HARRY CARMICHAEL/HARTLEY HOWARD/
RICHARD NEELY/J. M. ULLMANN/
HELEN NIELSEN
Krimi-Sommer 2021
Fünf Romane in einem Band
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
1. ETWAS BITTER IM GESCHMACK (A Slightly Bitter Taste) von Harry Carmichael
2. NACHRUF AUF JOANNA (Epitaph For Joanna) von Hartley Howard
3. DIE JAPANISCHE GELIEBTE (A Japanese Mistress) von RICHARD NEELY
4. DIE VENUSFALLE (The Venus Trap) von J. M. Ullmann
5. DIE FRAU AUF DEM DACH (The Woman On The Roof) von Helen Nielsen
Das Buch
Sommer - Urlaubszeit!
Sommer - Lesezeit!
Dieses Buch enthält fünf spannende und ausgewählte Top-Krimis aus den Krimi-Reihen des Apex-Verlags, geschrieben von internationalen Bestseller-Autoren - perfekter Lesestoff für den Strand, für das ruhige Plätzchen in der Natur, für die Reise: Etwas bitter im Geschmack von Harry Carmichael, Nachruf auf Joanna von Hartley Howard, Die japanische Geliebte von Richard Neely, Die Venusfalle von J. M. Ullmann und Die Frau auf dem Dach von Helen Nielsen.
Nervenkitzel und Unterhaltung pur!
1. ETWAS BITTER IM GESCHMACK (A Slightly Bitter Taste)
von Harry Carmichael
Erstes Kapitel
Es war eine gute Party. Nach einer Stunde amüsierte Quinn sich herrlich. Er war von Anfang an nicht als Fremder behandelt worden, sondern gehörte automatisch dazu. Alle lachten über seine Witze; alle waren sehr nett und freundlich. Jeder hätte glauben müssen, sie seien alte Freunde. Und einige Drinks später fragte Quinn sich, warum er die anderen je für Fremde gehalten hatte.
Später fand er sich in Gesellschaft einer zierlichen jungen Frau wieder, die dunkelbraunes Haar und eine leicht heisere Stimme hatte. Sie war lustig. Sie war attraktiv genug, um seiner Eitelkeit zu schmeicheln, und intelligent genug, um amüsant zu sein. Sie gefiel Quinn immer besser. Sie passten zusammen - allerdings mit dem Unterschied, dass sie nur Tomatensaft trank.
Ein niedliches Ding, überlegte Quinn sich. Sie trägt keinen Ehering... überhaupt keine Ringe. Ob sie etwas dagegen hat, wenn ich sie küsse? Ein Kuss ist schließlich ganz harmlos. Wenn sie etwas dagegen hat, braucht sie es nur zu sagen... Sie kreischt doch hoffentlich nicht?
Die dunkelhaarige junge Frau kreischte nicht. Sie tat gar nichts. Sie stand einfach nur da und ließ sich küssen. Quinn hatte das Gefühl, eine leblose Schaufensterpuppe in den Armen zu haben. Er wich zurück, wagte nicht, ihren Blick zu erwidern, und suchte verzweifelt nach einem Scherzwort, mit dem er diese peinliche Situation überwinden konnte. Dabei war seine Reaktion absurd. Er hatte keinen Grund, sich zu schämen, nur weil sie ihm nicht begeistert um den Hals gefallen war.
»Zufrieden?«, fragte die Dunkelhaarige.
Quinn wusste nicht, welche Antwort sie erwartete. Hätte er weniger getrunken, wäre er sich seiner Sache sicherer gewesen. Er hätte vernünftigerweise den Mund halten sollen, aber dazu konnte er nicht mehr klar genug denken. »Nein«, antwortete er. »Sind Sie immer so - oder rieche ich etwa aus dem Mund?«
Die Dunkelhaarige lächelte ironisch. »Zwei Fragen, zwei Antworten: nein und ja. Ich bin nicht immer so, und Sie haben eine grässliche Fahne.«
»Schon gut«, wehrte Quinn ab. »Wenn Sie auch etwas trinken würden, hätten Sie...«
»Warum sollte ich etwas trinken? Von Alkohol bekomme ich nur Kopfschmerzen. Ich amüsiere mich auch so, denn ich brauche keinen Alkohol, um meine Hemmungen loszuwerden.«
»Sie haben gar keine«, behauptete Quinn.
»Oder ich stelle sie nicht zur Schau«, erwiderte sie.
Quinn warf ihr einen mürrischen Blick zu. Sie hatte kein Recht, ihn wie einen kleinen Jungen zu behandeln. Aber wenn er nicht versucht hätte, sie zu küssen, wäre es vielleicht nie zu dieser Entwicklung gekommen. Schade, jammerschade... und das am ersten Urlaubstag!
»Haben Sie vergessen, dass ich hier bin?«, fragte die junge Frau.
»Das verstehe ich eben nicht«, gab Quinn zu. »Sie können mich offenbar nicht ausstehen, aber Sie...«
»Nur weil ich Ihnen nicht in die Arme gesunken bin?«
»Unsinn!«, wehrte Quinn ab.
»Wie kommen Sie überhaupt darauf, es könnte mir Spaß machen, von jemand angetatscht zu werden, den ich erst vor kaum einer Stunde kennengelernt habe?«
»Das ist unfair!«, protestierte Quinn. »Woher soll ich wissen, warum Sie solches Theater gemacht haben? Vielleicht liegt das an Ihrer Erziehung. Oder Sie müssten zu einem Psychiater. Ich habe erst neulich gelesen, dass...«
»Mich interessiert nicht, was Sie gelesen haben. Ich möchte nur wissen, warum Sie mich küssen wollten.« Als Quinn nicht gleich antwortete, betrachtete die junge Frau ihn prüfend. »Sie haben wohl einen Schluck zu viel getrunken? Dann würde ich mich an Ihrer Stelle ein bisschen hinlegen.«
»Mir geht es glänzend«, behauptete Quinn. »Aber wir sind vom Thema abgekommen. Was wollten Sie vorhin wissen?«
»Warum haben Sie mich geküsst?«
»Lächerlich!«, meinte Quinn. »Warum küsst man jemand?«
»Aber ich bin nicht der Typ dafür. Ich bin keine Schönheit, und Sie müssen zugeben, dass ich mich Ihnen nicht an den Hals geworfen habe. Trotzdem wollten Sie mich plötzlich küssen. Warum?«
Quinn fragte sich, ob er ihre Intelligenz überschätzt hatte. »Ich habe Sie geküsst, weil ich dachte, dass das nett sein würde.«
»Für Sie - oder für mich?«
»Natürlich für beide«, antwortete er. »Zu einem Kuss gehören zwei... so war es jedenfalls bisher. Erinnern Sie mich bitte daran, Sie nie wieder zu küssen.«
Damit hatte Quinn seiner Meinung nach für einen wirkungsvollen Abtritt gesorgt. Er ließ die Dunkelhaarige stehen und gesellte sich im Zimmer nebenan zu einer Gruppe von Männern. Jemand drückte ihm ein volles Glas in die Hand. Quinn trank... ließ sich nachschenken... trank wieder und büßte dabei sein Zeitgefühl ein. Als er später auf die Uhr sah, konnte er nicht mehr unterscheiden, ob es halb drei oder zehn nach sechs war.
»Sehen Sie nicht auf die Uhr, alter Junge«, riet ihm ein schnauzbärtiger Mann. »Trinken Sie lieber noch einen Schluck mit uns. Ist es nicht traurig, wenn man bedenkt, dass wir uns jetzt monatelang nicht mehr die Nase begießen können?«
Quinn schüttelte verständnislos den Kopf. »Warum nicht? Warum sollen wir das morgen... oder übermorgen... oder an jedem beliebigen Abend nicht tun können?«, murmelte er undeutlich.
Der Schnauzbärtige starrte ihn an. »Dumme Frage, alter Junge, verdammt dumme Frage... wenn ich so sagen darf.« Er schwankte leicht. »Sie haben doch wohl nichts dagegen, alter Junge?«
»Durchaus nicht«, versicherte Quinn ihm. »Ich nehme Ihnen das nicht übel, Mister. Wir leben in einem freien Land und...«
»Reg, alter Junge, einfach Reg ohne Mister. Wir sind hier alle gute Freunde. Und wie heißen Sie?«
»Quinn.«
»Wirklich?« Der schnauzbärtige Mann kniff die Augen zusammen. »Ein komischer Name. Aber ich will Sie keineswegs beleidigen, alter Junge!«
Quinn dachte angestrengt nach, bis ihm wieder einfiel, was er hatte sagen wollen. »Ich möchte Sie etwas fragen, wenn Sie gestatten.«
»Klar, alter Junge, fragen Sie nur!« Reg tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Dahinter stecken die Erfahrungen eines ganzen Lebens. Bin überall gewesen, habe alles gesehen. Ich könnte Ihnen...«
»Ja, aber...«, begann Quinn.
»Ich könnte Ihnen Dinge über die menschliche Verworfenheit und Niedertracht erzählen, die ein ganzes Buch füllen würden«, fuhr der andere unbeirrt fort. »Das halten Sie vielleicht nicht für möglich, aber...«
»Ich glaube Ihnen jedes Wort«, unterbrach Quinn ihn. »Aber ich möchte wissen, warum Sie meine Frage von vorhin als dumm bezeichnet haben.«
Reg schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht, alter Junge. Welche Frage meinen Sie überhaupt?«
»Ich wollte wissen, warum jetzt monatelang keine Party dieser Art mehr stattfinden kann«, erklärte Quinn ihm.
»Ist das denn nicht klar?« Der Schnauzbärtige schüttelte den Kopf. »Eigentlich sollte ich Ihnen nicht erklären müssen, dass niemand so tolle Partys gibt wie Charlie Hinchcliffe, Gott segne ihn. Wenn Charlie also verreist und erst Ende des Jahres zurückkommen will, gibt es vorläufig keine Partys mehr, nicht wahr?«
»Wahrscheinlich nicht«, stimmte Quinn zu.
»Richtig! Leute wie Charlie Hinchcliffe sind verdammt selten. Der gute alte Charlie hat ein goldenes Herz. Er würde Ihnen sein letztes Hemd geben. Das weiß jeder!«
»Ja, gewiss. Aber ich finde es...«
»Er kann es sich natürlich leisten, zum Abschied ein richtiges Fest zu geben. Charlie ist gut bei Kasse, wissen Sie. Seine Frau hat ihm genug hinterlassen. Haben Sie sie noch gekannt, alter Junge?«
»Nein, nicht dass ich wüsste«, antwortete Quinn. Vor seinen Augen verschwamm alles, und seine Beine drohten einzuknicken. Der Raum kam ihm plötzlich unerträglich heiß vor.
»Eine prima Frau!«, meinte Reg begeistert. »Legt sich in Charlies besten Jahren hin und stirbt - und hinterlässt ihm ein Vermögen. Seitdem kann Charlie kräftig auf die Pauke hauen. Das ist Glück, was?«
»Allerdings«, gab Quinn zu.
»Aber ich gönne es ihm natürlich«, fuhr der Schnauzbärtige fort. »Was halten Sie davon, wenn wir einen kleinen Schluck auf sein Wohl trinken? Ich komme gleich wieder. Laufen Sie nicht weg. Sie sind ein interessanter Bursche, Quinn, ein interessanter Bursche...«
Er verschwand und kam nicht mehr zurück. Quinn wartete noch einige Zeit auf ihn, drängte sich dann durch die Menge und wanderte von einem Zimmer zum anderen und entdeckte eines, in dem ein breites Bett stand. Er schloss die Tür hinter sich, öffnete das Fenster, um frische Luft hereinzulassen, und streckte sich auf dem Bett aus. Kurze Zeit später war er eingeschlafen.
Die dunkelhaarige junge Frau fand ihn dort. »...nach Ihnen gesucht«, hörte Quinn gerade noch. »Ich habe mir gleich gedacht, dass Sie sich irgendwo verkriechen würden.«
Quinn musste sich erst räuspern. »Mir gefällt es hier ganz gut. Warum stören Sie mich? Ich möchte nur ein bisschen schlafen.«
»Aber nicht hier! Dies hier ist Jacquelines Zimmer.«
»Wer ist Jacqueline?«
»Charlie Hinchcliffe bezeichnet sie als seine Sekretärin. Sie ist bei seiner Firma angestellt, aber er beschäftigt sie auch privat, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Quinn runzelte die Stirn. »Wer ist Charlie Hinchcliffe?« hörte er sich murmeln.
»Sind Sie so blau? Jeder kennt Charlie!«
»Ich nicht«, stellte Quinn fest. »Wie sieht er aus?«
»Klein, dicklich und kahlköpfig. Da Sie schon den ganzen Abend lang auf seine Kosten saufen, habe ich angenommen, Sie...«
Quinn wäre fast wieder eingeschlafen und schrak jetzt hoch. »Hören Sie, ich war in einem Pub und habe dort einen Mann kennengelernt, der mich als Reporter zu einer Party seines Freundes eingeladen hat.«
»Wie hieß dieser Freund?«
»Keine Ahnung«, gab Quinn zu.
»Aber nicht Charlie Hinchcliffe?«
»Ich kenne niemand, der Hinchcliffe heißt«, antwortete
Quinn. »Ich will auch niemand kennenlernen, der Hinchcliffe heißt. Bin ich deshalb ein Verbrecher?«
»Nein, nur ein uneingeladener Gast«, erklärte ihm die junge Frau. »Sie sind auf der falschen Party.«
Quinn hielt das für lustig. Er begann zu lachen. Aber die Dunkelhaarige stimmte nicht ein. »Los, kommen Sie mit!«, befahl sie ihm. »Sie müssen nach Hause!« Sie rüttelte Quinn an der Schulter. »Wenn Sie mit dem Auto gekommen sind, können Sie nicht mehr fahren. Zu Fuß kommen Sie erst recht nicht nach Hause. Deshalb muss ich anscheinend den barmherzigen Samariter spielen.«
»Danke, ich komme allein zurecht«, wehrte Quinn ab.
»In Ihrem Zustand landen Sie bestimmt in der Gosse«, behauptete die junge Frau. »Jemand muss sich um Sie kümmern - und diesmal scheine ich an der Reihe zu sein.«
Quinn leistete keinen Widerstand, als die Dunkelhaarige ihn stützte, aus dem Haus führte und in einen Wagen verfrachtete, der dort geparkt war. Er nahm kaum bewusst wahr, dass die Morgendämmerung bereits angebrochen war und dass die ersten Vögel zu zwitschern begannen. Er hörte nur, dass die junge Frau ihn fragte: »Wo wohnen Sie?«
Komisch war nur, dass sie seine Antwort nicht zu verstehen schien. Quinn erklärte es ihr zweimal, aber sie fragte immer wieder danach. Ob sie auch einen Schluck über den Durst getrunken hatte?
Als sie dann losfuhr, hörte Quinn sie murmeln: »Okay, ich wollte es ja nicht anders! Warum muss ich mich auch immer um Dinge kümmern, die mich nichts angehen?«
Zweites Kapitel
Als Quinn nach endlos langer Zeit aufwachte, spürte er eine Hand an seiner Schulter und hörte die vertraute Stimme sagen: »Wenn Sie tot sind, brauchen Sie es nur zu sagen - dann trinke ich den Kaffee selbst. Bei Ihrem Anblick habe ich einen nötig. Sie erinnern mich an Marats Leiche in Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett.«
Quinn versuchte, die Augen zu öffnen. Aber die Sonne schien zu hell. Er wandte sich stöhnend ab.
»Das geschieht Ihnen ganz recht!«, behauptete die Stimme.
Quinn sah kurz zu der dunkelhaarigen jungen Frau auf und schloss dann wieder die Augen. »Wie spät ist es?«
»Viertel nach fünf Uhr - nachmittags! Sie haben über zwölf Stunden lang geschnarcht. Wie geht’s Ihrem armen Kopf?«
»Schlecht«, gab Quinn zu. »Geben Sie mir den Kaffee und seien Sie eine Weile still.«
Der Kaffee war heiß und stark. Quinn fühlte seine Lebensgeister wieder erwachen. Er riskierte einen Blick zu der Dunkelhaarigen hinüber, die in einem eleganten roten Hosenanzug attraktiv und jugendlich wirkte. Anscheinend machte ihr der fehlende Schlaf nichts aus.
Quinn fragte sich, ob sie gesehen worden war, als sie ihn in sein möbliertes Zimmer brachte... oder als sie die Treppe hinabging... oder als sie nachmittags zurückkam. Dann hatten die anderen Mieter endlich wieder genug Gesprächsstoff.
Dann merkte er, dass er sich gar nicht in seinem Zimmer befand. Dort standen kein breites Sofa und kein niedriger Tisch mit einer Vase voll Blumen. Bei ihm lag auch kein Orientteppich auf dem Boden. Durch die offene Tür sah er, dass nebenan ein Schlafzimmer lag; er erkannte ein mustergültig gemachtes Bett, einen Toilettentisch und den dazugehörigen Hocker, auf dem eine Handtasche und ein Paar Handschuhe lagen.
Was er vermutete, war unsinnig. Er trank den Kaffee aus, bevor er fragte: »Wo bin ich?«
»Wo Sie nicht sein sollten«, antwortete die junge Frau lächelnd. »Ich habe noch immer einen guten Ruf - aber mit solchen Sachen ruiniere ich ihn natürlich.«
»Bin ich in Ihrer Wohnung?«
»Sie sind jedenfalls nicht im Britischen Museum.«
Quinn richtete sich auf, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen. »Ich komme mir wie Rip Van Winkle vor. Wo bin ich also?«
»Eineinhalb Meilen von Basingstoke entfernt. Das hier ist mein Wochenendhaus, in das ich mich zurückziehe, wenn ich Ruhe brauche. Das Leben in der Stadt...«
»Ja, ich weiß«, unterbrach Quinn sie. »Soll das etwa heißen, dass ich von der ganzen Fahrt nichts gemerkt habe?«
Die Dunkelhaarige lächelte. »Genau! Sie - haben neunundvierzig Meilen lang geschlafen. Und ich habe zweimal gehalten, um zu sehen, ob Sie noch leben.«
»Aber warum kann ich mich an nichts erinnern?«
»Keine Ahnung. Sie waren zum Glück noch imstande, ein paar Schritte zu gehen, sonst hätte ich nicht gewusst, was ich mit Ihnen anfangen sollte.« Sie lachte unbekümmert.
»Das finde ich durchaus nicht witzig«, stellte Quinn fest. »Warum haben Sie mich hierher geschleppt?«
»Bilden Sie sich ja nicht ein, ich hätte es getan, um einen Mann im Haus zu haben! Ich wollte Ihnen nur eine Nacht in der Ausnüchterungszelle ersparen. Sie waren betrunken und zu nichts mehr imstande, mein lieber Mr. Quinn.«
»Sie hätten mich zu mir nach Hause bringen können«, wandte er ein. »Aber denken Sie bitte nicht, ich wäre undankbar!«
»Wie hätte ich Sie nach Hause bringen können, wenn ich nicht weiß, wo Sie wohnen?«
»Aber ich habe Ihnen doch die Adresse gesagt!«, protestierte Quinn.
»Das haben Sie sich nur gedacht. Ich weiß alles andere - nur Ihre Adresse nicht.«
»Was soll das heißen?«, fragte Quinn misstrauisch.
»Sie haben mir Ihre gesamte Lebensgeschichte erzählt«, behauptete die junge Frau. »Sie wären kein guter Spion, Mr. Quinn. Sobald Sie sich ein paar genehmigt haben, breiten Sie vor dem ersten mitfühlenden Zuhörer die Geschichte Ihres Lebens aus.«
»Was habe ich gesagt?«, fragte Quinn ängstlich.
»Oh, Sie haben keine gepfefferten Geschichten erzählt. Ich war sogar ein bisschen enttäuscht.«
»Machen Sie keine Witze!«, verlangte Quinn. »Ich bin nicht in der richtigen Stimmung dafür.«
»Gut, wie Sie wollen. Sie sind unverheiratet, von Beruf Reporter und für den Polizeibericht der Morning Post verantwortlich. Ihre Arbeit gefällt Ihnen, aber Sie hätten noch mehr Spaß daran, wenn Ihr zuständiger Redakteur nicht so ein gemeiner Hund wäre.« Sie machte eine Pause. »Stimmt das alles?«
»Ja«, gab Quinn zu. »Was habe ich noch erzählt?«
Die Dunkelhaarige zögerte. »Lassen wir’s lieber dabei, ja?«, schlug sie vor.
»Warum denn? Was habe ich noch gesagt?«
»Gut, wie Sie wollen! Ich weiß, dass Sie Ihre Freizeit meistens in Pubs verbringen, weil Sie einsam sind; dass Sie Ihre verheirateten Kollegen beneiden; dass Sie Minderwertigkeitskomplexe haben und dass Sie...« Sie machte eine Pause. »Das genügt vorläufig. Möchten Sie zwei Aspirin wegen Ihrer Kopfschimerzen?«
»Ja, bitte«, antwortete er, »wenn Ihnen das nicht zu viel Mühe macht.«
Sie lachte wieder. »Zuviel Mühe! Das ist ein guter Witz, wenn ich dabei an heute Nacht denke.«
»Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen so viel Arbeit gemacht habe«, sagte Quinn niedergeschlagen. »Ich hätte mich nicht so gehenlassen dürfen. Aber ich habe schon lange keinen Urlaub mehr gemacht - und heute beginnt für mich ein zweiwöchiger.«
»Ja, ich weiß. Das haben Sie mir auch erzählt.« Die junge Frau warf ihm einen fragenden Blick zu. »Und Sie wissen tatsächlich noch nicht, wo Sie diesen lange ersehnten Urlaub verbringen werden?«
»Ich kann mich für keinen bestimmten Ort entscheiden«, gab Quinn zu.
»Eigentlich ist es überall gleich«, behauptete die Dunkelhaarige, »wenn man die falsche Hälfte seiner Persönlichkeit mitschleppen muss.«
»Das klingt ja, als wäre ich schizophren!«, widersprach Quinn. »Dabei...«
»Schon gut«, unterbrach sie ihn. »Ich hole Ihnen jetzt ein Glas Wasser und zwei Aspirin, damit Sie Ihren Brummschädel loswerden.«
Quinn schluckte gehorsam die Tabletten und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück, um ihre Wirkung abzuwarten. Dabei musste er eingeschlafen sein, denn er schrak auf, als die junge Frau ihn fragte, ob er noch eine Tasse Kaffee wolle.
»Für heute haben Sie genug geschlafen, glaube ich«, fügte sie hinzu. »Jetzt brauchen Sie eine kalte Dusche. Im Bad finden Sie alles, was Sie brauchen - auch einen Rasierapparat. Nein, ich brauche ihn nicht selbst. Er hat einem Mann gehört, der früher hier gewohnt hat.«
»Danke«, sagte Quinn. »Sie haben sich rührend um mich bemüht. Wenn ich jemals etwas für Sie...«
»Keine Angst, ich bin nicht zu schüchtern, um Sie meinerseits um einen Gefallen zu bitten«, wehrte sie ab. »Sie brauchen sich übrigens nicht die Mühe zu machen, mir einen Blumenstrauß schicken zu lassen. Das hätte ich auch für jeden anderen getan.«
»Schade«, meinte Quinn. »Ich hatte gehofft, Sie hätten es getan, weil Sie mich mögen.«
Sie betrachtete ihn kritisch. »Wenn sich unter dieser unansehnlichen Fassade nicht eine reine Seele befindet, wüsste ich nicht, was ich an Ihnen mögen sollte.«
»Es kommt nicht nur auf das Äußere eines Menschen an«, wandte Quinn ein.
»Umso besser für Sie, nicht wahr?« Die junge Frau lächelte schwach. »Sie haben aschblondes schütteres Haar, sind blass und haben blutunterlaufene Augen... und Sie müssen sich unbedingt rasieren. Außerdem passen in Ihrem Gesicht Nase und Kinn nicht zusammen. Die Nase ist etwas zu spitz.«
»Die beiden gehören aber schon über dreißig Jahre zusammen«, erklärte Quinn ihr. »Allerdings scheint dies das verrückteste Jahr zu werden, weil ich Sie kennengelernt habe.«
»Danke, gleichfalls.« Die Dunkelhaarige runzelte die Stirn. »Vielleicht bin ich verrückt, aber ich finde Sie trotzdem sympathisch. Andererseits gefällt mir vieles an Ihnen nicht. Würden wir uns oft sehen, hätte ich Sie bestimmt bald satt.«
»Das beruht auf Gegenseitigkeit«, versicherte Quinn ihr. »Hören Sie, ich mache Ihnen einen Vorschlag: Wenn Sie in den nächsten zwei Wochen Zeit haben, könnten wir versuchen, wer wen zuerst satt hat.«
Sie starrte ihn an. »Ich soll mit Ihnen in Urlaub fahren?«
»Ja - aber nicht als Mr. Und Mrs. Smith. Mein Angebot hat keinen Haken.« Quinn lächelte. »Natürlich besteht immer die Möglichkeit, dass sich aus einer Freundschaft etwas anderes entwickelt...«
»Zählen Sie lieber nicht darauf!«
»Aber ich darf doch hoffen? Vielleicht wäre es ein guter Anfang, wenn Sie mir Ihren Namen verraten würden.«
»Oh, ich dachte, Sie wüssten ihn noch.« Sie gab Quinn die Hand. »Ich heiße Carole Stewart.«
»Ich warte noch auf Ihre Antwort«, sagte Quinn. »Was halten Sie von meinem Vorschlag?«
»Darüber muss ich erst nachdenken. Möchten Sie noch eine Tasse Kaffee, bevor Sie aufstehen?«
»Ja, bitte«, antwortete Quinn.
Carole Stewart verschwand in der Küche, ließ jedoch die Tür offen. »Sind Sie schon einmal in Castle Lammering gewesen?«, wollte sie wissen.
»Nein. Wo liegt das?«
»In Dorset... nicht weit von Blandford entfernt. Etwa zwanzig Meilen außerhalb von Salisbury, um es genau zu sagen. Das Dorf - Castle Lammering, meine ich - hat nur ein paar hundert Einwohner, zwei Pubs und weder Wettannahmestellen noch Spielsalons. Die nächste große Straße ist meilenweit entfernt.«
»Klingt gut«, gab Quinn zu. »Sind Sie schon einmal dort gewesen?«
»Sogar ziemlich oft. Ich habe dort Freunde, denen die Villa Elm Lodge am Ortsrand gehört. Sie sind reich und haben gern Gäste.«
»Wie nett«, murmelte Quinn ironisch.
»Sie haben mich eingeladen, ein langes Wochenende bei ihnen zu verbringen - vielleicht von heute bis Dienstagmorgen.« Carole Stewart kam mit dem Kaffee zurück. »Trinken Sie ihn, solange er heiß ist«, riet sie Quinn. »Sie wissen nicht, wohin Sie im Urlaub fahren sollen«, stellte sie dann fest. »Ein paar Tage in Castle Lammering könnten Ihnen nicht schaden. Würden Sie mich begleiten wollen?«
»Sogar sehr gern«, antwortete er. »Aber was sagen Ihre Freunde dazu, wenn Sie einen Unbekannten mitbringen?«
»Sie freuen sich bestimmt«, erklärte Carole ihm. »Ein neues Gesicht wäre eine nette Abwechslung.«
»Dann nehme ich die Einladung dankend an.« Quinn runzelte die Stirn. »Merkwürdig, nicht wahr?«
»Was ist merkwürdig?«
»Die Gerechtigkeit ist anscheinend blind. Dafür, dass ich mir gestern die Nase begossen habe, hätte ich eigentlich in einer Ausnüchterungszelle landen müssen. Aber stattdessen werde ich das Wochenende in Ihrer Gesellschaft in einem Landhaus verbringen. Was kann man mehr verlangen?«
Carole lächelte verschmitzt. »Freuen Sie sich nicht zu früh. Vielleicht langweilen Sie sich dort zu Tode. In Castle Lammering passiert nie etwas.«
»Das klingt zu gut, um wahr zu sein«, behauptete Quinn. »Ich suche schon lange einen ruhigen Zufluchtsort dieser Art.«
Drittes Kapitel
Er fühlte sich wesentlich besser, als er geduscht und sich rasiert hatte. Während er sich anzog, klopfte Carole an die Tür.
»Ich habe mir die Sache noch einmal überlegt...«, begann sie.
»Und dabei ist Ihnen eingefallen, dass Sie mich doch nicht einfach mitbringen können, nicht wahr?«, unterbrach Quinn sie.
»Unsinn! Ich habe mir nur überlegt, warum Sie vorher in die Stadt zurückmüssen.«
»Ich brauche ein paar Kleinigkeiten«, erklärte Quinn ihr. »Ich habe nicht einmal eine Zahnbürste hier.«
»Im Spiegelschränkchen liegt eine neue«, stellte Carole fest. »Sie können auch den Rasierapparat mitnehmen. Der frühere Besitzer hat nichts dagegen, glaube ich.«
»Das ist sehr nett von ihm, aber wenn ich bis Dienstag verreise, brauche ich mehr als einen Rasierapparat und eine Zahnbürste. Ich kann nicht sechs Tage lang das gleiche Hemd anziehen, in dem ich heute Nacht schon geschlafen habe.«
»Welche Kragenweite haben Sie?«, wollte Carole wissen.
»Neununddreißig. Warum?«
»Im Wäscheschrank in der Diele liegen ein halbes Dutzend Hemden dieser Größe, zwei Schlafanzüge, Unterwäsche und Socken«, erklärte sie Quinn. »Sie brauchen sich nur zu bedienen.«
»Aber was sagt der Mann dazu, dem das alles gehört?«, erkundigte Quinn sich. »Wie reagiert er auf diese Zweckentfremdung, wenn er zurückkommt?«
»Hinter diesen beiden Fragen spüre ich eine dritte«, antwortete Carole nach einer kurzen Pause. »Er kommt nicht zurück. Sie können alles benützen - es sei denn, Sie wollten Ihre eigenen Sachen holen und später nachkommen.«
»Das wäre Zeitverschwendung«, entschied Quinn. »Ich nehme Ihr Angebot dankend an. Darf ich Sie noch etwas fragen?«
»Nein, lieber nicht«, wehrte Carole ab. »Ich hole Ihnen jetzt einen Koffer, damit Sie das Zeug einpacken können...«
Sie fuhren erst gegen sechs Uhr ab. Als Quinn die beiden Koffer verstaute, sagte Carole plötzlich: »Jetzt können Sie sich die Sache noch anders überlegen.«
»Warum sollte ich das tun?«, fragte Quinn.
»Nun, Sie wissen schließlich nicht, worauf Sie sich einlassen.«
»Das riskiere ich gern - es sei denn, Sie bereuten es, mich eingeladen zu haben.«
»Nein, ich bereue nie etwas«, versicherte Carole ihm. Sie setzte sich ans Steuer. »Wenn ich mich für etwas entschlossen habe, führe ich es auch durch. Und wenn es wider Erwarten schiefgeht, bedauere ich nichts.«
»Dann sind wir genau entgegengesetzt veranlagt«, gab Quinn zu. »Ich bilde mir später immer ein, ich hätte anders handeln sollen. Aber das habe ich Ihnen wahrscheinlich schon anvertraut, nicht wahr? Ich kann eben den Mund nicht halten.«
»Da sind Sie nicht der einzige«, sagte die junge Frau und fuhr an.
Quinn warf ihr einen prüfenden Blick zu. »Hören Sie, Carole, ich möchte von Anfang an etwas klarstellen. Wir brauchen uns nicht weiter mit dem Mann zu befassen, dessen Hemd ich trage. Meinetwegen ist er Ihr Bruder.«
Sie konzentrierte sich auf die Straße. »Ich habe keinen Bruder«, antwortete sie leise.
»Gut, dann eben Ihr Onkel, Ihr Neffe oder Ihr Großvater. Das geht mich nichts an.«
Carole nickte langsam. »Ich bin froh, dass ich Sie eingeladen habe, mich nach Castle Lammering zu begleiten. Ich habe das Gefühl, dass Sie genau der Mann sind, den ich im Augenblick brauche.«
»Stets zu Diensten!«
Carole legte ihm kurz die Hand auf den Arm. »Seien Sie lieber nicht zu voreilig, mein Freund. Vielleicht stellt sich noch heraus, dass Sie einer schlechten Sache dienen.«
»Kann sein«, gab Quinn zu, »aber das riskiere ich in diesem Fall gern.« Er wechselte das Thema. »Soll ich irgendwo unterwegs eine kleine Aufmerksamkeit für die Dame des Hauses besorgen?«
»Nein, nein«, wehrte Carole ab. »Adele braucht nichts, was Sie sich leisten können. Das müssen Sie sich vor Augen halten.«
»Wie Sie meinen. Ich habe zwar keine Erfahrung im Umgang mit der Frau eines reichen Mannes, aber...«
»Das ist sie nicht«, unterbrach Carole ihn. »Das Geld gehört ihr. Ich bezweifle, dass Michael jemals etwas zu den Haushaltungskosten beigesteuert hat.« Sie machte eine Pause. »Am besten erzähle ich Ihnen gleich, wie die Verhältnisse liegen. Aber ich verlasse mich darauf, dass Sie das für sich behalten. Ich möchte nicht, dass Adele glaubt, ich...«
»Selbstverständlich!«, unterbrach Quinn sie.
»Michael Parry trinkt zu viel«, begann Carole.
»Da ist er nicht der einzige.«
Carole zuckte mit den Schultern. »Der Vergleich mit Ihnen hinkt. Sie trinken vielleicht gelegentlich einen über den Durst, aber Sie arbeiten wenigstens noch. Michael tut nichts.«
»Womit vertreibt er sich die Zeit?«
»Er fühlt sich als Schriftsteller. Sie kennen doch diesen Typ, der ewig an irgendeinem Meisterwerk arbeitet, das ihm mit einem Schlag Ruhm und Ehre einbringen soll.«
»Ja, solche Leute kenne ich«, stimmte Quinn zu.
»Aber ein Bestseller ist nicht einfach aus dem Ärmel zu schütteln«, fuhr Carole fort. »Ich glaube, dass Michael Talent hat, aber er gebraucht es nicht. Er ist geradezu arbeitsscheu.«
»Das kann man werden, wenn man eine reiche Frau heiratet«, behauptete Quinn.
»Adeles Geld hat Michael nur die Möglichkeit gegeben, nach Belieben zu faulenzen«, stellte sie fest. »Und wenn er deprimiert ist - das kommt ziemlich oft vor -, besauft er sich einfach.«
»Freut mich, dass Sie ihn nicht leiden können«, meinte Quinn grinsend. »Ein Säufer in Ihrem Leben genügt.«
»Machen Sie keine dummen Witze! Außerdem irren Sie sich. Michael kann recht charmant sein. Ich halte ihn nur für einen Schwächling. Adele hätte einen besseren Mann verdient.«
»Vielleicht ist sie ganz glücklich mit ihm.«
»Wie kann sie mit einem Mann glücklich sein, der völlig von ihr abhängig ist?«, fragte Carole irritiert.
»Wahrscheinlich ist er auch unglücklich«, meinte Quinn nachdenklich, »und trinkt deshalb.«
»Ja, ich weiß«, gab Carole zu. »Deshalb tut er mir eigentlich auch leid. Es ist zum Heulen, wenn er den großzügigen Gastgeber spielt, obwohl jeder weiß, dass Adele dafür bezahlt. Aber noch schlimmer ist ihr Blick, wenn...« Sie zuckte mit den Schultern. »Reden wir lieber von Ihnen.«
»Über mich gibt es nicht mehr viel zu sagen«, antwortete Quinn, »aber ich weiß nichts von Ihnen. Ich kenne nicht einmal Ihren Beruf. Er scheint finanziell lohnend zu sein, wenn ich mir Ihr Wochenendhaus und Ihren Wagen ansehe.«
»Ich produziere Fernsehfilme«, erklärte Carole ihm.
»Das muss interessant sein.«
»Nicht sonderlich«, erwiderte sie. »Die Produktion ist ein Job wie jeder andere - auch wenn der Film auf dem Bildschirm interessant und spannend wirkt. In Ihrem Beruf erlebt man mehr.«
»Was man nicht kennt, erscheint einem immer romantischer«, behauptete Quinn.
»Vielleicht haben Sie recht. Aber ich würde es doch gern einmal damit versuchen... Nur werde ich wahrscheinlich nie Gelegenheit dazu haben.«
Danach wurde Carole schweigsam und nachdenklich. Quinn überlegte sich, warum sie ihn eingeladen haben mochte, mit nach Castle Lammering zu fahren. Sie musste doch genügend Männer kennen, die als Wochenendgäste besser geeignet gewesen wären... zum Beispiel der Mann, der Hemden, Schlafanzüge, Unterwäsche und Socken in ihrem Haus zurückgelassen hatte. War er verheiratet gewesen, so dass die beiden nicht hatten heiraten können? War er Junggeselle gewesen und hatte die Verbindung zu Carole abgebrochen, als sie auf eine Eheschließung drängte? Und warum bewahrte sie seine Sachen noch immer auf? Hoffte sie etwa, er werde zu ihr zurückkommen? Oder waren die Sachen für jeden da, den sie mit nach Hause nahm? Quinn schämte sich dieses letzten Gedankens. Er fühlte sich als Heuchler, weil er wusste, dass er eine sich bietende Gelegenheit nicht ausschlagen würde. Vielleicht bot sich sogar eine, warum nahm sie ihn sonst nach Castle Lammering mit?
Quinn lehnte sich in den Sitz zurück, schloss die Augen und hing seinen Gedanken nach, während sie von Basingstoke aus nach Südwesten fuhren. Warum sie mich nur eingeladen hat? überlegte er sich. An meinem Aussehen kann es nicht liegen. Vielleicht tue ich ihr leid, und dies ist die gute Tat der Woche. Sie mag Michael Parry nicht, hat aber Mitleid mit ihm. Das ist immerhin bezeichnend... Am besten lasse ich sie ganz in Ruhe und versuche nicht, unbedingt Konversation zu machen. Sie wird schon wieder zu reden anfangen, wenn ihr danach zumute ist... Bis dahin kannst du die Fahrt an diesem herrlichen Sommerabend genießen. In Castle Lammering ist es bei solchem Wetter bestimmt schön. Du bist dort bei reichen Leuten eingeladen und kannst ein paar Tage lang aus dem Vollen leben...
Sie waren schon fast in Sutton Scotney, als Carole sich erkundigte: »Wie geht’s Ihrem Kopf?«
»Nicht einmal schlecht«, antwortete Quinn und richtete sich wieder auf.
»Was halten Sie von einer Tasse Kaffee?«, fragte sie weiter.
»Danke, ich möchte keine. Aber wenn Sie...«
»Oder hilft Ihnen ein Whisky eher auf die Beine?«
Quinn schüttelte den Kopf. »Ich möchte nicht mit einer Fahne bei Ihren Freunden aufkreuzen.«
Carole lachte humorlos. »Dann wären Sie Michael sofort sympathisch.«
Als Lopcombe Corner hinter ihnen lag, fragte sie Quinn: »Sind Sie denn gar nicht hungrig?«
»Erstaunlicherweise noch nicht«, antwortete er. »Aber wir bekommen doch etwas zu essen?«
»Natürlich. In Elm Lodge ist noch niemand verhungert. Seien Sie nur vorsichtig, sonst nehmen Sie zu.«
»Ich nicht«, erklärte Quinn ihr. »Ich wiege seit Jahren fünfundsechzig Kilo. Wie weit fahren wir noch?«
»Wir kommen jetzt nach Salisbury. Von dort aus sind es ungefähr dreißig Meilen nach Castle Lammering.« Carole sah auf ihre Uhr. »Wenn wir nicht irgendwo aufgehalten werden, müssten wir das Dorf gegen halb acht erreichen.«
Sie behielt recht. Es war Viertel nach sieben, als sie südlich von Blandford von der A 354 abbogen und dem Sonnenuntergang entgegenfuhren. Dort stand ein Wegweiser mit der Aufschrift: Castle Lammering - 8 Meilen.
Die schmale kurvenreiche Straße war kaum breit genug für zwei Autos. Sie führte durch hügeliges Gelände, an Hecken vorbei und schließlich durch ein Wäldchen.
»Wir sind gleich da«, stellte Carole fest. »Das Dorf fängt hinter dem Wald an. In drei oder vier Minuten sind wir in Elm Lodge.«
Die Straße beschrieb eine enge Linkskurve und führte geradeaus weiter. Einige hundert Meter vor ihnen lag Castle Lammering in einer Senke zwischen zwei niedrigen Hügelrücken: eine Ansammlung weißer Häuser mit Schindeldächern unterhalb der etwas erhöht stehenden Dorfkirche. Auf den Hügeln über Castle Lammering lagen hier und dort einzelne Häuser hinter Bäumen versteckt.
Carole zeigte auf eines davon. »Sehen Sie das Haus hinter den Ulmen dort oben links? Dort wollen wir hin.«
Zwei alte Männer sahen ihnen nach, als sie durchs Dorf fuhren. Ein kleiner Junge auf einem Dreirad winkte ihnen mit beiden Händen zu. Eine Frau vor dem Lebensmittelgeschäft legte eine Hand über die Augen, um besser sehen zu können.
»Fremde sind hier anscheinend selten«, stellte Quinn fest.
Carole nickte zustimmend. »Nach Castle Lammering verirren sich kaum Touristen, weil das Dorf so abseits der Hauptstraße liegt. Dabei kann man hier schöne Wanderungen machen, und es gibt genügend Pubs, wo man unterwegs ein Bier und einen Sandwich bekommt.«
»Die hiesigen Pubs sehen auch nicht schlecht aus.«
»Der Bird-in-Hand ist soweit in Ordnung, aber ich finde den Treacle Pot einfach zu ungemütlich«, antwortete Carole. »Der Bird-in-Hand ist übrigens Michaels Stammkneipe. Meistens geht er schon vormittags kurz hin. Die Nachmittage verbringt er ohnehin dort, wenn die Parrys nicht gerade Besuch haben.«
Vom Dorf aus führte eine sehr schmale Straße den Hügel hinauf bis zur Einfahrt des parkartigen Grundstücks mit den mächtigen Ulmen, denen die Villa ihren Namen verdankte. Vor ihnen erhob sich ein einstöckiges Gebäude aus grauen Steinquadern. Große Fenster gewährten einen weiten Blick über die Hügel, Weiden und Felder jenseits von Castle Lammering.
»Na, wie gefällt Ihnen das Haus?«, fragte Carole, als sie auf dem kiesbestreuten Platz vor der Garage hielten, die drei Wagen Platz bot.
Quinn antwortete nicht gleich; er stieg aus, streckte sich und sah sich um. »Nicht übel«, meinte er anerkennend. »Wohnen Ihre Freunde ständig hier?«
»Ja. Michael fährt nur sehr selten weg. Adele kommt gelegentlich nach London, um Einkäufe zu machen - oder sie verbringt eine Woche im Sanatorium Wood Lake, wo Leute mit genug Geld vorgeben können, eine Schlankheitskur zu machen.«
»Warum will sie schlank werden?«
»Das hat sie gar nicht nötig. Aber ihr gefallen die Bäder, Massagen und kosmetischen Behandlungen. Sie fährt jedes Vierteljahr einmal hin.«
»Wie anstrengend!«, meinte Quinn ironisch.
Carole klingelte an der Haustür. Als niemand öffnete, meinte sie: »Jemand muss doch zu Hause sein!« Sie klingelte erneut. Nach dem dritten Versuch lächelte sie resigniert.
»Vielleicht haben Sie unrecht?«
»Nein, nein, machen Sie sich nur keine Sorgen! Auch wenn sie weggefahren sind, müssen sie bald zurückkommen. Sie wissen, wann ich eintreffen wollte.« Carole drehte sich um. »Kommen Sie, wir sehen nach, ob der Wagen da ist.«
Sie gingen zur Garage. Carole öffnete eine der Schiebetüren. Quinn sah einen braunen Rover und dahinter eine Werkbank. Der Kofferraum des Wagens war nicht richtig geschlossen.
Carole und Quinn hörten die Musik fast gleichzeitig: irgendwo im Haus hatte jemand ein Radio eingeschaltet. Die junge Frau lief zum Eingang zurück und klingelte zehn Sekunden lang ununterbrochen. »Los, macht schon auf! Das müsst ihr doch gehört haben... Ah, endlich!«
Die Haustür wurde geöffnet. Auf der Schwelle stand ein mittelgroßer Mann mit blondem Haar, blassblauen Augen und einem dunkelblonden Schnurrbart. Er musste früher einmal gut ausgesehen haben, aber jetzt war sein Gesicht aufgedunsen, und er hatte ein Doppelkinn. Er starrte Carole an, als erkenne er sie nicht. Dann griff er an den offenen Kragen seines Hemdes, merkte, dass er keine Krawatte trug, und lächelte schwach.
»Hallo, Carole«, sagte er, nachdem er sich geräuspert hatte. »Das ist aber eine Überraschung! Ich habe dich eigentlich erst später erwartet.«
»Halb acht ist nicht sehr früh«, stellte sie fest.
»Ist es schon so spät?«, fragte der Mann überrascht. Er wollte auf die Uhr sehen und merkte, dass er keine trug. »Ich hatte mich ein bisschen hingelegt und muss eingeschlafen sein...« Er sah zu Quinn hinüber. Dabei schien ihm etwas einzufallen, denn er wandte sich wieder an Carole. »Möchtest du mich nicht mit deinem Freund bekannt machen?«
»Gern«, antwortete sie, »ich habe nur noch keine Gelegenheit dazu gehabt. »Mr. Quinn... Mr. Parry. Adele hat mich gebeten, jemand mitzubringen, und ich... Wo ist übrigens Adele?«
Parry schüttelte Quinn die Hand. »Caroles Freunde sind auch unsere. Kommen Sie herein, alter Junge, und trinken Sie einen Schluck mit. Sie sehen so durstig aus.«
Die Haustür führte direkt in den riesigen Wohnraum, der fast das gesamte Erdgeschoss einnahm. In einer Ecke führte eine schmiedeeiserne Wendeltreppe in den ersten Stock hinauf. Die halbe Rückwand des Raums nahm ein mächtiger Kamin ein, vor dem mehrere Ledersessel standen.
Eine Regalwand teilte den Wohnraum. Ein Drittel diente als Essnische, von der aus eine Durchreiche und eine Tür in die Küche führten. Die anderen zwei Drittel bildeten den eigentlichen Wohnbereich mit Sitzmöbeln, dem Kamin und der Hausbar, auf die Parry jetzt zuging. »Was darf’s sein?«, erkundigte er sich. »Wir haben alles da!«
»Eigentlich haben wir eher Hunger als Durst«, wandte Carol ein. »Hast du schon gegessen?«
»Gegessen? Ja, ich habe sehr gut zu Mittag gegessen.« Parry stellte einige Flaschen auf die Theke der Hausbar. »Keine Angst, wir haben reichlich Essen im Haus - der ganze Kühlschrank ist voll. Aber zuerst trinken wir einen Schluck. Das steigert den Appetit.«
»Gut, wenn’s unbedingt sein muss, trinke ich ein Glas Tomatensaft.«
»Kommt sofort! Und der Freund?«
»Für mich bitte einen Whisky«, antwortete Quinn.
Parry nickte und stellte drei Gläser auf die Theke. Er öffnete die Tomatensaftflasche so unbeholfen, dass der Kronenkorken zu Boden fiel. Er murmelte einen Fluch, bückte sich und hob ihn auf. Quinn sah, dass seine Hände zitterten.
»Danke«, sagte Carole und nahm ihr Glas entgegen. Sie zögerte, bevor sie fragte: »Sind wir nur zu dritt? Leistet Adele uns nicht bei einem Drink Gesellschaft?«
Parry schenkte zuerst Quinns Glas voll. »Habe ich dir nicht gesagt, dass sie in Wood Lake ist? Ich hole sie anschließend in Blandford ab. Ihr Bus kommt um zwanzig nach acht. Nur noch einen Schluck Cognac, dann bin ich schon unterwegs!«
»Kommt noch jemand übers Wochenende?«
»Vielleicht Irene und Neil.« Parry schob Quinn das volle Glas zu. »Bitte sehr, alter Junge... Und wenn ihr hungrig seid, bedient ihr euch doch hoffentlich selbst? Du weißt, wo alles ist, Carole. Irene und Neil können euch Gesellschaft leisten, wenn sie kommen.«
»Isst du nichts mehr, bevor du losfährst?«
»Keine Zeit, liebes Kind. Ich muss in Blandford sein, bevor der Bus ankommt, sonst denkt mein Frauchen, ich hätte sie vergessen.« Er öffnete die Cognacflasche. »Wie spät ist es überhaupt schon?«
»Fünfundzwanzig vor acht«, antwortete Quinn. »Auf Ihr Wohl«, fügte er hinzu, als der andere sich einen winzigen Schluck Cognac einschenkte und das Glas an die Lippen hob.
»Gesundheit und langes Leben«, wünschte Parry ihm. Sie tranken sich zu. »Ich hoffe, dass Sie sich hier wie zu Hause fühlen werden.«
»Danke«, sagte Quinn, »ich werde mir Mühe geben.«
»Womit verdienen Sie Ihr Geld, alter Junge?«, wollte Parry wissen. »Beim Fernsehen wie Carole?«
»Nein, ich bin Zeitungsreporter.«
»Tatsächlich? Bei welchem Blatt?«
»Bei der Morning Post.«
Parry stellte sein Glas weg und kam hinter der Theke hervor. »Das trifft sich gut, mein Freund. Ich schreibe auch - allerdings Romane.« Er zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich haben Sie noch nichts von mir gelesen, denn mein Bestseller steht noch aus. Aber eines Tages... wer weiß?«
»Ganz recht«, stimmte Quinn zu.
Parry ging zur Treppe, blieb noch einmal stehen und sagte: »Jetzt weiß ich auch, woher ich Ihren Namen kenne! Sie schreiben den Polizeibericht der Morning Post, nicht wahr?«
»Ja.«
»Darüber müssen wir noch sprechen. Ihre Artikel gefallen mir sehr. Aber vorläufig muss ich bitten, mich zu entschuldigen. Wenn ich mich verspäte, schlägt mein Frauchen Krach.«
Parry lief die Treppe hinauf und verschwand. Im ersten Stock fiel eine Tür ins Schloss.
Quinn sah zu Carole hinüber. »Finden Sie nicht auch, dass unser Gastgeber einen sitzen hat?«
»Ja, er hat wieder getrunken. Wenn Adele nicht zu Hause ist, verbringt er alle Nachmittage im Bird-in-Hand.« Carole schüttelte den Kopf. »Ich möchte wetten, dass er beschwipst nach Hause gekommen ist und sich noch etwas hingelegt hat, um einigermaßen normal zu wirken, wenn er Adele abholt.«
»Nur gut, dass wir ihn geweckt haben - sonst säße sie in Blandford fest.«
»Das wäre nicht das erstemal. Sie ist schon oft mit einem Taxi nach Hause gekommen, wenn sie in Wood Lake war.«
»Wo liegt das überhaupt?«
»Einige Meilen von Woking entfernt. Adele fährt mit dem Bus von Blandford nach Salisbury, steigt in den Zug nach Woking um und lässt sich von dort mit dem Auto abholen.«
»Ist das nicht ziemlich umständlich? Warum hat sie keinen eigenen Wagen, wenn die Parrys so reich sind, wie Sie sagen?«
Carole stellte ihr Glas ab. »Ich bin froh, dass Sie danach nicht in Adeles Gegenwart gefragt haben. Das wäre peinlich gewesen... Sie ist nämlich früher selbst gefahren - aber dann hatte sie bei Chobham einen Unfall, bei dem ein Mann umgekommen ist. Adele hatte nicht die geringste Schuld daran, hat sich aber seitdem nicht wieder ans Steuer gesetzt.«
»Verständlich«, meinte Quinn. Er trank seinen Whisky aus. »Können wir jetzt eine Kleinigkeit essen?«
»Natürlich! Stört es Sie, wenn wir gleich in der Küche bleiben?«
»Meinetwegen essen wir in der Garage!«, sagte Quinn.
Als Carole die Küchentür öffnete, kam Michael Parry die Treppe herab. Er winkte ihnen zu und rief: »Guten Appetit! Tut mir leid, ich hab’s eilig!«
Während Carole den Tisch deckte, horchte Quinn nach draußen. Der Motor heulte auf, Kies spritzte, der Wagen schoss davon. Quinn schüttelte den Kopf. »Hoffentlich begegnet der gute Michael unterwegs nicht einem anderen Fahrer, der ähnlich fährt. Ist er schon einmal wegen Trunkenheit am Steuer verurteilt worden?«
»Nein, aber das hat er nur seinem Glück zuzuschreiben. Das passiert eines Tages noch - wenn er nicht vorher gegen einen Baum fährt. Möchten Sie kaltes Huhn oder Ochsenmaulsalat oder Schinkensandwiches?«
»Ja, bitte«, antwortete Quinn.
Carole lachte. »Und eine Flasche Bier?«
»Meinetwegen auch zwei!«
»Sie scheinen die Nachwirkungen der letzten Nacht inzwischen überwunden zu haben«, stellte Carole fest.
»Natürlich! Wenn ich trinke, bekomme ich Appetit, der mir wieder Durst macht, woraufhin ich weiteressen muss, was mich durstig macht, und so weiter. Ein wahrer Teufelskreis.«
»Ich habe noch nie einen Mann gekannt, der so viel Unsinn geredet hat«, behauptete Carole.
»Das glaube ich. Aber der Unterschied besteht darin, dass ich weiß, dass ich Unsinn rede.«
Carole nickte langsam. »Gut gesagt - aber darauf brauchen Sie sich nicht gleich etwas einzubilden. Essen Sie lieber etwas, damit Sie sich nicht überanstrengen.«
»Wer sind eigentlich diese anderen Leute, die noch kommen sollen?«, fragte Quinn nach dem Essen.
»Sie gehören zur Familie - Irene und Neil Ford. Sie ist Adeles Schwägerin. Ihr Mann hat einen Laden in Ringwood - etwa dreißig Meilen von hier. Sie kommen alle vier, fünf Wochen einmal.«
»Wie sind die beiden?«
»Nicht gerade sympathisch. Sie ist eine dieser pessimistisch eingestellten Frauen, die es fertigbringen, einen durch ihre bloße Gegenwart missmutig und niedergeschlagen zu machen.«
»Das klingt ja vielversprechend. Ist er der gleiche Typ?«
»Nein, im Vergleich zu ihr ist er recht lebhaft. Aber mir gefällt es nicht, wie er mich oft anstarrt. Ich fürchte, dass er sich eines Tages zu etwas hinreißen lässt, das für alle Beteiligten unangenehm werden kann.« Carole begann das Geschirr abzuräumen. »Dieses Wochenende ist er natürlich ungefährlich, weil er glauben muss, Sie seien gut mit mir befreundet.«
»Und wir wissen beide, dass das nicht stimmt«, wandte Quinn ein.
Carole nickte. »Wie könnte es anders sein? Eine Freundschaft ist wie guter Wein - sie muss erst reifen.«
Quinn wäre am liebsten aufgestanden und weggelaufen. So war er noch nie behandelt worden: abwechselnd freundlich und abweisend. Das konnte er sich nicht lange bieten lassen. Hätte er die nächste Bushaltestelle in erreichbarer Nähe gehabt, wäre er sofort abgefahren. Aber wenn er daran dachte, dass er riskierte, als Trottel dazustehen, wenn er ins Dorf lief und dort erfuhr, dass von hier aus kein Bus nach Blandford verkehrte, kam diese Möglichkeit nicht ernstlich in Betracht.
Er ahnte, dass Carole sich weigern würde, ihn mit ihrem Auto nach Blandford zu fahren. Sie würde ihn auch nicht dazu überreden, in Elm Lodge zu bleiben. Er musste selbst entscheiden, was er wollte - und würde sich auf jeden Fall lächerlich Vorkommen. Er hätte ihre Einladung nie annehmen dürfen. Wenn Quinn gewusst hätte, dass sie ihn nur mitgenommen hatte, um vor einem anderen Mann sicher zu sein...
»Ich möchte Ihnen nichts vormachen«, fuhr Carole fort. »Eine Freundschaft zwischen uns müsste sich allmählich ergeben. Ob es überhaupt dazu kommen wird, lässt sich nach so kurzer Bekanntschaft noch nicht sagen.«
»Man muss auch für Kleinigkeiten dankbar sein«, meinte Quinn. »Auch für Mr. Neil Ford und seine frechen Blicke. Ihnen verdanke ich schließlich die Einladung in dieses Landhaus.«
Carole warf ihm einen eisigen Blick zu. »Sie benehmen sich wie ein verzogenes Kind. Ich habe Sie nicht eingeladen, damit Sie über meine Tugend wachen. Adele ist in Ordnung - ihretwegen komme ich schließlich -, aber die anderen können todlangweilig sein. Ich habe Sie nur eingeladen, weil ich Sie für amüsanter hielt.«
»Vielen Dank«, warf Quinn ein.
»Sie wissen genau, was ich meine! Ich denke nicht daran, Ihnen Komplimente zu machen, nur weil Sie an einem Minderwertigkeitskomplex leiden. Ich mag Sie so gern, wie man jemand mögen kann, den man erst ein paar Stunden lang kennt.«
»Friss oder stirb«, murmelte Quinn.
»Ja.« Sie zuckte mit den Schultern. »Wofür entscheiden Sie sich also?«
»Ich bleibe«, antwortete Quinn. »Ich habe nichts zu verlieren, wenn ich...«
Die Türklingel schrillte.
»Das sind die Fords«, sagte Carole. »Lassen Sie sich ja nicht anmerken, wie hereingelegt Sie sich fühlen!«
»Wer benimmt sich jetzt wie ein verzogenes Kind?«, wollte Quinn wissen. »Sie werden es nicht glauben - aber ich bin gern hier!«
»Dann müssen Sie auch das entsprechende Gesicht machen«, riet Carole ihm, während sie zur Tür ging.
Die Fords entsprachen nicht ganz Quinns Erwartungen. Neil Ford war ein rundlicher Mann mit grauem Haar, grauen Augen und rosa Teint. Er hatte weiche Hände und einen weibischen Mund. Anscheinend verbrachte er den größten Teil seiner Freizeit in geschlossenen Räumen.
Irene Ford war blond, mager, farblos. Sie wirkte zurückhaltend und schien sehr darauf bedacht zu sein, nicht in den Vordergrund zu treten. Sie lächelte nervös, während Quinn ihr vorgesteilt wurde. Danach saß sie in einem Sessel, achtete sorgfältig darauf, dass ihr Rock nicht hochrutschte, und sagte: »Du meine Güte, der Verkehr wird von Tag zu Tag schlimmer! Scheußlich, nicht wahr? Die Fahrt lohnt sich fast nicht mehr, wenn man...«
»Du kommst gern hierher«, unterbrach Ford sie. »Dir wäre es auch egal, wenn die Fahrt doppelt so lange dauern würde.«
»Ja, natürlich. Ich meine nur...« Sie sah nervös zu Quinn hinüber, während sie überlegte, was sie eigentlich meinte. »Nun, das ist eine Abwechslung, nicht wahr?«
»Gewiss«, stimmte Quinn höflich zu und fragte sich, ob sie merkte, wie ihr Mann Carole anstarrte. Vielleicht wusste sie nichts davon - oder wollte nichts wissen. Vielleicht hatte sie längst gemerkt, dass daran nichts zu ändern war?
»Seid ihr hungrig?« hörte er Carole fragen. »Dann hat es nämlich keinen Zweck, auf Adele zu warten. Mr. Quinn und ich haben schon etwas gegessen.«
Irene zog die Augenbrauen hoch. »Weißt du, dass mir erst eben aufgefallen ist, dass sie und Michael nicht hier sind? Ist das nicht seltsam?«
»Nein«, sagte Neil Ford. »Du bist in Gedanken immer woanders.« Er sah zu Carole hinüber. »Ist Michael weggefahren, um sie abzuholen?«
»Ja. Er müsste bald zurückkommen, in ungefähr einer Viertelstunde, wenn der Bus keine Verspätung gehabt hat.«
Irene stand auf. »Ich gehe schon voraus. Holst du noch die Sachen aus dem Auto... Liebling?«
»Natürlich, Liebling«, antwortete Neil.
»Ein glückliches Paar«, meinte Quinn, als beide den Raum verlassen hatten.
Carole zuckte mit den Schultern. »Die beiden haben sich gestritten. Das merke ich ihnen an. Er benimmt sich unmöglich, und sie sagt Liebling zu ihm.« Sie lächelte bedauernd. »Ich hätte Sie nicht in diese Sache hineinziehen dürfen. Hätte ich gewusst, dass die Situation so gespannt sein würde, hätte ich Sie lieber nicht mitgenommen. Wahrscheinlich haben Sie auf diese Weise nicht viel von Ihrem Wochenende.«
»Keine Angst, ich will nicht plötzlich das Eintrittsgeld zurück«, beruhigte Quinn sie.
»Nein, aber Sie müssen glauben, in einen verrückten Haushalt geraten zu sein. Adele ist bei unserer Ankunft nicht hier; sobald wir aufkreuzen, fährt Michael weg und lässt uns allein; dann lernen Sie Neil und Irene kennen. Das ist kein guter Anfang.«
»Sonne, gutes Essen, genug zu trinken«, zählte Quinn auf. »Worüber sollte ich mich beschweren, wenn außerdem Sie hier sind?«
Carole trat auf ihn zu und sah ihm in die Augen. Dann lächelte sie. »Doch, ich glaube allmählich, dass Sie nett sind«, sagte sie, bückte sich und küsste ihn flüchtig auf die Wange.
Neil Ford kam mit einem Koffer und seinem Regenmantel zurück. »Ich brauche erst einen Drink, bevor ich die Sachen nach oben bringe.«
»Ich schenke dir einen ein«, bot Carole ihm an. »Was möchtest du trinken?«
»Am liebsten einen trockenen Sherry«, antwortete Ford. Als Carole ihm das Glas gab, lehnte er sich so auf die Bar, dass er Quinn den Rücken zukehrte. Das konnte unbeabsichtigt sein, aber Quinn glaubte es nicht.
Ford trank seinen Sherry, murmelte Carole etwas zu, lachte wie über einen Witz und ging mit seinem Koffer nach oben. Carole sah zu Quinn hinüber und lächelte beschwichtigend. »Ich kann mir vorstellen, was Sie denken. Aber ich möchte Ihnen den guten Rat geben, sich nichts anmerken zu lassen. Er freut sich nämlich, wenn er andere Leute gegen sich aufbringen kann - um selbst größer zu wirken.«
»Zum Beispiel in Ihren Augen?«
»Neil Ford interessiert mich nicht«, erwiderte Carole gelassen.
»Umso besser, nicht wahr? Schließlich ist er verheiratet.«
»Wenn Sie so weitermachen, langweilen Sie mich«, antwortete Carole, »und das kann ich nicht ertragen. Damit Sie’s genau wissen: Neil Ford ist ein Typ, den ich weder verheiratet noch ledig ausstehen kann.«
»Vielleicht bekomme ich noch heraus, welchen Typ Sie eigentlich mögen«, meinte Quinn. »Warum hat er...«
Bevor er aussprechen konnte, klingelte das Telefon. Im gleichen Augenblick kam Ford die Treppe herab. »Ich gehe hin«, sagte er hastig. »Vielleicht ist der Anruf für mich.«
Das Telefon stand auf der anderen Seite des Raumteilers. Quinn beobachtete, wie Ford nach dem Hörer griff.
»Ja?«, fragte Ford. »Ja... oh, hallo, wo bist du... hier ist Neil.«
Quinn sah aus dem Fenster und merkte erst jetzt, dass von Süden her eine dunkle Gewitterwand aufzog.
»Das wird ein Sturm«, sagte Carole, die ebenfalls hinausgesehen hatte.
»Für heute Abend war ein Gewitter vorhergesagt«, stimmte Quinn zu, als die Ulmen sich unter einem plötzlichen Windstoß bogen. »Ein bisschen Regen könnte nicht schaden.«
»...nein, meines Wissens nicht«, antwortete Ford eben. »Ich bin davon überzeugt, dass Carole es sonst erwähnt hätte. Vielleicht hast du dich in der Zeit geirrt, halt, du brauchst nicht gleich wütend zu werden! Das war nur eine Idee. Wenn du mich fragst, ist es zwecklos, noch länger zu warten. Okay, okay, du kannst tun, was dir Spaß macht. Ich halte dich von nichts ab, ja, ich sage es den anderen, aber wie sollen wir - gut, wie du willst, auf Wiedersehen und bleib nüchtern.«
Ford legte auf und sah aus dem Fenster. »Sieht beinahe unheimlich aus, was? Das gibt einen Wolkenbruch!«
»War Michael am Apparat?«, fragte Carole.
»Ja.«
»Was hat er gesagt?«
»Dass er etwas später zurückkommen wird. Adele ist nicht mit dem Bus angekommen. Wahrscheinlich hat sie ihn verpasst, weil ihr Zug Verspätung hatte. Michael will den nächsten Bus in Blandford abwarten - er kommt um kurz nach neun an.«
Carole sah auf ihre Uhr. »Bis dahin muss er noch lange warten. Ich hätte gedacht, dass Adele anrufen würde, wenn sie den Bus verpasst. Sie muss doch gewusst haben, dass Michael hinfahren würde.«
»Wahrscheinlich ist es ihr gleichgültig, ob er warten muss oder nicht«, meinte Ford. »Vielleicht will sie überhaupt nicht zurückkommen.« Er sah herausfordernd zu Quinn hinüber. »Was halten Sie als Außenseiter davon?«
»Als Außenseiter geht mich das nichts an«, erwiderte Quinn gelassen.
»Wirklich nicht? Ich dachte, Sie hätten den richtigen Beruf, um sich um alles zu kümmern»
»Dann haben Sie eben falsch gedacht. Was wissen Sie übrigens von meinem Beruf?«
»Ich weiß nur, dass Sie Reporter sind, aber...«
»Hört jetzt auf!«, unterbrach Carole ihn. »Das ist nicht mehr lustig.«
»Ich finde es bestimmt nicht lustig«, versicherte Quinn ihr. »Ich habe nicht damit angefangen. Er hat mich von Anfang an nicht ausstehen können. Ich weiß nicht, was er gegen mich hat.«
»Ich finde nur, dass Carole sehr merkwürdige Freunde zu haben scheint«, antwortete Neil Ford.
»Und ich finde, dass Mrs. Parrys Verwandte noch schlimmer sind«, behauptete Quinn.
Carole trat zwischen die beiden. »Halt! Ihr werdet beide wegen Tiefschlags disqualifiziert!«, rief sie wütend.
»Ich wollte mich nicht mit ihm streiten«, stellte Quinn fest. »Da ich hier unerwünscht zu sein scheine, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich zur nächsten Bushaltestelle fahren würden, um...«
»Kommt nicht in Frage! Dieses Haus gehört Adele, und wer mit mir hierher kommt, wird als Adeles Gast behandelt. Sie bleiben hier!« Carole wandte sich an Ford. »Was ist in dich gefahren? Warum führst du dich so auf?«
Neil Ford zuckte mit den Schultern. »Ich kann Reporter einfach nicht ausstehen«, antwortete er.
»Das ist ein Pauschalurteil«, warf Quinn ein. »Haben Sie einen besonderen Grund dafür, alle Reporter in den gleichen Topf zu werfen und alle zu hassen?«
»Ich habe vor einiger Zeit schlechte Erfahrungen mit der Berichterstattung unserer Lokalpresse gemacht«, antwortete Ford, »und das genügt mir!«
»Ich habe nichts mit der Lokalpresse zu tun. Ich bin Kriminalreporter einer großen Tageszeitung. Wenn Sie nichts verbrochen haben, bekommen wir nie miteinander zu tun.«
»Freut mich«, meinte der Dicke ironisch.
»Vielleicht freut es Sie noch mehr, dass ich heute einen zweiwöchigen Urlaub angetreten habe«, fuhr Quinn fort. »Da ich nicht für die Klatschspalte schreibe, interessieren Ihre Familie und Ihre Freunde mich nicht im geringsten.«
»Das genügt vorläufig!«, entschied Carole.
Die beiden Männer starrten sich an. Quinn bedauerte es, gleich heftig geworden zu sein. Neil Ford murmelte etwas, das wie eine Entschuldigung klang. Aber die instinktive Antipathie zwischen den beiden war dadurch nicht beseitigt, sondern nur in den Hintergrund gedrängt worden. Sie konnte bei nächster Gelegenheit wieder ausbrechen.
Quinn wusste nicht, weshalb Ford ihn nicht ausstehen konnte; er bildete sich ein, ihm dazu keinen Grund gegeben zu haben.
Vielleicht hatte Ford wirklich schlechte Erfahrungen mit irgendwelchen Reportern gemacht. Aber vielleicht war das nur eine Ausrede. Am besten, er ging Ford aus dem Weg. Hoffentlich gelang es ihm...
Quinns Gedankengang wurde unterbrochen, als es an der Haustür klingelte. Carole sah fragend zu Ford hinüber. »Wer kann das sein? Hast du ein Auto gehört?«
»Nein. Michael und Adele können noch nicht zurück sein.«
»Außerdem würden sie nicht klingeln, weil beide einen Schlüssel haben.« Carole ging zur Tür und öffnete sie. »Oh, Sie sind’s! Kommen Sie doch herein! Wie geht’s?« Sie war durchaus höflich, aber man merkte ihr an, dass sie sich dazu zwingen musste.
Quinn sah eine untersetzte Frau mit scharfen Gesichtszügen und lebhaften braunen Augen an der Tür stehen. Sie trug ihr Haar so kurz, als schneide sie es selbst ab, und sprach mit überraschend tiefer Stimme. Sie lächelte, als Quinn ihr vorgestellt wurde. »Kennen wir uns nicht zufällig?«
»Nein«, antwortete er, »ich bin zum ersten Mal hier.«
»Ja, das habe ich mir gedacht. Ich habe ein gutes Gedächtnis für Gesichter, wissen Sie. Namen vergesse ich sofort wieder, aber Gesichter - das liegt bei uns in der Familie.« Sie machte eine kurze Pause. »Ich stamme überhaupt aus einer verrückten Familie«, fuhr sie lachend fort. »Ich habe es meinen Eltern nie verziehen, dass sie mich Ariadne getauft haben. Können Sie sich vorstellen, was ich in der Schule auszuhalten hatte?« Sie legte den Kopf schief. »Sie wissen doch, wer Ariadne war?«
»Die Tochter Minos’, des Königs von Kreta«, antwortete Quinn prompt.
»Oh!« Sie starrte ihn an. »Wer hätte das gedacht? Ein kluger Kopf!« Sie sah beifallheischend zu Carole und Ford hinüber, bevor sie Quinn erklärte: »Aber Sie dürfen mich nicht mit der gleichnamigen Dame verwechseln. Mein Vater war ein gewisser George Wilkinson, Teeimporteur in der Mincing Lane. Ein kleiner Geschäftsmann.« Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Hoffentlich störe ich nicht! Ich bin nur herübergekommen, weil Adele versprochen hatte, mir etwas zu leihen. Wahrscheinlich werde ich auf dem Nachhauseweg klatschnass.«
»Wenn es regnet, fahre ich Sie nach Hause«, bot Carole ihr an.
»Oh, das ist aber nett!« Miss Wilkinson sah sich um. »Wo sind die beiden übrigens?«, wollte sie dann wissen. »Michael und Adele, meine ich.«
Neil Ford mischte sich zum ersten Mal in die Unterhaltung ein. »Sie hat den Bus in Salisbury verpasst. Michael wartet auf den nächsten.«
»Wirklich? Adele hat eigentlich noch nie einen Bus verpasst. Wo ist sie denn gewesen?«
»Wood Lake.«
»Merkwürdig, der Zug kommt doch normalerweise lange vor Abfahrt des Busses an!«
»Sie kann auch den Zug verpasst haben«, warf Carole ein. »Wir wissen nur, dass sie nicht mit dem gewohnten Bus angekommen ist.«
»Dann hätte sie doch anrufen können, nicht wahr? Es sei denn...« Miss Wilkinson sprach nicht weiter.
»Es sei denn?«, wollte Ford wissen.
Ariadne schüttelte den Kopf. »Warum fragen Sie so scharf, mein Lieber?«
»Ich habe nicht scharf gefragt. Aber ich finde es unsinnig, ein großes Geheimnis daraus zu machen, falls Sie einen Grund wissen, weshalb Adele nicht wie gewöhnlich nach Hause kommen sollte.«
»Woher sollte ich das wissen?«, erkundigte Miss Wilkinson sich. »Ich habe nicht einmal gewusst, dass sie in Wood Lake war.«
»Jetzt weichen Sie mir aus«, behauptete Ford.
»Reden Sie keinen Unsinn! Dafür könnte es ein halbes Dutzend Gründe geben. Vielleicht hat sie Streit mit Michael gehabt. Vielleicht will sie ihn eine Weile sitzenlassen.«
»Lächerlich!«, widersprach Neil Ford.
»Vielleicht haben Sie recht. Ich kann Adeles Reaktion nicht beurteilen. Ich bin nie verheiratet gewesen.«
»Woher wissen Sie, dass die beiden Streit hatten?«
»Wer redet jetzt Unsinn? Streiten nicht alle Verheirateten? Dazu kommt es doch logischerweise, wenn ein Mann und eine Frau jahrelang im gleichen Haus Zusammenleben sollen.«
»Nur gut, dass wir Sie genau kennen, um Sie nicht ernst zu nehmen«, sagte Carole irritiert. Sie stand auf, ging zur Tür und machte Licht. Quinn sah Ariadne Wilkinson zufrieden lächeln.
Im ersten Stock waren Irene Fords Schritte zu hören. Ihre Absätze klapperten zuerst auf dem Parkett; dann dämpfte ein Teppich ihre Schritte. Sie drehte einen Wasserhahn auf, drehte ihn fast augenblicklich wieder zu und ließ das Wasser dann nochmals laufen. Etwas klapperte im Waschbecken. Die Geräusche waren so deutlich, dass Mrs. Ford die Tür zum Bad offengelassen haben musste.
»Jetzt ist mir wohler«, sagte Carole, als die Deckenbeleuchtung brannte. »Ein heraufziehendes Gewitter ist mir immer unheimlich. Ich finde schon das Wetterleuchten dort draußen grässlich.«
»Mir gefällt nichts besser als ein Gewitter«, behauptete Ariadne. »Ich fühle mich am wohlsten, wenn es richtig blitzt und donnert. Ob das daher kommt, dass ich das siebte Kind eines siebten Kindes bin?« Sie sah zu Quinn hinüber. »Wissen Sie, ich denke oft, dass ich dreihundert Jahre zu spät auf die Welt gekommen bin. Ich hätte eine gute Hexe abgegeben...«
Sie schwatzte weiter und sah dabei von einem zum anderen, um zu erkennen, wie sie auf ihre krampfhaft witzigen Bemerkungen reagierten. Quinn hörte kaum zu und murmelte nur gelegentlich etwas Zustimmendes. Neil Ford beteiligte sich nicht an der Unterhaltung. Carole war so zurückhaltend wie Quinn.
Nach einiger Zeit konnte Neil Ford nicht mehr stillsitzen. Er stand auf, sah aus dem Fenster, warf einen nervösen Blick auf seine Uhr und trat schließlich an die Hausbar, um sich einen Sherry einzuschenken. Als er das Glas nach dem ersten Schluck wieder abstellte, fragte Carole ihn: »Bist du nicht hungrig?«
»Nein«, antwortete er, »wir haben heute ziemlich spät gegessen. Ich warte lieber, bis Irene herunterkommt - obwohl das noch lange dauern kann. Sie braucht immer eine Ewigkeit, um sich ein bisschen herzurichten.«
»Oh, ich hatte Ihre Frau ganz vergessen!«, sagte Miss Wilkinson. »Sie ist natürlich auch hier, nicht wahr? Wie konnte ich nur Irene...« Sie sprach nicht weiter, sondern hob warnend den
Zeigefinger. »Kommt da nicht ein Auto? Anscheinend habe ich mich doch getäuscht. Adele muss mit dem zweiten Bus gekommen sein, und Michael bringt sein Frauchen jetzt nach Hause.«
Quinn sah die Autoscheinwerfer herankommen. Das konnte nicht Michael Parrys Wagen sein - oder der Bus war etwas früher angekommen, und Parry war wie ein Verrückter gefahren. Dass seine Frau sich überhaupt zu ihm ins Auto setzte! Sie musste doch merken, in welchem Zustand er sich wieder einmal befand...
»Ich hoffe nur, dass Adele weiß, warum ich hier bin«, fuhr Ariadne fort. »Ich hab’s nämlich völlig vergessen!« Sie runzelte die Stirn. »Das kann unmöglich Adele sein«, stellte sie mit einem Blick auf ihre Uhr fest. »Der zweite Bus ist eben erst angekommen.«
Der Wagen hielt vor dem Haus. Quinn stellte fest, dass das Auto nicht Parrys Rover war. Ein Mann stieg aus, sah zum Himmel auf und lief zur Haustür. Im gleichen Augenblick fielen die ersten schweren Tropfen. Als der Besucher klingelte, setzte wolkenbruchartiger Regen ein.
»Aha!«, sagte Miss Wilkinson. »Also doch nicht Michael! Das ist Doktor Bossards Wagen. Ist jemand krank... oder macht er nur einen Besuch bei Freunden?«
»Ich bin froh, dass es doch etwas gibt, das Sie nicht wissen«, stellte Carole fest. »Ich dachte schon...«
»Das hat Zeit bis später«, unterbrach Ariadne sie. »Der arme Doktor Bossard wird patschnass, wenn Sie ihn nicht bald hereinlassen.«
Carole war bereits an der Tür. »Guten Abend, Doktor«, begrüßte sie den Mann. »Sie haben gerade noch Glück gehabt! Schrecklich, nicht wahr?«
»Ja«, stimmte der Arzt zu, »aber die Farmer können zufrieden sein - wenn sie das je sind...«
Dr. Bossard war ein schlanker, großgewachsener Mann Mitte Vierzig; er sah gut aus, trat selbstbewusst auf und wirkte trotzdem nicht eingebildet. Er schüttelte Quinn lächelnd die Hand und nickte Neil Ford zu. »Freut mich, Sie wieder einmal zu sehen. Und wie geht’s Ihrer Frau?«
»Sagen Sie ihm das lieber nicht, sonst schickt er Ihnen am Monatsende eine Rechnung!«, warf Ariadne Wilkinson ein.
Bossard erwiderte Quinns Grinsen. »Einer der Nachteile meines Berufs ist es, dass ich mir immer wieder die gleichen Witze anhören muss«, erklärte er ihm. »Geht es Ihnen etwa ähnlich?«
»Nein, zum Glück nicht«, antwortete Quinn. »Ich bin Reporter der Morning Post, und über Journalisten gibt es weniger Witze.«
»Endlich etwas Neues!«, meinte der Arzt. »In Castle Lammering sind schon alle möglichen Leute gewesen, aber Sie sind der erste Reporter, den ich hier treffe.« Er lächelte Carole zu. »Das stimmt doch, nicht wahr?«
»Na, wer hätte das gedacht?«, warf Miss Wilkinson ein. »Wir haben einen echten Journalisten unter uns. Sie und Michael Parry werden sich bestimmt gut unterhalten. Er ist nämlich auch Schriftsteller, wissen Sie. Bisher hat er zwar noch nichts veröffentlicht, aber er arbeitet fleißig an einem Buch. Ich möchte wetten, dass er uns eines Tages alle verblüffen wird.«
Der Regen hatte etwas nachgelassen. Quinn sah nach draußen. Das Gewitter schien an Castle Lammering vorbeizuziehen.
»Mr. Parry und ich haben nicht viel gemeinsam«, stellte Quinn fest. »Ich glaube nicht, dass ich ein Buch schreiben könnte. Andererseits bezweifle ich auch, ob er meine Arbeit tun könnte.«
Ariadne Wilkinson lachte. »Die erste Behauptung zeigt Ihre Bescheidenheit, und an der zweiten kann kein Zweifel bestehen.« Sie wandte sich an Bossard. »Sind Sie privat oder beruflich gekommen, Doktor?«
»Oh, privat, ich hoffe es wenigstens. Mrs. Parry hat mich für heute Abend eingeladen.«
»Aber sie ist nicht hier. Ich wollte sie kurz sprechen, sie ist noch nicht zurück.«
»Ich wusste nicht, dass sie fort war«, sagte Bossard.
»Doch, sie sollte um zehn nach acht in Blandford ankommen, aber anscheinend...«
Das Telefon klingelte.
»Ich gehe gleich hin«, meinte Neil Ford hastig. »Vielleicht ruft Adele an, um...«
Er griff nach dem Hörer. Dr. Bossard stand mit Carole Stewart am Fenster und sprach halblaut auf sie ein. Miss Wilkinson beobachtete die beiden gespannt. Quinn litt wieder unter dem unangenehmen Gefühl, nicht hierher zu gehören.
»Hallo?«, sagte Neil Ford. »Nein, noch nicht, wir haben nichts von ihr gehört, ja, ganz recht. Sehr merkwürdig. Hast du mit dem Busfahrer gesprochen? Vielleicht hat er zufällig...« Er hörte längere Zeit zu. »Ich weiß auch nicht, was ich dir raten soll, ja, natürlich machst du dir Sorgen. Am besten kommst du hierher zurück. Es hat schließlich keinen Zweck, in Blandford herumzuhocken. Wenn du willst, rufe ich in Wood Lake an und frage...« Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. »Du kannst natürlich selbst anrufen«, meinte er beleidigt. »Ich wollte dir nur die Mühe abnehmen. Nein, was sollte nicht in Ordnung sein? Alles ist bestimmt ganz harmlos. Vielleicht hat sie jemand gebeten, uns anzurufen, und das ist versehentlich unterblieben. Okay, bis bald.«
Ford legte auf, sah zu Carole hinüber und züchte mit den Schultern. »Adele war auch nicht im zweiten Bus. Michael ist ziemlich aufgeregt. Er bildet sich alles Mögliche ein.« Er wandte sich an Bossard. »Hatten Sie den Eindruck, dass meine Schwägerin erst spät zurückkommen wollte, als sie Sie eingeladen hat, Doktor?«
»Nein«, antwortete der Arzt. »Ich wusste gar nicht, dass sie wegfahren wollte.«
Carole schwieg. Sie sah Bossard nach, als er sich setzte.
Ariadne Wilkinson trat näher an Quinn heran und murmelte: »Vielleicht ist das eine Story für Sie. Reiche und schöne Frau verschwunden. Wäre das nichts?«
»Sie unterschätzen den Nachrichtenwert dieser Sache«, erklärte Quinn ihr. »Leute sind nicht gleich verschwunden, nur weil sie ein bisschen später als geplant nach Hause kommen. Vielleicht hat ihr Mann sich geirrt, und sie wollte erst morgen zurückkommen. Das hat es alles schon gegeben.«
»Besonders bei Michael Parry«, stimmte Miss Wilkinson zu. »War er vorhin wieder angetrunken?«, fragte sie leise und mit Verschwörermiene.
»Durchaus nicht«, wehrte Quinn ab. »Mr. Parry war sehr nett, sehr gastfreundlich. Wir haben nur ein paar Minuten miteinander gesprochen, aber in dieser Zeit hatte ich einen sehr guten Eindruck von ihm. Ich finde ihn sympathisch.«
»Das freut mich«, warf Carole ein.
Ihr Blick erinnerte Quinn an vorhin, als sie ihn flüchtig geküsst hatte. Aber das bedeutete nicht viel, wenn es überhaupt etwas bedeutete. Er konnte nicht hoffen, mit einem Mann wie Dr. Bossard konkurrieren zu können.
Er sieht gut aus, ist elegant angezogen, hat eine erstklassige Erziehung gehabt und scheint wohlhabend zu sein, dachte Quinn. Was bleibt da zu wünschen übrig? Vorhin hat er versucht, mit Carole zu sprechen, als Ford telefoniert hat - aber sie hat kaum geantwortet. Merkwürdig. Wie lange die beiden sich wohl schon kennen? Er scheint recht nett zu sein - nicht so unausgeglichen wie Parry, so streitsüchtig wie Neil Ford oder so unsympathisch wie diese Miss Wilkinson.
Quinn hörte Bossard sagen, unter diesen Umständen sei es wohl besser, wenn er wieder nach Hause fahre. Vielleicht könne ihn jemand am nächsten Tag anrufen, um ihm zu sagen, ob sich alles in Wohlgefallen aufgelöst habe. Obwohl der Arzt dabei niemanden ansah, wusste Quinn ganz sicher, dass er Carole meinte. Er war offenbar nur ihretwegen hergekommen.
Aber sie scheint sich nichts aus ihm zu machen, überlegte Quinn sich. Warum eigentlich nicht? Er sieht gut aus, ist nett und hat anscheinend Geld - aber er könnte natürlich verheiratet sein. Ob sie das stören würde? Sie hat schließlich zugegeben, dass sie früher mit einem Mann zusammengelebt hat. Vielleicht will sie Bossard nur ein bisschen zappeln lassen. Diese Masche ist oft erstaunlich wirksam. Er scheint tatsächlich in sie verknallt zu sein. Was er wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass meine Unterwäsche, die Socken und das Hemd, das ich jetzt trage, einem Mann gehören, mit dem Carole zusammengelebt hat, bis er eines Tages verschwand, ohne seine Sachen mitzunehmen.
Bossard hatte noch gezögert, als hoffe er, jemand werde ihn zum Bleiben auffordern. Aber Neil Ford nickte nur, und Carole sah auf ihre gefalteten Hände hinab.
Der Arzt stand auf, sah lächelnd zu Miss Wilkinson hinüber und fragte: »Soll ich Sie nach Hause bringen?«
»Oh, das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte Ariadne, »aber Miss Stewart hat mir schon angeboten, mich nach Hause zu fahren, und ich wollte...«
»Machen Sie sich deswegen nur keine Sorgen«, unterbrach Carole sie. »Wenn Doktor Bossard in die gleiche Richtung muss...«
»Ich bringe Miss Wilkinson gern nach Hause«, stellte der Arzt fest.
»Danke, das ist sehr nett von Ihnen«, antwortete sie, ohne den Versuch zu machen, ihre Enttäuschung zu verbergen. Sie warf Quinn einen spöttischen Blick zu. »Sehen Sie, was passiert, wenn man älter wird und nirgends mehr erwünscht ist? Aber ich bin Doktor Bossard natürlich trotzdem dankbar, weil er...«
Irgendwo im ersten Stock kreischte eine Frau so laut und entsetzt, dass selbst Miss Wilkinson unwillkürlich schwieg. Sie erstarrte mit offenem Mund zur Bewegungslosigkeit. Auch die anderen standen wie gelähmt, bis Neil Ford heiser fragte: »He, was war das?«
Oben erklangen hastige Schritte. Quinn sah Irene Ford an der Treppe auftauchen. Sie starrte mit weit aufgerissenen Augen zu ihnen hinab und war völlig außer Atem.
»Mein Gott... oh, mein Gott!«, stieß sie hervor. »Adele! Sie liegt im Kinderzimmer. Bitte helft ihr... bitte...«
Dr. Bossard lief zur Treppe. »Ich komme schon!«, rief er Mrs. Ford zu. »Bleiben Sie, wo Sie sind!«
Sie schien ihn nicht mehr zu hören. Bevor er die unterste Stufe erreichte, begann sie zu schwanken. Dann gaben ihre Knie nach, und sie brach dicht vor der Treppe zusammen.
Viertes Kapitel
Quinn blieb Bossard und Ford dicht auf den Fersen, als sie in den ersten Stock hinaufeilten. Während die beiden sich um Mrs. Ford kümmerten, ging er den Flur entlang weiter.
Die beiden ersten Türen führten in Schlafzimmer. In einem brannte Licht, und Quinn sah einen Koffer auf dem Bett liegen. Neil Fords Koffer.
Das nächste Zimmer war größer, enthielt ein breites Doppelbett und war eleganter möbliert. Eine Hälfte des Betts sah benützt aus. Von der anderen war die Decke abgezogen und achtlos auf den Boden geworfen worden.
Die nächste Tür führte in ein luxuriöses Bad. Dann kam ein anderer Raum, dessen Tür weit offenstand. Auch dort brannte Licht.
Quinn blieb auf der Schwelle dieses Zimmers stehen. Die Wände waren mit Märchenszenen bemalt. Er sah einen Laufstall, ein Schaukelpferd, Spielzeug und bunte Kindermöbel. Nur das Bett hinter der Tür hatte normale Größe.
Auf diesem Bett lag die schönste Frau, die Quinn je gesehen hatte: eine rothaarige Schönheit, die dort zu schlafen schien. Sie war vollständig bekleidet; nur ihre Schuhe standen am Fußende des Bettes auf dem Teppich. Quinn widerstrebte es, sich zu bewegen oder etwas zu sagen, weil sie davon hätte aufwachen können. Er hatte das Gefühl, sie werde ewig so liegenbleiben, wenn er sie nicht störe - wie Schneewittchen.
Quinn hörte Neil Ford und Dr. Bossard sprechen. Ariadne Wilkinson fragte von unten her, ob sie helfen könne. Aber Carole wehrte ab: »Nein, wir brauchen keine Hilfe. Bleiben Sie nur, wo Sie sind. Wir kommen ganz gut zurecht.« Dann fügte sie leiser hinzu: »Adele braucht anscheinend auch Hilfe, Geoffrey. Ich bleibe mit Mr. Ford bei seiner Frau.«
Geoffrey... Geoffrey... Quinn dachte über diesen Namen nach. Ob er ihn mit G oder J schreibt? Ist das überhaupt wichtig? Die beiden haben sich benommen, als seien sie nur flüchtig miteinander bekannt - doch in der Aufregung hat Carole sich verraten...
Aber das war unwichtig. Im Augenblick war nur die Frau wichtig, die in diesem Kinderzimmer auf dem Bett lag. Ihre Augen waren geschlossen, die Lippen leicht geöffnet. Quinn wusste nicht, ob sie lebte oder tot war. Er trat vorsichtig an das Bett und berührte ihre Hand. Sie war kühl, aber nicht kalt.
Dann verflog plötzlich die Illusion, und Quinn sah die eingesunkenen Wangen, den herabsinkenden Unterkiefer und die beginnende Verfärbung um Nase und Mund. Ihm wurde klar, dass er keine Schlafende, sondern eine Tote vor sich hatte. Aber seine Täuschung war begreiflich, weil keine Verletzungen zu erkennen waren: nichts als das Siegel des Todes auf ihrem Gesicht.
Quinn trat vom Bett zurück, als er Schritte im Flur hörte. Dr. Bossard kam herein. Er starrte die Tote an und schüttelte den Kopf. »Verdammt merkwürdig«, murmelte er dabei. »Das begreife ich nicht!«
»Jedenfalls ist sie tot«, stellte Quinn fest. »Woran sie gestorben ist, müssten Sie herausbekommen können. Sie hat keine äußeren Verletzungen erlitten.«
»Das stellt sich noch heraus.« Dr. Bossard beugte sich über die Tote, zog ihr linkes Augenlid hoch und leuchtete mit einer kleinen Taschenlampe in ihre Pupille. »Das muss sich erst heraussteilen.« Er roch an ihrem Mund, murmelte etwas vor sich hin und benützte nochmals seine Taschenlampe. Dann schüttelte er den Kopf.
Quinn wandte sich ab und starrte den Nachttisch an. Vielleicht war die Antwort dort zu finden. Vielleicht würde Dr. Bossard nicht lange suchen müssen. Auf dem Tischchen stand ein Cognacglas, das noch zwei gelbe Kapseln enthielt, die fingerhoch mit einer bernsteingelben Flüssigkeit bedeckt waren.
Das Zeug lässt sich mühelos analysieren, falls sie zu viel davon geschluckt hat, dachte Quinn. Ob Bossard das Glas schon gesehen hat? Es steht etwas hinter der Lampe - aber es ist doch auffällig genug. Vorläufig muss er sich um Mrs. Parry kümmern, obwohl kaum zu bezweifeln ist, dass sie nicht mehr lebt. Das merkt man sogar als Laie...
Dr. Bossard murmelte wieder etwas vor sich hin. Quinn hörte Carole und Ford miteinander sprechen. Dann war auch Irenes Stimme zu hören. Sie fragte immer wieder etwas, das Quinn nicht verstand. Er dachte plötzlich an Michael Parry.
Das wird ein ziemlicher Schock für ihn. Sie muss eine Schönheit gewesen sein. - Warum er wohl zu trinken begonnen hat, obwohl er eine schöne Frau und keine Geldsorgen hatte? Vielleicht war er schon ein Alkoholiker, bevor er Adele geheiratet hat - aber dann hätte sie ihn doch nicht genommen. Mit ihrem Geld und ihrer Schönheit muss sie die Wahl zwischen Dutzenden von Männern gehabt haben. Warum sie sich dann ausgerechnet für Michael Parry entschieden hat?
Bossard trat vom Bett zurück. Er betrachtete jetzt das Glas auf dem Nachttisch. Sein Gesichtsausdruck war ernst, aber Mrs. Parrys Tod schien ihm nicht sonderlich nahezugehen.
Eigentlich müsste man ihm doch eine gewisse Erschütterung anmerken, dachte Quinn irritiert. Schließlich muss er Mrs. Parry gut gekannt haben - sonst wäre er nicht hierher eingeladen worden. Aber als Arzt muss man solche Dinge anscheinend unpersönlicher sehen. Das ist das Geheimnis der klinischen Betrachtungsweise. Wer Medizin studiert, ist schon anders als gewöhnliche Menschen oder wird es dabei. Ärzte hüten sich davor, Gefühle zu zeigen.
Dann hörte er Weinen aus dem Schlafzimmer an der Treppe.
Mrs. Ford reagiert da ganz anders, überlegte Quinn sich. Sie lässt ihren Gefühlen freien Lauf. Ich weiß nicht, ob sie sehr an ihrer Schwägerin gehangen hat, aber es war bestimmt kein Vergnügen, hier hereinzukommen und Adele als Schneewittchen auf dem Bett vorzufinden...
Was hier passiert war, schien eindeutig rekonstruierbar zu sein; die Polizei würde keine Schwierigkeiten haben, die näheren Umstände dieses Falls zu klären.
Adele muss zurückgekommen sein, als niemand zu Hause war, dachte Quinn, und hat ein Glas Cognac getrunken, der mit irgendeinem Gift versetzt war. Aber warum ist sie nach Hause gekommen, um zu sterben? War sie schon hier oben, als Michael aus seinem Pub zurückgekommen ist? Oder hat sie ihn bei ihrer Ankunft im Schlafzimmer vorgefunden, wo er seinen Rausch ausgeschlafen hat?
Im Flur klapperten Absätze. Anscheinend war Carole hierher unterwegs. Dr. Bossard sah zu Quinn hinüber und schüttelte warnend den Kopf. Quinn nickte geistesabwesend.
Ich verstehe nur nicht, weshalb beide Betten in Unordnung sind. Michael Parry kann nur in einem geschlafen haben, aber beide sehen benützt aus. Warum beide? Ist sie erst dort gewesen, hat sich die Sache dann anders überlegt und ist hierhergekommen? Oder war etwa noch jemand hier im Haus?
Dieser Gedanke beschäftigte ihn, weil er alle anderen Überlegungen umwarf.
Vielleicht hat Michael überhaupt nicht geschlafen. Vielleicht ist Adele von Bett zu Bett gegangen, bis sie das bequemste gefunden hatte - wie Goldlöckchen. Die Geschichte mit den drei Bären scheint hier an den Wänden des Kinderzimmers nicht dargestellt zu sein...
Eine bizarre Idee. Quinn befasste sich noch immer damit, als Carole an der Tür stehenblieb. Sie war auffällig blass und fragte leise: »Ist sie tot?«
»Ja«, antwortete Quinn.
»Aber wie ist das passiert? Was wollte sie hier?«
»Das sind nur zwei von vielen Fragen, die in nächster Zeit beantwortet werden müssen«, sagte Quinn.
»Kann ich sie sehen?«
»Hier gibt es nichts zu sehen«, erwiderte Dr. Bossard hinter der offenen Tür, »und Sie wären hier nur im Weg. Kümmern Sie sich lieber um Mrs. Ford. Wenn sie sich nicht bald beruhigt, gebe ich ihr ein Schlafmittel.«
Carole widersprach nicht. Sie nickte Quinn zu und ging wieder.
Bossard kam hinter dem Bett hervor. »Würden Sie mir einen Gefallen tun, Mr. Quinn?«
»Selbstverständlich.«
»Gehen Sie bitte nach unten und rufen Sie die Polizei an, ohne die anderen allzu sehr zu beunruhigen. Lassen Sie sich mit Inspektor Elvin verbinden. Erzählen Sie ihm, was passiert ist. Sagen Sie ihm, dass ich hier oben bleibe, damit nichts verändert wird. Das genügt vorläufig, glaube ich.«
»Nein«, antwortete Quinn. »Wie soll ich ihm schildern, was passiert ist, wenn ich es selbst nicht weiß?«
Dr. Bossard runzelte die Stirn. »Sie wissen genug«, behauptete er.
»Keineswegs«, widersprach Quinn.
»Genug reicht nicht, Doktor. Da dieser Fall ohnehin nicht geheimgehalten werden kann, möchte ich gleich wissen, wann und woran sie gestorben ist.«
Bossard machte ein abweisendes Gesicht. »Ich kann vorläufig nur Vermutungen anstellen. Zuverlässige Ergebnisse liefert erst die Obduktion.«
»Das ist mir klar«, stimmte Quinn zu. »Mir genügen vorerst Ihre Vermutungen.«
»Aber Sie zitieren mich doch nicht namentlich?«
»Selbstverständlich nicht, Doktor. Ich stelle Ihnen diese Fragen ohnehin nicht als Reporter. Ich habe eigentlich Urlaub - aber ich bin von Natur aus neugierig.«
»Etwas kann ich Ihnen schon jetzt sagen«, fuhr Bossard fort. »Dieser Fall ist keineswegs irgendwie geheimnisumwittert.«
»Da täuschen Sie sich, Doktor! An der Sache ist irgendetwas faul. Hier sind so viele Fragen offen, dass die Polizei gar nicht wissen wird, wo sie anfangen soll. Ich kann Ihnen gleich eine stellen. Wie lange ist Mrs. Parry schon tot?«
Der Arzt machte eine abwehrende Handbewegung. »Über solche Dinge darf ich nicht mit Ihnen sprechen, Mr. Quinn. Die Tote war meine Patientin, und ich sehe keinen Anlass, Ihre Neugier zu befriedigen, nur damit Sie... Außerdem handelt es sich hier um Fragen, die nur die Polizei etwas angehen.« Bossard lächelte plötzlich, als wolle er sich für seine schroffe Art entschuldigen. »Falls die Polizei Sie natürlich über das Ergebnis der ersten Untersuchung informiert...«
»Sie bestehen darauf, mich als Reporter zu behandeln«, stellte Quinn fest. »Dabei bin ich als Gast hier.«
»Sie benehmen sich aber nicht wie einer, wenn ich Ihnen das ganz offen sagen darf«, antwortete Bossard. »Es ist nicht sehr taktvoll, sich in die Angelegenheiten von Leuten einzumischen, die von einer Tragödie dieser Art betroffen sind.«
Quinn merkte, dass es zwecklos war, den Arzt umstimmen zu wollen. »Sie haben natürlich recht, Doktor«, gab er zu. »Ich müsste zurückhaltender sein - aber das ist eben der Reporter in mir. Anstatt noch mehr zu fragen, gehe ich jetzt nach unten und rufe die Polizei an.« Er drehte sich noch einmal um. »Was soll ich sagen, falls Mrs. Ford mich nach ihrer Schwägerin fragt?«
»So wenig wie möglich. Sie weiß bereits, dass Mrs. Parry tot ist. Alles Weitere...« Bossard sah auf die Tote hinab. »Den Rest erfährt sie noch früh genug - wie die anderen auch.«
Bossard starrte noch immer Adele Parry an, als Quinn davonging. Aus dem ersten Schlafzimmer drang Irene Fords Stimme: »Das ist einfach ungerecht! Sie hat das Leben so geliebt. Das verstehe ich einfach nicht...« Dann übertönte ein anderes Geräusch einen Augenblick lang ihre weinerliche Tirade: ein Klicken, als die Tür des Kinderzimmers geschlossen wurde.
Quinn hatte eben die Polizei benachrichtigt, als ein Auto vorfuhr. Parry kam herein. Er schien jetzt völlig nüchtern zu sein.
»Ist das Doktor Bossards Wagen dort draußen?«, erkundigte er sich. »Wann ist er gekommen?«
»Erst vor kurzem.«
»Wo ist er? Und wo sind die anderen?«
»Carole und die Fords sind oben«, antwortete Quinn vorsichtig. »Mrs. Ford fühlt sich nicht wohl.«
»Oh, das tut mir aber leid. Hoffentlich ist es nichts Ernsthaftes. Ist Doktor Bossard deshalb hier?«
»Nein, er ist nur zufällig vorbeigekommen und wollte kurz hereinschauen. Er wollte eigentlich schon...«
»Mir geht es selbst nicht sonderlich«, warf Parry ein. »Ich mache mir Sorgen, wissen Sie. Diese Sache bringt mich ganz durcheinander. Meine Frau war auch nicht in dem zweiten Bus. Sie hat nicht zufällig hier angerufen?«
»Nein. Aber ich muss Ihnen etwas sagen - wenn Sie sich zuerst setzen wollen...«
»Was soll das heißen?«, erkundigte Parry sich unbehaglich und zugleich etwas ängstlich. »Was haben Sie mir zu sagen? Was geht hier vor?«
»Ihre Frau ist hier«, sagte Quinn.
Parry starrte ihn an. »Unsinn! Wie kann sie hier sein, wenn sie nicht mit dem Bus gekommen ist?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich weiß auch nicht, wann sie gekommen ist. Sie ist oben. Doktor Bossard ist bei ihr.«
»Ist sie...«, begann Parry. »Ist sie krank?« Aber er wartete Quinns Antwort nicht ab, sondern murmelte vor sich hin: »Sie ist hier, aber Sie wissen nicht, wann sie gekommen ist, und Bossard ist bei ihr...« Er bedeckte die Augen mit der Hand und ließ sich in einen Sessel fallen. Dann sah er zu Quinn auf. »Das begreife ich alles nicht. Sie ist krank - das wollten Sie doch sagen, nicht wahr?«
Quinn schüttelte den Kopf. »Sie ist tot, Mr. Parry.«
Parry öffnete den Mund. »Das kann ich nicht glauben«, flüsterte er heiser. »Das kann nicht wahr sein. Das ist bestimmt nur ein schlechter Traum! Adele war kerngesund. Sie ist nie auch nur einen Tag krank gewesen. Wie kann sie plötzlich tot sein?«
»Ich bin kein Arzt, deshalb kann ich Ihre Frage nicht beantworten«, sagte Quinn. »Ich weiß nur, dass sie tot war, als wir sie gefunden haben.«
»Wo?«, fragte Michael Parry mit erstickter Stimme. »Wo war sie?«
»Sie hat im Kinderzimmer auf dem Bett gelegen.«
»Was wollte sie dort?«, murmelte Parry vor sich hin.
»Das muss die Polizei herausbekommen«, antwortete Quinn. »Ich habe sie eben benachrichtigt.«
»Die Polizei? Ich weiß nicht, was...« Er sprach den Satz nicht zu Ende, sondern nickte langsam. »Ja, natürlich. Anders geht es nicht. Das hätte mir klar sein müssen. Aber ich bin noch so durcheinander.« Er strich sich seinen Bart. »Wer - wer hat meine Frau entdeckt?«
»Mrs. Ford.«
»Wie ist es dazu gekommen? Sonst geht doch niemals jemand ins Kinderzimmer. Es steht seit Jahren leer.«
»Ich habe sie noch nicht danach gefragt«, antwortete Quinn. »Sie hat einen hysterischen Anfall bekommen und ist oben an der Treppe ohnmächtig geworden.«
Parry bedeckte wieder die Augen mit einer Hand. »Woran ist Adele nach Doktor Bossards Meinung gestorben?«, fragte er leise.
»Das wollte er mir nicht sagen«, erwiderte Quinn. »Er weiß es entweder nicht - oder findet, dass es mich nichts angeht. Aber sie scheint jedenfalls schmerzlos gestorben zu sein. Vielleicht ist Ihnen das ein Trost, sobald Sie den ersten Schock überwunden haben.«
Parry sah zu ihm auf. »Sie haben sie gesehen?«, erkundigte er sich.
»Ja, ich bin als erster nach Mrs. Ford im Kinderzimmer gewesen. Aber Bossard hat mich wieder hinausgeschickt.«
»Glauben Sie...«, begann Parry unsicher. »Glauben Sie, dass er mich zu ihr lässt - nur einen Augenblick?«
»Wie sollte er Sie daran hindern können?«, fragte Quinn. »Ich rate Ihnen allerdings, nach oben zu gehen, bevor die Polizei kommt.«
Parry schien sich nicht entscheiden zu können. Er stand auf, blieb doch wieder stehen und sah zögernd zur Treppe hinüber. »Nein, lieber nicht gleich. Vielleicht etwas später. Das hat schließlich keine Eile, nicht wahr?«
»Sie müssen wissen, was Sie wollen«, erklärte Quinn ihm. »Ob Sie jetzt oder später zu ihr gehen, ändert auch nichts mehr.«
»Richtig. Sie ist tot...« Parry setzte sich und ließ die Hände zwischen den Knien herabhängen. »Sie ist tot, und ich kann nichts daran ändern.« Er sah wieder zu Quinn hinüber. »Weiß Doktor Bossard, wann sie gestorben ist?«
»Falls er es weiß, will er nicht damit herausrücken. Wie ich die Sache sehe, war sie vermutlich schon tot, als Carole und ich angekommen sind.«
»Das begreife ich alles nicht«, sagte Parry ausdruckslos. »Sie war nicht zu Hause, als ich gegen halb drei zurückgekommen bin; folglich muss sie später nach Hause gekommen sein. Warum hat sie mich nicht geweckt, wenn sie sich nicht wohl fühlte? Und warum hat sie mich nicht schon vorher angerufen, um sich in Blandford oder Salisbury abholen zu lassen? Es ist doch unsinnig, dass sie ins Haus geschlichen sein soll, während ich hier war, und dass sie mich nicht geweckt hat...«
Quinn nickte langsam. »Ich glaube, dass Sie sich mit der Möglichkeit beschäftigen müssen, dass Ihre Frau keines natürlichen Todes gestorben ist.«
Parry starrte ihn an. »Weiter!« forderte er Quinn auf. »Was wissen Sie noch? Sagen Sie endlich, was Sie zu sagen haben!«
»Auf ihrem Nachttisch hat ein Glas mit Cognac und zwei gelben Kapseln gestanden. Ich weiß nicht, was sie enthalten, aber...«
»Das ist ein Schlafmittel«, unterbrach Parry ihn. »Doktor Bossard hat es Adele verschrieben. Sie hat gelegentlich eine Kapsel genommen. Jetzt wird mir allmählich klar, was...« Er holte tief Luft. Dann schüttelte er den Kopf, als habe er nichts hinzuzufügen.
»Was wird Ihnen klar?«, fragte Quinn.
»Warum sie im Kinderzimmer war. Es ist nie benützt worden. Sie hat alles so gelassen, wie es damals war, als das Baby gestorben ist.« Parry runzelte die Stirn. »Der Kleine war nur ein paar Monate alt. Sie ist nie darüber hinweggekommen.«
»Wann war das?«, erkundigte Quinn sich.
»Vor fünf - nein, vor etwas über sechs Jahren. Adele hat kurz danach ihren ersten Mann verloren.« Parry dachte nach. »Ich habe sie etwa eineinhalb Jahre später kennengelernt. Wir waren schon sechs Wochen später verheiratet, wissen Sie.«
Quinn hörte kaum zu, weil er sich wieder an die beiden Betten und das Gesicht der Toten erinnerte. Ist sie in das Kinderzimmer gegangen, um dort zu sterben, wo sie von Erinnerungen an ein allzu kurzes Glück umgeben war? Aber das wäre keine Erklärung dafür, warum sie das andere Bett in dem anderen Zimmer benützt hat - wenn sie es wirklich war. Hat sie ein Bett für ihren letzten Schlaf gesucht? Und wie heißt es in dem Märchenbuch? Dann wachte Goldlöckchen auf und sah die drei Bären und fürchtete sich sehr. Sie sprang aus dem Bett und kletterte durchs Fenster und lief nach Hause zu ihrer Mutter.
Aber Adele Parry hatte doch nichts zu fürchten - nur das Leben selbst. Vielleicht ist sie unter einem unglücklichen Stern zur Welt gekommen? Hat sie den Tod ihres Kindes und den ihres ersten Mannes nicht verwinden können? Hat sie versucht, einen neuen Anfang zu machen - und ist dabei wieder enttäuscht worden, weil ihr zweiter Mann sich als Säufer entpuppte? Vielleicht war das einfach zu viel für sie; vielleicht hat ihre Enttäuschung heute Nachmittag den Höhepunkt erreicht?
Sie hat ihren Mann betrunken schnarchend im Ehebett entdeckt-. Das kann nicht zum ersten Mal gewesen sein - aber es hat ihr den Rest gegeben. Die Polizei dürfte nicht viel Arbeit haben...
Aber zwei Dinge sprachen dagegen: Die Polizei würde herausbekommen müssen, warum Mrs. Parry einige Stunden früher als geplant zurückgekommen war, und sie würde klären müssen, weshalb sie zuerst das Bett im Schlafzimmer benützt hatte, um erst dann ins Kinderzimmer zu gehen.
Michael Parry starrte seine Fußspitzen an. »Sie hat mich nicht geweckt, als sie nach Hause gekommen ist«, sagte er, als habe er Quinns Gedanken erraten. »Sie hat mir auch nicht gesagt, dass sie früher zurückkommen wollte. Das verstehe ich nicht!«
Er wirkte nicht übermäßig bekümmert. Auf die Nachricht vom Tod seiner Frau hatte er betroffen, aber nicht erschüttert, verwirrt, aber nicht traurig reagiert. Jetzt benahm er sich wie ein Mann, der über ein kniffliges Problem nachdenkt, das er ganz unpersönlich sieht.
»Kann sie heute Nachmittag vor Ihnen zurückgekommen sein?«, wollte Quinn wissen.
Parry schüttelte den Kopf. »Mrs. Gregg - das ist unsere Zugehfrau - geht erst nach ein Uhr, und ich bin um Viertel nach drei zurückgekommen.«
»Aber das bedeutet doch, dass das Haus mindestens zwei Stunden leergestanden hat?«
»Richtig«, stimmte Parry zu. »Aber ich versichre Ihnen, dass meine Frau nirgends zu sehen war, als ich das Haus betreten habe.«
»Vielleicht haben Sie sie nur nicht gesehen - wenn Sie geradewegs nach oben gegangen sind. Sie können nicht wissen, ob jemand im Haus war; Sie nehmen es nur an, weil Sie keinen Laut gehört haben.«
Michael Parry schluckte mehrmals. »Glauben Sie, dass sie im Kinderzimmer war?«
»Das ist durchaus möglich«, antwortete Quinn. »Schließlich sind Sie nicht in diesem Raum gewesen. Warum hätten Sie ihn auch betreten sollen?«
»Ja, aber...« Michael zögerte, bevor er hinzufügte: »Aber sie muss absichtlich leise gewesen sein, und ich verstehe nicht...«
»Sie wollte nicht gefunden werden, bevor es zu spät war«, behauptete Quinn.
Michael Parry sah wieder zu Boden. Im ersten Stock wurde eine Tür geöffnet und geschlossen. Schritte kamen den Flur entlang. Eine andere Tür ging auf. Dann wurden zwei Stimmen hörbar.
»Nein, Miss Wilkinson, hier können Sie nicht herein«, sagte Dr. Bossard. »Die Polizei muss gleich kommen, und außerdem gibt es nichts zu sehen. Ich schlage vor, dass Sie nach Hause gehen. Ich will nicht unhöflich sein, aber Sie sind hier nur im Weg.«
Die andere Stimme gehörte Ariadne Wilkinson. »Seien Sie doch vernünftig, Doktor!« forderte sie Bossard auf. »Wie soll ich denn nach Hause kommen? Wissen Sie nicht mehr, dass Sie mich mitnehmen wollten? Ich warte gern, bis Sie fertig sind.«
»Sie wissen genau, dass Sie hier nur lästig sind, Miss Wilkinson!«, antwortete Bossard scharf. »Ich muss wahrscheinlich ziemlich lange hierbleiben. Draußen regnet es übrigens nicht mehr.«
»Aber...«
»Ein kleiner Spaziergang tut Ihnen bestimmt gut«, unterbrach Bossard sie. »Bewegung macht schlank. Versuchen Sie nicht immer, Ihr Übergewicht loszuwerden?«
»Sie sind ein Schuft, Doktor, ein richtiger Schuft!«, behauptete Miss Wilkinson. »Was ist schon dabei, wenn ich einen Blick auf eine alte Freundin werfe, bevor sie abgeholt wird?«
»Kommt nicht in Frage. Sie können ja zur Beerdigung gehen. Gute Nacht, Miss Wilkinson!«
Quinn hörte, dass die Tür im ersten Stock nachdrücklich geschlossen wurde. Dann kam Ariadne Wilkinson die Treppe herunter. »Na, wie finden Sie das?«, fragte sie Quinn empört. »Hätten Sie gedacht, dass jemand eine Frau in meinem Alter zu Fuß nach Hause schickt?« Bevor er sich dazu äußern konnte, sah sie zu Parry hinüber. »Hallo, Michael. Eine traurige Sache, sehr traurig. Mein Beileid.«
Michael Parry sah nicht einmal auf. »Danke«, murmelte er leise.
»Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, brauchen Sie es nur zu sagen«, fuhr Miss Wilkinson fort. Sie ging zur Tür und sah hinaus. »Ich hasse diesen Mann«, erklärte sie Quinn. »Er hat tatsächlich recht. Aber ich garantiere Ihnen, dass es unterwegs wie aus Kübeln schüttet! Geschieht ihm ganz recht, wenn ich mir eine Lungenentzündung hole, so dass er mich dreimal täglich besuchen muss.«
Quinn sah Ariadne Wilkinson nach, als sie in der Dunkelheit verschwand. Eine merkwürdige Gestalt. Was hatte sie vorhin gesagt? »Wissen Sie, ich denke oft, dass ich dreihundert Jahre zu spät auf die Welt gekommen bin. Ich hätte eine gute Hexe abgegeben...« Eine seltsame Frau - und nicht sonderlich sympathisch.
Eigenartig, dass mir nicht aufgefallen ist, dass sie verschwunden war, als ich telefoniert habe. Wo sie wohl gesteckt hat, während Dr. Bossard und ich über den Fall gesprochen haben? Wahrscheinlich hat sie im Bad nebenan gelauscht. Leuten wie ihr entgeht so leicht nichts.
Quinn dachte nicht mehr an Ariadne Wilkinson, sondern überlegte sich, warum Irene Ford in das Kinderzimmer gegangen sein mochte. Parry hatte behauptet, es sei praktisch nie betreten worden. Aber Michael Parry war vielleicht kein sehr zuverlässiger Zeuge. Seine Frau schien kein Vertrauen zu ihm gehabt zu haben, sonst hätte er wissen müssen, dass sie früher als ursprünglich geplant nach Hause kommen wollte - falls das überhaupt stimmte und falls er wirklich nichts davon gewusst hatte. Bei Michael Parry konnte man vieles nur vermuten.
Fünftes Kapitel
Inspektor Elvin war ein magerer, drahtiger Mann mit hervortretenden Backenknochen und silbergrauen Haaren, die er ohne Scheitel nach hinten gekämmt trug. Seine Krawatte passte zu seinem dunkelblauen Anzug, sein Hemd war tadellos weiß, seine Schuhe waren frisch geputzt.
Der Kriminalbeamte, der ihn begleitete, war groß, muskulös und grobknochig. Sein breites Gesicht trug einen gutmütigen Ausdruck. Elvin stellte seinen Begleiter mit den Worten vor: »Und das hier ist Sergeant Taylor. Er kennt diese Gegend sehr gut, sonst hätten wir das Haus nicht so rasch gefunden.«
Der Sergeant nickte verlegen, murmelte etwas Unverständliches und sah dann zu einer Lampe auf, als habe er noch nie etwas Ähnliches gesehen.
Elvin warf Quinn einen Blick zu, bevor er sich an Michael Parry wandte. »Eine bedauerliche Sache - höchst bedauerlich, Mr. Parry. Ich will Sie nicht mehr als unbedingt nötig belästigen, aber ich muss bestimmte Nachforschungen anstellen. Dafür haben Sie gewiss Verständnis.«
»Ja, natürlich«, stimmte Michael Parry zu. »Aber ich kann Ihnen nicht viel erzählen. Das Ganze ist ein großer Schock für mich.«
»Das ist ganz natürlich, Sir. Am besten sprechen wir erst später darüber, nachdem ich einige Auskünfte von Doktor Bossard eingeholt habe.« Der Tonfall des Inspektors veränderte sich, als er jetzt Quinn ansprach: »Sie sind der Gentleman, der mich angerufen hat, nicht wahr? Haben Sie Mrs. Parry aufgefunden?«
»Nein, das war Mrs. Ford, ihre Schwägerin.«
»Und wo ist Mrs. Ford jetzt?«
»Oben im ersten Stock. Ihr Mann ist bei ihr - und Miss Stewart, eine Freundin der Familie. Die beiden leisten Mrs. Ford Gesellschaft, weil sie einen Schock erlitten hat.«
»Dann will ich sie vorläufig nicht stören. Wir haben schließlich Zeit. Doktor Bossard ist noch in dem Zimmer, in dem Mrs. Parry gefunden wurde?«
»Ja.«
»Ausgezeichnet! Würden Sie mich bitte zu ihm bringen?«
Sergeant Taylor blieb im Erdgeschoss zurück und nahm in einem Sessel Platz. Michael Parry sah nicht einmal auf, als die beiden Männer zur Treppe gingen. Er blieb hocken und starrte weiter den Fußboden an.
»Die Fords und Miss Stewart sind in diesem Zimmer«, erklärte Quinn dem Inspektor, als sie daran vorbeigingen. »Der nächste Raum ist das Schlafzimmer der Parrys.« Quinn machte eine Pause. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen, Inspektor - wenn Sie Zeit haben.«
Elvin lächelte. »Für notwendige Dinge nehme ich mir Zeit, Mr. Quinn. Ich weiß aus Erfahrung, dass man auf diese Weise schließlich sogar Zeit spart.«
Quinn führte ihn in das leere Schlafzimmer und schloss die Tür hinter ihnen. »Mr. Parry hat mir erzählt, er sei gegen halb vier nach Hause gekommen, sofort nach oben gegangen und wenig später eingeschlafen. Er scheint erst aufgewacht zu sein, als Miss Stewart und ich angekommen sind. Das war um halb acht.«
»Aha«, sagte Inspektor Elvin.
»Ich bin noch nicht fertig. Parry behauptet, bei seiner Rückkehr sei das Haus menschenleer gewesen. Seine Frau war in Wood Lake und sollte erst heute Abend zurückkommen...«
Elvin hörte aufmerksam zu. »Hmmm, eine merkwürdige Geschichte«, meinte er dann. »Sehr merkwürdig! Hat jemand sie nach Hause kommen sehen?«
»Anscheinend nicht. Aber sie muss nachmittags zurückgekommen sein. Ich glaube, dass sie schon einige Zeit tot war, als wir sie gegen neun Uhr gefunden haben, Inspektor.«
Elvin warf einen Blick auf seine Uhr. »Haben Sie Erfahrung in solchen Dingen, Mr. Quinn?«
»Ja«, antwortete Quinn.
»Wodurch?«
»Ich bin Polizeireporter der Morning Post. Im Lauf der Jahre habe ich auf diesem Gebiet einige Erfahrungen gesammelt.«
Elvin zog die Augenbrauen hoch. »Interessant, ja, sehr interessant. Und Sie vermuten also, dass Mrs. Parrys Tod andere Ursachen haben könnte, als es vielleicht den Anschein hat?«
»Das ist noch keine Vermutung, Inspektor«, wehrte Quinn ab. »Mir ist nur etwas aufgefallen - diese beiden Betten. Sie scheinen beide benützt worden zu sein.«
Der Inspektor betrachtete sie nachdenklich. »Stimmt«, meinte er dann. »Aber das ist keineswegs ungewöhnlich, Mr. Quinn. Worauf wollen Sie hinaus?«
»Wenn Parry nicht in zwei Betten geschlafen hat, muss sich jemand in diesem Zimmer hingelegt haben. Ich tippe dabei auf Mrs. Parry. Aber sie ist im Kinderzimmer tot aufgefunden worden. Deshalb habe ich mich gefragt, warum sie von einem Zimmer ins nächste gewandert sein mag. Eigentlich hätte es ihr doch gleichgültig sein können, in welchem Bett sie starb?«
Inspektor Elvin nickte langsam. »Eine gute Frage, eine sehr gute Frage. Ich habe das Gefühl, dass Sie ein guter Mann sind.«
»Manchmal«, antwortete Quinn.
»Davon bin ich überzeugt. Sobald ich mit Doktor Bossard gesprochen habe, würde ich mich gern mit Ihnen über Ihre sonstigen Ideen unterhalten.« Der Inspektor betrachtete nochmals die Betten, bevor er fragte: »Sind Sie ein alter Freund der Parrys?«
»Ich bin heute zum ersten Mal hier«, gab Quinn zu. »Miss Stewart hat mich eingeladen, das Wochenende in Elm Lodge zu verbringen. Wir waren eben erst angekommen, als Michael Parry wegfuhr, um seine Frau vom Bus abzuholen. Ich kenne ihn also kaum. Und seine Frau habe ich nur als Leiche gesehen.«
»Kein guter Anfang für ein Wochenende«, meinte Elvin. »Aber vielleicht springt dabei wenigstens noch eine Story für Sie heraus, nicht wahr?«
»Ich will keine Story«, wehrte Quinn ab. »Ich habe Urlaub. Die Zeitung muss zwei Wochen ohne meine Geistesblitze auskommen. Ich habe an diesem Fall kein berufliches Interesse. Mir ist nur Mrs. Parrys seltsames Verhalten aufgefallen.«
»Eigenartig, wirklich eigenartig«, stimmte der Inspektor zu.
»Leute, die Selbstmord begehen wollen, tun natürlich oft eigenartige Dinge.«
»Das klingt wie eine Frage«, stellte Elvin fest. Er warf Quinn einen prüfenden Blick zu. »Sie sind also misstrauisch, Mr. Quinn. Ich dachte immer, das sei Männern meines Berufs Vorbehalten.«
»Polizeireportern geht es ähnlich.«
»Das glaube ich«, stimmte Elvin zu. Er betrachtete erneut das Doppelbett und öffnete dann die Tür. »Es wird allmählich Zeit, dass ich mit Doktor Bossard spreche.«
»Hoffentlich erzählt er Ihnen mehr davon als mir«, warf Quinn ein.
»War er nicht sehr mitteilsam?«
»Ich weiß nicht einmal, ob er zugegeben hat, dass Mrs. Parry tot ist.«
»Kennt er Sie als Reporter?«
»Ja, natürlich. Inzwischen wissen es alle.«
»Damit ist bereits alles erklärt. Doktor Bossard ist der Polizeiarzt dieses Bezirks und darf sich in dieser Funktion der Presse gegenüber nicht äußern. Aber ich glaube nicht, dass seine Weigerung persönliche Gründe hat.« Inspektor Elvin nickte Quinn zu und fragte: »Würden Sie hier auf mich warten?«
»Gern - gibt es einen bestimmten Grund, dass ich nicht hinuntergehen soll? Ich könnte einen Drink brauchen.«
»Das glaube ich«, antwortete der Inspektor. »Ich halte Sie nicht länger auf als unbedingt notwendig, Mr. Quinn - darauf können Sie sich verlassen. Sobald ich eine kleine Auskunft von Doktor Bossard eingeholt habe, komme ich wieder zu Ihnen.«
»Das erklärt aber nicht, warum ich hier warten soll.«
»Doch, Mr. Quinn - Sie brauchen nur ein bisschen darüber nachzudenken.«
»Denken macht mich müde«, behauptete Quinn. »Warum beantworten Sie nicht einfach meine Frage?«
»Gut, wie Sie wollen. Ich möchte verhindern, dass jemand etwas in diesem Raum verändert, bevor ich Gelegenheit gehabt habe, ihn zu durchsuchen.«
»Warum haben Sie dann Vertrauen zu mir?«, fragte Quinn erstaunt.
»Nur aus einem Grund«, antwortete der Inspektor. »Sie sind hier fremd, Mr. Quinn. Deshalb glaube ich, dass ich mich auf Sie verlassen kann.« Bevor er die Tür schloss, fügte er hinzu: »Und ich hoffe sehr, dass Sie nichts tun werden, um dieses Vertrauen zu erschüttern...«
Quinn ging eine Viertelstunde in dem Zimmer auf und ab, während er intensiv nachdachte. Er sah sich einem neuen Problem gegenüber. Kein Polizeibeamter, den er je kennengelernt hatte, war sofort bereit gewesen, einen Fall mit einem Fremden zu diskutieren. Aber Elvin hatte mit ihm gesprochen, als seien sie alte Bekannte.
Angeblich vertraut er mir, aber diese Begründung ist nicht stichhaltig. Er redet viel zu viel. Und ein Kriminalinspektor, der mir in jedem Punkt eifrig zustimmt, ist von Anfang an verdächtig. Wenn ich nur wüsste, worauf er hinauswill...
Aus dem anderen Zimmer, in dem Neil Ford und Carole bei Mrs. Ford waren, drangen leise Stimmen.
Warum lässt Ford sich nicht mehr blicken? dachte Quinn. Eigentlich müsste er sich doch erkundigen, was mit Adele los ist. Schließlich kann seine Frau sich getäuscht haben. Woher weiß er, dass Adele Parry tot ist? Sie könnte einen Herzanfall erlitten haben oder nur ohnmächtig gewesen sein. Trotzdem ist er die ganze Zeit über bei seiner Frau geblieben. Will er etwa den besorgten Gatten spielen? Das wäre unglaubwürdig...
Auch Michael Parry hat sich seltsam benommen. Er hat den vom Schicksal zu Boden Geschmetterten gespielt - und das nicht einmal gut. Der Tod seiner Frau scheint ihm keineswegs sehr nahegegangen sein. Er hat fast zufrieden gewirkt. Falls Parry und seine Frau nicht gut miteinander ausgekommen sind, kann man nicht erwarten, dass er sich ihretwegen die Augen ausweint. Wahrscheinlich erbt er ihr ganzes Vermögen; vielleicht war sie noch dazu hoch versichert...
Schade darum! Eine schöne Frau, die sich alles leisten konnte, was ihr Herz begehrte. Aber Mrs. Adele Parry musste geglaubt haben, ihr ganzer Reichtum sei kein Ausgleich für die Dinge, die ihr fehlten - wenn sie Selbstmord begangen hatte. Falls sie das nicht getan hatte...
Die Tür öffnete sich. Michael Parry kam herein. Er sah jetzt weniger bedrückt aus. Als er Quinn sah, zuckte er zusammen: »Oh, ich dachte, Sie und der Inspektor seien bei Doktor Bossard.«
»Nein, Elvin wollte allein mit ihm sprechen«, antwortete Quinn. »Er hat mich hier als Wachhund zurückgelassen.«
Michael Parry rieb sich das Kinn. Er trug plötzlich wieder den gleichen Gesichtsausdruck wie zuvor. »Was soll das heißen?«, fragte er unsicher.
»Inspektor Elvin möchte, dass hier nichts verändert wird, während er mit Doktor Bossard spricht«, erklärte Quinn ihm.
»Verändert? Was meinen Sie damit?«
»Das müssen Sie den Inspektor selbst fragen. Ich nehme an, dass er das Zimmer durchsuchen will, wenn er zurückkommt.«
Michael Parry runzelte die Stirn. »Das ist ja unsinnig! Was erwartet er hier zu finden?«
»Keine Ahnung«, gab Quinn zu.
»Aber hier kann doch nichts...« Parry sprach nicht weiter, als habe er eben beinahe zu viel gesagt. Er fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Es ist schon schlimm genug, dass meine Frau Selbstmord begangen hat«, fügte er dann leise hinzu. »Aber ich nehme an, dass die Polizei ihre bewährten Methoden hat, die sie nicht ändern wird, um meine Gefühle zu schonen.«
»Richtig«, stimme Quinn zu, »darauf können Sie sich verlassen! Ein Mann wie Inspektor Elvin weiß, dass der erste Anschein in vielen Fällen trügt. Hier weist allerdings vieles auf einen Selbstmord hin.«
Parry starrte ihn an. »Natürlich hat meine Frau Selbstmord begangen!«, behauptete er. »Welche Möglichkeit sollte es sonst geben?«
»Fragen Sie das mich oder sich selbst?«
»Ich habe mir nur überlegt, ob Inspektor Elvin einen Unfall für möglich hält.«
»Warum nicht?«, meinte Quinn. »Hoffentlich stellt sich die ganze Sache als Unfall heraus - das erspart allen Beteiligten große Unannehmlichkeiten.«
»Danke«, murmelte Parry. »Wir können also nur hoffen, dass...« Er beendete den Satz nicht.
»Ganz recht«, warf Quinn ein. »Aber ich kann Ihnen versichern, dass jeder normale Coroner ängstlich darauf bedacht ist, als Todesursache möglichst nicht Selbstmord anzugeben.«
Diesem Kerl ist es ganz gleichgültig, dass seine Frau tot ist, überlegte Quinn sich. Er ist nur um sich selbst besorgt. Ob er weiß, dass er bei der gerichtlichen Feststellung der Todesursache zahlreiche Fragen zu beantworten haben wird? Es sieht bestimmt nicht allzu gut für ihn aus, wenn sich nachweisen lässt, dass sie die Kapseln erst geschluckt hat, als er schon zu Hause war. Dann glaubt ihm nämlich kein Mensch, dass er zu betrunken war, um noch etwas zu hören. Dann muss der Wirt des Pubs als Zeuge aussagen und kann bestimmt genaue Angaben darüber machen, ob und wie betrunken Michael Parry war, als er nach Hause aufbrach...
»Hoffentlich haben Sie recht«, sagte Parry. »Das wäre eine große Erleichterung für mich. Mein Verlust wird dadurch nicht geringer, aber...«
Er sprach nicht weiter, weil draußen im Flur Schritte näherkamen. Dann betrat Inspektor Elvin das Schlafzimmer. Er sah zu Parry hinüber. »Gut, dass Sie hier sind, Sir«, meinte er. »Jetzt können wir uns in aller Ruhe unterhalten und ein paar offene Fragen klären, nicht wahr?« Elvin wandte sich an Quinn. »Wären Sie so freundlich, uns alleinzulassen? Und noch etwas, Mr. Quinn - würden Sie Sergeant Taylor bitten, alles zu veranlassen, damit die Leiche abgeholt werden kann?«
Quinn wollte den Raum verlassen, als Parry sagte: »Ich möchte, dass Sie bleiben. Kommen Sie bitte zurück, sobald Sie das ausgerichtet haben.« Das klang nicht wie eine Bitte, sondern fast wie ein Befehl.
Inspektor Elvin räusperte sich. »Ich glaube nicht, dass Mr. Quinns Anwesenheit erforderlich ist.«
Parry drehte sich aggressiv nach ihm um. »Was Sie glauben, spielt keine Rolle«, behauptete er. »Dies ist mein Haus, und ich betrachte Mr. Quinn als Freund. Deshalb soll er zuhören, während Sie mich ausfragen. Ist das etwa verboten?«
»Nein. Das habe ich nie behauptet, aber...«
»Haben Sie persönlich etwas dagegen?«
»Durchaus nicht!« Der Inspektor betrachtete seine Fußspitzen. »Ich halte Ihr Vorgehen nur für wenig ratsam, Mr. Parry.«
»Warum?«
»Nun, Sie sind sich doch darüber im Klaren, dass er ein Reporter ist?«
»Das klingt, als wäre ich eine Prostituierte!«, wandte Quinn unwillig ein.
Elvin sah zu ihm hinüber. »Das ist ein recht unglücklicher Vergleich, Mr. Quinn - äußerst unglücklich.«
»Das haben Sie bereits gesagt«, warf der Reporter ein. »Worauf wollen Sie also hinaus?«
»Ich fürchte, dass Sie mich absichtlich missverstehen«, antwortete Elvin. »Wenn Mr. Parry jedoch Wert auf Ihre Anwesenheit legt, habe ich nichts dagegen einzuwenden. Aber ich hoffe, dass Sie mir den Gefallen tun werden, sich nicht einzumischen. Dann kommen wir schneller voran.« Der Inspektor wandte sich an Parry. »Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick - ich muss meinem Sergeanten einige Anweisungen geben.«
Inspektor Elvin ließ die Tür offen, als er hinausging. Quinn hörte ihn die Treppe hinuntersteigen. Dann sprach Elvin mit Taylor.
Dieser Sergeant ist ein typischer Kriminalbeamter, dachte Quinn. Wahrscheinlich würde er sogar seine eigene Großmutter verkaufen. Und diesem Elvin ist auch nicht ganz zu trauen. Vorhin hat er noch so getan, als wären wir die besten Freunde; jetzt ist er unbegreiflich misstrauisch.
Der Inspektor kam wieder die Treppe herauf. In diesem Augenblick wurde die Tür des ersten Zimmers geöffnet. Quinn hörte Caroles Stimme, ohne zu verstehen, was sie sagte.
»Ja, ich bin von der Polizei«, antwortete Elvin. »Darf ich fragen, wer Sie sind?«
»Ich bin Carole Stewart. Ist Doktor Bossard noch da?«
»Ja. Brauchen Sie ihn?«
»Vielleicht kann er sich Mrs. Ford ansehen. Sie hat die Tote entdeckt und ist natürlich...«
»Gewiss«, stimmte Elvin zu. »Am besten sprechen Sie selbst mit dem Doktor. Er ist im Kinderzimmer.«
Merkwürdig, dass die beiden zuerst so getan haben, als wären sie nur flüchtig miteinander bekannt, dachte Quinn. Das beweist doch, dass sie irgendetwas zu verbergen haben. Vielleicht hatten sie einmal etwas miteinander, bis sie sich mit einem anderen eingelassen hat, vielleicht mit dem Mann, der in ihrem Flaus gewohnt hat, oder Bossard war dieser Mann. Wahrscheinlich wäre er wütend, wenn er wüsste, dass ich sein Hemd trage. Er würde mir bestimmt nicht glauben, auf wie harmlose Weise ich in Caroles Haus gelangt bin...
»Danke«, sagte Carole. »Wissen Sie, wo Mr. Parry ist?«
»Im Zimmer nebenan. Aber er hat im Augenblick keine Zeit. Sie können ihn später sprechen.«
Michael Parry hörte aufmerksam zu, obwohl er den Anschein zu erwecken versuchte, als interessiere ihn diese Unterhaltung nicht.
Ich bin hier wirklich ein Außenstehender, überlegte Quinn sich. Alle haben ihre kleinen Geheimnisse, aber ich habe nichts mit ihnen zu tun. Ich komme mir fast wie ein Schlüssellochgucker vor...
Elvin kam zurück. Er bewegte sich mit der Selbstsicherheit eines Mannes, der alles unter Kontrolle hat.
Wäre dieser Reg, der Quinn mit alter Junge angesprochen hatte, nicht weggegangen, um sich einen Drink zu holen, wäre Quinn nie in Caroles Haus und schließlich hier gelandet. Warum hatte sie überhaupt nach ihm gesucht? Er hätte doch im Schlafzimmer dieser Jacqueline bleiben und sich ausschlafen können - oder er wäre auf die Straße gesetzt worden. Eines Tages musste er dorthin zurück, um diesen Charlie Hinchcliffe einmal aus der Nähe zu betrachten.
Was hatte Reg noch gesagt? »Charlie ist gut bei Kasse, wissen Sie. Seine Frau hat ihm genug hinterlassen, eine prima Frau! Legt sich in Charlies besten Jahren hin und stirbt - und hinterlässt ihm ein Vermögen. Seitdem kann Charlie kräftig auf die Pauke hauen. Das ist Glück, was?«
Warum sollte jemand wie Michael Parry nicht auch einmal Glück haben? Dieser Gedanke ließ Quinn nicht mehr los.
Aber Parry wollte verhindern, dass die Leute glaubten, seine Frau habe Selbstmord begangen. Ihm war es lieber, wenn als Todesursache Unfall festgestellt wurde. Wenn man ihm das glauben durfte - wenn man in diesem verdammten Haus überhaupt jemand glauben konnte.
Sechstes Kapitel
Inspektor Elvin betrat das Zimmer. Er schloss die Tür, lehnte sich dagegen und steckte die Hände in die Jackentaschen. »Wo waren wir noch gleich?«, fragte er. »Ah, ganz recht. Ich nehme an, dass Sie die näheren Umstände des Todes-Ihrer Frau kennen, Mr. Parry?«
»Ich weiß nur...«, begann Michael zögernd. »Ich weiß nur, dass sie irgendetwas geschluckt hat. Das ist mir erzählt worden.«
»Sie waren noch nicht bei Ihrer Frau?«
»Nein, ich - ich hatte nicht den Mut dazu. Der Gedanke, sie tot vor mir...«
»Können Sie sich vorstellen, wie das passiert ist?«
»Ich hatte keine Ahnung«, beteuerte Parry. »Hätte ich nur etwas geahnt - aber woher hätte ich das wissen sollen?«
»Richtig«, stimmte Elvin zu. »Woher hätten Sie das wissen können?« Er wartete einen Augenblick, als rechne er mit einer Antwort. »Am besten erzähle ich Ihnen gleich, woran Ihre Frau unserer Meinung nach gestorben ist, Mr. Parry«, fuhr er dann fort. »Sie scheint eine Überdosis eines Schlafmittels eingenommen zu haben - offenbar ein Barbiturat namens Prembium. Hat sie oft Schlaftabletten genommen?«
»Nicht gerade oft, aber sie hat gelegentlich eine geschluckt.«
»Hießen sie Prembium?«
»Das kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, dass Doktor Bossard sie ihr verschrieben hat.«
»Warum hat Ihre Frau unter Schlaflosigkeit gelitten?«, fragte der Inspektor weiter.
»Das ist etwas zu dick aufgetragen!«, widersprach Parry. »Nur weil sie gelegentlich eine Tablette genommen hat...« Er sprach nicht weiter, sondern sah von Elvin zu Quinn hinüber und schließlich auf seine Hände hinab.
»Ihre Frau hat heute Nachmittag nicht nur eine Schlaftablette genommen, Mr. Parry«, erklärte der Inspektor ihm. »Sie hat eine tödliche Überdosis eingenommen. Ich versuche festzustellen, warum sie das getan hat. Und ich weiß, dass Sie mir dabei helfen wollen, nicht wahr?«
»Selbstverständlich. Aber ich kann mir auch keinen Grund dafür vorstellen.«
»Hat Ihre Frau in letzter Zeit Sorgen gehabt?«, wollte Elvin wissen. »Schwere Sorgen, Mr. Parry? War sie deprimiert?«
Michael Parry rieb sich die Stirn. »Besorgt ist ein bisschen zu viel gesagt, aber sie war in letzter Zeit merkwürdig reizbar. Deswegen hielt ich es für eine ganz gute Idee, als sie davon sprach, ein paar Tage nach Wood Lake fahren zu wollen.«
»In eine Art Sanatorium?«
»Eher eine Schlankheitsfarm«, antwortete Parry. »Diät, Massagen, Saunabäder, kosmetische Behandlungen und so weiter.«
»Ist Ihre Frau oft dort gewesen?«
»Ja. Alle zwei bis drei Monate.«
»Und sie hat sich dort immer sehr gut erholt?«, wollte der Inspektor wissen.
Parry schüttelte den Kopf. »Sie ist nicht aus Gesundheitsgründen nach Wood Lake gefahren. Meine Frau war immer gesund, sogar kerngesund.«
»Aber sie hat Schlaftabletten genommen«, wandte Elvin ein.
»Das tun heutzutage viele Leute«, stellte Parry fest. »Ich habe erst neulich gelesen, dass die Hälfte aller Engländer irgendwelche Mittel einnehmen.«
»Aber diese Leute begehen nicht gleich Selbstmord. Und das scheint Ihre Frau getan zu haben, nicht wahr?«
Parry sah hilfesuchend zu Quinn hinüber. »Könnte es nicht ein Unfall gewesen sein?«
»Das muss die Jury des Coroners entscheiden«, antwortete der Inspektor. »Ich bezweifle es jedoch. Ich kann mir nicht recht vorstellen, dass jemand nachmittags versehentlich eine Überdosis Schlaftabletten schluckt. Sie etwa?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Außerdem sind noch andere Faktoren zu berücksichtigen«, meinte Elvin geheimnisvoll. »Soviel ich gehört habe, waren Sie der Meinung, Ihre Frau werde erst abends zurückkommen. Stimmt das?«
»Ja. Ich wollte sie um zwanzig nach acht vom Bus abholen. Ich bin dann in Blandford geblieben, bis der nächste ankam.«
»Ihre Frau hat Ihnen nicht mitgeteilt, sie werde früher kommen?«
»Nein. Sie hat sich nicht mehr gemeldet, seitdem sie letzten Montag weggefahren ist.«
»Wo liegt Wood Lake?«, fragte der Inspektor.
»Vier Meilen außerhalb von Woking.«
»Wie ist Ihre Frau dorthin gefahren?«
»Meistens hat sie ein Taxi nach Blandford genommen. Von dort aus konnte sie mit dem Bus nach Salisbury und mit dem Zug nach Woking weiterfahren. In Woking ist sie dann abgeholt worden.«
»Aha«, sagte der Inspektor. »Ist sie immer auf gleiche Weise zurückgekommen?«
»Ja. Ich habe sie allerdings meistens in Blandford abgeholt.«
»Haben Sie sie nicht manchmal selbst nach Wood Lake gefahren, Mr. Parry?«
»Ja, gelegentlich.«
»Aber diesmal nicht?«
»Nein«, gab Michael Parry zu. »Sie wollte lieber mit einem Taxi fahren.«
Elvin zog die Augenbrauen hoch. »Ich wollte, Sie würden ganz offen mit mir reden, Mr. Parry, um mir die Arbeit zu erleichtern und Ihnen Unannehmlichkeiten zu ersparen.«
»Ich rede ganz offen mit Ihnen, Elvin, das wissen Sie doch«, behauptete Parry.
»Dann beantworten Sie bitte meine Frage: Warum wollte Ihre Frau letzten Montag nicht von Ihnen nach Blandford gefahren werden?«
Parry zuckte mit den Schultern und sah wieder zu Quinn hinüber. »Welchen Unterschied macht das schon? Ändert das etwas an den Tatsachen?«
»Nein, natürlich nicht. Aber der Coroner wird mir viele Fragen stellen, Mr. Parry. Ich hoffe, dass ich sie mit Ihrer Hilfe beantworten können werde.«
»Aber ich sehe nicht ein, was...«
»Wir müssen feststellen, in welcher Gemütsverfassung Ihre Frau am Montag abgereist ist«, unterbrach Elvin ihn.
»Warum? Was nützt das? Das war vor Tagen!«
»Vielleicht hat sie in der Zwischenzeit darüber nachgedacht. Das wäre doch möglich, wenn Sie sich mit ihr gestritten hätten, nicht wahr?«
»Wir haben uns nie gestritten«, behauptete Parry. »Wir hatten gelegentlich Meinungsverschiedenheiten - aber das war bereits alles.«
»Hatten Sie am Montag vor ihrer Abreise eine Meinungsverschiedenheit mit ihr?«, wollte der Inspektor wissen.
Parry nickte widerstrebend. »Wegen einer Kleinigkeit«, sagte er. »Kaum der Rede wert. Aber Frauen sind eben manchmal komisch. Ich hätte sie ohne weiteres nach Blandford fahren können.«
»Aber sie ist lieber mit dem Taxi gefahren. Warum?«
»Ich hatte vor dem Mittagessen einen Schluck getrunken, und sie hatte Angst, die Polizei könnte mich anhalten und pusten lassen.«
Das ist gelogen!, dachte Quinn sofort. Deine Frau hat sich nicht gefürchtet, weil du nur einen Schluck getrunken hattest, sondern weil du völlig blau warst. Sie hatte keine Lust, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, und ist deshalb mit einem Taxi gefahren.
Inspektor Elvin nickte zufrieden. »Gut, das ist also geklärt«, stellte er fest. »Ihre Frau ist weggefahren, Sie sind hiergeblieben, und es hat vorher keinen Streit gegeben. Stimmt das?«
»Ja.«
»Und Sie haben in der Zwischenzeit nichts mehr von Ihrer Frau gehört?«
»Nein.«
»War das normal?«
»Ja. Sie hat selten angerufen, wenn sie nur ein paar Tage fort war. Außerdem wusste sie, dass ich sie vom Bus abholen würde. Worüber hätten wir also sprechen sollen?«
»Aber Ihre Frau hat sich nicht an die Vereinbarung gehalten, Mr. Parry. Sie muss irgendwann heute Nachmittag zurückgekommen sein. Können Sie sich einen Grund dafür vorstellen?«
»Nein, aber - sie muss sich die Sache anders überlegt haben.«
»Ohne Sie zu benachrichtigen?«
Parry zuckte hilflos mit den Schultern. »Vielleicht war ich weg, als sie angerufen hat.«
»Hätte sonst niemand einen Anruf entgegennehmen können?«
»Nach ein Uhr nicht mehr«, bestätigte Parry. »Mrs. Gregg, unsere Zugehfrau, kommt um neun und ist bis eins da.«
»Jeden Tag?«
»Nur sonntags nicht.«
»Mrs. Gregg hätte Ihnen doch bestimmt eine Mitteilung hinterlassen, wenn sie einen Anruf für Sie entgegengenommen hätte?«, erkundigte der Inspektor sich.
»Ja, das hätte sie getan«, bestätigte Parry zögernd.
»Wir können also annehmen, dass kein Anruf gekommen ist. Mit anderen Worten - Ihre Frau hat nicht angerufen.«
»Sie kann es in der Zeit versucht haben, in der hier niemand war«, wandte Parry ein.
»Wann sind Sie zurückgekommen?«
»Gegen halb vier, glaube ich.«
»Das Haus hat also über zwei Stunden leergestanden?«
»Ja.« Parrys Gesicht hellte sich auf. »In dieser Zeit muss meine Frau angerufen haben!«
Inspektor Elvin schüttelte den Kopf. »Nein, Mr. Parry, das bezweifle ich sehr. Sie muss Wood Lake vor ein Uhr mittags verlassen haben, um nachmittags hier einzutreffen.«
»Aber sie könnte...«
»Ausgeschlossen, Mr. Parry! Denken Sie nur daran, wie oft sie unterwegs umsteigen musste! Wenn sie beabsichtigte, früher als erwartet zurückzukommen, muss sie diesen Entschluss vor ein Uhr gefasst haben - und um diese Zeit war Ihre Mrs. Gregg noch im Haus.« Elvin warf Parry einen prüfenden Blick zu. »Sind wir uns darüber einig?«
»Ja«, stimmte Parry etwas zu hastig zu. »Aber ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich mir das alles nicht erklären kann.«
»Das ist wirklich ein Problem«, meinte der Inspektor mit geheucheltem Verständnis. »Es muss sich jedoch lösen lassen, wenn wir die Sache richtig anpacken. Fangen wir also ganz vorne an. Wann sind Sie heute Morgen aus dem Haus gegangen?«
»Gegen elf Uhr. Ich musste ein paar Einkäufe machen...« Parry beendete den Satz nicht.
»Sind Sie nach Blandford gefahren? Oder gibt es hier in der Nähe Geschäfte mit genügend Auswahl?«
»Ich war in Poole«, antwortete Parry. »Ich musste zum Friseur, wissen Sie, und ich wollte mich rasieren lassen, weil Adele, nun, weil ich zivilisiert aussehen wollte, wenn meine Frau nach Hause kam.«
»Wie lange, Parry, sind Sie in Poole gewesen?«, fragte der Inspektor.
»Ein paar Stunden. Ich war beim Friseur, habe Einkäufe gemacht und habe eine Kleinigkeit zu Mittag gegessen. Danach war ich noch...«
Im Erdgeschoss klingelte das Telefon. Quinn hörte Sergeant Taylor sprechen. Elvin wartete geduldig und beobachtete Parrys Gesicht, bis unten aufgelegt wurde.
»Sind Sie anschließend wieder nach Hause gefahren, Mr. Parry?«, erkundigte er sich dann.
»Nein. Ich war in einem Pub, habe ein paar Leute getroffen und bin mit ihnen ins Gespräch gekommen. Sie wissen ja selbst, wie das ist.«
»Natürlich«, stimmte Elvin zu. »In Gesellschaft guter Freunde verfliegt die Zeit förmlich, nicht wahr?«
Parry musste die angedeutete Frage beantworten. »Diese Leute waren keine Freunde«, stellte er klar. »Ich hatte sie erst kennengelernt. Aber das ist in einem Pub leicht.«
»Ganz recht«, meinte Elvin. »Und wann haben Sie diesen Pub verlassen?«
»Gegen zwei Uhr, nehme ich an.«
»Und trotzdem sind Sie erst um halb vier nach Hause gekommen?«, erkundigte sich der Inspektor erstaunt. »Irren Sie sich da nicht?«
»Ich weiß nicht, was Sie...«
»Mr. Parry! Poole ist nur fünfzehn oder sechzehn Meilen von hier entfernt. Für diese Strecke können Sie doch nicht eineinhalb Stunden gebraucht haben?«
Michael Parry schüttelte irritiert den Kopf. »Wir kommen vom Thema ab, Inspektor! Ich brauche Ihnen nicht zu erklären, wo ich jede Minute verbracht habe, und ich habe nicht die Absicht, Ihnen...«
»Nur Geduld, Mr. Parry!«, unterbrach Elvin ihn. »Vorläufig geht es noch darum, ob Ihre Frau hier angerufen haben kann. Um das festzustellen, müssen wir eine Art Zeitplan aufstellen.«
Quinn fragte sich, ob Parry auf diesen Trick hereinfallen würde. Aber vielleicht merkte er gar nichts davon. Elvin war ein gerissener Bursche. Er legte es darauf an, Michael Parry in die Enge zu treiben.
»Was ich im Lauf des Tages getan habe, hat nichts mit dem zu schaffen, was meine Frau getan haben mag«, stellte Parry fest. »Aber wenn Sie es unbedingt wissen müssen - ich bin auf der Rückfahrt in Castle Lammering im Bird-in-Hand gewesen. Ich schätze, dass ich dort um zwanzig nach zwei eingetroffen bin. Genügt das, Inspektor?«
»Und wann haben Sie den Pub verlassen?«
»Kurz vor halb vier. Ich war um zwanzig vor vier zu Hause, das weiß ich genau.«
Inspektor Elvin nickte zufrieden. »Danke, Mr. Parry. Denken Sie jetzt bitte gut nach. Was haben Sie getan, als Sie das Haus betraten?«
»Ich bin geradewegs nach oben in dieses Zimmer gegangen.«
»Hat irgendetwas auf die Rückkehr Ihrer Frau hingedeutet?«, fragte Elvin weiter.
»Nichts.«
»War das ihr Bett?« Der Inspektor zeigte auf die Hälfte, deren Decke herabgerissen war.
»Ja«, antwortete Parry ausdruckslos.
»Können Sie sich erinnern, ob es sich bereits in diesem Zustand befand?«
»Nein. Ich habe nicht darauf geachtet.«
»Aber Sie müssen doch...«, begann der Inspektor.
»Ich muss gar nichts!«, unterbrach Parry ihn. »Ich weiß nicht, wie das Bett ausgesehen hat. Ich hatte einen Schluck getrunken und wollte mich nur ein bisschen hinlegen. Ist das etwa verboten?«
»Selbstverständlich nicht, aber...«
»Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, meine Frau könnte zu Hause sein«, fuhr Parry fort. »Woher sollte ich wissen, dass sie sich die Sache anders überlegt hatte?«
»Ganz recht«, stimmte Inspektor Elvin zu. »Sie haben sich also aufs Bett gelegt und sind eingeschlafen, nicht wahr?«
»Ja. Ich war sofort weg.«
»Und Sie sind nicht gestört worden?«
»Nein«, antwortete Parry. »Ich bin erst aufgewacht, als Miss Stewart und Mr. Quinn angekommen sind. Die beiden haben mich aus dem Bett geklingelt.«
»Wann war das?«
»Um halb acht.«
»Sie haben also fast vier Stunden geschlafen?«
»Ist das etwa ein Verbrechen?«, erkundigte Parry sich.
Elvin lächelte entschuldigend. »Ich habe nicht von einem Verbrechen gesprochen. Ich versuche nur festzustellen, wann Ihre Frau nach Hause gekommen sein kann. Welches Gepäck hat sie am Montag mitgenommen?«
»Einen Koffer.«
»Ist er wieder hier?«
»Nein. Er war nicht unten und... er scheint auch nicht hier zu sein.«
»Hätte sie ihn normalerweise mit ins Schlafzimmer genommen, um ihn auszupacken?«, fragte der Inspektor.
»Ja.«
»Wo würde der leere Koffer aufbewahrt?«
»In einer Kammer, in der unsere leeren Koffer stehen.«
»Dort können wir anschließend nachsehen«, meinte Elvin. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich dieses Zimmer durchsuche, Mr. Parry?«
»Nein, natürlich nicht! Warum sollte ich etwas dagegen haben?«
Quinn und Parry beobachteten, wie Elvin unter das Doppelbett, hinter den Toilettentisch und in den Einbauschrank sah. Michael Parry wirkte nicht sonderlich interessiert. Er wachte erst auf, als der Inspektor die rechte Kleiderschranktür zurückschob.
»He, da ist ja der Koffer!«, rief er aus. »Der Koffer meiner Frau! Was tut er im Kleiderschrank?«
Inspektor Elvin holte ihn heraus, legte ihn auf den Boden und öffnete ihn. »Hmmm«, meinte er verblüfft, »Ihre Frau scheint nicht einmal begonnen zu haben, ihren Koffer auszupacken!« Er deutete auf die sorgfältig zusammengelegten Kleidungsstücke unter den beiden Haltebändern. »Dieser Fall wird immer geheimnisvoller«, fuhr er dann fort. »Ihre Frau ist anscheinend nach Hause gekommen, hat den Koffer in diesen Schrank gestellt und hat sich aufs Bett gelegt. Unerklärlich, nicht wahr?«
»Ich sage lieber nichts mehr«, antwortete Parry. »Ihnen ist nicht damit geholfen, wenn ich Ihnen versichere, wie verwirrt ich bin.« Dabei starrte er den Koffer an.
»Das ist nur begreiflich«, stimmte Elvin zu, »denn Ihre Frau hat sich äußerst merkwürdig benommen, um es mild auszudrücken. Einige Zeit später scheint sie aufgestanden zu sein, sich ein Glas Cognac mit einem Schlafmittel geholt zu haben und damit ins Kinderzimmer gegangen zu sein. Und dort muss sie eine tödliche Überdosis geschluckt haben. Falls jemand eine Erklärung dafür weiß, höre ich sie mir gern an.«
Quinn schwieg, aber Parry antwortete: »Mich dürfen Sie nicht fragen. Ich habe keine Ahnung. Ich begreife das alles nicht.«
»Warum sollte Ihre Frau heimlich nach Hause kommen, um Selbstmord zu begehen?«, meinte Elvin verständnislos. »Das hätte sie doch auch in Wood Lake tun können?«
»Vielleicht hatte sie die Schlaftabletten zu Hause vergessen«, erwiderte Parry zögernd.
»Dann wäre sie also zurückgekommen, um Selbstmord zu begehen?« Der Inspektor schüttelte den Kopf und bückte sich über den Koffer, als suche er etwas. Dann richtete er sich wieder auf. »Für einen Selbstmörder ist das ein atypisches Verhalten. Die meisten Selbstmorde geschehen impulsiv. Werden die Leute durch irgendetwas daran gehindert, versuchen sie es nicht sofort wieder.«
»Sie behaupten also...«
»Ich behaupte gar nichts«, warf Elvin ein. »Ich denke nur laut. Ihre Frau hatte genug Zeit, um sich die Sache zu überlegen.
Außerdem glaube ich, dass sie ihre Schlaftabletten mitgenommen hat, wenn sie gelegentlich eine nehmen musste.«
Michael Parry setzte sich auf die Bettkante. »Jetzt begreife ich nichts mehr«, sagte er tonlos. Dann sah er zu Quinn hinüber. »Warum stehen Sie herum wie ein Ölgötze? Warum sagen Sie nicht auch etwas? Oder haben Sie Angst davor, den Mund aufzumachen?«
»Ich mische mich nie in polizeiliche Ermittlungen ein«, erklärte Quinn ihm. »Außerdem bin ich gewarnt worden, den Mund zu halten.«
Inspektor Elvin warf ihm einen gekränkten Blick zu. »Nicht gewarnt, sondern nur gebeten, Mr. Quinn. Ein Mann mit Ihrer Erfahrung müsste wissen, dass eine dreiseitige Diskussion meistens nur ins Uferlose führt.« Elvin war inzwischen auf einen der Nachttische zugegangen, bückte sich und holte etwas darunter hervor. Als er sich aufrichtete, hielt er einen bedruckten Plastikbeutel in der Hand. »Gehört er Ihnen?«, fragte er Parry.
»Ja. Meine Hemden stecken in solchen Beuteln, wenn sie aus der Wäscherei kommen.«
»Richtig - hier steht der Name einer Wäscherei in Blandford«, stimmte der Inspektor zu. »Wissen Sie, wie der Beutel hinter den Nachttisch gekommen ist?«
»Nein. Wahrscheinlich ist er zu Boden gefallen, als ich ein frisches Hemd angezogen habe.« Parry stand irritiert auf. »Welchen Unterschied macht das schon? Ich begreife Ihre Fragen nicht, Inspektor. Solche billigen Plastikbeutel werden von Tausenden von Wäschereien benützt. Warum interessieren Sie sich dafür, wie meine Hemden eingepackt sind?«
»Weil ich neugierig bin«, antwortete Elvin. »Darf ich den Beutel behalten?«
»Natürlich! Sie können noch ein Dutzend haben, wenn Sie sie sammeln.« Parry lachte humorlos. »Wollen Sie noch etwas wissen?«
»Ist Ihre Frau in letzter Zeit bei einem Psychiater in Behandlung gewesen?«
Michael Parry kniff die Augen zusammen. »Nicht dass ich wüsste«, antwortete er vorsichtig.
»Das ist keine zufriedenstellende Antwort, Mr. Parry. Hätten Sie davon gehört, wenn Ihre Frau zu einem Psychiater gegangen wäre?«
Parry winkte ungeduldig ab. »Wenn meine Antwort nicht zufriedenstellend war, ist Ihre Frage ausgesprochen dämlich. Hat meine Frau mir anvertraut, dass sie Selbstmord begehen wollte? Hat sie mir verraten, dass sie etwas so Schreckliches vorhatte? Hat sie überhaupt jemals die geringste Rücksicht auf mich genommen und Achtung vor mir gezeigt? So, jetzt können Sie sich aus diesem Haufen etwas aussuchen.«
»Das werde ich auch tun, Mr. Parry«, antwortete der Inspektor gelassen. »Als erstes drängt sich einem natürlich der Gedanke auf, dass Sie und Ihre Frau keine sehr glückliche Ehe geführt haben können. Ist das richtig?«
»Hätte sie Selbstmord begangen, wenn sie glücklich gewesen wäre?« lautete Parrys Gegenfrage. »Wenn Sie nichts dagegen haben, gehe ich jetzt hinunter und esse eine Kleinigkeit. Ich habe seit mittags nichts mehr gegessen und bin verdammt hungrig.« Er verließ den Raum und schloss die Tür energischer als unbedingt notwendig.
»Die Geste des kleinen Mannes angesichts unbestreitbarer Autorität«, meinte Quinn. »Kann ich jetzt gehen?«
»Wohin?«, fragte Elvin geistesabwesend.
»Ich möchte endlich den Drink, von dem Sie mich vorhin abgehalten haben.«
»Den hätten Sie längst bekommen, wenn Sie sich nicht von Parry hätten überreden lassen, ihm hier Gesellschaft zu leisten. Warum haben Sie das getan?«
»Hauptsächlich Ihretwegen, Inspektor. Ich wollte dabei sein, falls Parry offenkundig log, wozu er allen Grund gehabt hätte, wenn er für den Tod seiner Frau verantwortlich wäre.«
Inspektor Elvin nickte langsam. »Sie sind ein einfallsreicher Mann, Mr. Quinn. Wie würden Sie jemand dazu bringen, eine tödliche Dosis Barbiturat zu schlucken?«
»Das ist vielleicht nicht einmal schwierig. Falls das Zeug keinen oder nur wenig Eigengeschmack hat, würde ich es der Dame in den Cognac schütten.«
»Wissen Sie, ob Prembium einen starken Eigengeschmack hat?«
»Nein. Warum fragen Sie nicht einfach Doktor Bossard?«
»Das habe ich vor, Mr. Quinn«, versicherte Elvin ihm. Er faltete den Plastikbeutel zusammen, betrachtete ihn nachdenklich und fragte: »Erinnern Sie sich an die im Fernsehen ausgestrahlte Warnung des Gesundheitsministeriums, Plastikbeutel außer Reichweite von Kindern und Haustieren aufzubewahren?«
»Ja«, antwortete Quinn, »und ich weiß auch, worauf Sie hinauswollen. Sie glauben, dass ein Plastikbeutel nützlich gewesen wäre, wenn Adele Parry zu lange zum Sterben gebraucht hätte.«
Der Inspektor lächelte vorsichtig. »Und was halten Sie davon?«
»Ich weiß nicht, ob Sie recht haben. Das hängt davon ab, ob Mrs. Parrys Tod Vorteile mit sich brachte. Sie hatte den Daumen auf dem Geld - und sie war reich. Ihr Testament liest sich bestimmt interessant.«
»Hat Parry kein eigenes Vermögen?«
»Nein, soviel ich weiß, war er völlig von seiner Frau abhängig«, erwiderte Quinn. »Ich habe mich auf der Fahrt hierher mit Miss Stewart über die Parrys unterhalten. Dass Michael Parry auf das Geld seiner Frau angewiesen war, scheint allgemein bekannt zu sein.«
»Hat er denn keinen Beruf?«
»Er ist angeblich Schriftsteller, aber davon kann er nicht leben.«
»Hmmm«, meinte Elvin, »eine interessante Situation mit großen Möglichkeiten...«
»Eine davon drängt sich einem förmlich auf«, stimmte Quinn zu. »Ich stelle mir vor, dass Mrs. Parry ihren Mann heute Morgen angerufen hat, bevor die Zugehfrau im Haus war. Sie muss ihm erklärt haben, zwischen ihnen sei alles aus; entweder hatte sie einen anderen gefunden oder wollte nur nicht mehr mit ihm Zusammenleben. Michael Parry hat daraufhin...«
»...beschlossen, dafür zu sorgen, dass sie nicht ohne ihn weiterleben konnte«, warf der Inspektor ein.
Quinn erinnerte sich an Parrys Gesichtsausdruck, als er ihnen die Tür geöffnet hatte: Der Mann hatte verschlafen und leicht benommen gewirkt - aber nicht wie jemand, der eben seine Frau ermordet hat. Und trotzdem musste er zu Hause gewesen sein, als sie starb!
»Vielleicht war es doch anders«, meinte Quinn. »Kann sie nicht zurückgekommen sein und ihn betrunken vorgefunden haben? Wenn wir voraussetzen, dass sie mit ihrer Nervenkraft am Ende war, könnte dieser Anblick sie dazu gebracht haben, Selbstmord zu begehen. Was ergibt sich daraus für Michael Parry?«
»Wie soll ich das verstehen?«, fragte Inspektor Elvin zweifelnd.
»Michael Parry wacht mit einem Kater auf, sieht seine Frau neben sich und stellt fest, dass sie nicht nur schläft. Das ist ein ziemlicher Schock für ihn, weil er sich ausrechnen kann, dass er verdächtigt werden wird. Während er noch darüber nachdenkt, klingelt es unten. Parry reagiert zunächst gar nicht, weil er hofft, dass es sich um einen zufälligen Besucher handelt, der wieder wegfahren wird. Aber es klingelt wieder, und er hört Miss Stewarts Stimme. Nun bekommt er es verständlicherweise mit der Angst zu tun. Was würden Sie an seiner Stelle unternehmen, Inspektor?«
»Ich glaube nicht, dass ich jemals in diese Lage komme«, meinte Elvin, »denn meine Frau ist nicht reich. Bitte weiter, Mr. Quinn.«
»Michael Parry hat nicht mit Wochenendgästen gerechnet oder sie zumindest erst später erwartet. Er braucht jetzt Zeit, um sich die nächsten Schritte zu überlegen - was er nicht kann, wenn die Gäste hereinplatzen und Adele sterbend vorfinden. Er muss sie also irgendwo unterbringen, wo sie nicht gefunden wird, bis er weiß, wie er die Leiche beseitigen kann.«
»Sie behaupten also, er habe sie sterben lassen, ohne ihr zu helfen«, stellte Elvin fest. »Eine unterlassene Hilfeleistung ist in diesem Fall einem Mord gleichzusetzen.«
»Wir wissen nicht, ob sie noch eine Chance gehabt hätte«, wandte Quinn ein. »Aber nehmen wir einmal an, es wäre so gewesen - welche Anklage ließe sich dann gegen ihn erheben?
Wie könnten Sie beweisen, dass Adele Parry noch zu retten gewesen wäre?«
»Mit der letzten Frage sind auch alle anderen beantwortet«, gab Elvin zu. »Das könnte ich nicht beweisen.« Er war an den Nachttisch getreten, hinter dem er den Plastikbeutel gefunden hatte. Jetzt bückte er sich, um die Glasplatte näher zu betrachten. »Hier hat ein nasses Glas gestanden«, sagte er und streckte die Hand aus. »Der Ring ist noch feucht und klebrig - folglich kann es kein Glas Wasser gewesen sein.«
»Das bestätigt meine Theorie. Sie hat ihren Cognac mit Prembium getrunken, hat das Glas auf den Nachttisch gestellt und ist eingeschlafen. Als Michael Parry aufwachte, war sie entweder schon tot oder im Koma. Deshalb hat er sie ins Kinderzimmer getragen, in das sonst niemand kommt, und ihr Glas und den Koffer aus dem Weg geräumt, weil er hoffte, dadurch erst einmal Zeit zu gewinnen. Das klingt logisch, nicht wahr?«
Inspektor Elvin nickte langsam. »Sie mögen recht haben - aber ich bin mit dieser Erklärung nicht zufrieden. Parry konnte die Leiche seiner Frau nicht ewig verstecken. Dieser Versuch, ihren Tod geheimzuhalten, musste seine Lage schließlich nur verschlimmern.«
»Er hätte die Leiche nur aus dem Haus schaffen müssen«, behauptete Quinn. »Dann hätte er angeben können, seine Frau seit ihrer Abreise nach Wood Lake nicht mehr gesehen zu haben. Und Sie hätten jemand finden müssen, der Adele Parry nach Haus gefahren hat.«
Elvin nickte. »Das wäre praktisch unmöglich gewesen, falls Parry sie selbst abgeholt hat. Damit sind wir also wieder bei der alten Frage: Mord oder Selbstmord?« Der Inspektor zuckte mit den Schultern. »Bisher sind beide Möglichkeiten offen. Ich verstehe nur zwei Punkte nicht. Der erste betrifft Mrs. Parrys Schuhe.«
»Was ist mit ihnen?«
»Sie hat sie wahrscheinlich ausgezogen, bevor sie sich aufs Bett legte - falls sie Selbstmord begangen hat. Oder ihr Mann hat sie ihr ausgezogen, als er sie ins Kinderzimmer schleppte, weil er Kratzer auf dem Parkett vermeiden wollte.«
»Und?«
»Jedenfalls hat er ihre Schuhe ins Kinderzimmer gestellt. Aber warum so sorgfältig? Ist Ihnen aufgefallen, wie genau ausgerichtet die beiden Schuhe am Fußende des Bettes nebeneinanderstehen?«
»Ja, das ist mir aufgefallen«, stimmte Quinn zu, »aber ich habe es für nicht weiter wichtig gehalten.«
»Vielleicht ist es auch nicht weiter wichtig. Der zweite Punkt betrifft die Entdeckung der Leiche durch Mrs. Ford. Wie konnte es dazu kommen? Angeblich hat doch sonst nie jemand das Kinderzimmer betreten.«
»Ich nehme an, dass die Tür etwas offen war«, antwortete Quinn. »Sie wird wohl aus Neugier einen Blick ins Kinderzimmer geworfen haben.«
»Warum sollte die Tür offen sein, wenn der Raum nie benützt wird?«
»Das müssen Sie Mrs. Ford fragen.«
»Das tue ich noch!«, versicherte Elvin ihm. Er horchte nach draußen, wo ein Auto den Hügel heraufkam. »Das muss der Leichenwagen sein. Holen Sie sich jetzt Ihren Drink, Mr. Quinn. Wir unterhalten uns später weiter. Sie übernachten doch hier?«
»Das hängt ganz von Parry ab«, antwortete Quinn. »Ich weiß nicht, ob er noch auf Gäste Wert legt.«
»Ich glaube, dass es ihm darauf ankommt, nicht in diesem Haus allein sein zu müssen«, meinte Elvin. »Reden Sie also nicht davon, dass Sie lieber abreisen würden. Sie könnten mir nämlich helfen, indem Sie Augen und Ohren offenhalten.«
»Ich soll also den Spitzel spielen?«
»Ja, wenn Sie es so ausdrücken wollen«, gab der Inspektor zu. »Sie sind sich wohl darüber im Klaren, dass es Ihre Pflicht ist, unsere Ermittlungen zu unterstützen?«
»Aber es ist nicht meine Pflicht, Parry zu bespitzeln.«
»Das ist eine voreilige Schlussfolgerung, Mr. Quinn«, erwiderte Elvin. »Niemand behauptet, Parry habe seine Frau ermordet oder auch nur ihre Leiche versteckt. Indem Sie in Elm Lodge bleiben, tun Sie ihm vielleicht einen großen Gefallen. Und ich würde Sie selbstverständlich ins Vertrauen ziehen...«
Inspektor Elvin schien zu glauben, damit sei bereits alles gesagt. Er verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzusehen.
Quinn blieb im Schlafzimmer zurück. Er trat ans Fenster. Unten vor dem Haus hielt der Leichenwagen. Quinn hörte Stimmen, Schritte kamen die Treppe herauf, eine andere Stimme kam aus dem Kinderzimmer...
Es dauerte nicht lange, bis die Schritte wieder an der Tür vorbeikamen. Quinn hörte einen Mann sagen: »Langsam! Vorn etwas höher. Okay, ich hab’s.« Dann erschienen zwei Männer vor der Haustür, schoben einen Sarg in den Leichenwagen, stiegen vorn ein und fuhren davon. Quinn wandte sich vom Fenster ab.
Im Erdgeschoss klingelte das Telefon. Wenig später kam Inspektor Elvin ins Schlafzimmer zurück. »Haben Sie sich noch immer keinen Drink genehmigt?«, erkundigte er sich.
»Ich brauche keinen«, antwortete Quinn. »Ich habe mir die Sache anders überlegt.«
»Vielleicht brauchen Sie doch einen, wenn Sie die letzten Neuigkeiten aus Wood Lake hören«, sagte der Inspektor. »Mrs. Parry ist diese Woche nicht dort gewesen. Sie ist vor etwa zwei Monaten zum letzten Mal in Wood Lake gewesen. Erstaunlich, nicht wahr? Wenn wir nur wüssten, wo sie sich in den letzten Tagen aufgehalten hat! Das wäre interessant, sogar sehr interessant...«
Siebtes Kapitel
Als Quinn nach unten kam, sprachen Parry und Ford am Kamin miteinander. Carole war in der Küche und machte Sandwiches. Er blieb an der Tür stehen und beobachtete sie. Carole wirkte älter, ernsthafter und gar nicht mehr wie die junge Frau mit dem ansteckenden Lächeln, die er auf Charlie Hinchcliffes Party kennengelernt hatte. Er konnte sich nicht mehr vorstellen, warum er versucht hatte, sie zu küssen. Das war dumm gewesen. Hätte er gewusst, dass Carole früher mit einem Mann zusammengelebt hatte, hätte er das nicht getan. Schließlich brauchte es nicht bei diesem einen Mann geblieben zu sein, nicht wahr?
Nein, damit tust du ihr unrecht, sagte Quinn sich. Sie ist kein Flittchen. Sie hat dich hierher eingeladen, um während ihres Aufenthalts in Elm Lodge vor Bossard sicher zu sein. Ich gebe ihr die Möglichkeit, ihn auf Armeslänge fernzuhalten. Folglich muss er ihr viel bedeuten, ohne dass sie es ihm zeigen will...
Quinns Gedanken wandten sich plötzlich einem anderen Thema zu. Adele hat niemand etwas bedeutet, dachte er. Bossards Benehmen angesichts der Toten ist mir merkwürdig vorgekommen - sein Gesichtsausdruck war nicht richtig -, aber das erklärt alles. Er hat erleichtert gewirkt, als habe ihr Tod eine Last von ihm genommen. Auch Ariadne Wilkinson war nicht sonderlich bekümmert. Neil Ford hat nicht einmal versucht, Trauer zu heucheln. Carole war nachdenklich und schweigsam - aber auch sie hat ihrer Freundin keine Träne nachgeweint.
Und Michael Parry? Er hat sich nicht wie ein Mann benommen, der eben seine Frau verloren hat. Er hat nur eine gewisse Angst verraten, die ein Dutzend Ursachen haben kann. Weder seine Stimme noch sein Blick haben erkennen lassen, dass er um Adele trauert.
Dann bleibt also nur Irene Ford. Sie hat auf ihre Entdeckung mit einem hysterischen Anfall reagiert, aber das war bei einer Neurotikerin ihres Typs nicht anders zu erwarten. Wahrscheinlich hätte sie ähnlich reagiert, wenn sie die Leiche einer Fremden gefunden hätte. Das ist kein Beweis für ihre Zuneigung ihrer Schwägerin gegenüber. Aber nicht jede Frau hätte gleich so gekreischt...
Carole sah von der Arbeit auf und lächelte gezwungen. »Hallo! Sie sind lange oben gewesen. Hat der Inspektor Sie gründlich ausgefragt?«
»Er hat eben erst angefangen«, stellte Quinn fest. »Vorläufig ist noch alles offen. Wie geht’s Mrs. Ford?«
»Doktor Bossard ist bei ihr. Er hat ihr ein Beruhigungsmittel gegeben und glaubt, dass sie sich bis morgen früh einigermaßen erholen wird. Aber sie wird lange brauchen, um ihren Schock ganz zu überwinden.«
»Das ist zu erwarten«, stimmte Quinn zu. »Und wie fühlen Sie sich?«
»Oh, mir geht’s soweit gut«, behauptete Carole. »Jedenfalls viel besser, als wenn ich Adele entdeckt hätte.«
»Danach wollte ich Sie übrigens noch fragen«, sagte er. »Hat Mrs. Ford Ihnen erzählt, warum sie ins Kinderzimmer gegangen ist? Soviel ich weiß, ist es doch sonst nie betreten worden.«
»Im Kinderzimmer hat Licht gebrannt«, antwortete Carole. »Das ist ihr aufgefallen, als sie nach unten gehen wollte. Die Tür war nur angelehnt. Das hat sie natürlich neugierig gemacht...«
»Wäre es nicht schon dunkel gewesen, hätte sie das Licht nicht gesehen«, warf Quinn ein.
»Richtig«, stimmte Carole zu. »Ich verstehe nur nicht, warum Adele überhaupt Licht gemacht hat.«
»Ich auch nicht. Und Inspektor Elvin dürfte sich die gleiche Frage stellen.«
»Vielleicht weiß Michael einen Grund dafür«, schlug Carole vor.
Quinn fragte ihn danach. Michael Parry konnte sich keinen vorstellen; er wirkte auch nicht sonderlich interessiert. Aber Neil Ford bauschte diese Frage in seiner aggressiven Art auf, indem er sagte: »Ich habe selbst gehört, dass meine Frau davon gesprochen hat, die Tür des Kinderzimmers habe einen Spalt breit offengestanden - aber ich sehe nicht ein, was das Sie angeht!«
»Ich dachte, wir wollten das Kriegsbeil begraben?«, erkundigte Quinn sich. »Ich habe übrigens nur Inspektor Elvin zitiert. Er interessiert sich...«
»Dann soll er selbst danach fragen. Finden Sie nicht auch, dass Sie hier überflüssig sind, Mr. Quinn?«
Carole kam mit Kaffee und den Sandwiches aus der Küche. »Suchst du schon wieder Streit, Neil?«, fragte sie.
»Ich wollte damit nur sagen, dass es wohl besser wäre, keine Fremden im Haus zu haben.«
»Mr. Quinn ist kein Fremder«, stellte Carole fest. »Ich habe ihn eingeladen, er kann nichts dafür, dass das alles passiert ist.«
»Ich will keinen Streit«, warf Michael Parry ein, »und außerdem entscheide ich, wen ich im Haus behalte.«
»Danke, ich weiß, was du meinst!«, antwortete Ford erregt. »Sobald Irene sich etwas erholt hat, fahren wir ab.«
Parry schüttelte den Kopf. »Unsinn! Ich will niemand hinausekeln. Können wir uns nicht endlich wie zivilisierte Menschen benehmen?«
»Inspektor Elvin möchte, dass ich bleibe«, behauptete Quinn. »Anscheinend werde ich bei der Gerichtsverhandlung zur Feststellung der Todesursache gebraucht.«
»Alle bleiben bis dahin hier«, entschied Parry. »Ich nehme an, dass die Verhandlung nicht vor Montag stattfindet.«
»Ich muss am Montagmorgen nach Ringwood ins Geschäft zurück«, sagte Ford. »Aber ich werde ohnehin nicht gebraucht. Irene hat Adele gefunden. Eine merkwürdige Sache, nicht wahr?«
»Wie meinst du das?«, fragte Michael Parry.
»Können wir darüber nicht später reden?«, warf Carole ein. »Der Kaffee wird sonst kalt.«
»Nein!« Parry starrte Ford herausfordernd an. »Worauf willst du hinaus?«
Ford zuckte mit den Schultern. »Ich habe nur an etwas gedacht, das schon allen auf gefallen ist: Adele muss nachmittags im Haus gewesen sein - und du hast nichts davon gewusst.«
Parry kniff die Augen zusammen. »Willst du etwa das Gegenteil behaupten?«
»Nein, natürlich nicht! Aber wenn du nur daran gedacht hättest, einen Blick ins Kinderzimmer zu werfen...«
»Ich habe es aber nicht getan. Ich habe geschlafen, bis Carole und Mr. Quinn angekommen sind. Adele sollte erst abends zurückkommen. Warum hätte ich also ausgerechnet im Kinderzimmer nachsehen sollen? Ich...«
»Schon gut, reg dich nicht auf!«, unterbrach Ford ihn. »Ich wollte mich nur nützlich machen.«
»Das könntest du besser, indem du dich um deine Frau kümmerst«, stellte Parry fest.
Neil Ford holte tief Luft. »Und du hättest dich lieber um deine kümmern sollen!«, stieß er hervor. Aber dann nahm er seine Behauptung sofort wieder zurück. »Entschuldige, Michael«, murmelte er betroffen, »das hätte ich nicht sagen dürfen. Aber wir sind alle mit den Nerven herunter, und ich habe...« Er machte eine verlegene Pause. »Vielleicht sehe ich jetzt doch nach Irene.«
»Frag sie, ob sie etwas essen will«, rief Carole ihm nach. »Und sag Doktor Bossard, dass es unten Kaffee gibt.« Als Ford die Treppe hinaufgelaufen war, sah sie zu Parry hinüber. »Wie hast du es nur fertiggebracht, dich so zu beherrschen?«
Michael Parry lächelte schwach. »Ich wollte ihm schon einen Kinnhaken verpassen, aber was hätte das genützt? Komm, wir trinken lieber eine Tasse Kaffee und denken nicht mehr an Adeles Verwandte. Ich habe einen Bärenhunger, kann ich dir sagen!« Er wandte sich an Quinn. »Und wie steht’s mit Ihnen?«
»Danke, ich möchte nur eine Tasse Kaffee«, antwortete Quinn.
Michael Parry schien zu erraten, was Quinn dachte, denn er fuhr fort: »Ich möchte Ihnen noch etwas sagen. Wahrscheinlich geht es Sie nichts an, aber...«
»Dann will ich es nicht hören«, wehrte Quinn ab.
»...aber ich muss es Ihnen trotzdem sagen. Ich habe meine Fehler und Schwächen, aber niemand kann mir vorwerfen, ich sei ein Heuchler. Und ich will auch jetzt nicht damit anfangen. Verstehen Sie, was ich meine?«
Quinn nickte wortlos.
»Ich kann nicht behaupten, vor Schmerz fassungslos zu sein«, fuhr Parry fort. »Das Ganze ist schrecklich, es tut mir leid, aber das ist schon alles. Ich will diese Sache nur möglichst schnell hinter mich bringen, um dann zu verschwinden. Was ich bin, verdanke ich Adele. Niemand weiß, wie...«
»Lass den Unsinn!«, wies Carole ihn zurecht. »Das würdest du nicht sagen, wenn du nüchtern wärst. Wer dir zuhört, muss auf komische Gedanken kommen.«
»Er ist nüchtern«, warf Quinn ein. »Lassen Sie ihn nur reden. Dadurch verschlimmert sich seine Lage nicht mehr.«
Parry nickte Carole zu. »Siehst du? Ich soll Adele ermordet haben. Nur weil ich nicht weiß, wie sie nach Hause gekommen ist, soll ich sie beseitigt haben.«
»Blödsinn!«, widersprach Carole. Sie sah zu Quinn hinüber. »Habe ich recht?«
»Ich weiß nur, dass der Inspektor nicht mit Mr. Parrys Darstellung der Ereignisse dieses Nachmittags zufrieden ist. Mrs. Parry scheint nach ihrer Rückkehr auf ihrem Bett gelegen zu haben. Da sie im Kinderzimmer gefunden wurde, nimmt Elvin an, sie sei dorthin geschafft worden, damit sie nicht vorzeitig entdeckt werden konnte.«
Michael Parry hatte nach einem Sandwich greifen wollen; . jetzt ließ er die Hand sinken. »Siehst du, wie alles zusammenpasst? Ich war allein zu Hause, folglich muss ich der Täter sein. Ich habe Adele ermordet oder ihr zumindest nicht geholfen. Such dir aus, was dir besser gefällt, Carole.«
»Schrecklich«, murmelte sie ausdruckslos. »Stimmt das alles?«
»Ja, die Polizei stellt solche Überlegungen an«, gab Quinn zu.
»Hat der Inspektor gesagt, dass er Michael für Adeles Tod verantwortlich hält?«
»Nicht ausdrücklich«, gab Quinn zu. »Das war nur eine von mehreren Möglichkeiten, die erwähnt wurden. Elvin muss noch lange ermitteln, bevor er genau sagen kann, was sich heute Nachmittag hier ereignet hat.«
»Lassen wir Inspektor Elvin aus dem Spiel«, forderte Carole ihn auf. »Sie wissen bestimmt nicht weniger als er. Was halten Sie davon?«
Eine peinliche Frage, dachte Quinn, und Carole lässt sich nicht mit Ausflüchten abspeisen. Von Basingstoke nach Castle Lammering sind es ungefähr sechzig Meilen. Bei einem Schnitt von vierzig hätte sie für die Hin- und Rückfahrt etwa drei Stunden gebraucht. Dazu kommt noch die hier notwendige Zeit. Aber das wäre alles möglich gewesen, weil ich bis Viertel nach fünf nachmittags geschlafen habe. Carole kann gewusst haben, dass Adele nach ein Uhr nach Hause kommen würde, sie kann hier aufgetaucht sein und ihr ein Schlafmittel in den Cognac geschüttet haben; wenn sie das Haus verlassen hat, bevor Michael Parry gegen halb vier zurückkam, kann sie mir gerade noch den Kaffee gekocht haben, mit dem sie mich dann geweckt hat...
»Ich finde, dass es noch zu früh ist, um Schlussfolgerungen zu ziehen«, antwortete Quinn. »Ich glaube Mr. Parry, wenn er sagt, dass er nichts von der Rückkehr seiner Frau gewusst hat.«
»Das ist nicht viel«, meinte Parry, »aber es ist immerhin besser als Inspektor Elvins Meinung. Wenn es nach ihm ginge, würde er mich gleich einsperren.«
»Du irrst dich bestimmt«, wandte Carole ein. »Du bist nur deprimiert, weil du einen anstrengenden Tag hinter dir hast. Iss eine Kleinigkeit und geh ins Bett. Morgen sieht alles anders aus.«
»Danke«, antwortete Michael. »Ich bin froh, dass ihr beiden hier seid. Hoffentlich...« Er sprach nicht weiter, als er Dr. Bossard die Treppe herunterkommen sah, sondern setzte sich mit seinem Kaffee und einigen Sandwiches an den Kamin. Er kehrte dem Arzt den Rücken zu.
Quinn konzentrierte sich auf Carole. Er fand es widerlich, so von ihr zu denken, aber diese Überlegungen drängten sich ihm förmlich auf: Sie hat dich als Alibi benützt. Sie hat sich auf Charlie Hinchcliffes Party nach irgendeinem Idioten umgesehen, der mit ihr nach Hause käme. Sie war vermutlich sogar bereit, mit ihm ins Bett zu gehen - sobald er einen mit Prembium versetzten Cognac getrunken hatte, der dafür sorgen sollte, dass er bis zum nächsten Nachmittag schlief...
Dr. Bossard lächelte Carole zu. »Bekomme ich noch eine Tasse Kaffee, bevor ich fahre?«
»Natürlich, Doktor!«, antwortete sie bereitwillig.
Die beiden unterhielten sich, während Bossard seinen Kaffee trank, Michael Parry allein am Kamin hockte und Quinn über die dunkelhaarige junge Frau nachdachte, deren Lächeln seinen Zynismus besiegt hatte. Dann verabschiedete sich der Arzt. Carole begleitete ihn zur Tür. Michael Parry murmelte irgendetwas, das man für »Gute Nacht!« halten konnte, und Quinn ergriff plötzlich die Initiative.
»Darf ich Ihnen noch eine Frage stellen, bevor Sie gehen, Doktor?«
Dr. Bossard drehte sich langsam nach ihm um. »Selbstverständlich - wenn Sie mich nicht zu lange aufhalten.«
»Nur eine kurze Frage, Doktor. Können Sie jetzt ungefähr sagen, wann Mrs. Parry gestorben ist?«
Carole zog die Augenbrauen hoch. Dr. Bossard war sichtlich erstaunt. Nur Michael Parry zeigte keine Reaktion.
»Tut mir leid, aber darüber kann ich vorläufig nicht sprechen«, wehrte der Arzt ab.
»Warum nicht? Hat Inspektor Elvin Ihnen das verboten?«
»Nein. Ich halte es nur für wenig angebracht, solche Dinge zu diskutieren, die doch nur unerfreulich sind.«
»Für wen, Doktor? Ich habe die Tote nicht gekannt; Miss Stewart sieht nicht so aus, als brauchte sie gleich Riechsalz; Mr. Parry interessiert sich bestimmt sehr für Ihre Antwort.«
»Vielleicht«, gab Bossard zu, »aber das hat Zeit bis später.«
Michael Parry drehte sich nach ihm um. »Ich möchte es jetzt wissen, Doktor! Das ist mein gutes Recht. Vergessen Sie nicht, dass Adele meine Frau war!«
Dr. Bossard legte die Hände auf den Rücken und dachte angestrengt nach. »Gut, wenn Sie es unbedingt wissen wollen«, entschied er dann. »Als ich Mrs. Parry untersucht habe, war sie seit etwa fünf Stunden tot. Der Tod muss also zwischen vier und halb fünf eingetreten sein. Das lässt sich nicht auf die Minute genau sagen.« Er lächelte höflich. »Mehr weiß ich vorläufig auch nicht.«
»Und wie lange dauert es, bis eine Überdosis Barbiturat den Tod herbeiführt?«, fragte Quinn weiter.
»Das kann ich wirklich nicht sagen«, wehrte Dr. Bossard ab. »Dabei sind so viele Faktoren zu berücksichtigen: die Art des Mittels, die Dosis, der...«
»Nehmen wir einmal an, es habe sich um Prembium in geringer Überdosis gehandelt«, unterbrach Quinn ihn. »Wann wäre die Wirkung eingetreten?«
»Das kann ich erst sagen, wenn das Obduktionsergebnis vorliegt«, behauptete der Arzt.
Michael Parry stand auf. »Inspektor Elvin hat sich dafür interessiert, wann ich nach Hause gekommen bin und warum ich nicht gewusst habe, dass meine Frau bei meiner Rückkehr hier war. Er scheint anzunehmen, sie sei um halb vier im Haus gewesen - und daraus schließe ich, dass Sie ihm gesagt haben, sie müsse das Prembium früher eingenommen haben.«
Bossard hob abwehrend die Hand. »Ich bin nicht daran schuld, wenn der Inspektor zu eigenen Schlussfolgerungen gelangt. Ich habe ihm nur erklärt, dass die tödliche Wirkung einer Überdosis erst nach mindestens einer Stunde einsetzt. Es können bis zu zwei Stunden sein, aber weniger als eine ist äußerst unwahrscheinlich.«
»Das bedeutet im Grunde genommen auch nichts anderes«, stellte Parry fest. »Wenn meine Frau gegen halb fünf gestorben ist und das Schlafmittel nach etwa einer Stunde tödlich gewirkt hat.« Er machte eine Pause. »Ich meine, sie kann doch erst nach einer Stunde gestorben sein, deshalb muss sie um halb vier im Haus gewesen sein, und ich habe nichts davon gewusst.«
»Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits bewusstlos«, erklärte Bossard ihm ruhig. »Und jetzt muss ich wirklich gehen. Gute Nacht.«
An der Tür murmelte er Carol noch etwas zu. Quinn hörte sie antworten: »Das hat keinen Zweck - aber ich lasse mir die Sadie durch den Kopf gehen.«
Parry setzte sich wieder an den Kamin. Quinn runzelte die Stirn, während er über Adele Parrys Leben und Sterben nachdachte. Sie ist erst ein paar Stunden tot, aber ihrem Mann ist das gleichgültig - und ihrem Arzt auch, überlegte er sich. Michaels Haltung ist verständlich; vielleicht erbt er ein Vermögen. Aber was hat Dr. Bossard von Adeles Tod? Carole könnte es wissen - aber sie erzählt es mir bestimmt nicht...
Carole kam zurück, als Bossard abgefahren war. Michael Parry stand auf und reckte sich. »Wenn niemand etwas dagegen hat, gehe ich jetzt ins Bett. Zeigst du Mr. Quinn sein Zimmer, Carole?« Er ging zur Treppe, blieb noch einmal stehen und sah zu Quinn hinüber. »Tut mir leid, dass das alles passiert ist. Sie haben sich das falsche Wochenende ausgesucht.«
»Ich habe es mir nicht ausgesucht«, antwortete Quinn. »Das war Caroles Idee.«
»Macht nichts«, entschied Parry von der Treppe aus. Er ging einige Stufen weiter und blieb nochmals stehen. »Ich kann nicht erwarten, dass Ihr euch auf meine Seite stellt - aber ich bin trotzdem froh, dass Ihr hier seid...«
Carole wartete, bis sich die Schlafzimmertür hinter ihm geschlossen hatte. »Diesen Mann verstehe ich einfach nicht! Manchmal tut er mir leid, aber im nächsten Augenblick möchte ich ihm am liebsten einen Tritt geben!«
»Abwechslung macht Spaß«, meinte Quinn. »Was halten Sie im Augenblick von ihm?«
Carole zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich selbst nicht. Aber ich habe Angst.«
»Weil Sie glauben, dass er seine Frau vergiftet hat? Oder haben Sie um jemand anderen Angst?«
Sie schüttelte unwillig den Kopf. »Ich glaube nicht, dass jemand Adele etwas antun wollte. Wenn sie an einer Überdosis eines Schlafmittels gestorben ist, muss sie die Tabletten selbst eingenommen haben.«
»Wollen Sie das nicht Inspektor Elvin erzählen?«, fragte Quinn. »Er glaubt an einen Mord - und er wird sich nicht leicht von dieser Idee abbringen lassen. Was ich in diesem Haus gesehen und gehört habe, bringt mich allerdings dazu, seiner Meinung zu sein.«
»Was haben Sie gehört?«
»Genug, um zu wissen, dass niemand Adele Parry geliebt hat. Ihr Tod nützt eigentlich allen - oder alle bilden es sich ein.«
»Meinen Sie finanziell?«
»Allerdings. Glauben Sie nicht, dass sie ein paar hübsche Legate für ihre Angehörigen und Freunde ausgesetzt hat?«
»Sie hat nie ein Testament gemacht«, behauptete Carole.
»Woher wissen Sie das?«
»Sie hat es mir selbst gesagt. Vor einigen Wochen hat sie plötzlich erwähnt, sie müsse gelegentlich ihr Testament machen, obwohl ihr der Gedanke daran zuwider sei. Anscheinend haben ihre Anwälte ihr dazu geraten.«
»Und jetzt hoffen alle Beteiligten, dass sie diesen Rat befolgt hat«, stellte Quinn fest.
Carole warf ihm einen erstaunten Blick zu. »Seit wann so verändert? Gestern Abend waren Sie netter. In dieser Stimmung gefallen Sie mir nicht.«
»Ich bin wie ein Chamäleon: Ich passe mich meiner Umgebung an«, behauptete Quinn. »Und diese Umgebung ist feindselig. Oder haben Sie das noch nicht gemerkt?«
Carole lächelte nur. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer«, forderte sie ihn auf.
Quinn folgte ihr in den ersten Stock. Sie führte ihn den Flur entlang, ging am Kinderzimmer vorbei und öffnete die übernächste Tür. »Das ist Ihr Zimmer. Gute Nacht!«
»Danke, gleichfalls«, antwortete Quinn. »Wünschen Sie Neil Ford eine gute Nacht von mir, falls Sie ihn noch sehen sollten.«
Carole blieb stehen. »Warum legen Sie es darauf an, mich zu ärgern? Sie wissen genau, dass ich nichts mit Neil Ford habe!«
»Auch mit Michael Parry nicht?«
»Das ist noch lächerlicher! Warum sagen Sie das? Wollten wir nicht Freunde werden?«
»Zwischen Freunden geht es ehrlich zu«, stellte Quinn fest.
Carole runzelte die Stirn. »Was soll das heißen?«
»Sie hätten mir beispielsweise sagen können, dass Sie mich nur mitgenommen haben, weil ich Ihnen nützlich sein konnte«, erwiderte Quinn.
Carole schien einzusehen, dass es zwecklos war, leugnen zu wollen. »Ist das so wichtig? Sie wussten ohnehin nicht, wohin Sie fahren sollten. Sie hätten die Einladung ausschlagen können.«
»Sie haben vorgegeben, mich sympathisch zu finden. Und das war geschwindelt, nicht wahr?«
Carole kniff die Augen zusammen, und Quinn dachte, sie würde ihn auf dem Flur stehenlassen. »Warum wollen Sie unbedingt Streit mit mir?«, erkundigte sie sich. »Das verstehe ich nicht!«
»Ich habe es nur satt, an der Nase herumgeführt zu werden«, stellte Quinn fest. »Warum sagen Sie mir nicht endlich die Wahrheit? Sie haben mich eingeladen, das Wochenende in Elm Lodge zu verbringen, weil Sie dachten, sich dadurch vor einem Mann schützen zu können. Da Ford und Parry ausscheiden, muss es Doktor Bossard sein, nicht wahr?«
»Nehmen wir einmal an, Sie hätten recht«, antwortete Carole. »Was geht Sie das an?«
»Sogar ziemlich viel, falls er der Mann ist, der vergessen hat, seine Wäsche mitzunehmen.«
»Ich kann Ihnen versichern, dass er sich nicht um solche Kleinigkeiten kümmert!«
»Aber ich laufe nicht gern in einem Hemd Ihres früheren Liebhabers herum«, erklärte Quinn ihr.
Carole lächelte humorlos. »Er war nicht mein Liebhaber, aber ich hatte gehofft, ihn durch Sie von mir fernhalten zu können. Ich bezweifle sehr, dass Adele ihn
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Authors/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Wulf Bergner, Norbert Wölfl, Fried Holm, Rosmarie Kahn-Ackermann, Paul Baudisch und Christian Dörge.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 16.06.2021
ISBN: 978-3-7487-8577-4
Alle Rechte vorbehalten