ERNESTINE WERY
Emilys Alptraum
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
EMILYS ALPTRAUM
ERSTER TEIL
ZWEITER TEIL
DRITTER TEIL
Das Buch
Emily Haunschilds Ehe ist nicht glücklich - obwohl sie einen Mann geheiratet hat, der blendend aussieht, sich rührend um seine Frau bemüht und genügend Geld verdient, um Emily mit Luxus zu umgeben.
Aber womit verdient Bert Haunschild eigentlich derart viel Geld? Und ist er wirklich der charmante, besorgte Ehemann?
Emily behauptet, dass er ein Mörder ist und auch ihr nach dem Leben trachtet. Doch dafür gibt es kaum Indizien, geschweige denn Beweise...
Ernestine Wery (* 21. April 1909 in München als Ernestine Fentsch; † 26. November 1997) war eine deutsche Schauspielerin sowie Drehbuch- und Romanautorin. Nach ihrer Heirat mit dem Schauspieler Carl Wery zog sie sich von der Schauspielerei zurück und schrieb ab 1943 Filmdrehbücher. Auch als Autorin blieb sie häufig dem bayerischen Lokalkolorit verbunden. Mit ihren insgesamt 22 Drehbüchern, von denen 16 verfilmt wurden, trug sie einen nicht unwesentlichen Teil zum Charakter des bundesdeutschen Kinos der 1950er Jahre bei. In späteren Jahren verlegte sie sich auf die Schriftstellerei. Sie schrieb mehrere Romane, insbesondere Kriminalromane, die teilweise ihre Drehbücher für die Krimiserie Tatort als Grundlage haben.
Der Roman Emilys Alptraum erschien erstmals im Jahr 1979 (unter dem Titel Die Warnung).
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der deutschen Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
EMILYS ALPTRAUM
ERSTER TEIL
Erstes Kapitel
War es ein Traum - oder was sonst?
Emily schlief.
Nach einem unguten Abend mit Bert war sie aufgestanden und gegangen. Nein, sie ließ sich nicht provozieren. Gute Nacht! Getrunken hatte er wieder einmal, doch nicht so viel, um betrunken zu sein. Herausfordern wollte er sie, quälen und reizen, nur der Teufel mochte wissen, warum. Aber sie tat ihm den Gefallen nicht. Sie ging, ehe der Streit, der von ihm gesuchte, losbrach.
Sie schliefen getrennt.
Als sie das gesehen hatte bei ihrem Einzug damals - jeder sein eigenes Schlafzimmer -, war sie bestürzt und gekränkt gewesen. Indessen hatte sie das eigene Zimmer als Zufluchtsort begreifen gelernt, und den Schlüssel, mit dem sie sich einschließen konnte, als ihren Freund.
Im Hinaufgehen hörte sie ihren Mann noch unten rufen, jenen alkoholisierten Befehlston, der sie beordern sollte, den nächtlichen Whiskydialog fortzusetzen. Ruf du nur! Sie sperrte hinter sich zu, zog sich aus und nahm ihr Schlafmittel. Zwei heute, sonst drehte sich die Spindel der Gedanken die ganze Nacht weiter. Sie ließ die Tabletten in einem Glas Wasser zerfallen, so wirkten sie schneller.
Vierundzwanzig Jahre jung, gesund - und jede Nacht Barbiturate. Anders fand sie nicht mehr in den Schlaf.
Sie trank das Glas aus und kroch ins Bett.
Bald danach er. Türenknall unten, das Wuchten seiner Schritte auf der Treppe. Sie kannte das. Hatte er keinen mehr zum Streiten, verzog auch er sich ins Bett, und stand er unter Alkohol, war nichts mehr übrig von der fast tänzerischen Eleganz seiner Bewegungen, die sie einmal entzückt hatte. Ein Bleifüßiger stapfte. Tür zu gegenüber, und Stille. Aber nur kurz. Minuten später würde der schöne, junge Mann namens Engelbert, genannt Bert, in den lärmenden Schlaf der Promille fallen. Auch das kannte sie. Wie viele Nächte sie ihn schon schnarchen gehört hatte durch die Mauern - sie zählte sie nicht mehr. Und morgen früh ging es weiter: ein unbegreifbar Veränderter, Geliebter einst und gegen alle Widerstände Ertrotzter - ihr Peiniger heute. Warum sie ihm nicht schon weggelaufen war - ja, wohin? Das war das Problem. Zu den Eltern? Sie konnte es nicht. Zugeben müssen, eingestehen, dass der Pappa recht gehabt mit dem Schönling, Abbitte leisten für das hingeschmissene Studium, Abbitte für den Spießer, den kleinkarierten Tyrannen, den sie Pappa genannt hatte - sie brachte es nicht über sich. Wissend, dass der Posten verloren war, verloren im Grunde schon seit dem sehr kurzen Traum der Hochzeitsreise - auch dieser Traum schon nicht mehr ganz unbeschädigt -, harrte sie noch aus und schob die Kapitulation vor sich her.
Nein, nicht denken. Bloß nicht ins Denken kommen. Sie überließ sich der Betäubung. Willkommen, ihr Barbiturnebel, macht euch heran. Hineinfallen lassen - fallen - fallen...
Ja, Traum - oder was?
Als sie schlief, sprach eine Stimme sie an.
»Emily...«
Es war eine leise Stimme, die einer Frau.
»Emily...«
Modulationslos die Stimme, unlebendig.
»Emily...«
Die Schlafende bewegte sich, ohne aufzuwachen. Sie wollte nicht wach werden, wurde er auch nicht.
»Ich muss dir etwas sagen, Emily.«
»Mh, müde...«
»Ich bin’s, Judith.«
»Kenn’ ich nicht.«
»Natürlich kennst du mich; du hast mein Bild.«
Ach so, diese Judith. Die Schlafende drehte sich zur Seite. Judith, seine erste Frau. Ihr Porträt, auf dem Speicher gefunden, hing bei ihr im Schlafzimmer. Das Bild hatte ihr gefallen, die Frau auch.
»Judith ist tot«, murmelte sie.
»Auch Tote leben«, antwortete die Stimme. »Das weißt du doch, Emily. Erinnerst du dich nicht? Ich habe mich doch schon einmal gemeldet.«
»Mh, lass mich in Ruhe...« Gequält warf sich die Schlafende zurück. Solch scheußlicher Tag gewesen heute, sie brauchte ihren Schlaf!
»Ich nehm’ ihn dir ja nicht, nur zuhören sollst du. Emily - du gehst denselben Weg wie ich.«
»Was denn für ’n Weg? Judith starb mit Vierzig an einem Gehirnschlag, und jetzt hör auf.«
»Achtunddreißig war ich«, berichtigte die Stimme, »und Gehirnschlag steht auf dem Totenschein.«
Schweigen. War nun Ruhe?
Nur Pause.
»Ich war eine lohnende Partie«, begann die Stimme wieder. »Das bist du auch, Emily.«
»Unsinn, was hab’ ich schon?«
»Es summiert sich. Du brachtest ein Grundstück mit, ich das Haus, in dem du jetzt lebst.«
»Das gehört Bert, und nun lass mich endlich.«
»Jetzt gehört es ihm. Aber zuerst«, stellte die Stimme klar, »gehörte es mir. Er erbte es. Wie er auch dein Grundstück erben möchte. Und vor allem die Versicherung.«
Versicherung? Die Schlafende begriff nicht.
»Du hast doch eine Lebensversicherung, Emily.«
Ach so, die.
»Was dachtest du damals: Vierundzwanzig - und lässt dich lebensversichern von deinem Mann?«
Was sollte sie sich gedacht haben, nichts. Ihr Mann versicherte sich auch, sie fuhren beide Auto.
»Aber die Höhe, Emily: zweihunderttausend!«
Und? Die Schlafende begriff noch immer nicht. Bert hatte sich genauso hoch versichert.
»Eben nicht, Emily.«
»Das weiß ich nun genau. Ich hab’s gelesen.«
»Den Antrag hast du gelesen, die Police nicht. Eine Null weniger, Emily. Er hat die Versicherungssumme nachträglich geändert. Sein Trick, das. Den wandte er auch bei mir an. Auf zwanzigtausend ist er versichert.«
Die Schlafende oder Träumende, oder was sie war, versuchte nachzudenken, sie bekam es nicht zusammen. Ihr Kopf war nicht fähig, zu denken. Sie wälzte sich wieder zur Seite. »Warum quälst du mich bloß, was willst du?«
»Emily...«, sagte die Stimme jetzt ganz nahe, »es war kein Gehirnschlag. Medizinisch war es einer, aber kein natürlicher. Er hat ihn herbeigeführt.«
»Wer er?«
»Bertie. - Aber überzeuge dich erst, damit du mir glaubst. Steh auf und tu, was ich dir sage. Schlaf ruhig weiter, die paar Schritte findest du auch im Schlaf.«
Aufstehen sollte sie?
Eigentlich sträubt sie sich, gehorcht aber trotzdem, tut, was die Stimme verlangt, steht wie betrunken von dem Schlafmittel auf, geht hinaus, schwankend etwas, vorbei an der Tür gegenüber, aus der die Atemzüge des Hausherrn die Nachtstille zersägen, hinunter die Treppe, und spürt ganz real unter den Fußsohlen die borstig weiche Wolle des Teppichbelags, der ihre Schritte lautlos verschluckt.
Traum - oder Wirklichkeit?
Die Stimme leitet.
»In den Wohnraum.«
Emily drückt die Klinke, spürt auch das kühle Messing real in der Hand, geht hinein.
Ganz dunkel ist es hier nicht, vor den Fenstern, die mit Vorhängen bedeckt sind, bleicht eine Mondnacht. Auf dem Tisch stehen noch die Gläser und sonstigen Hinterlassenschaften des Abends: Flaschen, Aschbecher, das große Feuerzeug, es riecht widerlich beizend nach kaltem Rauch.
Und die Stimme leitet.
»Geh an den Sekretär - schönes, altes Möbel, gefällt dir, ich weiß, stammt noch aus meiner Familie - und zieh das vierte Schublädchen rechts auf.«
Emily tastet. Viertes Schublädchen rechts.
»Greif in die Öffnung, du spürst eine Feder. Drück sie. Dahinter ist ein Fach.«
Emily greift hinein, fühlt etwas Metallenes.
Ein Fach, unerkennbar von außen, öffnet sich.
»Nimm den Inhalt heraus. Zwei Plastiktüten. Sieh dir an, was drin ist. Ampullen in der einen. Stimmt’s?«
Es stimmt. Emily fühlt Glas.
»Nimm sie heraus und zähle. Wie viele sind’s?«
Emily zählt. Acht sind es.
»Geh ans Fenster und lies, was draufsteht.«
Mit ihren unsicheren Schritten bewegt sich die Schlafende hin ans Fenster, zieht ein Stück des Vorhangs zurück, der Mond fällt in voller, weißer Bahn herein. Das Licht ist jedoch zu diffus, als dass sie die Aufschrift auf den Glasphiolen entziffern könnte.
»Schwer zu lesen, wie?« Die Stimme hilft. »Insulin.«
Ja, so könnte es heißen. Heißt es auch.
Insulin.
»Und jetzt schau in den zweiten Beutel. Was ist da drin? Spritzen. Stimmt’s?«
Auch das stimmt.
»Neue Einmalspritzen«, kommentiert die Stimme. »Auch die Ampullen sind nicht alt. Zähle die Spritzen.«
Emily zählt. »Vier.«
»Und jetzt leg alles wieder in das Fach zurück, mach es zu und geh in dein Bett.«
Verfilzt in ihren tiefen Schlaf, unwillig und doch gehorsam, tut Emily, was ihr gesagt wird, und begreift nichts.
Insulin?
Sie geht wieder hinauf, geräuschlos über Teppichstufen, vorbei an der Tür, hinter der ihr Mann schnarcht, hinein in ihr Zimmer, schließt zu, legt sich ins Bett - und hat das Gefühl, dass dies, verdammt noch mal, kein Traum sein kann. Insulin? Davon hat sie schon gehört. Ist es nicht ein Medikament? Für Zuckerkranke, wie?
»Diabetes«, bestätigt die Stimme. »Acht Ampullen und vier Spritzen. Du kanntest das Fach nicht?«
»Nein.«
»Insulin«, fährt die Stimme fort, »einem Nichtdiabetiker in Überdosis gespritzt, bewirkt Gehirnschlag. Und ist im Körper nicht nachzuweisen. Das war mein Tod, Emily. Ich war genauso wenig zuckerkrank, wie du es bist.«
Die Schlafende spürt, wie ihr der Schweiß ausbricht. »Dann hätte er dich - umgebracht?«
»Das hat er.«
»Aber warum?«
»Um mich zu beerben. Und die Versicherung zu kassieren. Das, was er auch mit dir will, Emily.«
»Aber er hat mich doch geliebt!«
»Zu keiner Zeit, Emily. Er hasst dich, wie er mich gehasst hat. Er kann gar nicht Heben.«
Emily, schwitzend in ihrem nicht definierbaren Schlaf, greift sich an den Hals und fühlt es wieder real an den Fingern - nass und kalt. Und die Stimme in diesem Angsttraum, oder was es ist, rinnt und rinnt -
»Es ging mir wie dir«, erzählt sie, »ich liebte ihn und glaubte mich wiedergeliebt. Schon auf der Hochzeitsreise begann es. Ironisch erst und leise, Kritik, Nadelstiche. Ich konnte ihm nichts mehr recht machen. Als wir zurückkamen in dieses Haus, ging es los. Szenen, Auftritte. Bagatellen wurden hochgespielt zu Katastrophen. Ich kannte ihn nicht wieder.«
»Mein Gott«, Emily wischt sich den Schweiß vom Hals, »das ist ja genau meine Geschichte.«
»Ja, er wiederholt sich«, sagt die Stimme, »sehr viel Phantasie hat er nicht. Er will dich nach demselben Rezept fertigmachen wie mich. Bei mir ging die Rechnung auf, ich konnte mich nicht beherrschen wie du, ich schrie zurück, erregte mich. Ich wurde krank. Und das wollte er. Eine Herzsache, zu der ich die Anlage hatte. Jetzt zeigte er sich besorgt. Um Gottes willen, sein ungeduldiges Temperament, so hätte er es doch nicht gemeint; er bat um Verzeihung. Ich glaubte ihm, fand es rührend, dass er mir den ständigen Weg zum Arzt ersparen wollte und sich erbot, mir die Injektionen zu machen. Und du weißt ja, das kann er.«
Emily weiß. »Er hat Medizin studiert.«
»Hat er nicht. Sanitäter war er.«
»Er sagt, er hätte ein paar Semester Medi...«
»Kein einziges. Er hat nicht mal das Abitur. Ja, und so kam es zur Injektion. Ein Herzmittel, dachte ich.«
Emily hat begriffen. »Und Insulin war es?«
»Ja. Zwei große Ampullen. - Ich muss gehen jetzt, Emily. Merk dir noch ein paar Namen. Vor mir gab es eine Frau, Amina hieß sie. Amina Stillberg. Mit ihr lebte er zusammen; verheiratet waren sie nicht. Und der zweite Name, den du dir merken sollst, ist Laubhain. Wie der Hain und das Laub. Von dort kommt er. Sein Vater war ein anständiger Mann. Auch Amina Stillberg findest du in Laubhain.«
Die Stimme bricht ab.
»Judith...«
Keine Antwort.
»Judith...«
Keine Antwort.
»Judith...«
Die Schlafende will rufen und kann den Mund nicht offnen. Bleib, will sie rufen. Ich muss dich noch fragen, Judith! So antworte doch, Judith...
Aber jetzt schwemmte Wasser heran, eine steil aufgeworfene, hohe Woge, und diese Woge kannte sie. Jetzt wusste sie mit Sicherheit, dass es ein Traum war, denn von der Woge träumte sie schon lange, es war immer das gleiche: Die Woge erfasste und verschüttete sie, und hinunter ging es in eine unendliche Tiefe, grün, sehr grün - tintengrün - dunkelgrün - schwarz...
Zweites Kapitel
Am nächsten Morgen erwachte Emily vom Rollen einer schweren Türe. Das Garagentor! Sie fuhr hoch im Bett und lief taumelig ans Fenster.
Vorm Haus unten stand Berts Auto.
»Entschuldige«, rief sie, »ich hab’ verschlafen.«
Bert kam von der Garage und ging zu seinem Wagen, er sah nicht hinauf zu ihr. »Ich kann mir das Frühstück auch allein machen.« Es klang sarkastisch, war auch so gemeint. Er stieg ins Auto und fuhr weg.
Sie trat vom Fenster zurück und registrierte im Moment nur eines: Der Kopf tat ihr weh. Zwei Schlaftabletten - morgens bezahlt man die Zeche.
Ihr Blick fiel auf das Bild von Judith.
Tagesfrühe, helles Licht, im Garten draußen pfeifende Vögel. Ein Bild, nichts weiter. Porträt einer dunkelhaarigen Frau, älter als sie und, so fand Emily, schöner. Judith ohne jedes Geheimnis.
Träume...
Am Morgen lächelt man darüber.
Duschen jetzt, Wasser!
Im Bad begegnete sie sich im Spiegel. Danke, kein Bedarf. Sie schaute vorbei. Dass sie hübsch sein sollte, ein apartes Persönchen, und was manche so fanden, hatte sie schon früher nur selten geglaubt. Sie genügte ihren Ansprüchen nicht. Persönchen, das war’s. Diminutiv. Zu klein das Ganze. Die Heutigen im Zeitalter des Wassermanns begannen bei 1,75. Sie hatte bei 1,60 aufgehört. Seit ihr morgens die Barbitursäure unter den verquollenen Augen hing, mochte sie auch ihr Gesicht nicht mehr. Wenn sie jetzt schon wie ihre Mutter aussah, dachte sie mit der ihr eigenen Übertreibung in den Belangen ihrer Person, was kam ihr dann aus dem Spiegel entgegen, wenn sie mal über Dreißig war! Sie stopfte ihr messingfarbenes Haar , - dass es schön war, ihr Haar, konnte nicht mal sie leugnen, ein seltenes, echtes Silberblond - unter die Badekappe und drehte die Brause auf, kalt, wie’s aus der Leitung kam.
Das half. Danach fand sie sich wenigstens ähnlich. Beim Frisieren war der Blick in den Spiegel unvermeidbar. Die Säcke unter den Augen hatten sich verzogen. Es war aber nicht mehr ihr Gesicht, und das ausnahmsweise war keine Übertreibung. Es stimmte nicht mehr, das Gesicht. Ein lustig angelegtes Gesicht, dem das Lachen abhandengekommen war. Gesicht mit Bruch. Das war ja auch ihre Situation: Bruch. Sie fuhr in Hosenröhren und stülpte einen Pulli über. Den Spuk der Nacht hatte sie hinter sich, ein neuer Tag konnte beginnen. Ein guter Tag wohl kaum.
Während sie noch mal mit dem Kamm durch das helle Haar fuhr, wandelte sie Neugier an. Ansehen wollte sie sich den geträumten Sekretär ja doch -
Unten war schon aufgeräumt, die Fenster im Wohnraum standen offen, Vorhänge wehten ihr entgegen, als sie eintrat - zum Teufel, heute war ja Freitag! Der Tag der Putzfrau Sedlacek. Unangenehm für Emily, dass sie ausgerechnet heute verschlafen musste. Nun hatte die alberne Henne wieder was zu tratschen, und der Schein mochte ihr recht geben. Schläft in den Tag hinein, die junge Frau, macht dem Mann nicht mal das Frühstück.
Emily ging an den Sekretär.
Barock, Hölzer in Bernsteintönen. Intarsien. Die Seitenteile gewölbt. Ein nobles, altes Stück.
Viertes Schublädchen rechts.
Emily zog es heraus - und da war es: die Feder, das Geheimfach, der Inhalt.
Warum fängt jetzt ihr Herz zu rasen an? Hatte sie denn erwartet, nichts zu finden?
Was heißt erwartet: Sie hat Dinge der Nacht in der Helligkeit des Morgens abgetan, und nun stellt sich heraus, dass diesem sogenannten Traum mit Lächeln nicht beizukommen ist. Einen Moment lang ist sie versucht, das Fach zuzustoßen und wegzulaufen, aber dann zwingt sie sich, in die Plastiktüten hineinzugreifen und herauszufingern, was drin ist. Es sind, sie weiß es ja, Spritzen, und es sind Ampullen, auf denen in weißlicher Aufschrift Insulin steht - nur, da hat sich etwas verändert.
Es sind nur noch sechs Ampullen und drei Spritzen.
Sie zählt, zählt noch mal - es bleibt dabei.
Sechs Ampullen, drei Spritzen.
Es waren aber - sie weiß es doch genau - acht Ampullen und vier Spritzen? Jemand muss zwei Ampullen und eine Spritze herausgenommen haben, und das an diesem Morgen, und dieser Jemand kann nur Bert gewesen sein.
So etwas wie Panik kriecht ihr über den Rücken und hinauf in den Hinterkopf, sie muss sich befehlen, ruhig zu bleiben, Ruhe, Ruhe, auch wenn ihre Knie plötzlich keinen Halt mehr haben. Warum, so überleg doch, warum hat der Jemand die Ampullen und die Spritze herausgenommen? Sie kann den Gedanken nicht bis ans Ende fädeln, Angst greift wie die Arme von einem Kraken nach ihr und löst den blinden Rettungsmechanismus aus: Weg hier!
Mit fahrigen Händen steckt sie alles wieder hinein, schließt das Fach und setzt sich ohne Frühstück ins Auto.
Jäger heißt der Arzt, bei dem sie in der nächsten Viertelstunde landet. Dr. Jens Jäger, Internist, nahezu lebenslänglicher Arzt der Familie Bley, aus der Emily stammt, trotz Fließbandpraxis noch so viel Mensch, dass er sich auch mal ein paar Minuten mehr Zeit nimmt, wenn es nötig ist.
»Doktor - bin ich eine Hysterikerin?«
Die Frage gerade von ihr fände der Arzt komisch, sähe er nicht, dass sie sich in einem für sie ungewöhnlichen Erregungszustand befindet. Er kontrolliert ihren Puls, den Blutdruck, horcht ihr Herz ab.
»Was ist mit Ihnen los, Emily?«
Sie deckt keine Karten auf. »Gibt es das«, sagt sie und versucht Kurzatmigkeit zu kaschieren, »ich meine, was sagen Sie als Arzt - Wachträume, Wahrträume, oder wie man’s nennen will? Dass man Dinge träumt, von denen man nichts weiß, Dinge, die dann... Realität sind?«
Dr. Jäger kennt sie zu lange, ihm kann sie nichts vormachen. »Was ist passiert, Emily? Wie kommen Sie zu dem Blutdruck? Hatten Sie eine Aufregung?«
»Das auch. Es geht aber nur darum, ob es das gibt. Ich meine, wissenschaftlich erwiesen. Solch ein Fall«, erfindet sie, weil sie dem Arzt ja eine Erklärung schuldet, »hat sich bei Bekannten von uns ereignet und wir hatten deswegen - nun, ziemliche Differenzen.«
Jäger nimmt ihr das zwar nicht ab, da sie aber ganz offensichtlich nicht sprechen will, verabreicht er ihr außer einem Rezept für ein Sedativum auch seine Meinung. Geben, konzediert er, mag es das. Ihm sei aber kein einziger zweifelsfreier Fall bekannt, er selbst stehe skeptisch zu dem ganzen parapsychologischen Gebiet, halte das meiste für Täuschung, ob bewusst oder unbewusst. Allerdings habe er sich, wie er objektiverweise zugeben müsse, nie ernstlich mit diesen schwer durchschaubaren Phänomenen befasst. »Sie müssten aber da doch mehr wissen als ich«, findet er, »Sie haben sich doch, wenn ich mich recht erinnere, bei Ihrem Psychologiestudium auch mit diesem ganzen Psi und so weiter beschäftigt?«
»Beschäftigt - interessiert habe ich mich. Es ist aber was grundsätzlich anderes, wenn man plötzlich in so was hineingerät - und sei’s nur über Leute, die man kennt. Das ist sehr anders, kann ich Ihnen sagen! Danke, Doktor, und auf Wiederschauen.«
Sie geht. Und fragt, schon an der Tür, noch wegen Insulin.
»Stimmt es, dass Insulin, einem Gesunden in Überdosis gespritzt, tödlich wirkt?«
»Wie kommen Sie ’n darauf?«
»Das...« Sie stockt. Das hänge, behauptet sie, auch mit diesen Bekannten zusammen. »Da starb nämlich jemand. Noch nicht vierzig, Gehirnschlag. Und das soll durch Insulin verursacht sein.«
Der Arzt glaubt zu verstehen: Angehörige suchten nach einer Schuld für einen frühen Tod. »Hirninfarkt in jungen Jahren«, gibt er zur Antwort, »ist heutzutage durchaus keine Seltenheit mehr.«
Das ist es aber nicht, was sie wissen will. Sie beharrt auf Insulin. »Wie ist das im Prinzip? Kann es in Überdosis Gehirnschlag herbeiführen?«
»Im Prinzip...«, sonderbare Fragerei, findet Jäger ja, geht aber darauf ein: »Da muss man sich erst mal klar sein, was Insulin ist. Ein Hormon. Regelt den Kohlehydratstoffwechsel. Überdosierung führt zu Hypoglykämie. Vielleicht haben Sie von den Insulinschocks gehört; damit wird in der Neurologie gearbeitet.«
»Und dabei gibt es Todesfälle?«
»Wo denken Sie hin! Sind zwar sehr umstritten, diese Schocks, aber sie...«
Emily unterbricht. »Und theoretisch, wie ist das theoretisch? Wenn man einem Neuropatienten Insulin in zu hoher Dosis spritzt - könnte es dann, weil er doch nicht zuckerkrank ist, zum Gehirnschlag kommen?«
»Wer, um Gottes willen, täte das? Theoretisch, natürlich, theoretisch wäre es nicht unmöglich. Es gab ja auch schon Insulinmörder.«
»Mörder?« Sie spürt, wie sie sich verfärbt.
»In den Vereinigten Staaten; ich weiß nicht mehr, wie er hieß, ging durch die ganze Presse damals: Der rottete ungefähr seine ganze Verwandtschaft aus, und es dauerte Jahre, bis sie ihn überführen konnten.«
»Und - Spuren?« Sie hört ihre Stimme schwanken und tarnt es mit einem rauhalsigen Räuspern. »Spuren hinterlässt Insulin nicht? Im Körper, meine ich. Bei einer Obduktion - nichts zu finden?«
»Spuren...«, Jäger beobachtet sie, was hat sie bloß? »Spuren - nun, es ist kein Gift. Symptome eines Hirninfarkts wird man feststellen, Blutandrang in den zerebralen Gefäßen, Hirnschwellungen - Emily, was ist los? Was haben Sie, Sie haben doch was?«
Sie redet sich auf die Auseinandersetzungen hinaus, sie habe das alles nicht glauben wollen und da seien sie in Streit gekommen. »Nochmals tausend Dank, Doktor!«
Sie verschwindet.
Jäger suchte ihre Karteikarte heraus.
BLEY, EMILY. Er führte sie noch unter ihrem Mädchennamen. Bley war durchgestrichen, darüber stand HAUNSCHILD.
Er notierte: 155 / 90, Erregungszustand.
Bekannte. War natürlich der Mann. Ehekrach also.
Julius Bley schnitt an diesem Morgen die Rosenstöcke in seinem Vorgarten, als er das große Auto heranknurren hörte. In der stillen, engen Straße zwischen, Gärten und kleinen Villen gibt’s wenig Verkehr, man schaut noch nach einem Auto. Hummerrot war’s und kam Bley senior bekannt vor. Es hielt vor seiner Gartentür. Er ließ die Rosenschere aus der Hand fallen - wer stieg aus?
»Die Tochter!«, konstatierte er und machte ihr die Tür auf. »Sieh mal an.«
»Tag, Papa«, sagte Emily Haunschild, geborene Bley.
Sie gab ihm die Hand. Er ihr auch.
Nicht die innigste Begrüßung.
»Titi!«, rief Bley durch ein offenes Fenster ins Haus. »Komm doch mal und schau, wer da ist!«
Christine Bley, von ihrem Mann Titi gerufen, erschien und nahm die Tochter ohne weiteres in die Arme, küsste sie. »Das ist aber schön!«
Betreten stand Emily zwischen den Eltern.
Titi Bley war eine nachgiebige und praktisch denkende Frau, noch sehr viel jünger im Temperament als ihren Jahren nach. »Nun steht nicht so komisch da«, sagte sie zu Mann und Kind, »gehen wir rein.« Sie nahm Emily um die Schulter und schritt voran mit ihr; der Herr des Hauses folgte wohl oder übel.
»Das trifft sich gut«, parlierte Titi mit der Tochter, während sie die Steingartenstufen hinauf und in die Diele gingen, »dein Vater macht Urlaub, nicht freiwillig, das steht bei ihm ja nicht drin, aber der Arzt hat ihm einen Schuss vor den Bug verpasst.«
»Fehlt dir was?«, fragte Emily mehr zwangsläufig als ehrlich interessiert in dem Moment.
Bley verpasste seiner Frau einen Blick. »Nun mach nicht gleich ’nen Pflegefall aus mir.«
»Dein EKG, mein Lieber, war keine Beruhigungspille.«
»Ich hab’ ja auch nicht das ruhigste Leben, oder?«
»Sei friedlich.« Titi Bley wandte sich ihrer Tochter zu. »Fällt dir nichts auf?«
Die Diele des Hauses war renoviert.
Emily hatte es nicht bemerkt. »Schick«, sagte sie jetzt, um was zu sagen. »Flotte Farben.«
»Du bleibst doch zum Essen?«, fragte ihre Mutter.
»Nein, ich - äh, ist Stump schon da?«
Jetzt kannte sich Bley senior aus. »Das Brüderchen! So ist das. Dann geh nur gleich rauf zu ihm!« Mit ziemlich steilem Kinn wies er nach der Treppe. Und machte kehrt, raus in den Vorgarten.
»So warte doch...«, sagte seine Frau hinterdrein; er war aber schon weg. Sie schaute die Tochter an. »Bist du wegen Stump gekommen?«
Emily war nicht wohl dabei, es zugeben zu müssen, ihr war aber an diesem Morgen rundum so wenig wohl, dass es darauf nicht mehr ankam. »Ich hätt’ ihm was zu sagen«, bekannte sie, »er hat doch Semesterferien ab heute.«
Auch ihrer Mutter war jetzt ein Anflug von Enttäuschung anzumerken.
»Er ist oben«, sagte sie, »vor einer Stunde ist er gekommen. Aber bleib dann noch da, ja? Ich bin im Garten.« Sie schickte sich an, hinauszugehen. »Dein Vater übrigens - sein EKG ist wirklich nicht schön.«
Stump, zwei Jahre älter als seine Schwester und ihr sehr ähnlich, nur dass alles, was an ihr zart war, bei ihm ins Quadratische ging, packte seinen Kram aus und richtete sich in seiner alten Behausung unterm Dach für ein paar Wochen ein. Eigentlich hieß er Alexander. Ein in seinen Augen schwachsinniger Einfall von Erzeugern, einen gestaltlosen Säugling mit einem derartigen Namen zu brandmarken. Wenn kein Alexander draus wird, stehst du da. Stump wurde er von jenen gerufen, die ihn liebten. So sah er auch aus. Untersetzt, ein Junge mit einem hellen, aber unalexanderhaft runden Kopf. Er litt nicht nennenswert darunter. Sein Glück war, dass er Humor hatte und nur in erreichbaren Kategorien dachte.
Die Tür hinter ihm ging, und eine ihm wohlbekannte Stimme sagte: »Na, du Bursche...«
Seine Schwester.
»He-ih, Kleine!«
Er grinste und schlug ihr auf die Schulter. Sie mochten sich. Als Kinder waren sie unzertrennlich gewesen. Mit Stumps Verbannung an eine auswärtige Universität hatte sich Emilys Leben geändert, und das, wie sie immer mehr hatte erkennen müssen, nicht zu ihrem Besten.
»Hab’ schon angerufen bei dir«, flachste er, »aber gnädige Frau waren aushäusig.«
»Ach, Stump...«
Jetzt geschah etwas, was er an der Schwester nicht kannte: Sie kippte ihm vor die Brust und weinte. Er war verdutzt. Als Tränentrockner hatte er wenig Übung.
»He-ih, Mädchen...Ja, Emily, was ist denn bloß! Nun dreh aber den Hahn zu...« Er reichte ihr sein Taschentuch, das nicht das frischeste war.
Sie schneuzte sich. »Ich bin keine Heulsuse!«, sagte sie ärgerlich und wischte sich wie mit einem Putzlappen übers Gesicht! »Das kommt nur von der dämlichen Bude da. Und weil du wieder da bist. - Stump«, begann sie übergangslos, »du musst mir helfen. Und denke nicht, dass ich verrückt bin, wenn ich dir jetzt was ganz Verrücktes erzähle...«
Drittes Kapitel
Die Rosen mussten es büßen; Julius Bley schnitt sie in Grund und Boden.
»Du massakrierst sie ja«, tadelte sehr sanft seine Frau, die ihm mit nicht unberechtigter Sorge gefolgt war. »Lass mich das machen.« Sie versuchte es mit dem bewährten Mittel der Ablenkung. »Gib mir die Schere.«
Er gab sie ihr nicht. »Wenn sie von der Familie nur Stump sehen will«, schnaufte er, »gibt’s ein Telefon!« Er bekam kaum Luft.
»Komm, gib her.«
Kein Drandenken; er handhabte die Rosenschere wie ein Schlachtmesser. »Was braucht sie zu kommen, wenn sie von uns nichts will! Setzt den Fuß ins Elternhaus, nach all dem - um wen zu besuchen: den Bruder. Das nenn ich schlicht eine Unverfrorenheit.«
Dieser Marin! Titi seufzte. »Lernst du denn nie?! Du weißt doch, du sollst dich nicht aufregen.«
»Wessen Schuld ist das denn? Etwa meine?«
Sie versagte sich eine Antwort. Gab sie ihm recht, schürte sie nur, also behielt sie für sich, dass auch sie enttäuscht war. Das EKG hatte ihr gereicht. Sie kam aus einem Arzthaus und verstand was davon, Dr. Jäger hatte ihr nichts vormachen können. Und was das Absurde war: Es hätte nicht sein müssen. So jedenfalls nicht. Der Mann war selbst schuld. Arbeiten wie ein Pferd, Jahrzehnte keinen Urlaub, kaum einen Sonntag, dazu ein mit Emotionen um sich schleuderndes Naturell, übergewichtig, außerdem, und das nicht zu knapp - nun hatten sie die Bescherung.
»Wäre sie gekommen«, schimpfte Bley weiter und schlachtete die Rosen, »hätte sie gesagt, Tag, Pappa, tut mir leid, die Sache, machen wir ’n Strich drunter, aber könnt’ ich erst mal Stump sehen - das wär ’n Wort gewesen. Ich bin nicht unversöhnlich, brauch’ auch kein großes Gesumse, ich hab’ durchaus Verständnis dafür...«
»Mann, da blüht doch keine einzige mehr, wenn du sie so runterschneidest!«
Er hörte gar nicht hin. »Aber aufzukreuzen, keine Silbe, bloß: Ist Stump schon da...«
»Nun warte doch ab, sie ist ja noch im Haus.«
»Was abwarten? Ob mir die Göre ein gutes Wort gibt?«
Titi sandte einen Streifblick zum Himmel. Manchmal fand sie, sie müsste das Bundesverdienstkreuz kriegen mit dieser Familie. »Vergiss nicht, wie du sie behandelt hast, Zwang verträgt sie nicht.«
»Und vergiss du nicht, dass sie mir ein Ultimatum gestellt hat! Nicht ich ihr.«
»Ursache und Wirkung«, sagte seine Frau. »Und das ist nun endgültig ein Besenstiel, der nie mehr treibt.« Sie zog den amputierten Stumpf eines Rosenstocks aus der Erde und warf ihn beiseite. »Weißt du, was ich dir sage: Diese Rosen sind auch zu alt. Wir schmeißen sie raus und besorgen uns neue. Komm, hol uns einen Spaten.«
Die Geschichte, die Stump von seiner Schwester erfuhr, ließ ihn staunend den runden Kopf bewegen, zu grinsen erlaubte er sich nicht. Wäre es nicht Emily gewesen, die das »erlebt« haben wollte, er hätte es ausgiebig getan.
Jetzt sortierte er. Den Traum, also, den klammern wir aus. Spinnerei. Er sagte ihr das nicht ins Gesicht, aber ab damit, derlei gab’s für ihn nicht. Anders war das mit der Ehe der Kleinen. Dass sie so aussah? Sehr überraschend für ihn. Verstand er natürlich, dass Emily den Eltern nichts erzählen mochte nach all dem Donner mit Julius, klar - nein, nein, keine Sorge, er würde nichts verlauten lassen, kein Wort. Nur - dass ihm da nichts aufgefallen war? »Bin ich denn so ’n Idiot? Machte ’n prima Eindruck auf mich.«
»Den macht er auf alle. Du hast ihn außerdem nur ein paarmal gesehen.«
Das stimmte. Stump, ob er wollte oder nicht, an die Universität nach Tübingen geschickt, hatte den Schwager seit der Hochzeit - diese Hochzeit, oh, Familienscheiß: einziger Vertreter des Hauses Bley er, die Eltern demonstrativ abwesend - nicht mehr zu Gesicht bekommen.
»Aber warum hast du nicht mal was angedeutet? Dachte natürlich, das stimmt, was du so schreibst.«
Sie winkte ab. Handbewegung für die Unzahl Briefe, die sie anfing, zerriss und im Heizungskeller verbrannte.
»Kannst doch deinen eigenen Mann nicht verraten, so in dem Stil dachte ich. Zu Anfang. Vielleicht liegt’s auch an dir, so ungefähr dachte ich auch, überempfindlich, weiß der Teufel. Und natürlich die Hoffnung: Das wird schon wieder, er muss sich doch ändern, muss doch wieder der sein, der er war - und so weiter. Immer diese alberne Hoffnung, eine ganz zählebige Sache, das. Und mit einem Schlag kapierst du, weißt du, hast es im Grunde schon lange gewusst und nur verdrängt - ein Irrtum alles. Nur ein ganz simpler Irrtum. Mensch mit zwei Gesichtern, bloß du hast’s nicht gesehen. Jetzt stürzte das über mich her: dafür das Studium abgebrochen, dafür mit den Eltern gebrochen, Bruch, wohin ich schaute - ich verkroch mich. Reden wir gar nicht, dass ich ihn schließlich - nun ja. Das schlimmste, Stump: Ich hab’ ja nicht mal einen Beruf! Keine Angst, ich heul’ nicht mehr. Er hat ja recht gehabt, der Alte, einfach nur recht mit seinem Dann-mach-wenigstens-erst-dein-Examen.« Sie zuckte die Achseln, flügellahm. »Ich hab’ es nicht gemacht.«
Stump nickte. Er fand es schon damals nicht gut, konnte es auch jetzt nicht gut finden, ihr zum Trost.
»Sag mal...« Er zögerte, kein Bruder-Schwester-Thema, wie sollte er es formulieren: »Ich muss dich ’n paar Sachen fragen. Du sagst, er quält dich, er provoziert - und dann? Wie ist das dann?
Dann schläfst du wieder mit ihm, oder wie ist das?«
Kopfschütteln erst. Dann drückte sie es so aus: »Das findet nicht statt.«
Er verstand nicht.
Die Wahrheit über diese Ehe ist: es ist keine.
Die Geschichte wird immer verwunderlicher für einen jungen Mann mit soweit unverkorksten Vorstellungen vom Funktionieren einer Ehe. Bert Haunschild, hört er, rührt seine junge Frau nicht an.
»Anfangs, ja«, berichtet Emily. »Bis wir verheiratet waren. Und auch noch auf der Hochzeitsreise - obwohl, aber, na ja, sagen wir: auch noch auf der Hochzeitsreise. Dann kamen wir zurück, und am ersten Abend gleich gab’s diese - Szene, seither leben wir, als wären wir nicht verheiratet.«
»Was für eine Szene?«
»Wegen der Zimmer.«
Auch das ist verwunderlich für einen Jungen mit nicht verkorksten Vorstellungen: Im Hause Haunschild gibt es getrennte Schlafzimmer. Davon erfuhr die zukünftige Ehefrau nicht nur nichts, es lief eine Organisation ab, um ihr das zu verheimlichen. Bei ihrem Einzug, zurückkommend von der Hochzeitsreise, sah sie sich vor die Tatsache gestellt. Und das nahm sie übel.
»Jetzt muss ich dumm fragen«, wirft Stump ein, »hast du denn das Haus vorher nicht gesehen?«
Selbstverständlich hatte sie das.
»Er zeigte es mir. Aber nur das Parterre. Oben rumorten die Handwerker, es wurde renoviert. Ich wollte raufgehen und mir die Räume ansehen, er sagte: später! Erst wenn alles fertig ist, du musst das verstehen.«
Sie verstand. Fand es sogar schön. Schließlich hatte er mit seiner verstorbenen Frau da oben geschlafen.
»Damals sah ich das so.«
Danach sah sie es anders. Danach begann sie die Organisation zu begreifen, ohne freilich 'dahinterzukommen, warum sie gelaufen war.
»Ich sollte keine Möbel mitbringen. Was mir nicht behagte. Er sagte: Sieh mal, ich hab’ ein komplett eingerichtetes Haus, wohin damit? Lass dir den Wert lieber in bar mitgeben. Schön, ich sah es ein, war ja auch einleuchtend.«
Sie brachte also nur ihren Kleinkram mit, Kisten und Koffer, die wollte sie vor der Hochzeit hinschaffen und alles einräumen. Wieder hieß es: später. Der Handwerker wegen, die noch nicht fertig waren.
»Übergib die Sachen einem Spediteur; bis wir zurück sind, sagte er, sind auch die Handwerker raus, dann kannst du in Ruhe einräumen. - Gut, erster Abend, wir zurück, ich dachte, jetzt find’ ich meine Sachen. Ich fand sie. Zusammengestellt in einen Raum oben. Dein Schlafzimmer, sagte er. Seins gegenüber. Jeder sein eigenes Bad, wie im Hotel. Ich war schockiert. Zumindest hätte er mich doch vorher fragen müssen. Oder kann man eine Frau einfach vor die Tatsache stellen?«
»Kann man nicht«, meint auch Stump. Im Übrigen kommt er auf keinen Vers: Ein Mann schläft nicht bei seiner Frau, schläft auch nicht mit ihr? »Dann frag’ ich mich nur, warum er dich geheiratet hat.«
»Das hab’ ich mich über ein halbes Jahr gefragt - jetzt weiß ich es.«
Dazu kann Stump nichts sagen.
»Jetzt«, fügt sie hinzu, »ist Logik drin. In allem.«
Auch dazu sagt er nichts.
»Geheiratet hat er mich, um mich zu beerben. Dem entsprach......« - sie setzt es in ironische Anführungszeichen - »...sein Verhalten.«
Stump hatte begonnen, an seinen Fingernägeln zu kauen, wie immer, wenn ihm unbehaglich war. Es tat ihm beinahe weh, körperlich weh, dass seine Schwester allen Ernstes in diese Spinnerei eingestiegen war.
»Emily - vergiss das«, sagte er schließlich. »Diese Traumgeschichte, das ist kein Beweis, keine Grundlage, das ist gar nichts.«
»Du glaubst mir also nicht.«
»Dir glaub’ ich alles, das weißt du. Aber du hast dich da in etwas hineingeschafft.«
»Stump - es war kein Traum.«
Pause. Er schwieg.
Sie fuhr fort: »Das Fach ist da, die Ampullen sind da, Herrgott noch mal, ich hab’ sie in der Hand gehabt! Und die Spritzen auch. Woher wüsste ich es denn sonst!«
Ja, doch, er bestritt ja nicht, dass es sonderbar war, ganz verdammt sonderbar, aber er war nun mal ein Tatsachenmensch und als solcher bis zur Sturheit überzeugt, dass es für alles, und zwar ausnahmslos - letzten Endes - eine natürliche Erklärung gab.
»Findest du«, sagte sie und wusste es anders.
»Ja, das finde ich.«
»Und wie erklärst du dann das mit den Ampullen: gestern acht, heute Morgen nur mehr sechs? Und die Spritzen: vier, heute drei?«
»Ganz einfach: Du hast dich geirrt.«
»Ich kann nicht bis acht zählen,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Ernestine Wery/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx. Model: Victoria Borodinova.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 16.06.2021
ISBN: 978-3-7487-8576-7
Alle Rechte vorbehalten