, die hinunterführten zum Strand, eingehauen in den Felsen und mit einem Geländer aus Stahlrohr gesichert, sahen aus, als gehörten sie zu einer mittelalterlichen Zwingburg. Der Strand selbst war von der Flut verschluckt. Die Wellen klatschten wütend gegen den Fuß der Klippe. Nichts war schön, alles bedrückte mich auf einmal.
Ich kehrte ins Wohnzimmer zurück und zündete ein Feuer an im düsteren Kamin - ein symbolischer Akt, dachte ich traurig, der Versuch, die Wärme wiederzugewinnen, die ich verloren zu haben glaubte. Sein Bild stand plötzlich vor mir. Seine aufrechte Gestalt. Das Flackern des Humors in seinen Augen. Seine charmante Art zu sprechen. Die starke, muskulöse Hand, die den Sherry einschenkte.
Ich war in einem miserablen Zustand. Und alles wegen eines Mannes, den ich genau eine Stunde kannte. Aber ein Mann, der meine Bilder bewunderte und sogar kaufte, wodurch er mir zeigte, dass er weit mehr an mir schätzte als nur mein glattes blondes Haar, meine großen blauen Augen und meine guterhaltene Figur- obwohl ich natürlich hoffte, dass ihm auch dies nicht entgangen war. Für Christopher Warren war ich eine Persönlichkeit, ein Mensch mit Identität, eine Frau, die nicht allein von ihrer Erotik abhängig war, um in anderen Menschen Gefühle zu erzeugen.
Ohne dass er sich dessen bewusst war, hatte er eine Sehnsucht geweckt, die schon seit meiner Kindheit in mir schlummerte.
Die Vorstellungen meiner Eltern von Künstlern beruhten auf den üblichen Halbwahrheiten und Legenden: alle männlichen Maler sind bärtige Freidenker und Anarchisten, alle Malerinnen leichtlebige, rebellische Wesen, die sich den primitivsten Anforderungen der Körperhygiene widersetzen.
Ich weiß, das klingt prähistorisch, aber es war die landläufige Meinung der Volksseele zu der Zeit, als ich geboren wurde. Man stelle sich ein Dorf vor - obwohl es sich stolz Stadt nannte so klein, dass man schon mit dem Wagen durchgefahren ist, ehe man fragen kann: Wo sind wir jetzt? Und dieses Kaff setze man mitten in das breite San Joaquin Valley von Kalifornien, wo die Hitze des langen Sommers über den schwarzen Straßen schimmert, wo Mexikaner und Portugiesen auf Artischocken-, Zwiebel- und Zuckerrübenfeldern arbeiten, wo Blätter und Blüten und Fußböden und Gesichter ständig von Staub überzogen sind, wo die jungen Leute am Samstagabend nach der Musikbox tanzen und Maisschnaps aus Flaschen trinken und wo die Älteren nach Merced fahren, um sich einen Disney-Film anzuschauen, und danach noch eine Limonade im Drugstore trinken. Das war Justine im Jahre 1936, dem Jahr, als ich geboren wurde. Und das war Justine, als ich es verließ.
Mein Vater besaß eine Kombination aus Drugstore, Eiskonditorei und Schnellimbiss. Von meinem zehnten Lebensjahr an arbeitete ich dort nach der Schule und während der Sommerferien, und ich war eben das Drugstore-Mädchen, wie andere die Klempnerkinder, die Bäckerjungs oder die Friseurgören waren. Mein Bruder Jim, sechs Jahre älter als ich, arbeitete dort, bis er eingezogen wurde. Ein Jahr danach fiel er in Korea, und von da an war ich das einzige Kind. Der Verlust meines Bruders hatte mich tief getroffen. Er war der einzige, der mich ermutigt hatte, mit Farbe herumzuklecksen, wie es meine Eltern bezeichneten, und er legte mir nahe, von Justine wegzugehen, sobald ich dazu in der Lage war.
Nicht, dass mein Vater ein gefühlloser Mensch gewesen wäre. Aber er war wie sein Vater in Justine aufgewachsen und hielt die Stadt für ein Modell des besseren Amerika. Für ihn war Cal Coolidge unser größter Präsident bis auf Eisenhower, den er als eine geradezu überirdische Gestalt verehrte, welche Gott uns geschickt hatte, damit sie uns vor den kommunistischen Atheisten bewahrte. Er war auch ein unerschütterlicher Anhänger von Senator McCarthy, hielt San Francisco für Sodom und New York für Gomorrha und die Städte dazwischen für Filialen der einen oder der anderen und glaubte, dass Chubby Checkers die Jugend der Nation mit seinem Twist für alle Zeiten verdorben hatte. Aber so beschränkt sein Horizont auch gewesen sein mag, er sagte nie ein hartes Wort zu mir - allerdings war ich damals auch ein gehorsames Kind und behielt meine Gedanken für mich.
Meine Mutter war eine sanfte Frau, die stets nach frischem Brot, sauren Gurken und Spülwasser roch. Ich glaube, sie hat nie ein anderes Buch als die Bibel gelesen. Und sie ging kaum aus dem Haus, es sei denn in die Kirche oder zu einer Beerdigung. Ich sehe sie vor mir mit ihrem schmalen, ausdruckslosen Gesicht, eine Locke ihres strähnigen Haars in der Stirn, einen Mehlfleck an der Wange, eine Wachstuchschürze um ihren etwas vorstehenden Bauch. Sie war schon über vierzig, als ich geboren wurde, und wir wären einander nicht ferner gewesen, wenn wir auf zwei verschiedenen Planeten gelebt hätten. Ihr ganzes Leben galt der Hausarbeit - sie fütterte die Hühner, sortierte die Eier, bediente die Milchzentrifuge - wir hatten zwei Kühe -, kochte Marmelade ein, nähte, flickte, wusch und stillte den Hunger eines Haushalts, in dem es immer mindestens drei Untermieter gab.
Ich brachte nie einen Freund mit nach Hause. Um ehrlich zu sein, ich hatte auch nie einen richtigen Freund. Nicht, dass meine Eltern etwas dagegen gehabt hätten, obwohl er vermutlich auf Herz und Nieren geprüft worden wäre und obwohl mein Vater seine Familie mindestens drei Generationen zurückverfolgt hätte. Aber ich lernte einfach keinen Jungen kennen, der mir wirklich gefallen hätte. Bei den wenigen Begegnungen mit jungen Männern hatte ich mehr Angst als Vergnügen, und ich wurde, wenn es aufs Ganze gehen sollte, stets steif wie ein Brett. Also bekam ich die Plakette Vorsicht - kalter Fisch. Mein Gott, wie dumm die Jungen von Justine gewesen sein mussten!
Normalerweise kompensieren heranwachsende Mädchen ihre ungestillten Sehnsüchte mit der Verehrung von Filmstars und Fußballhelden, in romantischen Phantasien und verschiedenen Rollen, die sie sich zurechtlegen. Meine Sehnsüchte dagegen wurden in Farbe gebannt. Es begann mit einem freiwilligen Kursus in Kunsterziehung, führte zu ersten Versuchen mit Aquarellen, bis ich schließlich, durch Ermutigung von Seiten meiner Lehrerin, kühn zu Ölfarben überwechselte. Meine Eltern waren zwar dem Ganzen ziemlich abgeneigt, protestierten aber nur milde, als ich ihnen gestand, dass ich mein ganzes Taschengeld für Farbtuben, Pinsel, eine Staffelei und eine Palette verschwendet hatte.
Ich malte auf jede mir zur Verfügung stehende glatte Fläche: Leinwand, Tapete, Pappkartons. Von meiner Lehrerin, Miss Cribbins, borgte ich mir Bücher aus, über die großen Meister und ihre Techniken. Das Malen wurde zu einer Art Zwang, alles, was ich in der Phantasie erlebte und fühlte, in farbigen Abstraktionen auszudrücken. Erstaunlicherweise malte ich nie das, was ich wirklich sah.
Ich war fast siebzehn, ehe ich mir der Grundlage für diesen Zwang bewusst wurde: ein verzweifeltes Verlangen, vor mir selbst und vor meiner Umwelt zu flüchten. Ich erinnerte mich an den Rat, den mir mein Bruder gegeben hatte.
Im letzten Schuljahr belegte ich einen Kursus in Maschineschreiben und Stenographie. Und diesmal zeigte meine Mutter eine positive Reaktion: Erleichterung. Mein Vater kaufte mir sofort eine Reiseschreibmaschine; endlich hatte ich meine kindischen Schmierereien hinter mir gelassen und beschäftigte mich mit etwas Nützlichem. Ich war ein wenig schuldbewusst, denn der Kursus diente ja nur dazu, dass ich mir mein Brot verdienen konnte, wenn ich Justine verließ und in San Francisco lebte.
Eine Woche nach der Schlussprüfung brachte ich kleinlaut meine Emanzipationserklärung vor. Es war wirklich eine Schande, dass sich meine so wohlüberlegte, so schön in Worte gekleidete Rede als absolut überflüssig erwies. Mein Vater und meine Mutter schauten sich nur an und nickten dann traurig.
Ich packte gerade in Gedanken meinen Koffer aus, in dem kleinen Zimmer einer Pension in San Francisco, nachdem ich mich zu einem Abendkurs in Malerei am Golden Gate College eingetragen hatte - als das Telefon läutete.
»Hallo - hier spricht Christopher Warren.«
»Nanu - hallo!«
»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie störe, aber...«
»Sie stören mich überhaupt nicht.«
»Gut. Ich habe nämlich anscheinend mein Scheckbuch verloren. Ich habe schon in der Galerie angerufen, aber dort ist es nicht: Man hat mir Ihre Nummer gegeben. Ich denke, ich habe es vielleicht in Ihrem Wagen verloren.«
»Bleiben Sie am Apparat - ich sehe nach.«
Ich fand es am Boden der Ladefläche. Es war ihm vermutlich aus der Tasche gerutscht, als er das Bild herausgeholt hatte.
»Es ist ja nicht so wichtig«, sagte er, als ich es ihm mitteilte. »Darf ich morgen vorbeikommen und es abholen?«
Ich sagte, dass ich mich freuen würde, und beschrieb ihm, wie er zu mir fahren musste.
»Wann würde es Ihnen denn passen?«
»Gegen Mittag wäre es mir am liebsten«, sagte ich.
Er erriet wohl, dass ich ihn dann zum Lunch bitten würde. Seine Stimme klang wärmer. »Ich freue mich darauf, Sie wiederzusehen.«
Es war sehr aufregend zu denken, dass er das Scheckbuch vielleicht gar nicht zufällig in meinem Wagen verloren hatte...
2.
Und so begann es.
Er blieb nicht zum Mittagessen, sondern wir fuhren gemeinsam mit meinem Wagen die Küste entlang nach Mendocino City, wo wir gegrillte Krabben aßen und mit kaltem Chablis hinunterspülten. Danach schlenderten wir durch das Städtchen, über die hölzernen Gehsteige, besichtigten viktorianische Häuser mit hohen Bogenfenstern und einfache New-England-Pappkartons, wie sie die Pioniere errichtet hatten.
»Das erinnert mich ein wenig an die Küste von Maine«, sagte er nachdenklich.
»Stammen Sie von dort?«
»Ja. Aber ich verließ Maine, als ich zehn war. Meine Eltern hatten sich scheiden lassen, und ich blieb bei meinem Vater.« Er lächelte. »Mein Vater zog von da an ständig um, und ich fand erst mit achtzehn ein wirkliches Zuhause.«
»Wo war das?«
»Beim Militär.«
Er muss genauso einsam sein wie ich, dachte ich. Meine Zuneigung verstärkte sich zusehends. Als wir zurückfuhren, berichtete ich ihm über meine Kinder- und Jugendzeit, über meine Ambitionen und Frustrationen. Ich hatte mich noch nie so sehr einem Mann anvertraut, nicht einmal Fred, dem Mann, mit dem ich zehn Jahre verheiratet war.
»Sehen Sie Ihre Eltern noch öfters?«, fragte er.
»Sie sind tot. Sie haben spät geheiratet. Beide starben schon, als ich noch nicht dreißig war.«
»Sind Sie das einzige Kind?«
Ich erzählte ihm von Jim, der in Korea gefallen war. Er schaute mich an und starrte dann einen Augenblick ins Leere.
Schließlich sagte er: »Nun ja, wenigstens haben Sie noch Ihre Tochter.«
Ich nickte wie betäubt. Ich war noch nicht bereit, darüber zu sprechen.
Von da an sahen wir uns fast täglich. Er teilte meine Begeisterung fürs Reiten, und wir mieteten Pferde, galoppierten am Strand entlang und durch die Wälder. Wir sammelten Treibholz an einsamen Stränden, machten Picknick am schattigen Ufer des Gualala River. Ich gab eine Cocktailparty und stellte ihn allen meinen Freunden vor, die uns ihrerseits zu sich einluden. Wir wurden unzertrennliche Kameraden.
Aber nicht mehr. Niemals hatte er versucht, über einen brüderlich-freundlichen Gutenachtkuss hinauszugehen. Zuerst schmeichelte mir seine Zurückhaltung. Ich sagte mir, dass er mich zu sehr achtete, als dass er mit mir eine flüchtige Affäre beginnen wollte. Ich dachte daran, dass er erst vor kurzer Zeit seine Frau verloren und wahrscheinlich den Verlust noch nicht überwunden hatte. Aber nach mehreren keuschen Wochen gab ich mich mit so frommen Erläuterungen nicht mehr zufrieden und kam zu der Überzeugung, dass ich nicht die richtigen Signale sendete.
Ich begann damit, diesen Zustand zu ändern, als wir an einem herrlichen, milden Nachmittag unten am Strand waren. Ich hatte meine Staffelei aufgestellt und skizzierte eine Gruppe von Seelöwen, die sich jenseits der Brandung im Wasser tummelten. Chris - ich nannte ihn jetzt Chris - streckte sich ein paar Meter hinter mir auf den Sand, rauchte eine Zigarette und beobachtete mich.
»Du bist wirklich da draußen, nicht wahr?«, sagte er.
»Wo draußen?« Ich konzentrierte mich auf eine Linie.
»Draußen im Ozean.«
Es war genau das Stichwort, das ich brauchte. Ich ging zu ihm, ließ mich auf den Sand sinken und näherte mein Gesicht dem seinen.
»Du täuschst dich. Ich bin hier.«
Er betrachtete mich lange, dann warf er seine Zigarette ins Wasser und streichelte meine Wange.
»Du bist eine schöne Frau, Diane.«
Ich lächelte. »Das glaub’ ich dir nicht. Aber du kannst mich davon überzeugen.«
Er tat es. Wir küssten uns, und unsere Körper drängten zueinander. Ich spürte, dass er ebenso ausgehungert war wie ich.
Dann plötzlich zog er sich zurück. Stand auf. Ich war zu überrascht, um mich brüskiert zu fühlen.
»Ich muss dir etwas sagen«, erklärte er. Und er strich sich mit den Fingern durch das Haar. Seine braunen Augen waren tief eingesunken, als zögen sie sich vor einem entsetzlichen Anblick in die Höhlen zurück.
»Das klingt aber sehr ernst«, sagte ich.
»Es ist ernst. Gehen wir hinauf zum Haus.«
Trotz des Sonnenscheins war es kühl im Haus, und ich zündete ein Feuer im Wohnzimmerkamin an. Dann saßen wir beide auf der Couch, und er starrte bedrückt lange Zeit in die Flammen.
»Es ist wegen meiner Frau«, sagte er schließlich.
Oh, nein, dachte ich, er kann doch nicht an einem Gespenst hängen!
»Ich habe dir nie von ihr erzählt.«
»Nur, dass sie gestorben ist.« Ich bemühte mich um einen möglichst beiläufigen Ton.
»Ja. Du hast wohl gedacht, sie ist an einer Krankheit gestorben.«
»Nicht?«
»Nein.« Er setzte sich auf. »Sie wurde getötet.«
»Oh, Chris, das tut mir leid.« Ich war eher erschreckt als betrübt darüber. Wie sonderbar, dass sowohl seine als auch meine Ehe mit einem gewaltsamen Tod geendet hatte.
»Ich habe sie getötet.«
Ich starrte ihn sprachlos an.
»Ich meine damit nicht, dass ich sie ermordet habe. Aber dennoch bin ich allein schuld an ihrem Tod.«
Es war in einem Vorort von Paris passiert. Damals war er Offizier bei der NATO. Eine späte Party im Offiziersclub. Er hatte zu viel getrunken, fühlte sich aber noch fit genug, um den Wagen zu steuern. Eine scharfe Kurve, die er zuvor unzählige Male gefahren war. Der Wagen geriet ins Schleudern. Krachte gegen ein Laternenmast. Sie war augenblicklich tot.
Als er die Geschichte zu Ende berichtet hatte, stand er vor mir, die Augen auf das Feuer gerichtet, die Hände am Rücken. Ich trat neben ihn, umschlang seine Taille mit meinem Arm. »Oh, mein Gott. Aber es war ein Unfall. Du darfst dir keine Vorwürfe machen.«
Er schüttelte nur den Kopf.
Danach folgte ein langes Schweigen, ehe ich sagte: »Außerdem hat es nichts mit uns beiden zu tun.«
Er machte sich los und sagte leise: »Irgendwie doch. Schuldgefühle, nehme ich an. Und Verantwortungsbewusstsein. Ich werde das Gefühl nicht los, dass bei mir jede Bindung zu einer Frau in einer entsetzlichen Katastrophe endet. Nennen wir es meinetwegen den Pechvogel-Komplex.« Er lächelte und machte eine abwehrende Gebärde mit der Hand. »Ja, ich weiß, das klingt absurd.«
»Nein, Chris, das ist es nicht.«
Ich mixte uns zwei doppelte Scotch mit Eis und Soda, und zugleich wurde mir bewusst, wie die Zeit gegen uns kämpfte: In weniger als einer Woche musste er aus dem Haus der Connors ausziehen. Der Gedanke, er könnte mich verlassen, erschien mir unerträglich.
Er nahm das Glas, ohne mich dabei anzusehen, brütete noch über seinen Gedanken. Ich ließ mich auf die Couch nieder, und eine Minute später setzte er sich neben mich. Ich fasste nach seiner Hand und merkte, dass er sie zur Faust geballt hatte.
»Das war der zweite gewaltsame Tod in meiner Familie«, sagte er. »Mein Sohn...«
»Oh, Chris!«
»Ja. In Vietnam. Eine Granate.«
Mein Gott! Genau wie mein Bruder Jim!
»Chris, ich kann dir nicht sagen, wie...«
»Nicht. Bitte, sag es nicht.« Er stellte seinen Drink ab. »Verdammt, es tut mir leid. Warum musste ich... Ich habe unseren ganzen schönen Nachmittag verdorben. Was für ein Ende eines herrlichen Tages!«
»Es ist erst der Anfang.« Ich nahm sein Glas, trank das meine aus, ging zur Bar und bereitete uns zwei neue Drinks. Als ich zurückkam, trank ich einen großen Schluck. Dann reichte ich ihm sein Glas und stellte meines auf den Couchtisch. Ich setzte mich nicht.
Es war jetzt dämmrig im Zimmer; nur das Feuer warf gelbe Blitze auf den Teppich. Er schien sein Glas zu betrachten, hielt den Kopf gesenkt.
»Diane!«
Es war nicht Tadel, sondern Überraschung und Freude. Mein rosa Pullover lag am Boden. Ich hatte nichts darunter an. Er saß ganz still da, bis ich den Reißverschluss am Rock öffnete. Dann kam er zu mir her und klammerte sich an mich wie in äußerster Panik. Wir sanken zu Boden.
Ich war mir nur noch schwach bewusst, dass ich eine vergessene Szene neu erlebte, eine Szene, die ich seit zehn Jahren in meinem Unterbewusstsein vergraben hatte, diesmal jedoch ohne Skrupel wiederholte, als heilsames Gift - für Chris und für mich.
Ein Gedanke schoss mir durch den Kopf: Später muss ich es ihm sagen. Ich muss.
Der Gedanke ging unter in einer mächtigen Woge des Verlangens.
Er blieb über Nacht, eine Nacht des erschöpften Schlummerns und erregten Erwachens. Das Licht fiel grau auf die Schlafzimmervorhänge, als ich zum letzten Mal erwachte. Er hatte sich auf die Ellbogen gestützt und betrachtete mein Gesicht. Lächelte, küsste meine Lider, und ich kehrte auf wunderbare Weise ins Bewusstsein zurück.
»Ich liebe dich«, sagte er.
Die geflüsterten Koseworte der Nacht waren nie so weit gegangen. Meine Kehle war wie zugeschnürt, erstickte meine Stimme. »Oh, und wie ich dich liebe!«
Und noch einmal feierten wir das Fest, langsam und glücklich, wissend, wie wir einander das Äußerste gaben.
Wir duschten gemeinsam, zogen uns gemeinsam an, gingen zusammen hinunter zum Strand durch den sonnenbeschienenen Nebel, der gegen die Wellen in allen Regenbogenfarben schimmerte. Als wir zurückkamen ins Haus, bestand er darauf, das Frühstück zuzubereiten, und es wurde ein Schlemmerfest, das wir vor dem flackernden Feuer feierten.
Beim Kaffee fragte ich: »Und was macht dein Pechvogel-Komplex?«
Er grinste. »Verschwunden. Ihre Therapie, Doktor Ridgway, ist phänomenal.«
Es war der günstigste Augenblick, mein Skelett aus dem Keller zu holen, aber ich ließ ihn verstreichen, fürchtete, dass das, was wir gemeinsam aufgebaut hatten, noch zu zerbrechlich war, als dass ich es einer solchen Belastungsprobe aussetzen durfte.
Ich wusste, dass ich es nicht mehr lange würde aufschieben können.
Wenn wir weitermachen wollten, konnte es passieren, dass er die Geschichte von dritter Seite erfuhr, und dann würde er sich zurecht hintergangen fühlen.
Würde es weitergehen?
»Chris, wann musst du das Haus aufgeben?«
Sein Gesicht wurde ernst. »Ich habe noch fünf Tage.«
»Könntest du nicht länger bleiben?«
»Unmöglich. Die Connors haben es schon wieder neu vermietet. Die Leute ziehen einen Tag danach dort ein.«
Ich wartete, hoffte, er würde sagen, dass er sich ein anderes Haus suchen könne. Aber er schwieg.
»Du könntest doch hier wohnen«, schlug ich vor.
Er tat so, als sei er zutiefst schockiert. »Schrecklich. Was würden die Nachbarn sagen?«
Ich kuschelte mich an ihn. »Es gibt keine Nachbarn weit und breit. Und die Leute in der Gegend würden bestimmt nichts dabei finden.«
Ich fühlte, wie er sich versteifte. Er sagte, ohne zu scherzen: »Schon möglich. Aber weißt du, ich bin vielleicht ein bisschen altmodisch. Außerdem kann ich nicht für den Rest meines Lebens herumlungern. Ich muss mir eine Stellung beschaffen. Und das heißt, dass ich nach San Francisco ziehen muss. Ich könnte nicht jeden Tag von hier aus in die Stadt pendeln und zurück. Das würde täglich eine Fahrzeit von sechs bis sieben Stunden bedeuten.«
Ich dachte an mein Haus in Belvedere, eine halbe Stunde von San«,«, Francisco entfernt. Als ich mich zuletzt darum gekümmert hatte, war es an einen IBM-Direktor mit einer großen Familie vermietet.
Ich hatte das Haus behalten in der Hoffnung, dass Jennifer eines Tages zu mir zurückkommen würde. Nur dann hätte ich es ertragen, dort noch einmal zu wohnen. Mit Chris wäre es natürlich noch schöner. Die Anwesenheit eines so ehrbaren Mannes - eines Colonels - würde mich sogar bei den Nachbarn wieder im Ansehen steigen lassen. Worauf ich freilich verzichten konnte.
»...ja immer an den Wochenenden herkommen«, sagte er gerade. »Dann haben wir die Zeit von Freitagabend bis Montagmorgen für uns.«
»Darüber reden wir später. Jetzt möchte ich erst eine Weile richtig glücklich sein.«
Aber ich war nicht glücklich. Ich hatte Angst. Ich dachte daran, wie er allein war in der Stadt, sah ihn von heiratswütigen Frauen umgeben, hörte seine Stimme am Telefon, wie er sagte, er könne leider nicht kommen, vielleicht am nächsten Wochenende – und dachte daran, wie ich ihn früher oder später aus den Augen verlieren würde. Nein, wenn es ihm recht war, würde ich ihm überallhin folgen. Es musste nicht das Haus in Belvedere sein.
»Du bist in Gedanken woanders«, sagte Chris.
Ich schüttelte den Kopf und schaute ihn an. Sorge verdunkelte seine Augen.
»Ich bin hier bei dir, Schatz.«
»Und ich hatte das Gefühl, du denkst an jemand anders.« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Habe ich einen Rivalen?«
»Lächerlich.«
»Es würde mich nicht wundern. Eine so hübsche Witwe... Zehn Jahre sind eine lange Zeit...«
Ich küsste ihn schnell. »Hör mal - nach Freds Tod gab es nur zwei Männer für mich. Der eine war eher ein guter Kamerad. Und der andere...« Ich zögerte. »Nun, das ist lange vorbei.«
Ich erzählte ihm ein wenig von Bryan Wilcox. Ein einflussreicher Werbemanager, zweimal geschieden, mit einer Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben, die mich damals fasziniert hatte. Aber Bryan und ich hatten so gut wie nichts Gemeinsames. Er betrachtete meine Malerei als typisch weibliche Spielerei - ein Vorwand, um mich zu beschäftigen. Wenn ich davon sprach, zog er die Augenbrauen hoch und lächelte nachsichtig. Dann wechselte er das Thema.
»Viele Leute lehnen das ab, was sie nicht begreifen oder was ihnen nicht in den Kram passt«, sagte Chris.
Ich starrte ihn an. »Mein Mann war genauso.«
»Wirklich? Du meinst, er hatte etwas gegen deine Malerei?«
»Ja. Das heißt, zuerst natürlich nicht. Bevor wir heirateten, tat er so, als finde er das hochinteressant. Später verglich er sie mit der Sucht nach Rauschgift.«
Das war ein Anhaltspunkt, dachte ich, um den Rest meiner Lebensgeschichte vor ihm darzulegen. Ich öffnete schon den Mund, aber da stand Chris auf und sagte: »Nun, es gab sicher manches, 26 was diesen Nachteil ausgeglichen hat. Was meinst du - fahren wir rasch mal zu mir hinüber? Ich möchte nach meiner Post sehen und mich umziehen. Danach können wir dort oder in einem Restaurant essen.«
Auf der Fahrt sprach er wenig, und ich fühlte, dass er über meine Beziehung zu Fred nachdachte. Aber sobald wir in seinem Haus waren, sprudelte er über vor Munterkeit. Es war, als wollte er, dass ich alles über ihn erfuhr, in der Hoffnung, er würde im Vergleich zu meinen früheren Männern gut abschneiden.
Er sprach von seiner militärischen Laufbahn - Krieg in Frankreich, Korea und Vietnam, danach Verwaltungstätigkeit in Japan und Westeuropa. Er öffnete seinen Kleiderschrank und zeigte mir seine sorgfältig gebügelte Uniform, gab mir eine Ehrenurkunde zu lesen, die der Präsident der Vereinigten Staaten persönlich unterzeichnet hatte, und ich betrachtete fasziniert zwei Souvenirs, die er »organisiere hatte - eine gefährlich aussehende deutsche Luger und ein kurzes japanisches Schwert.
»Fürs Harakiri«, erklärte er.
Ich war entzückt über sein Bedürfnis, sich mir mitzuteilen. Er hatte den Charme eines kleinen Jungen, der geradezu platzt vor Begierde, seinen Freunden alles über die Ferien im Sommerlager zu erzählen. Schließlich brach er abrupt ab, schlug sich vor die Stirn und sagte: »Großer Gott, wie kannst du mich nur ertragen? Ich rede jetzt schon seit einer Stunde nur von mir.«
»Ich bin so froh darüber. Ich bin froh, dass du endlich darüber reden kannst.«
Seine Finger streichelten meinen Haaransatz.
»Und dabei gibt es so viel von dir«, sagte er, »was ich noch nicht weiß.«
Ich fühlte, wie sich mein Körper zusammenzog. »Ich habe dir erzählt, wie und wo ich aufgewachsen bin.«
»Dieses
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Richard Neely/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx. Model: Anna Borkowska.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Fried Holm und Christian Dörge (OT: The Ridgway Women).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 24.06.2021
ISBN: 978-3-7487-8651-1
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