JOHN CASSELLS
Treffpunkt
an der alten Eiche
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
TREFFPUNKT AN DER ALTEN EICHE
ERSTER TEIL
ZWEITER TEIL
DRITTER TEIL
Das Buch
Der Tag, an dem Sergeant Newall von Scotland Yard zufällig im Strand - eine der alten Straßen Londons - Mrs. Kelman traf, war im wahrsten Sinne des Wortes ein Schicksalstag, obgleich keiner von beiden in diesem Moment der Begegnung in der Lage gewesen wäre, die seltsamen Ereignisse vorauszusehen, die schon so bald ihre volle und ungeteilte Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen sollten...
Der Roman Treffpunkt an der alten Eiche des schottischen Schriftstellers John Cassells (ein Pseudonym des Bestseller-Autors William Murdoch Duncan - * 18. November 1909; † 19. April 1975) erschien erstmals im Jahr 1956; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr (unter dem Titel Treffpunkt: Alte Eiche).
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
TREFFPUNKT AN DER ALTEN EICHE
ERSTER TEIL
Erstes Kapitel
Der Tag, an dem Sergeant Newall von Scotland Yard zufällig im Strand - eine der alten Straßen Londons - Mrs. Kelman traf, war im wahrsten Sinne des Wortes ein Schicksalstag, obgleich keiner von beiden in diesem Moment der Begegnung in der Lage gewesen wäre, die seltsamen Ereignisse vorauszusehen, die schon so bald ihre volle und ungeteilte Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen sollten.
Es war an einem Nachmittag Ende Oktober. Frost lag in der Luft, und eine zitronenfarbene Sonne hing niedrig am herbstlich dunstigen Himmel. Eine hagere, in Gedanken versunkene Gestalt bummelte müßig im Strand entlang, und ein wachsamer Beobachter hätte auf den melancholischen Zügen Sergeant Noel Newalls die leisen Anzeichen einer glücklichen Stimmung, ja, sogar eine gewisse milde Versöhnlichkeit in seinem Blick entdecken können. Der Primrose-Hill-Fall war am selben Morgen abgeschlossen worden, und ein weiser Polizeirichter hatte Manuel Stratton, schon seit langer Zeit ein Dorn im Auge der Londoner Polizei, mit seinem Gesuch abgewiesen, ihn gegen Stellung einer Kaution auf freien Fuß zu lassen. Der zuständige Commissioner persönlich hatte einige sehr anerkennende Bemerkungen gemacht über die Findigkeit und den hervorragenden Scharfsinn Sergeant Newalls, und zudem winkten ihm in greifbarer Nähe drei längst fällige, freie Tage - kurz und gut, London war im Augenblick ein überaus angenehmer und erfreulicher Aufenthaltsort.
An der Ecke der Duncannon Street hielt Sergeant Newall inne, ließ seine Augen beifällig in die Runde schweifen und zündete sich eine Zigarette an. Er war eben im Begriff, das abgebrannte Streichholz wegzuschleudern, als er eine sehr elegant gekleidete Frau bemerkte, die ihn überholte, ohne ihn mit mehr als nur einem flüchtigen Blick zu streifen. Eine Sekunde lang starrte er hinter ihr her und heftete sich dann sogleich an ihre Fersen. Nach wenigen Metern hatte er sie erreicht.
»Hallo, Lottie.«
Die Frau drehte sich bei seinen Worten um. Sie war schätzungsweise Anfang Vierzig und hatte ein angenehmes, sympathisches
Gesicht. Einen Moment lang sah sie ihm mit fragenden, leicht erstaunten Augen an. »Sollten wir uns kennen?«
Newall zeigte ein dünnes, etwas müdes Lächeln.
»Ich denke doch. Wir haben uns schon früher einmal getroffen. Am zehnten Mai 1946. Und zwar im Old Bailey Gerichtshof. Sie trugen damals einen grünen Tweedmantel und einen dazu passenden Hut. Außerdem hatten Sie
Lottie Kelman seufzte.
»Ich gebe es auf. Der allwissende Newall, nicht wahr?«
»Erraten«, bestätigte Sergeant Newall. »Was macht Mark?«
Sie schloss die Augen, wie um anzudeuten, dass Mark Kelman ihrem Gedächtnis weit entschwunden war. »Ich habe ihn wohl ein Jahr lang nicht mehr gesehen.«
Sergeant Newall wurde neugierig.
»Was Sie nicht sagen? Erzählen Sie mir nur nicht, dass die Strafe für seine Sünden ihn am Ende ereilt hat.«
Mrs. Kelman zuckte die Achseln.
»Sie kennen doch Mark. Wir konnten einfach nicht mehr miteinander auskommen. Die Affären, in die dieser Mann dauernd verwickelt war... Na, kurz gesagt, wir haben uns getrennt. Zum Glück hatten wir keine Kinder. Sie wissen ja, wie das die Dinge immer erschwert.«
Sergeant Newall war selbst kein Familienvater.
»Ja, sie sind wohl oft ein Klotz am Bein«, meinte er freimütig. »Natürlich kenne ich das alles nur vom Hörensagen.« Er betrachtete sie aufmerksam. »Sie sehen aber aus, als ob Sie ganz gut allein mit dem Leben fertig würden, Lottie.«
»Mir geht’s nicht schlecht. Ich habe immer ein oder zwei Eisen im Feuer.«
»Das glaube ich Ihnen«, versicherte Sergeant Newall. Er sah mit zusammengekniffenen Augen auf seine Armbanduhr. »Es ist Viertel nach drei. Was würden Sie zu einer Tasse Tee sagen, um die Zeit totzuschlagen?«
Mrs. Kelman war sichtlich überrascht und warf ihm einen schelmischen Blick zu. »Sie wollen mich doch nicht etwa ausführen, Sergeant?«»
»I bewahre«, antwortete Newall wenig charmant. »Streng dienstlieh, Lottie.« In seiner Stimme war ein Ton, der ihr von früher her bekannt vorkam. Sie stieß ein kurzes Lachen aus.
»Ach, daher weht der Wind - nein, ich habe leider keine Zeit.«
»Sehr schade«, sagte Newall. »Dann muss ich mich wohl an Mark selbst wenden.« Er bemerkte ein ärgerliches Aufflackern in ihren, dunklen Augen, aber plötzlich lenkte sie ein.
»Also gut. Ich werde mir die Zeit dafür nehmen. Aber ich habe eine Verabredung für vier Uhr, und die darf ich nicht versäumen.«
»Das werden Sie bestimmt nicht«, versprach Newall. Er führte sie in eine nahegelegene Teestube, in der nur etwa ein Dutzend Tischchen standen. Die meisten davon waren nicht besetzt. Sergeant Newall war ihr beim Ablegen behilflich und schob ihr einen Sessel hin.
»So, sehen Sie, Lottie. Jetzt eine Tasse Tee. Und wie war’s mit einem Stück Kuchen dazu?«
»Nein, vielen Dank.« Sie lächelte resigniert. »Ich muss auf meine Figur achten.«
»Ich kann beim besten Willen keinen Fehler an ihr entdecken«, sagte Newall galant und setzte sich ebenfalls. Nachdem das Serviermädchen eine Kanne Tee und eine Auswahl von Tortenstücken gebracht hatte, lehnte er sich in seinen Stuhl zurück und sah wohlgefällig seinem sympathischen Gegenüber beim Tee-Einschenken zu.
Sie blickte zu ihm auf. »Ein oder zwei Stückchen Zucker?«
»Drei«, bat Sergeant Newall. »Ich liebe Süßigkeiten.« Er nahm einen kleinen überzuckerten Kuchen vom Teller und biss die Hälfte davon ab. »Sehen Sie, ich bemühe mich schon seit einem Monat, zuzunehmen. Aber es scheint unmöglich zu sein. Wo, sagten Sie, wohnt Mark jetzt?«
Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich kümmere mich nicht mehr um ihn.«
»Komisch«, meinte Newall. »Sorgt er nicht für Ihren Unterhalt?«
Mrs. Kelmans Lachen klang höhnisch.
»Halten Sie das für möglich? Sie kennen doch Mark. Trinken ist eine schreckliche Angewohnheit. Ein Mann, der dem Alkohol verfällt, rennt schnurstracks bergab in sein Verderben. Davor habe ich ihn wohl hundertmal gewarnt. Er wollte nie auf mich hören, und jetzt - na ja - jetzt ist es genauso gekommen.«
Sergeant Newall rührte in seinem Tee.
»Ich wusste nicht, dass Mark Gewohnheitssäufer geworden ist.«
Sie lächelte schwach.
»Es gibt viele Dinge, die Sie nicht wissen, Sergeant. Das ist nur eins davon. Aber sprechen wir nicht über Mark. Wenn ich von dem Burschen höre...« Sie schwieg. Es war offensichtlich, dass Sie sich nicht imstande fühlte, ihre Meinung über Mark Kelman in Worte zu fassen, und Sergeant Newall seufzte.
»Es ist ein Jammer. Und was machen Sie?«
»Ich arbeite. Nein, Sie brauchen mich nicht so anzusehen. Ich habe einen richtigen Job - und noch dazu einen guten. Den besten, den ich jemals hatte.«
Newall griff nach einem zweiten Stück Kuchen.
»Diese rosafarbenen sind nicht schlecht. Wo arbeiten Sie?«
»Außerhalb der Stadt. Auf dem Lande. Ich komme nur ab und zu einmal herein, wenn ich meinen freien Tag habe.«
»Und was tun Sie?«
Sie warf ihm einen argwöhnischen Blick zu.
»Hören Sie, Sergeant, was soll das alles? Wollen Sie mich aushorchen? Ich hätte große Lust, einfach aufzustehen und wegzugehen. Woher nehmen Sie das Recht, mir derartige Fragen zu stellen?«
Newall seufzte. »Ich wette, es ist wieder dasselbe alte Spiel. Sie haben einen reichen Mann gefunden...«
Lottie Kelman sah ihn entrüstet an.
»Wenn Sie es genau wissen wollen: Ich arbeite als Krankenpflegerin.«
»Als Krankenpflegerin?« Sergeant Newall war überrascht. »Was verstehen Sie denn davon? Ich wusste gar nicht, dass Sie dafür ausgebildet sind.«
Sie lächelte kalt. »Es muss wohl eine erschreckende Tatsache für Sie sein, zu entdecken, dass es etwas gibt, was Sie nicht wissen. Aber es ist die Wahrheit. Ich bin augenblicklich bei einem älteren Herrn - und es gefällt mir sehr gut da. Ich habe es besser getroffen als jemals zuvor, und es ist mir völlig gleichgültig, ob es jemand weiß oder nicht.«
»Jedenfalls scheint es eine feine Stellung zu sein«, sagte er. »Sehen Sie mich dagegen an. Ich muss so viel herumlaufen, dass ich bald nur noch aus Haut und Knochen bestehe. Ein Schatten meiner selbst. Um mich bei Kräften zu halten, bin ich gezwungen, süßen Tee zu trinken und eine Menge Kuchen zu essen. »Wie, sagten Sie, war der Name des Herrn?«
Mrs. Kelman schüttelte den Kopf.
»Ich sagte ihn nicht, Sergeant, und ich habe auch nicht die Absicht, es zu tun.«
Der allwissende Newall stieß einen verzweifelten Seufzer aus. »Sie sind mir ein Rätsel, Lottie. Mit Ihrem Aussehen und Ihrem Köpfchen könnten Sie wahrhaftig etwas Einträglicheres tun, als Krankenpflegerin spielen. Aber ich nehme an, dass Sie selbst das am besten entscheiden. Was ist eigentlich aus Joe Rice oder Ed Daney geworden? Ist Ihnen jemals einer von diesen Burschen dort begegnet, wo Sie pflegen?«
Sie lächelte belustigt. »Nein, kein einziger von dieser Bande, und ich wünsche es mir auch nicht. Ich sehe, Sie glauben mir nicht, Sergeant. Na - das muss ich Ihnen überlassen. Es ist die reine Wahrheit, anscheinend etwas, was Sie schon lange nicht mehr gehört haben. Noch Tee?«
Newall hielt seine Tasse hin.
»Seien Sie sparsam mit dem heißen Wasser. Ich mag ihn gern stark.« Er nahm die Tasse zurück und rührte trübsinnig darin herum. »Wissen Sie, ich habe oft an Sie und an Mark gedacht, Lottie. Besonders an Mark. Erinnern Sie sich noch an die Geschichte mit dem Herrn, der das Perlenkollier verlor?«
»Freilich. Sie meinen Carl Wittus?«
»Hieß er so? Ja, ich glaube, Sie haben recht.« Newall blickte sie träge an. »Das war ein toller Fall. Und die Perlen sind nie wieder aufgetaucht. Sie waren mit zwölftausend Pfund versichert. Das ist ein Haufen Geld, sogar heutzutage«
»Allerdings«, sagte sie. »Aber seien Sie überzeugt, Wittus konnte das verschmerzen. Ich jedenfalls weigere mich, einen Mann zu bedauern, der Geld genug hat, Perlenhalsbänder zu kaufen. Das ist bei weitem mehr, als ich mir leisten kann.«
»Sie brauchen sie sich ja auch nicht zu kaufen«, bemerkte Newall und sah, wie sich ihre Augen verengten.
»Sollte das eine freche Anspielung sein, Sergeant? Wenn Sie damit sagen wollen, dass ich
»Wo denken Sie hin, Lottie. Sie sollten mich doch besser kennen. Meine Hochachtung vor Ihnen könnte nicht größer sein. Aber ich habe mich oft gewundert, wie merkwürdig die Sache mit dem Halsband war. Wittus hat es nie der Polizei gemeldet. Wie reimen Sie sich das zusammen? Sie wissen doch sonst auf alles eine Antwort?« Mrs. Kelman lächelte und schenkte sich Tee ein.
»Ich habe noch keinen Gedanken daran verschwendet«, erwiderte sie. »Ich wüsste wirklich Besseres zu tun.«
Newall tat einen tiefen Atemzug.
»Ich wünschte, ich hätte Ihr Gewissen. Immerhin bin ich froh, Sie getroffen zu haben und von Ihnen und Mark und von Ihrer Krankenpflegerei zu hören. Sagten Sie nicht, dass Sie endgültig in diesen Beruf hinüberwechseln wollten, oder war das eine Einbildung von mir?«
»Wahrscheinlich Ihr Gedächtnis, das Sie im Stich gelassen hat«, spöttelte sie. »Ja, ja, das kommt so mit dem Alter. Sie haben auch schon ganz hübsch lange Zähne. Fünfzig werden Sie wohl jetzt mindestens sein.«
Sergeant Newall lachte gutmütig.
»Ich bin genau zwei Jahre, vier Monate und einen Tag jünger als Sie, Lottie. Da staunen Sie, was? Ich habe mir die Mühe genommen, mich darüber zu informieren.«
Sie biss sich auf die Lippen, aber gleich darauf lachte sie wieder. »Ich wusste nicht, dass Sie so sehr daran interessiert waren, Sergeant.«
»Ich interessiere mich für vielerlei«, antwortete Newall selbstzufrieden. »Nehmen Sie zum Beispiel Geographie. Was wissen Sie über die Chinook-Winde? Das ist ganz leicht. Die Chinook-Winde wehen an den Ostabhängen der Rocky Mountains, drüben in Kanada. Im Sommer sind sie kühl - im Winter milch Im Zeitraum von wenigen Stunden können sie ganze Berge von Schnee wegtauen - jedenfalls wird das behauptet. Oder wissen Sie, was Höhenlinien sind? Nein? Das sind die Linien, die man auf den Landkarten durch alle Punkte gezogen sieht, die in der gleichen Höhe über dem Meeresspiegel liegen. Aber falls Sie sich nicht für Geographie erwärmen, wie steht’s mit Geschichte? Wie hieß der Admiral, der die englische Flotte während der Einnahme von Quebec befehligte? Ich sage, es war Admiral Saunders.«
Lottie Kelman stellte ihre Tasse ab.
»Was für umfassende Kenntnisse Sie haben, Mr. Newall. Ich wollte, ich hätte Ihr Gedächtnis. Das muss Ihnen doch in Ihrem Beruf sehr zustatten kommen.«.
»Zuweilen schon«, gab Newall zu. »Aber häufig ist es schon mehr ein Fluch als ein Vorteil. Fortwährend kommen die Leute an, um ihre Wetten bei mir auszutragen, anstatt selber in Büchern nachzuschlagen. Und andere wieder versuchen unentwegt, mich bei einem Irrtum zu ertappen. Sie kennen ja die Schwächen der menschlichen Natur aus eigener Erfahrung, Lottie.«
»Ich war sechzehn Jahre verheiratet«, bemerkte sie trocken. Newall zuckte verständnisinnig die Schultern. »Dann erübrigt sich jedes weitere Wort.«
Mrs. Kelman sah auf ihre Uhr und erhob sich.
»Du meine Güte, ich hatte keine Ahnung, dass es schon so spät war. Ich muss ja zu meiner Verabredung.«
»Das erwähnten Sie bereits«, stellte Newall fest. »Um vier Uhr. Es war gut, dass ich Sie traf. Dadurch ersparte ich mir die Mühe, nach Ihnen suchen zu müssen. Mr. Flagg wird es sehr interessieren, wenn ich ihm davon erzähle. Er sprach gerade vor wenigen Tagen von Ihnen. Und von Mark«, ergänzte er nachdenklich. »Hauptsächlich von Mark. Er wird es sehr bedauern, so traurige Neuigkeiten zu hören.«
»Davon bin ich überzeugt«, erwiderte sie mit undurchdringlichem Gesicht. »Sie arbeiten also immer noch bei Flagg. Ich habe ihn seit ein oder zwei Jahren schon nicht mehr gesehen. Ist er noch genauso fett?«
»Und genauso schlau«, gab Newall prompt zurück.
Sie stieß ein kurzes hartes Lachen aus.
»Anscheinend. Jedenfalls kommt er in der Presse immer sehr gut weg. Wie macht er das nur?«
Newall lächelte ohne eine Spur von Neid.
»Er klärt eben viele schwere Fälle auf«, sagte er, »und bringt tu«, Menge gerissene Leute hinter Schloss und Riegel. Da wir gerade von gerissenen Leuten reden - Mr. Flagg ist der Ansicht, dass Mark doch sehr viel mehr über den Wittus-Fall gewusst hat, als damals herausgekommen ist.«
Mrs. Kelmans Blick richtete sich voll ausgesprochener Bosheit auf ihn.
»Mr. Flagg scheint viele verrückte Ideen zu haben«, sagte sie. »Aber das ist wohl eine der verrücktesten, die ich mir denken kann. Das können Sie ihm von mir bestellen.«
»Sehr gern«, versprach Newall.
»Und es kümmert mich wenig, was jetzt noch mit Mark geschieht«, setzte sie fast grimmig hinzu. »Sagen Sie ihm das auch noch.« Sie hob ihre Handtasche auf und klemmte sie unter den Arm. »Vielen Dank für den Tee, Sergeant. Es war mir ein Vergnügen. Guten Tag.«
Sie verließ mit raschen, festen Schritten das Lokal, und Sergeant Newall sah ihr ziemlich interessiert nach.
Zweites Kapitel
Ein Taxi kam gerade vorbei, als Lottie Kelman auf die Straße hinaustrat, und mechanisch hob sie die Hand, worauf der Mann anhielt. Sie stieg ein.
»Bringen Sie mich zu Sevadian«, sagte sie.
»Das Restaurant, Ma’am?«
»Ja. Kennen Sie es?«
Es hatte den Anschein, denn er fuhr ohne weitere Fragen ab, und sie warf noch einen Blick auf die Tür der Teestube zurück. Aber von Sergeant Newall war nichts zu sehen. Sie nahm aus ihrer Tasche ein Etui, steckte sich eine Zigarette an und setzte sich zurecht. Die Begegnung mit Newall war reiner Zufall gewesen - dessen war sie sicher, aber das Interesse, das dieser melancholische Mann für ihre Angelegenheiten gezeigt hatte, brachte sie etwas aus der Fassung, um es milde auszudrücken.
Sie hatte eben ihre Zigarette aufgeraucht, als das Taxi in eine enge Straße einbog und sie die kleinen, matt erleuchteten Fenster von Sevadian erkannte, Sie stieg aus, bezahlte den Fahrer und ging hinein. Ein langer, schmaler Korridor führte in einen weiten, behaglichen Raum, an dessen einer Seite ein Kaminfeuer brannte. Aus der Küche im Hintergrund waren geschäftige Laute zu vernehmen, aus denen man leicht schließen konnte, dass Sevadian selbst mit seinem Angestelltenstab tatkräftige Vorbereitungen für die wichtigen Ereignisse des Abends traf.
Sie setzte sich an einen Ecktisch, und im selben Moment tauchte ein kleiner gedrungener Mann auf, der sie wiedererkannte und sie strahlend begrüßte.
»Ah, natürlich, Mrs. Kelman. Mr. Mark ist noch nicht hier.«
»Das sehe ich«, sagte sie. »Bringen Sie mir einen Kaffee, George.«
»Sofort.« Er eilte in die Küche zurück und erschien bald darauf wieder mit einem Tablett.
»Wünschen Sie sonst noch etwas?«
»Im Augenblick nicht«, erwiderte sie. Noch während sie sprach, hörte sie Schritte.
George drehte sich um.
»Ah, da ist Mr. Mark schon. Wie geht es Ihnen, lieber Freund?« Mark Kelman machte eine grüßende Handbewegung. Er war ein großer, breitgebauter Mann mit einer Neigung zu Fettansatz. Früher mochte er wohl einmal auffallend gut ausgesehen haben, das sah man ihm heute noch an, trotz der leicht aufgedunsenen Züge und der etwas nach vorn fallenden breiten Schultern. Sein Blick blieb auf der Frau haften.
»Hallo, Lottie. Du warst schon vor mir hier. Tut mir leid. Ich wurde durch einen blöden Kerl aufgehalten, den ich traf. Ich hatte ihn seit Jahren nicht gesehen und konnte ihn nicht so schnell wieder loswerden. Bringen Sie mir einen Whisky, George. Meinen Sie, dass es möglich ist?«
George deutete an, dass er diesen Wunsch erfüllen könnte, und kehrte mit einem Glas zurück.
»Jetzt lasse ich Sie allein. Wir müssen nämlich das Diner für heute Abend vorbereiten. Werden Sie auch hier sein - ja?«
»Nein«, antwortete Kelman. »Arbeit, Arbeit. Sie wissen ja, wie es ist.«
»Schade«, meinte George. »Na, dann vielleicht ein anderes Mal?« Lottie Kelman sah ihm nach. Dann wandte sie die dunklen Augen ihrem Mann zu.
»Findest du nicht, dass du es endlich aufgeben solltest?«
»Den Whisky? Warum denn? Ein Mann braucht irgendetwas, das ihn in Schwung hält. Was hat man sonst vom Leben? Kannst du mir das verraten?«
»Es hätte vielleicht einmal mehr gegeben.«
»Ich bezweifle es«, sagte er und betrachtete sie mit listigen Augen. »Wir gehören nicht zu den Leuten, die nach Sicherheit streben. Versuche nicht, mir das weiszumachen, Lottie. Was vorbei ist, ist vorbei. Jedenfalls bin ich glücklich, dass du gekommen bist. Ich möchte geschäftlich mit dir reden.«
»Etwa über Geld?«
»Was sonst? Das ist doch die einzige Art von Geschäft, an der ich interessiert bin. Und ich habe in letzter Zeit nicht sehr erfolgreich gearbeitet. Ich brauche fünfzig.«
»Wofür?« Ihre Stimme klang hart.
Kelman hob die Schultern und sah zu ihr auf.
»Für Spesen im allgemeinen, Liebling. Du weißt doch selbst, wie schnell das Geld heutzutage weggeht. Und es gelingt mir im Augenblick nichts. Mangel an Konzentration. Ich bin in großer Verlegenheit. Aber fünfzig Pfund würden mir aus der Patsche helfen.«
Sie sah ihn verächtlich an.
»Wie stellst du dir eigentlich vor, woher ich so leicht das Geld nehmen soll?«
»Was ist denn mit Blane?«
»Er zahlt mir acht Pfund in der Woche«, entgegnete Lottie Kelman ruhig. »Dafür muss ich arbeiten. Und ich verdiene mir jeden Pfennig davon schwer.«,
»Du könntest ja irgendjemanden schröpfen«, meinte er ungerührt. »Das kommt nicht in Frage, Mark. Und wen sollte ich auch schröpfen?«
»Blane, oder Sheldon selbst. Wie ist es denn mit diesem Offizier da?«
»Anstey? Nicht zu machen. Mit solchen Geschichten will ich nichts zu tun haben.«
»Schade«, sagte er nachdenklich. »Immerhin sitzt du aber dort am richtigen Fleck - um später einmal etwas herauszuschlagen.«
»Das weiß ich nicht. Und du erst recht nicht. Zumindest ist es ein gefährliches Spiel.« Sie schwieg einige Sekunden, ehe sie fortfuhr: »Kurz bevor ich herkam, hatte ich eine Unterredung mit einem Hüter des Gesetzes.«
Er schien nicht sehr darüber beunruhigt zu sein.
»Die laufen mir jeden Tag über den Weg. Wer war es?«
»Newall«, sagte sie und sah, wie sein Gesicht lang wurde. »Er erkundigte sich sehr teilnehmend nach dir, Mark. Ich hatte den Eindruck, dass er sich außerordentlich für dich interessierte. Und dasselbe scheint bei Flagg der Fall zu sein.«
»So, er fragte nach mir, hm?«
»Das tat er«, bestätigte sie ohne Umschweife. »Ich vermute, dass die Leute in Scotland Yard etwas über diese Wittus-Affäre erfahren haben und jetzt ihre eigenen Schlüsse daraus ziehen.«
Mark Kelman holte ein Etui hervor, bot ihr eine Zigarette an und bediente sich dann selbst. Er hielt ihr das Feuerzeug hinüber. »Über die Sache mit Wittus mache ich mir keine Sorgen.«
»Du hättest aber allen Grund dazu«, warnte sie ihn.
»Mag sein.« Er zuckte gleichmütig die Schultern. »Ich rege mich nicht leicht auf. Carl wird sich hüten, etwas zu erzählen. Er ist selbst viel zu tief darin verwickelt.« Seine Augen wurden hart. »Fang du nur nicht an, dir darüber Gedanken zu machen. Vergiss es.«
»Es wäre gut, wenn Flagg das ebenfalls täte«, meinte sie. »Er ist gefährlich wie Gift, das weißt du doch.«
»Die Polizei hatte damals gar nichts damit zu schaffen«, entgegnen er. »Alle Nachforschungen wurden rein privat angestellt.« Plötzlich bekam er wieder seinen geschäftlichen Ton. »Wie ist es nun mit den fünfzig, Lottie?«
Sie öffnete mit einem Seufzer ihre Handtasche.
»Ich kann dir aber nur einen Scheck darüber geben.«
»Das macht mir nichts aus.« Mark Kelman lächelte erleichtert und gutgelaunt. »Ich wünschte, ich brauchte dich nicht darum zu bitten - aber du weißt ja, wie es so ist. In allernächster Zukunft ziehe ich eine ganz große Sache auf.«
Sie hatte solche hochtrabenden -Versprechungen bereits öfters von ihm gehört und war daher nicht sonderlich beeindruckt.
»Das glaubst du wohl selbst nicht. Das Beste, was du tun könntest, wäre, die Sauferei aufzugeben. Aber das bringst du nicht fertig, dazu kenne ich dich zu gut.« Sie schlug ihr Scheckbuch auf und begann zu schreiben. Dann riss sie das Blatt heraus und wedelte es zum Trocknen in der Luft. »Hier hast du es. Fünfzig Pfund. Aber komm mir nicht mit weiteren Bitten.«
Er nahm den rosa Zettel entgegen, faltete ihn zusammen und steckte ihn in seine Brieftasche..
»Danke, Lottie. Ich wusste doch, dass ich mich auf dich verlassen kann. Du hast immer noch ein paar Trümpfe in der Hand, du altes, liebes Stück. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich anfangen sollte.«
Sie sah ihn beinahe grimmig an.
»Früher oder später wirst du es wohl versuchen müssen. Es ist mir jetzt langsam ein bisschen lästig. So kann es nicht ewig weitergehen. Und ich will nicht auf die Dauer für deinen Lebensunterhalt sorgen müssen, Mark. Ich bin nicht der Typ, das liegt mir ganz und gar nicht. Was ist denn aus dem Ealing-Geschäft geworden?«
»Du meinst das mit Tony Truelove? Daran rühre ich mit keinem Finger. Viel zu gefährlich, und außerdem springt nicht genug dabei heraus. Ich soll womöglich meinen Kopf hinhalten für Truelove. Bei den Geldern, die er zahlt.« Er lachte höhnisch. »Nein - mit mir nicht zu machen, Lottie, das reizt mich gar nicht.« Er beugte sich zu ihr hinüber. »Aber etwas anderes dafür umso mehr. Diese Geschichte mit Blane.«
»Lass Blane aus dem Spiel. Das habe ich dir schon einmal gesagt. Bei Blane verdiene ich mein Brot, und ich möchte dort keine Unannehmlichkeiten haben.«
»Er könnte dir aber gut noch die Butter und die Marmelade dazu aufs Brot mitliefern«, meinte er sanft. »Sieh es dir doch einmal von dieser Seite an, Lottie. An der Sache ist viel mehr, als wir beide bis jetzt ahnen. Sheldon ist prächtig situiert, und für Blane gilt dasselbe. Wenn du es schlau anfängst, könntest du dabei einiges herausholen und...«
Sie sah ihn unbewegt an.
»Du hast meine Antwort darauf gehört. Ich denke nicht daran, mich in solche Geschäfte einzulassen. Und du wirst das auch nicht tun. Es ist zu gefährlich.«
»Ich fürchte mich nicht vor der Polizei begann er.
»Ich spreche nicht von der Polizei«, unterbrach sie ihn heftig, »sondern von Blane und Sheldon und Anstey. Bei keinem von ihnen würdest du Erfolg haben. Sheldon und Anstey haben beide beim Militär gedient Blane war lange Jahre in Amerika. Wie er sein Vermögen verdient hat, weiß ich nicht, aber in jedem Fall durch harte Arbeit.« In ihrer Stimme lag auf einmal eine gewisse Schärfe. »Wenn du dir etwa ein leichtes Spiel vorgestellt hast, Mark, dann lass diesen Gedanken nur gleich fallen. Es hat vielleicht eine Zeit gegeben, in der du dir damit Erfolg versprechen konntest - aber die ist längst vorbei.«
In seine Augen kam ein zorniges Glitzern.
»Du meinst, ich gehöre schon zum alten Eisen? Ich bin eben erst fünfzig.«
»Ein ziemlich verlebter Fünfziger«, gab sie ihm kalt zurück. »Du hast dich nicht so gut gehalten, wie es dir möglich gewesen wäre. Aber auch wenn ich dir noch etwas zutraute, würde ich heute keinen Finger mehr für dich rühren. Ich habe es einfach satt, dauernd auf der Flucht zu sein.«
»Wer spricht denn von Flucht. Gegen uns ist niemals ein Steckbrief erlassen worden. Das will etwas heißen, Lottie. Wir haben es immer sehr schlau angefangen.«
»Ich weiß. Und wir haben auch sehr viel Glück gehabt. Aber du kennst ja den alten Spruch von dem Krug, der zu Wasser geht. Vergiss ihn nickt.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. »Ich muss jetzt fort, denn ich habe noch eine Kleinigkeit zu besorgen und will einen bestimmten Zug erreichen.«
Mark Kelman erhob sich mit einem ironischen Lächeln in den Augen..
»Wie du willst, Lottie. Ich bin enttäuscht, das kann ich nicht leugnen. Ich hatte gedacht, dich für mich gewinnen zu können, aber der alte Zauber scheint nach und nach abzubröckeln.«
Sie erwiderte sein Lächeln mit einem Anflug von Bitterkeit.
»Der alte Zauber wirkt schon lange nicht mehr, Mark - und ich glaube, du weißt, wer daran schuld ist. Es gab eine Zeit, da war ich verrückt genug, alles für dich zu tun, was du nur wolltest, weil ich sehr verliebt in dich war. Aber Liebe dauert nicht ewig. Wenigstens nicht, ohne dass man sich Mühe gibt, sie am Leben zu erhalten - un-d du hast dich nicht sehr angestrengt.«
Er streckte den Arm aus und nahm ihre Hand.
»Und jetzt liebst du mich gar nicht mehr?«
»Nein. Das ist schon lange, lange vorbei. Komisch, nicht? Bei deinem Charme.« Er fühlte den Sarkasmus in ihren Worten. »Und der Grund war nicht etwa, dass du ein bisschen dicker und kahler wurdest, auch nicht, dass du auf verschiedenen Gebieten, keinen Erfolg hattest. Es war nicht einmal die übliche Sache - dass jemand daherkam, der für mich mehr Anziehungskraft besaß als du.« Sie entzog ihm ihre Hand. »Ich gehe jetzt. Und ich möchte gern eine Zeitlang nichts mehr von dir hören. Es ist zu kostspielig.« Sie sagte es fast scherzend. »Leb wohl.«
»Hör mal - soll ich dich zum Bahnhof begleiten?«
»Lieber nicht. Wir könnten jemanden treffen, und das will ich vermeiden.« Ihre dunklen Augen trafen die seinen. »Ich kann nichts riskieren, Mark, denn im Augenblick habe ich so meine eigenen Pläne, von denen ich übrigens glaube, dass sie sich eher verwirklichen lassen als deine. Aber das wird sich zeigen. Leb wohl, Mark.« Sie wendete sich um und ging mit raschen, beschwingten Schritten hinaus.
Draußen war es bereits dunkel, um die erleuchteten Straßenlampen hingen dicke Nebelschleier, und die Luft war kalt und ließ Frost ahnen. Sie zog ihren Mantel enger um die Schultern und blieb einen Moment stehen, um ein Taxi heranzuwinken, das gerade vorüberkam.
»Waterloo.«
Auf der Fahrt zum Bahnhof war sie tief in Gedanken versunken, die sich zumeist um Mark Kelman drehten. In Marks Augen hatte jener gewisse Schimmer gelegen, der ihr von früher her bekannt war und der sie beunruhigte. Dass er ihr Schwierigkeiten bereiten konnte, wenn er es darauf absah, dessen war sie sich wohl bewusst - und im gegenwärtigen Zeitpunkt fürchtete sie solche Zwischenfälle besonders. Die fünfzig Pfund sollten ihm über seine bedrängte Lage hinweghelfen: Vor allen Dingen aber würden sie ihm nachdrücklich vor Augen führen, dass es unklug wäre, der freigebigen Spenderin ins Gehege zu kommen und Gefahr zu laufen diese Quelle zum Versiegen zu bringen. Und doch - Mark war unberechenbar.
Sie stieg am Bahnhof aus und bahnte sich ihren Weg zum Bahnsteig, auf dem der Zug schon stand. Sie suchte sich ein Abteil aus, machte es sich bequem und entnahm dem silbernen Etui in ihrer Handtasche eine Zigarette. Dann lehnte sie sich zurück, zündete sie an und sah gedankenverloren dem aufsteigenden Rauch nach. Mark war ein Problem. Soweit es ihren Mann betraf, gab sie sich keinerlei Illusionen hin. Eine seltsame Unruhe, die sie schon kurz zuvor verspürt hatte, kehrte jetzt wieder zurück, und dazu gesellte sich eine sonderbare Vorahnung kommenden Unheils. Nervös zerdrückte sie die Zigarette und wurde im selben Moment eines schlanken, unverkennbar soldatischen Mannes gewahr, der in eines der nächsten Abteile einstieg. Während der Zug sich in Bewegung setzte und geräuschlos aus der Halle hinausglitt, wunderte Mrs. Kelman sich über den merkwürdigen Zufall, der ausgerechnet an diesem Tag Major Anstey nach London geführt hatte. Und für ihre Verwunderung gab es allerdings Grund genug.
Drittes Kapitel
Es war kurz vor sieben, als der Zug auf der kleinen Station Tynewood Halt einlief, wo Mrs. Kelman ausstieg. Die Nacht war klar, denn der Londoner Nebel hatte hier keine Macht mehr, und am Himmel segelte ein strahlender Mond wie eine Galione auf windgepeitschter See. Sie stand einige Minuten auf dem kleinen Bahnsteig, sah dem Zug nach und schritt dann über den hölzernen Steg zum Ausgang.
Der alte Bahnbeamte nahm ihr Billett entgegen.
»Eine kalte Nacht heute, Mrs. Kelman.«
»Sieht nach Frost aus.« Er deutete mit einer Kopfbewegung über die Schulter. »Towler wartet schon auf Sie. Er ist mit dem Wagen da.«
Sie sah Towler außerhalb des Bahnhofszaunes stehen und unaufhörlich an seiner kurzen, krummen Pfeife ziehen, während er prüfend die wenigen Fahrgäste musterte, die ihm entgegenkamen. Jetzt legte er die Hand an die Mütze.
»Guten Abend, Ma’am. Mr. Blane schickt mich her, Sie abzuholen.«
»Wie aufmerksam von ihm«, antwortete sie. In einer Entfernung von ungefähr hundert Metern erblickte sie die Umrisse eines großen
Humbers und wandte sich fragend an Mr. Blanes Angestellten. »Ich habe Mr. Sheldon gar nicht im Zug bemerkt.«
»Ich auch nicht. Aber Miss Marny hat den Wagen heruntergefahren. Ich überholte sie auf der Landstraße.« Er drehte sich um und gewahrte eine hohe, schlanke Gestalt, die an ihnen vorübereilte. Als er wieder sprach, war der Ton seiner Stimme gleichgültig, und doch lag in seinen Worten kaum verhohlenes Interesse. »Das war doch Major Anstey, nicht wahr?«
»So?« Lottie Kelman stieg in den Wagen ein. »Ich habe nicht Obacht gegeben.«
Towler klopfte seine Pfeife aus.
»Es sah so aus, als ob er es wäre«, sagte er. »Na, das geht mich ja nichts an.« Er setzte sich ans Steuer und startete den Motor. Sie fuhren ab, und Lottie lehnte sich schweigend zurück und starrte hinaus auf die hohen Hecken, die dunklen Gruppen von Kiefern und Tannen und die riesigen Schatten der Eichen, die wie drohende Schildwachen in der Finsternis standen. Nach fünf Minuten etwa bogen sie durch ein verwittertes Gattertor auf die lange, sich windende Zufahrtsstraße ein, die nach Tynewood Close führte.
Der Herrensitz war alt, ein niedriges, mit vielen Anbauten und Türmchen verziertes Gebäude, ganz von Efeu und Schlingpflanzen überwuchert. Dahinter erhoben sich die Wälder von Tynewood Knoll wie ein grünes Laubgebirge, das jetzt in der Dunkelheit schwarz wie Samt wirkte. Mrs. Kelman blickte auf ihre Armbanduhr. Es war Viertel nach sieben. Um diese Zeit würde der grämliche Mr. Blane wohl gerade beim Abendessen sein.
Towler fuhr vor und öffnete ihr die Tür.
»Ich bringe den Wagen in die Garage«, sagte er. »Heute Abend wird er nicht mehr gebraucht.«
Sie ging ins Haus. Die Eingangshalle war langgestreckt und eichengetäfelt und wurde von Wandleuchtern erhellt, die ihre Aufgabe nur ungenügend erfüllten, so dass der untere Teil des Korridors ständig im Halbdunkel lag. Mrs. Kelman begab sich in ihr behagliches Zimmer im ersten Stock, das sie mit einem kleinen erleichterten Aufatmen betrat. Ein Feuer war angezündet worden, und die langen, flackernden Schatten tanzten im warmen Lichtschein durch den Raum. Neben den Sesseln stand eine abgeschirmte Leselampe.
Sie knipste sie an und ließ sich einen Augenblick nieder. Und während sie sich eine Zigarette ansteckte und ins Feuer starrte, fühlte sie wieder den kalten Schauder, der ihr das Rückgrat entlanglief.
Mark war unberechenbar, das wusste sie aus Erfahrung. Die vielen Jahre, die sie gemeinsam verlebt hatten, gaben ihr keinen Schlüssel für seine augenblicklichen Pläne. Heute Abend war ihr eine gewisse Gespanntheit an ihm aufgefallen, die sie mehr beunruhigte, als sie sich freiwillig eingestand. Dicht neben ihr schlug eine Uhr die halbe Stunde. Sie erhob sich, kleidete sich nebenan um und ging dann die Treppe wieder hinunter ins Erdgeschoss.
Towler wartete in der Halle und sah bei ihrem Erscheinen auf. »Mr, Blane wünscht Sie zu sprechen, wenn Sie gegessen haben. Er lässt Ihnen sagen, Sie möchten in die Bibliothek kommen.« Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Der alte Herr ist in miserabler Stimmung. Seine Beine machen ihm zu schaffen, er hat wieder das Reißen. Das kommt vom Wetter, es wird wohl Regen geben.«
»Ich bin in wenigen Minuten bei ihm.«
»Gut.« Er sah ihr nach, als sie den Gang zur Küche einschlug, und wendete sich dann selbst der Bibliothek zu. Dort klopfte er an und stieß die Tür auf.
»Ich habe es Mrs. Kelman ausgerichtet. Sie wird gleich hier sein.« Maxwell Blane sah sich langsam nach ihm um. Er war ein großer, schwerer Mann Anfang Sechzig mit breiten, kräftigen Schultern und untersetzter Figur. Sein gerötetes Gesicht gab ihm ein cholerisches Aussehen, wozu die kalten Augen einen auffallenden Gegensatz bildeten. Im Moment jedoch blickten sie zornig.
»Kommen Sie herein, Towler, und lassen Sie nicht immer die Tür offenstehen. Das verursacht einen so infernalischen Zug, dass ich hier noch aus meinem Stuhl geblasen werde.«
Für Towler waren die wechselhaften Stimmungen seines Herrn nichts Ungewohntes. Er schloss die Tür.
Blane warf einen Blick auf die bereitstehende Karaffe.
»Gießen Sie mir etwas zu trinken ein. Ich fühle mich scheußlich heute Abend, Towler. Zum Teufel mit allen Pferden. Wenn jemals ein Mann für seine Torheiten büßen musste, dann bin ich es.« Er fluchte inbrünstig und tastete mit der Hand nach seinem Oberschenkel. »Sehen Sie mich an«, brummte er wütend. »Da sitze ich wie ein hilfloses Baby, Towler. Sie wissen ja gar nicht, wie glücklich Sie sind mit Ihren heilen Gliedmaßen.«
Towler brachte ihm das Glas hinüber.
»Hier bitte, Sir.« Er schwieg einen Augenblick und fügte dann mit frommer Miene hinzu: »Gesundheit ist das höchste Gut. Das war schon immer meine Ansicht, und dabei werde ich auch bleiben.«
Mr. Blane nahm einen kostenden Schluck von seinem Whisky.
»Daran fehlt es mir nicht«, grollte er. »Ich bin der gesündeste Mensch in ganz England. Nur eben diese verdammten Beine.« Er blickte mit grimmiger Wut auf sie nieder. Ein Reitunfall hatte ihm vor Jahren das Rückgrat verletzt. Seit diesem Unglückstag konnte er sich nicht mehr ohne Hilfe bewegen und nährte eine Abneigung gegen Pferde, die an Hass grenzte. Einen Hass, in den er alles mit einschloss, was mit
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: William M. Duncan/Apex-Verlag/Successor of William M. Duncan.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Anneliese von Eschstruth und Christian Dörge (OT: Case For Inspector Flagg).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 23.06.2021
ISBN: 978-3-7487-8644-3
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