ERNESTINE WERY
Fünf Tage
und eine Nacht
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
FÜNF TAGE UND EINE NACHT
MITTWOCH
DONNERSTAG
FREITAG
SAMSTAG
SONNTAG
Das Buch
Ausgerechnet an dem strahlenden Sommertag, als Polizeichef Lizius nach langen Dienstjahren seinen Abschied nehmen will, wird im Gehölz der Hasenheide am Stadtrand ein totes Mädchen gefunden. Lizius hält es für seine Pflicht, diesen Fall noch zu klären, aber schon bald stellt sich heraus, dass er diesen Entschluss bitter bereuen muss. Der Kreis, den das Geschehen zieht, wird immer größer, und auch Lizius selbst, seine Familie und sein bester Freund geraten in das Netz der Ermittlungen...
Ernestine Wery (* 21. April 1909 in München als Ernestine Fentsch; † 26. November 1997) war eine deutsche Schauspielerin sowie Drehbuch- und Romanautorin. Nach ihrer Heirat mit dem Schauspieler Carl Wery zog sie sich von der Schauspielerei zurück und schrieb ab 1943 Filmdrehbücher. Auch als Autorin blieb sie häufig dem bayerischen Lokalkolorit verbunden. Mit ihren insgesamt 22 Drehbüchern, von denen 16 verfilmt wurden, trug sie einen nicht unwesentlichen Teil zum Charakter des bundesdeutschen Kinos der 1950er Jahre bei. In späteren Jahren verlegte sie sich auf die Schriftstellerei. Sie schrieb mehrere Romane, insbesondere Kriminalromane, die teilweise ihre Drehbücher für die Krimiserie Tatort als Grundlage haben.
Der Roman Fünf Tage und eine Nacht erschien erstmals im Jahr 1965 (unter dem Titel Die Hunde bellten die ganze Nacht).
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der deutschen Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
FÜNF TAGE UND EINE NACHT
MITTWOCH
Erstes Kapitel
Ein Morgen war das wieder, das Wetter hatte Gold im Faden. Tag für Tag ging das nun schon, eine Strähne war ausgebrochen, wie sie so ausdauernd nur der scheidende Sommer schenkt. Im Übrigen war es der Morgen nach der Entscheidung. Das Abschiedsgesuch des Polizeichefs Eugen Lizius lag im Kasten, gestern Abend hatte er es eingeworfen.
Er war schon wach, als der Wecker klingelte.
Wie fühlte er sich an dem Morgen? Als freier Mann? Oder als trauriger? Weder noch. Die Wahrheit, von ihm selbst mit einiger Verwunderung konstatiert: er fühlte nichts. Sein Kopf war leer, sein Herz auch. Er hatte seinen Beruf nicht geliebt; nicht das Metier, nicht die Menschen, mit denen er zu tun hatte, nicht die Titel, die ihm im Laufe der Jahre verliehen worden waren. Er hatte sich von seinen Untergebenen Chef nennen und von den anderen mit Namen ansprechen lassen. Wenn ihn eine Eitelkeit gekitzelt hätte, wär’s der Dr. phil. gewesen, den er einst als Fleißaufgabe zusätzlich zum jur. erbüffelt hatte, als er noch nicht wusste, dass er bei der Polizei landen würde. Aber man macht sich ja nicht lächerlich. Was ihn zu dem Beruf gezogen hatte? Gezogen gar nichts. Ausharren lassen hatte ihn sein Pflichtbewusstsein. Interessiert hatte ihn dann und wann das Denkspiel. Und jetzt war er alt.
Die Turmuhr schlug, er stand auf, glockenschlagpünktlich wie die vielen Jahre, auf die er hätte zurückblicken können, wenn ihm danach zumute gewesen wäre. Er fischte seine Pantoffeln mit den Füßen heran und ging ins anstoßende Bad.
Die Sonne ergoss sich hier durchs Fenster und überfiel ihn mit ihrer prallen Zudringlichkeit, der Spiegel beschenkte ihn mit seinem Anblick. Er schaute weg. Er war Ende Sechzig, und man sah es. Baufehler, dachte er, während er den Schlafanzug abstreifte, ein Badezimmer mit Ostfenster. Wie lange mag man das schon, dass einem die Morgensonne in die Falten knallt? Solange man keine hat. Und wie lange hat man keine?
Er trat unter die Dusche.
Bis vor gar nicht so langer Zeit hatte er’s kalt, wie es aus der Leitung kam, prasseln lassen. Jetzt vertrug er es nicht mehr. Das Altwerden! Was weiß man davon, wenn man jung ist und noch mittendrin steht. Mit dem Tag, da er zum warmen Wasser kroch, hatte es eingesetzt. Und jetzt war es soweit, dass er sein Amt aufgab. Na ja.
Er ließ es über seinen großgewachsenen, einst muskulösen und darum noch ganz passablen Körper rieseln, die Temperatur war angenehm. Altherren-Temperatur. Inwendig grinste es bissig. Mit fünfundsechzig noch hatte er geglaubt, den schleichenden Bankrott ignorieren zu können. Per Eiche hatte der Schwamm in seiner überflüssigen Geburtstagsansprache im Hof des Präsidiums von ihm gesprochen. Auch das Wörterbuch eines Justizministers, Schwamm genannt wegen seiner Masse, bestand aus Blech und nicht gerade funkelnder Intelligenz.
Lizius nahm die Handbrause und verpasste sich noch einige Güsse in die unteren Etagen, dann frottierte er sich. War auch schon flotter gegangen, die Verrenkerei mit dem Badetuch! Es knackte, und wohl tat es auch nicht. Eiche! Denken konnte man allenfalls so was noch, aber aussprechen, und das öffentlich!
Er rieb sich mit Hautöl ein und dachte an seine Frau. War natürlich falsch gewesen, dass er sich mit fünfundsechzig nicht hatte pensionieren lassen, falsch wie so vieles. Er hätte mit ihr reisen und ihr noch ein bisschen was bieten sollen. Was hatte sie gehabt bei ihm: einen immerzu vom Beruf belagerten und nicht selten misslaunigen Mann. Und war so geduldig gewesen die ganzen Jahre. Achtundzwanzig genau. So lange waren sie verheiratet. Wo sie nur hingekommen waren, diese Jahre? Traum, alles schon Traum, hinuntergeronnen den gottverfluchten Lethefluss. Seine Frau war jünger als er. Auch sie eine Fünfzigerin heute schon, kaum zu glauben, wenn man sie sah; fünfundfünfzig war sie. Fünfundfünfzig: zu beneiden. Ein Mann ist da noch in- den besten Jahren.
Er ging zum Waschbecken und putzte sich die Zähne. Einer der wenigen Pluspunkte: Zähne hatte er noch. Diverse Kronen und Brücken zwar, aber die saßen auf Wurzeln. In seinem Alter besaßen sie ja fast alle nur mehr Gegenstände, und auch von den Jungen hatten nicht wenige ausschließlich Kunstharz und Kautschuk in der Schnauze. Der Schwamm damals bei der Fernsehdiskussion, wie ihm mit unüberhörbarem Schnalzer das Gebiss heruntergeklappt war! Live! Und wie alt war er: sechsundvierzig. Lizius legte den Kopf zurück und gurgelte das scharfe Mundwasser bis hinunter an die Rachenmandeln. Und weshalb war er mit fünfundsechzig nicht in Pension gegangen?
Er begann sich zu rasieren.
Ehrgeiz war’s bestimmt nicht gewesen. Und Anhänglichkeit an den gigantischen Haufen von Arbeit, Ärger, Misserfolg, Unrentabilität und Tristheit, woraus diese sogenannte große Stellung bestand, weiß Gott auch nicht. Vielleicht war es die Sache mit dem alten Eisen gewesen, die er nicht hatte wahrhaben wollen. Sie hatten ihn aufgefordert zu bleiben. Weil es, so hatte der Schwamm, der dialektische Hemmungen ja nicht kannte, getönt, keinen adäquaten Nachfolger gab und Männer wie er, so die schwülstige Formulierung, ausstürben.
Das mit dem Nachfolger war vielleicht nicht unrichtig. Junge Streber gab’s die Menge, einer davon würde ja jetzt auch zum Zuge kommen, aber die Bosse, jene Mischung aus Managern, Leithammeln, Paragraphenjongleuren und ganz zuletzt Juristen, die solch ein Ding von Amt in den Griff bekamen, wuchsen nicht nach. Nicht weil sie’s nicht mehr gab, wer heute aus dem Stoff war, wanderte ab in die Industrie, wo ein Vielfaches verdient wurde. Eins war es mit Sicherheit gewesen: nie der richtige Zeitpunkt.
Er war ein ordnungsliebender Mensch, und so wollte er sein Amt auch hinterlassen, aber zu keiner Zeit hatte er das, was er unter Ordnung verstand, zu schaffen vermocht. Eine fromme Lüge, dass es perfekte Verbrechen nicht gäbe! Wieviel Ungeklärtes moderte in den Aktengewölben. Und erst die Indiz-Verurteilten. Es musste einer schon ein Roß sein, wenn ihn diese Gespenster, die niemals ein Geständnis abgelegt und ihre Freiheit nur durch die von der Polizei eichhörnchenemsig zusammengetragenen Ermittlungen verloren hatten, nachts nicht verfolgten. - Nein, er war nicht gerne Polizeichef gewesen. Aber da er nun auf dem Platz stand, hätte er ihn so zu übergeben gewünscht, dass es nach ihm nicht heißen konnte; was der alles versiebt hat!
Es war ihm nicht gelungen.
Sein Nachfolger erbte ein Paket.
Lizius legte den Elektrorasierer weg und probierte es mit einem zweiten. Jeden Morgen dasselbe. Wollte er’s wirklich glatt, griff er zum Messer. Na ja, kam nicht drauf an heute, kein Tag mehr von Wichtigkeit.
So dachte er...
Auf dem Programm stand nun als erstes eine Verabredung mit Kommissar Stein, dem Leiter des 37. Reviers. Damit begann er eine Art Abschiedstournee; reihum wollte er noch die einzelnen Reviere besuchen und nachsehen; vielleicht ließ sich das eine oder andere verbessern. Dass er mit Stein begann, hatte zweierlei Gründe: erstens schätzte er ihn, er war einer seiner Pflichttreuesten und Tüchtigsten, zweitens war’s bequem.
Im 37. Revier wohnte er selbst.
Ob Stefanie schon auf war?
Er horchte nach ihrem Schlafzimmer, und wieder beschäftigten sich seine Gedanken mit seiner Frau.
Alles noch still.
Er zog seinen Morgenmantel über und begab sich zu der Tür, die vom Bad zu ihr führte. Ehe er die Klinke drückte, schlug er den Kragen hoch und verbarg damit seinen alten Hals.
Sie lag noch im Bett.
Früher, als sie noch eine Mietwohnung hatten, schliefen sie zusammen. Als sie dann endlich bauen konnten, bestand er darauf, dass sie ein eigenes Zimmer bekam. Es war ihm ein Opfer gewesen, er vermisste sie in den Nächten an seiner Seite, Stefanie hatte jedoch einen empfindlichen Schlaf. Wurde er nachts vom Telefon herausgeklingelt, fand sie den Anschluss nicht mehr.
Durch das gemeinsame Bad waren sie verbunden.
Sie lag auf der Seite, das Gesicht abgewandt, den bloßen Arm auf der Decke.
Von rückwärts gesehen, ein junges Mädchen.
Sie hatte noch feine, schlanke Arme, und die Schultern mit dem Nacken, aus dem das aschblonde Haar aufstieg, jener helle Holzton, in dem sich das erste Grau jahrelang verborgen hält, waren auch noch zart wie in ihren jungen Jahren. Lizius hatte die Tür fast geräuschlos bewegt.
Genauso zog er sich jetzt wieder zurück.
»Na...?«, ließ sie sich vernehmen, als er fast schon wieder draußen war. »Und wie geht’s dir?« Sie drehte sich auf den Rücken.
Er kam zurück.
»Ich dachte, du schläfst noch.« Er setzte sich zu ihr aufs Bett.
»Morgen, Mädchen.«
»Mädchen...« Wenn er Mädchen sagte, kam sie sich uralt und komisch vor. »Ich wünsch’ dir einen guten Tag heute!«, sagte sie mit besonderem Akzent. »Und wie stehst du dazu, nachdem du’s überschlafen hast? Tut’s dir leid, bereust du?«
»Zur Reue hätt’ ich weder Grund noch wär’s sehr sinnvoll. Hast du vielleicht gehört«, übersprang er es, »ist das Kind rechtzeitig aus dem Haus gekommen?«
Er sprach von ihrer 23jährigen Tochter Annely. Noch immer war sie das Kind bei ihm.
Sie hatte mit einem sehr frühen Zug wegfahren müssen, nach Göttingen, wo sie auf ihren eigenen, von den Eltern anfangs bekämpften Wunsch ihre Studien fortsetzte. Grund dieses zäh erfochtenen Wunsches: Sie wollte mit dem jungen Mann, den sie einmal zu heiraten gedachte, Hansjoachim Fabry, genannt Hajo, Zusammensein. Er praktizierte dort an einer der Kliniken.
»Verschlafen«, musste Stefanie antworten, »hat sie. Ich hab’ mir den Wecker gestellt, und als ich um halb sechs noch nichts hörte, sah ich hinauf zu ihr: ganz fest schlief sie noch.«
Über Lizius’ Gesicht ging ein Schatten. Unpünktlichkeit war für ihn ein Charakterfehler. Von der eigenen Tochter hörte er derlei ungern.
»Und Hajo?«, sagte er und schluckte an seinem Ärger. »Steht umsonst am Bahnhof!«
»Ich ruf’ ihn dann in der Klinik an, verständige ihn«, meinte seine Frau. »Sie nimmt den nächsten Zug.«
»Und wann geht der?«
»Kurz nach acht.«
»Eine Jugend...!« Er schüttelte den Kopf. »Waren wir auch so? Glaube nicht. Erst das Theater, bis sie durfte, dann pennt sie. Keine Konsequenz.«
»Na ja, junge Leute«, sagte Stefanie des Friedens wegen.
»Wirst du Hajo das sagen?«
»Was?«
»Dass sie verschlafen hat?«
»Ach, na ja...«
Natürlich, er würde sich nicht geschmeichelt fühlen. Eine Braut oder Beinahe-Braut, die den Zug verschläft, der sie zu ihm bringt...
»Aber warum soll ich lügen«, schob sie die Anwandlung von sich, »ich werde sagen, dass sie bis spät noch gepackt hat, das ist die Wahrheit. Ich sah Licht bei ihr, da muss es lange nach Mitternacht gewesen sein.«
»Trotzdem enttäuscht’s mich von meiner Tochter. Du hättest nicht verschlafen damals.«
»Ja, wir...« Sie lächelte.
Er nahm ihre Hand von der Bettdecke und packte sie sich zwischen seine beiden; eine seiner etwas gehemmten, fast linkischen Zärtlichkeiten.
»Wir werden reisen, Steffi...«, sagte er.
»Sie schwieg.
»Paris...«, fuhr er fort, ihre Hand in der seinen. »Doch, das möchte ich. Paris, das ist die Stadt für uns. Du kennst Paris gar nicht, ich kenn’ es nur von Dienstreisen. Eine wunderbare Stadt... Zärtlich, galant... Eine Stadt, in der auch ein altes Liebespaar keine lächerlichen Figuren abgibt. - Was meinst du? - Oder sind wir das nicht mehr?«
»Was willst du denn jetzt hören?«
»Du musst nicht denken, dass ich’s nicht weiß. Ich habe oft ein schlechtes Gewissen gehabt, oft.« Er spielte mit ihrer Hand, hob sie auf und schichtete sie wieder zwischen die seinen. »Besonders gut hast du’s nicht gehabt bei mir, und es ist spät geworden, sehr spät. Aber vielleicht könnten wir vom Leben doch noch was haben? Ein Finish wenigstens?«
»Schön wär’s.« Sie lächelte ungläubig.
»Und wenn mich in Paris der Schlag trifft«, machte er einen nicht unbedingt geglückten Witz, »dann war’s doch irgendwie noch ein Abschluss.«
»Vielen Dank, und ich hab’ die Scherereien mit deiner Leiche.« Sie lachte und warf die Decke zurück. »Sieben! Lass mich raus, ich muss mich um dein Frühstück kümmern, vorerst bist du noch am Leben.«
Mit noch fast mühelosem Schwung glitt sie an ihm vorüber aus dem Bett, ihr dünnes Nachthemd ließ ihren Körper durchscheinen, er war von mädchenhafter Schlankheit und sehr schön gewachsen. Stefanie Lizius, geborene Holzschuher, war aus gutem Stall. Ihr Gesicht hatte diese Jugend nicht mehr ganz, ein wenig hatte der Griffel der Jahre darin herumgekratzt, aber wirklich nur ein wenig. Vierzig hätte man ihr gegeben, fünfundvierzig.
Lizius stand auf, seine Schwerfälligkeit mit Anstrengung kaschierend. Diese blödsinnig niederen Betten, aus denen man so schwer hochkam! Wieder einmal stellte er bei sich fest, dass seine Frau ein Wunder war. Das einzige in seinem Leben, was er nicht falsch gemacht hatte, war seine Ehe gewesen.
Ob sie das auch behaupten konnte?
»Steffi...«, sagte er und streckte die Arme nach ihr, um sie an sich zu ziehen.
»Erst waschen...«
Küsse am Morgen, wenn sie sich selbst noch nicht gut schmeckend fand, mochte sie nicht. Sie verschwand ins Bad.
Er lächelte hinter ihr her. Ihre kleinen Spinnereien! Als ganz junge Frau schon hatte sie ihn morgens abgewiesen. Worauf er einschnappte. Und schweres Geschütz jedes Mal: Du liebst mich nicht! Und warum das Drama: weil sie duften wollte, die Ästhetin, wenn sie ihn umarmte. Wieviel zerstörerische Dummheit doch selbst zwischen Menschen war, die sich liebten.
Er verharrte noch einen Moment in ihrem Zimmer, es war ein guter Moment. Reisen, dachte er noch einmal. Er würde möglichst wenig Zeit mehr verlieren, mal sehen, ob sich die paar letzten Wochen nicht zusammenstreichen ließen zu Tagen, und dann würde er mit ihr nach Paris fahren, der Liebe wegen, ach, du alter Idiot... Champs-Elysees, Sacre-Coeur, Montparnasse... Sie würden in kleinen Cafés sitzen und den Paaren Zusehen, die sich in aller Öffentlichkeit küssten, würden sentimentale Betrachtungen anstellen über die unwiederbringlich verlorenen Jahre und dankbar sein, dass ihnen wenigstens das noch geblieben war.
So würde es sein.
Er ging sich anziehen. Da er wusste, dass sie bei ihren kleinen Toilette-Geheimniskrämereien nicht gern gestört war, ging er außen herum in sein Zimmer, über den Gang.
Dabei begegnete er seiner Tochter.
Sie kam von oben herunter, wo sie im Dachgeschoss ihren eigenen Bereich hatte.
»Nette Geschichten!«, knurrte er sie an.
»Ja, scheußlich...« Sie zog den Kopf ein und huschte an ihm vorbei. »Morgen, Papa.«
Papa sagte sie, also hatte sie ein miserables Gewissen. Sonst nannte sie ihn Eutschenio, Ganovenfürst, Oberbulle und ähnliches, Frechheiten, die ihre Moden hatten, rasch kreiert und wieder vergessen wurden, abgelöst von neuen Einfällen.
»Vielleicht steigst du noch in den falschen Zug!« brummelte er hinterdrein.
Sie ging die Treppe hinunter ins Parterre.
Auf dem letzten Absatz blieb sie plötzlich stehen und drehte sich nach ihm um.
»Papa...«
Er hörte sie nicht mehr, die Tür seines Schlafzimmers hatte sich schon hinter ihm geschlossen.
Sie stand da - unschlüssig. Dann ging sie weiter.
Sie war das Abbild ihrer Mutter.
Von unten sprang ihr der Hund entgegen, ein junger Riesenschnauzer, der sie begrüßte, als ob er sie wochenlang nicht mehr gesehen hätte, aber obwohl er sie fast ans Treppengeländer warf, gelang es ihm nicht, die Gunst ihrer Aufmerksamkeit zu erobern.
»Schon gut...«, sagte sie ohne Blick für ihn und hielt ihn ab.
»Genug jetzt. Platz. Platz, Alex!«, befahl sie und war mit ihren Gedanken weit weg.
Vorbei an dem Hund Alex, der sich enttäuscht auf sein Lager verzog, ging sie zur Küche.
»Mali«, sagte sie durch die Tür, »den großen Koffer, guten Morgen, Mali - den großen schweren Koffer...«
»Ja, sind Sie noch da...?«, wunderte sich die runde Köchin, die eben den Kaffee filterte.
Annely nickte flüchtig. »Hab’ den Wecker nicht gehört. Den Koffer, Mali, lass ich noch hier. Ich schreibe, wen ich ihn brauche. Schicken Sie ihn dann bitte nach! Per Bahnexpress.«
Ihr Blick fiel auf die elektrische Wanduhr.
Der Minutenzeiger, voran geschubst vom emsig zockelnden Sekundenzeiger, rastete eben an einem neuen Strich ein.
Es war 7.15 Uhr.
Im gleichen Augenblick bog einige Straßen weiter der Briefträger Siegfried Plins in die aus Gärten und Villen bestehende Kleistallee ein.
Er war besonders guter Dinge und ließ sich nicht träumen, dass ihn dieser Tag mit dem Goldfaden in eine Rolle hineinstolpern lassen würde, zufällig wie den Schuss, dessen Schall eine Lawine losreißt.
Zweites Kapitel
Viertel schlug es, als Plins um die Ecke kam.
Eine gute Gegend, seiner Meinung nach, die Gegend, in der er seit Jahren schon die Post zustellte, Villenviertel am Stadtrand, beinahe noch unberührt von Krach und Straßenlärm, eine Insel der Stille. Angesehene Leute wohnten hier, alles Leute, die er kannte und zu grüßen sich erlaubte, wenn sie ihm begegneten. Sie ihrerseits grüßten ihn auch.
Genau 7.15 Uhr war es.
Die taugewaschenen Gräser glitzerten noch, und die Morgenkühle rauchte zart gegen die Sonne, die schon mit allen Scheinwerfern aufgefahren war.
Welch ein Tag!
Siegfried Plins war in einer Laune: wie dieser Tag.
Es ging rasch heute, keine Einschreiben, die auszuhändigen, keine Gebühren, die zu kassieren gewesen wären, nirgendwo hatte er zu läuten und sich aufzuhalten, er brauchte die Post nur in die. Münder der Briefkästen zu schieben.
Im letzten Haus dann, das am Ende der Kleistallee lag, dort würde er läuten. Doch, würde er. Und das, obwohl es nicht vonnöten, sondern glatt ein Vorwand war. Dort wohnte seine Brunhilde. Kein Witz das, so hieß sie. Bruni wurde sie gerufen. Das besitzanzeigende Fürwort allerdings war ein Wunschträumchen.
Bruni, die üppige Fata Morgana seiner mageren Junggesellennächte, stand jenem Hause vor, war Wirtschafterin. Beileibe nicht Dienstmädchen; davon abgesehen, dass diese Bezeichnung heute an Beleidigung grenzte, war sie wirklich mehr. Sie kochte zwar, fegte und wusch, führte aber den Haushalt selbständig, mehr als das, sie ersetzte die Hausfrau, die es dort nicht gab. Ein Mordsfrauenzimmer. Oder, wie Plins es im Geheimkabinett seiner Gedanken, das von monumentalen Bildern wimmelte, nannte: ein Staatsweib. Sie war nicht bloß tüchtig, sie besaß auch einen Wuchs - Himmel, einen Wuchs, er vermochte an die Wölbungen und Buchten nicht zu denken, ohne, dass ihm schwindelte. Der Fehler war nur, der Fehler, der ihn nicht vorankommen ließ: er war schüchtern.
Aber heute würde er es riskieren!
Der Vorsatz reckte ihn, seine Einskommasechzig wuchsen um mindestens zwei Zentimeter über sich hinaus, während er, den Dialog seines Vorhabens memorierend, von Briefkasten zu Briefkasten seinem Ziel sich näher schob. 1,60 - und mit Vornamen Siegfried. 1,60 - Wurm an seiner Lebenswurzel. Da gibt es nichts zu lachen. 1,60 - kein Normalwüchsiger kann das nachfühlen. Verschnitten von jenem Schneider da droben, schritt er auf stumpigen Beinen durch sein Dasein, geschändet nicht selten von den Witzen der Umwelt, ausgeschlossen von den süßesten Umtrieben, jenen nach Mädchen, über Vierzig nun schon und noch immer ledig, schön langsam abgeschoben aufs Rangiergeleise. Aber nun gab es ja noch mal eine Hoffnung. Und wenn es damit noch zu einer Erfüllung kommen sollte, war er bereit, die Versäumnisse, die das Leben an ihm begangen hatte, alle zu vergeben. Bruni war gutartig. Würde auch sie ihm einen Korb geben, dann tat sie es, dessen glaubte er sicher zu sein, wenigstens nicht mit dem Lächeln, das noch Jahre danach brannte, diesem Lächeln: Zwerg, du. Oder, was noch vernichtender war: Stumpen.
Er war angelangt.
Er läutete.
FABRY stand über dem Klingelknopf. Nur Fabry, kein Titel. Das Haus, dessen Baujahr um 1910 zu schätzen war, machte nichts von sich her.
Der Summer tönte.
Plins drückte die eisengittrige Pforte auf und trat ein, ging den Plattenweg entlang zur Haustür, auf der Schwelle erschien sie.
Blütenweißer Kittel, weizenblond und milchhäutig, Teint der Nichtraucherin, beginnendes Rubensformat, in den Harnisch eines Korsetts gepackt, jenseits der Dreißig. Sie blieb unter der Türe stehen.
»Der Herr Plins...« Ein Lächeln.
Er lächelte zurück. »Schönen guten Morgen!«
Übergabe einer bereitgehaltenen Zeitschrift. »Nicht knicken, bitte sehr, wäre schad’ um den Kunstdruck.« Dass der Fabry'sche Briefkastenschlitz groß genug war, um sie schadlos hindurchzufingern, stand nicht zur Diskussion. »Sonst nur ein paar Briefe für den Herrn Professor«, er übergab auch diese, »bald wird man ja sagen müssen: Magnifizenz.«
»Die Leute!« Sie besah flüchtig die Post. »Was die alles wissen. Er denkt nicht dran.«
»Wer weiß?«, meinte er mit einer nebenhin gestreuten Geste des Zweifels. »Die Macht, die mit solch einer Position gegeben ist...«, fügte er hinzu, damit war das Thema abgetan.
Für ihn. Für sie nicht. Sie griff auf, was nur als Einleitung gedacht gewesen, und der ganze vorbereitete Dialog entfiel. Macht, berichtete sie, das sei schlicht gesagt ein Schmarren. Danach strebe der Herr nicht. Per Herr sprach sie von ihrem Chef, was bei ihr nicht einer dienstbotenhaften Klassifizierung von einst entsprang, sondern dem sehr weiblichen, trotz Emanzipation noch immer bestehenden Bedürfnis, männliche Überlegenheit - so sie vorhanden - anzuerkennen.
»Wie sollte er denn das schaffen«, parlierte sie weiter und zählte auf, was der Herr alles tat - und Plins stand da. Mein Gott, ja, er gönnte es Herrn Fabry ja, wie so herrlich weit er es gebracht, aber wenn sich doch bloß eine Gasse öffnete, in die er rasch hineinschlüpfen konnte! Doch das Thema, es rollte. Fabry, der aus einer Juristenfamilie stammte, war Strafverteidiger, Hochschullehrer und Abgeordneter. Dazu noch Rektor? »Das steht doch einfach nicht drin«, meinte sie. »Jede Kraft hat Grenzen.«
Das meinte er auch. »Das Leben«, versuchte er sich hineinzuschlängeln, »geht so unheimlich schnell vorbei, und darum, meine ich, sollte man...«
»Ich finde ja«, rollte es weiter aus ihrem Mund, der so bemerkenswert sinnenfreudig - oval wie eine Aprikose - und für andere Gespräche geschaffen schien, »ich finde«, wiederholte sie und zog nach einem Blick hinter sich ins Haus die Tür näher, gleichzeitig minderte sie die Lautstärke, »er sollte wieder heiraten, finde ich. Nicht wegen mir.« Sie lachte. »Ich hab’s schöner so, niemand redet mir drein - aber ich denk’ mir’s oft, er wäre doch noch in guten Jahren, und was hat er schon? Nur Arbeit.«
Hol’s der Teufel, er wusste ja die Vertraulichkeit dieses Einblicks zu schätzen, aber was kümmerte ihn das anscheinend auch nicht hundertprozentige Lebensglück des Herrn Fabry! »Ich bin übrigens auch befördert worden, Fräulein Brunhilde«, drängte er sich nun mit einem Übergang, den er an Rosshaaren herbeizog, einfach auf.
»Brunhilde sagt er!«
Sie gab einen Ton von sich, als säße sie beim Zahnarzt. Offenbar wusste sie ihren Erzeugern für die Hypothek dieses Namens ebenso wenig Dank wie er.
»Es ist doch naheliegend?« Er lächelte töricht. »Sind da nicht Gemeinsamkeiten?« Wie blöd er war! Er verstummte. Da hatte er gewandt sein wollen, und tat was: forderte ihren Spott heraus.
Gemeinsamkeiten? Sei’s, dass sie nicht wusste, wie er mit Vornamen hieß, oder dass sie den ungeschickt zugeworfenen Ball nicht fangen wollte - Gutartige verzichten ja auf Pointen, die auf Kosten anderer gehen -, sie schaute fragend.
»Ich bin Opern-Fan...« Er wuzzelte sich heraus.
Panne Nummer zwei! Er ruderte. Großer Gott, ja, er war ein beschränkter Mensch, spürte es selbst, wie er dastand: bekleckert mit lauter Dummheit, aber er konnte halt nicht anders, und leben musste er ja doch auch. Seine Liebe zur Musik hatte herzuhalten, seine Verehrung für Wagner. Eine seiner Lieblingsopern, so stöpselte er das Kabel zu dem verdammten Siegfried zusammen, sei die Walküre. - Was stimmte. - Zweimal habe er sie schon gesehen. - Stimmte auch. - »Kennen Sie die Walküre?«
Sie überlegte. »Ist das das mit der Blutschande?«
Jetzt verstand er nicht, Blutschande? Seinem arglosen, nach blinder Verehrung drängenden Gemüt war entgangen, dass Siegmund und Sieglinde Geschwister sind, somit der Sproß ihrer Liebe, jener Siegfried, unter dessen Patenschaft er litt, inzestuöser Abkunft ist. Vielleicht hatte es auch nur an der Aussprache der Sänger gelegen. »Wie auch immer«, fand er, »man soll sich nur an die Musik halten. Und diese Musik, mächtig! Der ganze Ring - ich singe nämlich auch«, gestand er. »Bass, ein schwarzer Bass. Aber nur für mich. Bei meiner Statur...«, er winkte ab. »Wotan zum Beispiel - leb wohl, du schönes, herrliches Kind - mächtig!«
Gipfel Plins'scher Bewunderung: mächtig.
»Siegfried«, strickte er weiter, »kenne ich bis jetzt nur aus dem Radio. In der Oper würde er jetzt gegeben...«
Er setzte ab. Kam sie ihm denn nicht zu Hilfe und sagte sie, dass sie ihn gerne sähe?
Sie sagte es nicht.
Er musste weiterstricken, die Maschen fielen reihenweise. »Wäre es sehr... Ich meine, fänden Sie es aufdringlich, wenn ich Sie bitte... Also, ob Sie mit mir hineingehen würden? Weil doch - nun, weil ein Grund zum Feiern besteht. Meine Beförderung nämlich.«
Sie sah ihn an und lächelte. Ein ihm gut gesinntes und erstauntes Lächeln. So war das mit ihm? Keine Ahnung gehabt. Sie hatte wohl dann und wann ein Schweifen seines Blicks über ihren Körperbau bemerkt, es wäre ihr aber nicht in den Sinn gekommen, dass sich dahinter etwas verbarg.
»Was sind Sie denn geworden?«, fragte sie freundlich.
»Oberbriefträger.«
Er sagte es leise. Gerne hätte er mit mehr aufgewartet.
»Oberbriefträger«, wiederholte sie und sah auf ihn herunter. Sie stand eine Stufe über ihm, er reichte ihr bis zur Kuppe ihres Busens. Auf gleicher Ebene ging er ihr bis knapp an die Augen.
»O-Be also.«
»O-Be?« Er horchte dem Klang nach.
»Heute wird doch alles abgekürzt«, erklärte sie. »O-Be nennen sie den Oberbürgermeister, er verkehrt im Haus. Die Silben sind die gleichen.«
»Das Amt nicht!« Er lachte. Es war nichts Verqueres in dem Lachen; die erste Hürde, das spürte er, hatte er erfolgreich hinter sich. »Also«, packte er’s nun forsch, »wie wär’ das mit dem Siegfried?«
»Ach, wissen Sie - schade ums Geld!« Ehrlich gab sie zu: »Musikalisch bin ich nicht, außerdem: Kleid hätte ich auch keins, aus meinem schwarzen bin ich drausgewachsen. Was meinen Sie, wieviel ich zugenommen hab’? Zwanzig Pfund.« Sie gehabte sich lustig. »Stellen Sie sich vor: das sind zehn Kilo!«
»So, wie Sie sind, sind Sie gerade richtig.«
»Aber die Mode ist: schlank.«
Aha, auch sie hatte ihren Kummer.
Den Unterton im Wörtchen schlank, dafür hatte er ein feines Ohr. Und das lustige Lachen über ihre Kilos, das nahm er ihr auch nicht ab.
»Und woher kommt das?«, antwortete er überzeugt. »Weil es keine Männer mehr gibt. Ein richtiger Mann will ein Weib.« Er wuchs, er spürte es, wie er sich am Spalier ihres Kummers hochrankte. »Schauen Sie sich doch diese Typen an, die Jungen heute: Für eine Frau sorgen, einer Frau etwas bieten? Ich komm’ doch herum, ich seh’s. Männer wollen das sein? Hören Sie mir doch auf. Eine einzige Degeneration. Und so ist auch die Mode.«
Sie schaute vor sich hin. Hatte sich gar nicht so übel angehört. Den schmalen Grat, auf dem die Lächerlichkeit balanciert, übersah sie. »Da haben Sie nicht ganz unrecht.«
»Und wie ist das jetzt mit uns beiden?« Er spürte eine Chance. »Wohin gehen wir heute Abend?«
Ein bisschen staunte sie ja. Nicht unflott, sein Tempo. »Warum ausgehen?«, meinte sie. »Man könnte ja auch Spazierengehen?« Die Sache war einfach die: Es passte ihr nicht in den Kram, sie hatte Obst bestellt zum Einkochen, das war nicht aufzuschieben.
Spazierengehen? Das ließ sich ja an, wie er in ausschweifendsten Träumen nicht erwartet hätte!
»Mit größtem Vergnügen. Wann darf ich Sie abholen?«
»Wenn ich fertig bin«, sagte sie, ohne sich lang zu zieren. »Sagen wir, um neun. Aber nicht hier am Haus, vorne um die Ecke.« Mit dem Kinn wies sie in die Richtung, wo der Fabry'sche Garten um die Ecke ging und die Kleistallee zu Ende war - da setzte innen im Haus ein durchdringendes Pfeifen ein.
»Das Kaffeewasser!«
Sie erschrak leicht, es war ihr nicht angenehm. »Also dann, bis heute Abend.« Sie wollte hinein.
Er reichte ihr die Hand.
»Um neun...«, sagte er mit einem kleinen Beben in der Stimme, das nur deshalb komisch war, weil der Kessel innen so infernalisch pfiff. »Und wenn ich das noch sagen darf: ich bin sehr...« Das feierliche Wort wurde ihm vom Mund gepfiffen, er schenkte sich’s und drückte ihr die Hand. Dann drehte er sich um und ging mit seinen kurzen Beinen davon.
»Wiederschauen, O-Be...«
Sie eilte ins Haus.
Als Sieger zog Plins davon.
Um neun, sang sein Herz.
Sommernacht, Gebüsche, die es gut mit ihm meinten. Bilder fluteten heran, seine Phantasie begann zu wuchern.
Da war die Ecke. Eben ging er vorüber. Um neun, um neun! Der Fabry'sche Garten, der sich tief nach hinten erstreckte, hörte hier auf; das ganze Villenviertel hörte auf hier, eine Chaussee begrenzte es. Gegenüber lag ein lichtes Wäldchen.
Plins überquerte die Chaussee mit seiner fahrbaren Posttasche und lief beinahe in ein Auto. He, Sigi, aufpassen! Das brachte ihn wieder zu sich. Er ging auf das Wäldchen zu und schlug den Fußpfad ein, der quer hindurch führte, ein Abschneider, den sich die Leute von der Hasenheide getreten hatten. Er musste noch einen Rest Post dort zustellen. Hasenheide: Gesocks wohnte da.
Von hier war sie nicht zu sehen, das Wäldchen lag dazwischen. Eine wilde Siedlung, Überreste einstiger Behelfsheime aus den Bombenjahren, die meisten schon verlassen von ihren Bewohnern und großenteils abgerissen. Ein paar waren geblieben. Gesocks. Machtlos dagegen die Stadt, sie hausten auf privatem Grundbesitz.
Die Hasenheide gehörte nicht zu Plins’ Revier, er war nur für einen erkrankten Kollegen eingesprungen. Den O-Be trifft es ja zuerst.
O-Be...
Wie sie das gesagt hatte! Und wie rasch, wie ohne Umschweife es gegangen war. Am ersten Abend schon Spazierengehen. Als ob sie schon bereit gewesen wäre. Vielleicht länger schon, wie? Und er am Ende ein Narr, dass er sich nicht eher getraut hatte? Aber wenn es so war, und das würde er heute Abend ja wissen, um neun, um neun, dann sollte sie sich nicht enttäuscht finden. Weiß Gott, so wahr er die redlichsten Absichten hatte und heiraten wollte, nichts als heiraten und endlich eine Frau neben sich schlafen haben - wenn es darum gehen sollte, dass ihr einer das Korsett auszog, dann würde er es tun. In dem Gehölz. Und dann sollte sie sehen, dass er nicht mehr schüchtern war. In dem Punkt nicht. Und war er soweit mit ihr, hatte er auch keine Angst mehr, dass sie ihm wieder davonlief. Staat würde sie mit ihm nie machen können; kein Maßanzug der Welt vermochte jemals seine Einskommasechzig herauszureißen, aber sie würde ihn mit anderen Augen sehen, wenn er sie einmal gehabt hatte.
Anni..., dachte er inständig, hilf!
Seine Gedanken tauchten in Ursprünge hinunter.
Lass es dazu kommen, bat er kindlich. Du weißt, sie ist genau mein Typ. Sie ist ja so dumm mit ihrem schlank. Und wenn ich sie nur kriege, weil sie den Komplex hat, aber lass sie mich kriegen!
Er dachte an die Kilos, die ihr ein Kummer waren und ihn entzückten, und wieder überkam ihn der leise, süße Schwindel. Aber diesmal war’s nicht die übliche Halluzination, die dann zerstob und ihn zurückließ in der Ödnis; eine Hoffnung, wie er sie seit Jahren nicht mehr gekannt hatte, riss ihn hoch, er hätte laut jubeln können, singen, Leb wohl, du schönes, herrliches Kind... Nur weil er sich geniert hätte, falls einer seinen schwarzen Bass hörte, ließ er es und fing zu pfeifen an. Die Vögel antworteten ihm in den morgenfrischen Bäumen, er bildete es sich jedenfalls ein, sie pfiffen vor, er pfiff zurück. Eine Sequenz sie, eine er.
So schritt er dahin mit seinem auf dem Holperpfad hopsenden Postwägelchen, pfeifend, eins mit seinem Leben, das sich nun endlich besonnen zu haben und gewillt schien, ihm auch mal was zukommen zu lassen.
Ein Tag war das!
Da sah er etwas Helles.
Durch Gebüsche schimmerte es herüber.
Dort war, wie er wusste, ein kleiner Teich, ein Tümpel mehr, der Froschlache genannt wurde.
Er verließ den Pfad und zwängte sich durch die Sträucher.
Ein Mädchen war es.
Es lag da und schlief. Unbekleidet.
Es lag auf dem Gesicht.
An den Haaren erkannte er sie; die Farbe, die man schon von weitem als unecht erkennt, zwischen Rauch und Rosa. Von der Hasenheide war sie.
»He!«, sagte er.
War ja ein starkes Stück, legte sich da splitternackt in die Sonne.
»Sie!«, rief er.
Wie hieß sie gleich? Schöninger.
»Das geht doch nicht! Ziehen Sie sich gefälligst was an!«
Da sie nichts dergleichen tat, beugte er sich hinunter und berührte ihre Schulter, um sie wachzurütteln - er fuhr zurück, als habe er eine Schlange angefasst.
Eine eiskalte Schlange.
Zwei, drei Sekunden stand er da, als habe er keine Beine mehr. Dann fing er zu rennen an, zu rennen - hinaus aus dem Gehölz und den Weg zurück, den er gekommen war...
Arnold Fabry, Dozent an der Universität, Anwalt und Politiker, fuhr eben aus seiner Garage heraus, als der Briefträger angetaumelt kam wie sein eigenes Gespenst.
»Zur Polizei... bitte, Herr Profes... Bitte, mich mitzunehmen... Polizei!«
»Zur Polizei?«
Fabry öffnete ihm die Wagentür.
»Wollen Sie zum Revier? Oder wohin sonst?«
»Egal - zur nächsten... Polizei!«
Wie ein Sack kippte Plins in die ledernen Polster.
Drittes Kapitel
Lizius stand mit seiner Tochter noch vor dem Haus und hatte einen Disput mit ihr, den er höchst überflüssig fand; an sich ein belangloser Disput, der aber, da er einen Aufenthalt von etwa zehn Minuten verursachte, in die Ereignisse mit eingreifen sollte. Es ging um folgendes:
Annely Lizius wollte mit ihren zwei Koffern ein Taxi rufen und damit zum Bahnhof fahren; ihr Vater wollte, dass sie seinen Dienstwagen nahm.
Annely leistete Widerstand. Einen keineswegs aggressiven, sondern eher hilflosen, aber: Widerstand.
»Den brauchst doch du«, sagte sie.
»Ich brauch’ ihn nicht.«
»Aber ich kann mir doch ein Taxi nehmen!«
»Du nimmst den Wagen.«
Ein paarmal ging das noch hin und her, schließlich wurde Lizius ungeduldig und verwahrte sich gegen die übertriebene Rücksichtnahme, als die er sich’s nur erklären konnte.
»Nun mach mir’s nicht so schwer!« Energisch drückte er für sie die Wagentür auf und bedeutete ihr, einzusteigen: »Ich sag’ dir doch, ich gehe mit Stein zu Fuß, am Siebenunddreißiger holt mich der Fahrer ab, bis dahin ist er längst zurück. Los jetzt...«, er gab ihr einen kleinen Schubs, »sonst versäumst du auch den Zug noch!« Sie stieg ein.
Es passte ihr nicht. Wohlerzogen, aber, oder präziser: ratlos fügte sie sich. Der Fahrer verstaute ihr Gepäck und begab sich ans Steuer, in dem Moment wurde ein Fenster im Dachgeschoss des Hauses geöffnet.
»Annely!«, rief Stefanie Lizius von oben. »Anneli-i! Die Bücher!« Sie gestikulierte und legte die Hände an den Mund: »Du hast den Bücherkoffer vergessen!«
Annely beugte sich aus dem Wagen: »Nehm’ ich nicht mi- it!«, rief sie im selben Tonfall zurück. »Wird nachgeschickt! Hab’s der Mali schon gesagt!«
»Aber du kannst doch nicht ohne Bücher...«, mischte ihr Vater sich ein.
»Erst möchte ich das Zimmer sehen!«, erklärte Annely mit Entschiedenheit. »Vielleicht muss ich umziehen, dann steh’ ich da mit dem ganzen Kram.«
Ganz leuchtete es dem Vater nicht ein, aber na ja. »Wie du meinst.« Er griff durch das offene Fenster und fuhr ihr mit dem Handrücken über die Wange. »Mach’s gut.«
Sie nickte ihm zu. »Dank dir nochmals. Addio!« Der Wagen fuhr weg.
Zehn Minuten eher, und Lizius wäre schon auf dem Gang, den er jetzt erst antrat, unterwegs gewesen.
In einiger Entfernung wartete Kommissar Stein.
Lizius sah der Tochter nicht mehr nach, so nachhaltig waren die Unverstehbarkeiten junger Mädchen für ihn nicht. Er trat auf Stein zu.
»So, und nun zu uns beiden! Ein verdammt schöner Morgen, man ist ja ein Idiot.« Er setzte sich in Bewegung mit ihm und nahm Zigaretten aus der Rocktasche, besann sich aber und verzichtete. »Sie?« Er hielt Stein, der auch schon bei Jahren, aber erheblich jünger als er war, die Packung hin: »Oder sind Sie noch immer eisern?«
»Danke.« Lächelnd lehnte Stein ab.
»Zu beneiden!« Lizius steckte die Packung wieder ein. »Wollte, ich wäre auch soweit, ich leide noch immer wie ein schwangeres Weib.« Er kramte ein Lutschbonbon heraus und steckte es in den Mund. »Schießen Sie los, Stein, was kann ich noch tun für Sie? Wo fehlt’s bei euch am meisten?«
Sie gingen die kurze Straße hinunter, ein Sprengwagen fuhr durch und sprühte seine Kaskaden über die ganze Breite hin; es roch betörend nach Sommer. Auch dies war eine Villenstraße, belebter aber und mit weniger Gärten, die Häuser standen näher am Gehsteig, manche waren zusammengebaut und hatten nur ein paar Quadratmeter Rasen mit Pflanzungen davor, zaunlos aber und dadurch großzügig. Auch diese Straße, die nach Eichendorff benannt war - Dichterviertel sagten manche -, hätte das Plins-Prädikat vornehm verdient, wenn sie sich auch nicht ganz so in Stille zurückgezogen gab wie die Kleistallee.
»Fehlen...«, antwortete Stein, der aussah wie sein Amt, nüchtern und unpersönlich, »das ist ein Angebot! Aber bevor ich mit dem Wunschzettel herausrücke, möchte ich mich bedanken, dass Sie sich noch die Mühe machen.«
»Ich komme mir vor wie ein Bauer, der in Austrag geht«, witzelte Lizius, »der Laden soll ja übergeben...«
Zur Fortsetzung kam er nicht, er sah das Auto und erkannte es. Sein Freund Fabry! Es war auch nicht zu übersehen, ein Auto wie ein Fisch, schnell und schnittig. Es fuhr heran und hielt.
»Du?«, rief Lizius. Er trat heran. »Was machst du hier? Du wohnst einem historischen Moment bei.« Er gab sich bestgelaunt und drückte Fabry die Hand: »Der Brief ist im Kasten, und zu Fuß geh’ ich auch!«
Fabry schien keinen Anlass zu sehen, in diesen Ton einzustimmen. »Hast du dich durchgerungen?« Er nickte.
»Die Quacksalber«, grinste Lizius, »weißt du, die Quacksalber! Gestern ließ ich das Gesuch steigen, gespickt mit Attesten, die meine Gebrechlichkeit bescheinigen.«
»Verzeihung, Herr Kriminaldirektor«, stammelte Plins, der sich herangeschoben hatte, »ein... Ein Mord.«
Belustigt sah Lizius auf den kleinen Briefträger. »Sie werden doch keinen umgebracht haben, Pünschen?« Jetzt bemerkte er, dass der Mann zitterte. »Mord?« Er nahm den Bonbonrest aus de, Mund.
»Das vermute ich nur. Wie anders könnte es - sein, dass - dass so ein junges Ding...« Er konnte noch keinen zusammenhängenden Satz sprechen. »Von der Hasenheide ist sie, Schö... Schöninger, glaube ich, heißt sie, in dem- dem... Wald...« Seine Hand vollführte eine sinnlose Geste in jene Richtung. »Ein-ein... Kind ist sie eigentlich noch.«
Kind?
»Berichten Sie!«, sagt Lizius.
Plins tut es, so gut er kann. Wie er da ahnungslos dahinging und dann etwas Helles sah.
»Eine Minderjährige also.« -
Und das ist nun ein Reflex. Der Kriminalist, der sich eben über seinen Rückzug ins Privatleben verbreitet hat, ist noch im Amt, und dieses Amt erweist sich stärker als ärztliche Empfehlungen, stärker als die Gespräche an dem Morgen und alle die Gedanken und Vorsätze.
Minderjährige:
Relais fallen, ein Schaltapparat tritt in Funktion, ehe das Für und Wider abgewogen werden kann. Da sind zwei ungeklärte Fälle, Jahre zurückliegend, zwei Mädchen, die an einem Baggersee ums Leben kamen, erfolglos damals die Polizei und deshalb samt ihrem Leiter von der Presse als unfähig angegriffen, ein offenes Konto, das den Demissionierenden belastet. Ein neuer Zusammenhang? In letzter Minute die Chance einer Aufklärung?
Lizius verfügt:
Der Kommissar hat über das Telefon im Hause Lizius die Polizeimaschine in Gang zu setzen, der Briefträger hat mitzukommen, der Freund hat ihn zu fahren. Er hat ihn selbstverständlich bitte zu fahren.
»So viel Zeit hast du doch?« verbessert Lizius seine diktatorischen Maßnahmen. »Ich bin ohne Wagen.«
»Wenn es sein muss«, sagt Fabry höflich und lässt ihn einsteigen.
Mit Beinen immer noch, die er nicht spürt, fremde Stengel, automatenhaft funktionierend, klettert Plins auf den Rücksitz. In welche Geschichte ist er da hineingeraten!
So wenig Zeit indessen verging, in dem Gehölz ist es lebendig geworden. Irgendwie muss es entdeckt worden und unter die Leute gekommen sein; sie laufen herbei aus Richtung Hasenheide, ein ganzer Knäuel steht schon um die Stelle an dem Teich.
Lizius sieht es im Heranfahren und flucht.
»Zurückbleiben!«, ruft er hinüber.
Sie reagieren nicht. Pack, das die Spuren zertrampelt. Lizius eilt, so rasch es das nicht mehr ganz intakte Pumpwerk hinter seinen Rippen zulässt, heran. »Komm«, bedeutet er Fabry, »hilf, bis meine Leute da sind!«
Natürlich, alles zertreten. Lizius sieht es auf hundert Schritt: nichts mehr zu wollen mit Spuren.
»Polizei!«, sagt er grob. »Treten Sie zurück!«
Sein Atem macht ihm zu schaffen.
Der Erfolg ist mäßig; zwei, drei, die ihn zu kennen scheinen, drücken sich seitwärts, die anderen stehen baumfest.
Lizius’ erster Blick gilt den Gesichtern.
Dann sieht er auf die Tote.
Ein Weib verdeckt die Sicht, tief hinabgebeugt, den dicken Hintern hochgereckt, steht es über dem nackten Körper und starrt ihm ins abgedrehte Gesicht.
»Vielleicht haben Sie die Güte, mich heranzulassen!«, bellt Lizius sie an.
»Gehen Sie doch beiseite«, sagte Fabry.
Blauroten Gesichts richtet das Weib sich auf und tritt einen Meter beiseite. Schritt für Schritt muss Fabry sie und mit ihr die anderen zurückdrängen.
Das also ist sie. Lizius betrachtet sie. Tot, fraglos.
Eine Ameise krabbelt über den Rücken; eine zartgetönte Haut. Wie heller Honig.
Ein Kind? Dem Körper nach nicht. Sie liegt sonderbar verdreht auf dem Gesicht.
»So haben Sie sie gefunden?«, wendet Lizius sich an den Briefträger, der ihm gefolgt ist.
Plins nickt.
»Oder lag sie anders?«
»Nein, da-das heißt... So genau - kann ich das ni-nicht - behaupten.«
Unter den vielen Blicken, die sich wie Fliegen auf sein Gesicht setzen, fängt er zu stottern an. Er hat ja, ha-hat nicht so genau hingesehen, ni-nicht wahr. Die Leute lachen. Der kleine Stöpsel, der sich vor Angst gleich in die Hosen machen wird, ist für die von der Hasenheide komisch.
»Wir führen hier keine Operette auf!«, sagt Lizius mit einem Blick über die Gesichter.
»Deckt sie doch zu!«, sagt Fabry leise.
Da Lizius nichts bei sich hat und keiner der Umstehenden sich rührt, nimmt Fabry seinen Mantel, eine leichte Regenhaut, die er mit der Aktentasche aus dem Wagen nahm, und breitet ihn über das tote Mädchen.
Lizius’ Blick ist bei einem Mann geblieben, der weiter hinten steht und sich nun, da er den Blick auf sich gerichtet fühlt, grüßend verneigt.
»Wir kennen uns doch?«, sagt Lizius über die Leute weg, die zwischen ihnen stehen.
»Gewiss, Herr Lizius«, antwortet der Mann.
»Herr Lassko?«
Wieder verneigt sich der Mann etwas. Seine Manieren sind gut, er sieht auch nicht nach Hasenheide aus. Ein nicht sehr zugängiges Gesicht, auch nicht das, was man sympathisch auf Anhieb nennt. Mitte Dreißig.
»Was tun Sie hier?«, fragt Lizius.
»Ich habe sie gefunden.«
»Sie?«
»Gefunden, genau gesagt, haben sie meine Hunde.«
»Wie das?«
Es ist ein etwas eigenartiges Gespräch so auf die Entfernung über die Leute hin. Sofort ist eine Spannung da.
»Ich führte die Hunde spazieren«, antwortet der Mann namens Lassko, »ließ sie frei laufen, dabei fanden sie sie.«
»Und dann?«
»Habe ich die Mutter verständigt. Sie schlief noch, muss sich erst anziehen.«
»Und die Leute?«, sagte Lizius mit einer Geste nach der Menge. »Haben Sie die auch verständigt?«
»Ich?«
Lassko wundert sich und hat gegen Ärger anzukämpfen.
»Wo kommen sie dann her?«
»Das weiß ich nicht. Vielleicht hat es der Junge herumerzählt, den ich zur Polizei schickte. Falls Sie seinen Namen wissen wollen«, setzt er hinzu, höflich noch immer, aber eine Spur aggressiv: »Leo Wiegier.«
»Sie schickten zur Polizei?«, staunt Lizius.
»Sie musste doch verständigt werden!«
»Warum gingen Sie nicht selbst?«
Es sieht so aus, als wolle sich Lassko das Verhör coram publico verbieten, eine geladene Pause entsteht. Dann sagt er:
»Wenn Sie mich vernehmen wollen, ich stehe zur Verfügung. Aber ich glaube nicht, dass ich es mir öffentlich gefallen lassen muss.«
»Sie könnten ja näher kommen«, meint Lizius.
Die Leute werfen sich Blicke zu. Unüberhörbar, der Kripoboss hat was gegen Lassko! Die Stecknadelstille breitet sich aus.
»Bitte.«
Lassko tritt vor und geht die zwanzig Schritte, die sie ungefähr trennen, heran, bleibt in Distanz stehen und sieht Lizius ins Gesicht. Er ist nicht ganz so groß wie er, prachtvoll gewachsen, schmale Hüften und athletische Schultern, aus dem offenen Kragen eines weißen Hemdes leuchtet eine Haut, die viel an der Sonne ist.
Zwischen ihnen liegt das tote Mädchen.
»Sie schickten den Jungen?«, setzt Lizius die Befragung fort. »Warum?«
»Weil es schneller ging. Er kam mit dem Rad.«
»Und Sie haben keins? Kein Fahrrad?«
»Nein«, sagt Lassko im gleichen maliziösen Ton, »ich habe keins. Ich habe ein Auto. Und das ist bei der Inspektion.«
»Günstig!«, findet Lizius.
»Gewiss«, kopiert ihn Lassko. »Falls Sie anrufen wollen: Auto-Lochner, zwo-zwo-vier-vier-acht-acht.«
»Eine leicht zu merkende Nummer.«
»Sozusagen idiotensicher.«
Das ist ein Dialog! Die Leute freuen sich und vergessen ganz, dass das Häufchen unter dem Mantel ein toter Mensch ist.
»Und weshalb riefen Sie die Polizei nicht telefonisch?«, kontert Lizius. »Wäre das nicht noch schneller gegangen?«
»Telefon gibt’s in der Hasenheide nicht.«
Eins zu null für Lassko! Zwischenrufe fallen.
»Beschaffen Sie uns eins!«, heißt es.
Um den Luxus eines Telefonkabels wurde in der Hasenheide gekämpft; sie seien, machten sie geltend, auch Menschen, die Arzt, Funkstreife und Feuerwehr brauchten. Aber der Staat war anderer Meinung und lehnte ab.
»Nur beim Steuerzahlen haben wir die gleichen Rechte!«
Solche und ähnliche Marginalien, gegen die lediglich einzuwenden ist, dass sie sich an die falsche Adresse wenden, werden von den Sirenen der Polizeiwagen, die jetzt heranjagen und in Sekundenschnelle die Szenerie beherrschen, übertönt.
Endlich, denkt Plins. Nun ist es überstanden.
Er tritt zu Lizius heran. »Kann ich gehen?«
»Moment«, sagt Lizius und wendet sich an Lassko: »Um welche Zeit haben Sie sie gefunden?«
»Zirka dreiviertel acht.«
»Danke. - Nein, Pünschen«, verfügt Lizius über den nicht wenig bestürzten Briefträger, »wir brauchen Sie noch zum Protokoll.«
Das Wäldchen dröhnt jetzt vom Geheul der Sirenen, Polizisten fallen ein wie ein Hornissenschwarm.
»Aber die Post!«, ruft Plins. »Die Post!« versucht er sich in dem Getöse verständlich zu machen. »Ich hab’ doch noch Post zuzustellen!«
»Übernimmt ein anderer«, bestimmt Lizius, »Ihre Tasche bringen wir zum Postamt.« Damit verlässt er ihn und tritt seinen Leuten entgegen.
Zum zweiten Mal an diesem Tag wechselt Plins die Farbe. Protokoll! Angsttraum des kleinen Mannes: mit der Polizei zu tun zu haben.
Er knickt in die Knie und lässt sich auf einen Baumstumpf nieder, vor seinen Augen tanzt es. Eine Bühne, die er nur träumt, so sieht er die Figuren agieren, ein Kriminalstück wird gespielt, und er hat einen Platz weit hinten, wo er es nicht richtig mitbekommt.
Ein Uhrwerk läuft ab, die Polizei besetzt das Gehölz. Die Gaffer werden in einen weiten Umkreis gewiesen, und die Spezialisten, deren jeder seinen Abschnitt hat, gehen an die Arbeit, das Häufchen wird entblößt, die Fotografen blitzen.
Da rennt eine Frau heran, und jetzt spielt sich ein schauderhafter Auftritt ab.
»Geli!«, schreit sie schon von weitem. »Geli!«
Die Polizisten wollen sie hindern, sie stößt sie zurück. »Lasst mich!« Sie stürzt zu der Toten, wirft sich über sie.
»Geli! Geli! Geli!«
Es ist die Mutter.
Eine unordentliche, verlebte Person, die einst vulgär hübsch gewesen sein mag, jetzt aber, obwohl kaum älter als vierzig, eine Ruine ist.
»Geli! Geli!«
Lizius beugt sich zu ihr und versucht ihr zuzureden, sie schreit. Die Polizisten bemühen sich um sie, sie schreit. Der Arzt will ihr eine Beruhigungsspritze geben, sie schreit. Ausbruch eines orgiastisch sich gehenlassenden Schmerzes.
Lizius bedeutet den Männern: rasch!
Sie heben die Frau auf, sie schlägt um sich.
»Geli!« und immer wieder »Geli!« Mit Gewalt müssen sie sie halten, während andere mit einer Bahre den leichten Körper wegtragen.
»Ihre Kleider!«, schluchzt sie hinterdrein: »So lasst mir doch ihre Kleider! Wo sind ihre Kleider?«
Die Kleider: ja, wo sind sie?
Sie werden gesucht. Nicht da.
»Und ihre Schuhe!« Es läuft ihr übers Gesicht. »Ihre schönen neuen Schuhe!«
Die Polizisten suchen, auch Lizius sucht und ist von der Entdeckung überrascht: Kleider und Schuhe sind nicht auffindbar.
»Das gibt’s doch nicht!«, ruft die Frau. »Lasst mich! Herrgott noch mal, so lasst mich, ich muss mich schneuzen. Die Sachen«, ruft sie und schnäuzt sich mit dem Fortissimo eines Trompeteneinsatzes, »müssen doch da sein!«
Sie sind aber nicht da.
Die Frau bearbeitet ihr verwüstetes Gesicht mit dem Taschentuch und geht auf Lizius los: »Ich bestehe darauf! Sie müssen sie herausgeben! Nagelneue Schuhe. Ich bin eine arme Frau«, heult sie, und wieder ergießt sich’s, »ich muss die Schuhe haben!« Sie sieht Fabry stehen. »Helfen Sie mir doch! Goldsandalen! Ganz neue Goldsandalen. Die dürfen die doch nicht behalten!«
»Niemand behält etwas«, beruhigt Lizius sie und führt sie weg, »Kommen Sie, Frau Schöninger, ich lasse Sie nach Hause bringen, und wenn wir die Sachen gefunden haben, werden sie Ihnen zugestellt.«
»Mich brauchst du ja nicht mehr?«, fragt Fabry hinter ihm nach und wendet sich zum Gehen.
»’tschuldige, nein!« Lizius hält nochmals an. Über dem Auftritt hatte er ihn .vergessen. »Immer noch hat man zu wenig Routine«, sagt er entschuldigend. »Und tausend Dank! Gruß an Hajo, wenn du mit ihm telefonieren solltest. Annely hat übrigens verschlafen heute, stell dir das vor! Tschüs.«
Im Weggehen schon fällt ihm noch mal etwas ein.
»Dein Mantel!«, ruft er.
Zusammen mit der Bahre hatten ihn die Polizisten weggetragen zu ihrem Wagen.
»Willst du ihn nicht mitnehmen?«
Fabry hörte ihn nicht mehr.
Viertes Kapitel
Ein Tag war das gewesen - fürchterlich.
Und hatte so gut angefangen.
Um neun traf Siegfried Plins seine Brunhilde an der Ecke. Um neun, ja. Und wovon sprachen sie? Natürlich von der Sache.
Diese Sache!
Sie hatten ihn verhört. Regelrecht mit Alibi, reiner Wahrheit und so fort. Bis mittags hatten sie ihn dabehalten. Als er das Polizeipräsidium, in dem Lizius residierte, verlassen durfte, war er so fertig, dass er sich erst einmal hinsetzen musste. Er ging ins nächste Espresso, dort saß er eine Stunde oder noch länger vor einer Tasse Kaffee. In voller Montur! Ein Briefträger am helllichten Tag im Kaffeehaus.
Eines wusste
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: ERnestine wery/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 14.06.2021
ISBN: 978-3-7487-8563-7
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