RAINER FUHRMANN
Die Untersuchung
KOSMOLOGIEN – SCIENCE FICTION AUS DER DDR, Band 10
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Der Autor
DIE UNTERSUCHUNG
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Das Buch
Untersuchungsführer Kilian ist in allen Gesetzen und Verfügungen, Vorschriften und Bestimmungen der Raumbehörde beschlagen und hat bereits mehrere Fälle aufgeklärt. Den Raumschiffkommandanten Metz, eine vom Glorienschein umwobene Heldengestalt, kennt er nur aus Schulbüchern. Er begegnet ihm erst, als auf dem Saturnmond Titan drei junge Wissenschaftler durch eine Explosion ums Leben gekommen sind. Fast wird ihm diese Begegnung zum Verhängnis, denn der erfahrene Raumkapitän, der aus bitterer Erkenntnis keine andere Obrigkeit anerkennt als das Gesetz des eigenen Willens, sieht in dem prinzipientreuen, im Vorschriftendenken befangenen Kilian einen Feind, der ihm die Krönung seines Lebens streitig machen will...
Rainer Fuhrmanns Roman Die Untersuchung (erstmals im Jahr 1984 veröffentlicht) erscheint im Apex-Verlag in der Reihe Kosmologien – Science Fiction aus der DDR - eine spannende Geschichte, in der es um Machtkämpfe, um Misstrauen und Selbstherrlichkeit geht. Aber auch um Liebe, die einen Verbitterten aus seiner Einsamkeit erlöst.
Der Autor
Rainer Fuhrmann, (* 11. September 1940; † 3. November 1990).
Rainer Fuhrmann war ein deutscher Science-Fiction-Schriftsteller.
Fuhrmann erlernte den Beruf des Drehers, arbeitete als Mechaniker, erwarb den Meisterbrief als Mechaniker-Meister, brach ein Studium der Maschinenbautechnologie ab, um mehr Zeit zum Schreiben zu haben, und arbeitete als wissenschaftlich-technischer Mitarbeiter und Konstrukteur, bevor er 1980 freischaffender Schriftsteller wurde. Viele Jahre seines Berufslebens war er in der Orthopädietechnik tätig, und seine dabei gewonnenen Erfahrungen aus dem Gesundheitswesen sind in einigen seiner Werke spürbar.
Rainer Fuhrmann galt als einer der herausragenden Autoren der Science Fiction in der DDR. Er thematisierte 1977 unter anderem Gen-Manipulation am Menschen in dem Roman Homo Sapiens 10-2, in welchem das Experiment eines skrupellosen Wissenschaftlers dazu führt, dass eine Gruppe von Menschen miniaturisiert wird, bis sie an die Grenzen der Physik stoßen.
Zu Fuhrmanns bekanntesten Werken zählen die SF-Romane Homo Sapiens 10-2 (1977), Das Raumschiff aus der Steinzeit (1978), Planet der Sirenen (1981), Medusa (1985) sowie Kairos (1996), der erst nach dem Tod des Autors erschien und welcher gemeinhin als Fuhrmanns Abrechnung mit der DDR gilt.
Darüber hinaus schrieb er – neben zahlreichen Kurzgeschichten und Erzählungen – die utopischen Kriminalromane Per Kippschalter (1981), Herzstillstand (1981), Zweimal vierundzwanzig Stunden (1982) und Kantharidin (1985), die allesamt in der legendären Reihe Blaulicht erschienen.
Der Apex-Verlag widmet Rainer Fuhrmann eine umfangreiche Werkausgabe.
DIE UNTERSUCHUNG
Erstes Kapitel
Er blickte auf die Uhr. Fünf Minuten fehlten ah der vereinbarten Zeit. Unpünktlichkeit schlug sich garantiert als Vermerk in den Kaderdaten nieder - entweder als Nachlässigkeit oder als... Er kam zu früh.
George Kilian schlenderte den Korridor auf der einen Seite hinunter und auf der anderen hinauf, betrachtete die Porträts an den Wänden. Zahllose, zumeist schlecht getroffene Konterfeis von Pionieren der Raumfahrt: Gagarin, Titow, Armstrong, Collins, Aldrin, Kision, Gille, Petruschlow, Harold Metz... Ein peinlicher Kult um die Vorfahren, Anbetung von Fossilien. Mit gleicher Berechtigung hätten an dieser Stelle die Bilder der Menschen hängen können, die das Rad und den Gebrauch des Feuers erfanden. Heldenporträts. Die halfen ihm nicht, seine Probleme zu lösen. Halfen niemandem.
Der Sekundenzeiger rückte vor. Punkt zehn.
Kilian drückte auf den Signalknopf, Die Tür rollte auf. Dahinter öffnete sich ein Büro voller Pflanzen, in kleinen und großen Töpfen, Bänken und Kübeln. Ein Blattgewirr wie im botanischen Garten. In dieser grünen Flut stand ein Schreibtisch. Daneben, eine Hand auf die Tischplatte gespreizt, ein Mann in Präsidentenpose. Das Gesicht aber war schlaff, die Augen trübe, der Mund eine mit den Spitzen nach unten gerichtete strichdünne Sichel.
Kilian grüßte lächelnd und trat einen Schritt vor.
Die Haltung des Mannes am Schreibtisch änderte sich nicht. Nur die Sichel klaffte eine Spur auf. »Gerade von Ihnen hätte ich erwartet, dass Ihnen die vorgeschriebene Form der Begrüßung in Fleisch und Blut übergegangen wäre.«
»Verzeihen Sie«, sagte Kilian.
»Das Reglement schreibt eine aufrechte Haltung vor, die Hände an den locker herabhängenden Armen gestreckt, auf dem Gesicht ein höfliches - aber nur angedeutetes - Lächeln. Was Sie zur Schau stellen, könnte man bestenfalls ein schiefes Grinsen nennen.«
Dämlicher Hund! Geilte sich an Vorschriften aus der Steinzeit auf. Oder hing die Sicherheit der Raumfahrt davon ab, dass der Vorgesetzte vorschriftsmäßig gegrüßt wurde?
»Treten Sie näher.« Der Mann streckte ihm die Hand entgegen.
Das stand nicht in den Vorschriften. War mit dem formellen Rüffel der offizielle Teil abgeschlossen?
Der Händedruck des Mannes war so schlaff und feucht, dass sich Kilian die Vorstellung aufdrängte, eine rohe Leber in der Hand zu halten.
»Setzen Sie sich.« Der Hauptabteilungsleiter zeigte auf den im Pflanzengewirr stehenden Besuchersessel. »Ihre Kennkarte, bitte.«
Kilian legte die graue, metallisch schimmernde Plastkarte auf den Tisch und setzte sich, unschlüssig, ob er die Beine überschlagen durfte. Im Nacken kitzelte das Blatt einer Fächerpalme. Schließlich legte er die Beine übereinander. Es war bequemer.
Der Hauptabteilungsleiter nahm davon keine Notiz. Seine hellblaue Kombination wies keine Falte auf, die Reißverschlüsse glänzten, die Schuhe waren poliert. Es war die gleiche Kombination, die alle Mitarbeiter trugen, die der Internationalen Raumfahrtbehörde angehörten, vom Ratsvorsitzenden bis zum Raumpfleger. Der Unterschied bestand lediglich in dem schmalen Metallschildchen auf der linken Brust. Das seines Vorgesetzten hatte Kilian auf den ersten Blick gemustert, seit frühester Jugend daran gewöhnt, zuerst auf das Schild zu sehen, um festzustellen, wen er vor sich hatte. Und dann erst in das Gesicht. Auf dem Schild stand:
KAREL NORTON - 8e.
Damit war alles über die Person gesagt. Ihm gegenüber saß ein Hochkarätiger. Die Ziffer hinter dem Namen bezog sich auf den Gehaltsrang 8, in dem ein Mensch nach der Ausbildung mit 1350 Verrechnungseinheiten begann und nach einer Steigerung von jeweils 50 VE alle fünf Jahre schließlich mit 1650 VE pensioniert wurde. Voraussetzung war ein Hochschulstudium mit zwei Zusatzstudien, also eine Ausbildung von sieben Jahren. Diesen Absolventen stand am Beginn der Laufbahn die Position eines Hauptinspektors, später die eines Hauptabteilungsleiters zu. Die Unterstufe e gab Aufschluss über die Dienstjahre, damit gleichzeitig auch über das Alter und die Staffelungsstufe des Einkommens. a war 0 bis 5 Jahre, b hieß 5 bis 10... Folglich hatte Karel Norton 20 bis 25 Dienstjahre, die Stellung eines Hauptabteilungsleiters, war zwischen fünfundvierzig und fünfzig und besaß ein Einkommen von 1550 VE. Falls ihm nicht für besondere Leistungen eine weitere Stufe zuerkannt wurde.
Ein zweiter Blick: Nein, wurde ihm nicht, denn über dem Rangschild befand sich eine kleine silberne Plakette mit erhaben geprägter Mondsichel: der Lunar-Orden in Silber. Auf den hatte man erst nach zwanzigjähriger Dienstzeit Anspruch. Niemals vorher. Nach fünfundzwanzig Jahren kam Gold, nach dreißig Platin.
Also war die Schätzung richtig: Der Mann musste- zwischen fünfundvierzig und fünfzig Jahre alt sein.
Norton strich über seine polierte Halbglatze. Er betrachtete den mit grünen Buchstabenkolonnen aufgefüllten Bildschirm des Tischcomputers (kein Zweifel: die Kaderdaten!). Ließ die Augen zu Kilian wandern. »Sie sind ein Sechs-b- Mann?«
Unausgesprochen lag im Raum: Hochschulkader ohne Zusatzstudium, 5 bis To Dienstjahre, Einkommen 1200 VE.
Kilian tippte gegen sein Rangschild.
Norton lehnte sich zurück. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. »Ich darf Ihnen eine freudige Mitteilung machen: Auf Grund Ihrer Verdienste - Sie haben die Unfälle auf dem
Mond rasch und kostengünstig geklärt - hat die Besetzungsabteilung auf meinen Antrag entschieden, Sie in die Gruppe sieben b einzustufen, was der Ausbildung mit einem Zusatzstudium entspricht. Ihre Dienstjahre werden angerechnet. Es versteht sich, dass Sie innerhalb der nächsten fünf Jahre das erforderliche Zusatzstudium postgraduell nachholen, wenn Sie nicht nach Ablauf der Frist in G sechs zurückgestuft werden wollen.«
»Selbstverständlich«, erwiderte Kilian.
»Damit erhöht sich Ihr-Einkommen auf tausenddreihundert. Zufrieden?«
Kilian war einen Augenblick überwältigt. Mit 100 VE monatlich zusätzlich konnte er sich eine Menge leisten: eine größere Wohnung, komfortablere Urlaubsreisen... 7b! Und jetzt war er 32 Jahre alt, hatte neun Dienstjahre! Das hieß, vom nächsten Jahr an gab es 7c, also 1350 VE und Anspruch auf den Lunar-Orden in Chrom, der nur den Rängen 7 bis 9 nach zehnjähriger Dienstzeit verliehen wurde. Nochmals 1000 VE!
Eigentlich war der Mann nicht unsympathisch!
»Rangschild und Kennkarte werden eingezogen. Im Zimmer sechs erhalten Sie Ihre neue Legitimation.« Norton griff in die Schublade und holte einen Hefter hervor. »Kommen wir zur Sache: Mit der Erhöhung von G sechs b auf G sieben b sind Sie zugleich vom Untersuchungsleiter zum Einsatzleiter avanciert. Sie erhalten für Ihre neue Aufgabe - nur für diese! - die Befugnis zur Erteilung von C-Ordern, wie nur ich selbst sie ausstellen kann. Sie können demnach, wenn es erforderlich ist, G-eins- bis -sieben-a-Leute zeitweilig von ihrem Posten entbinden. Zeitweilig, denn die endgültige Entscheidung trifft das Besetzungsbüro. Dürfte Ihnen bekannt sein.«
»Die Absetzung ist nur für die Dauer einer schwebenden Untersuchung gültig. Ich weiß.«
Norton kniff die Augen zusammen. »Ich habe lediglich Ihre Kompetenzen angedeutet. Eine C-Order müssen Sie mir gegenüber stichhaltig begründen. Ich muss es nämlich dem General ebenfalls. Also gehen Sie mit der Befugnis nicht leichtfertig um.«
»Selbstverständlich.«
Norton nickte. »Sie fliegen zum äußersten Vorposten der menschlichen Zivilisation, zum Saturn-Mond Titan. Heute Morgen erhielten wir die Nachricht, dort ist ein Teil einer Forschungsstation explodiert. Drei Opfer sind zu beklagen. Unfälle dieser Art gehen meist auf Nichtbeachtung der Sicherheitsbestimmungen zurück, weniger auf technisches Versagen... Egal, Sie werden die Ursachen finden. Erstatten Sie mir Bericht. Im Sicherheitsrat wird ausgewertet, wie solche Geschehnisse in Zukunft vermieden werden können.«
»Wen bekomme ich als Sachverständigen?«
»Neil Lewin - sieben d, aus der Hauptabteilung Technik. Ein Experte.«
Donnerwetter, dachte Kilian. Sieben d! Ein Hochschulmann mit zweijährigem Zusatzstudium. Experte. Höher qualifiziert als er selbst. Mit Erfahrung d, also fünfzehn bis zwanzig Jahre Praxis. Demnach ein Mann zwischen neununddreißig und vierundvierzig. Hoffentlich keiner, der ihm mit seinem unverständlichen Fachjargon und der für diesen Berufsstand nicht seltenen Haltung »Ich bin Experte - wer ist mehr?« das Leben sauer machte. »Gut, das ist geklärt. Wer ist der Leiter der Unglücksraben?«
»André Bloom - acht a. Kam bei der Explosion ums Leben.«
»Acht a - das heißt, er hatte erst fünf Dienstjahre hinter sich?«
»Null. Er war Absolvent, sechsundzwanzig Jahre alt. Sein Bild finden Sie im Hefter.« Norton reichte ihm die schmale Mappe. »Als der Posten auf dem Titan ausgeschrieben wurde, meldeten sich etwa tausend junge Leute. Sogar G-neun-Männer - stellen Sie sich das vor!«
»Was?«, sagte Kilian. »Für die Position eines Forschungsleiters sind sie überqualifiziert. An fünf Fingern hätten sie sich abzählen können, dass ihnen ein unterqualifizierter Posten niemals zustand. Sie hätten ihn nie bekommen.«
Norton nahm eine bequemere Haltung ein. »Über der Arbeit in den äußersten Vorposten liegt noch ein Hauch von Abenteuer und Pioniergeist. Die jungen Leute drängen sich danach, sie finden an Entbehrungen Geschmack und haben den Komfort geregelter Arbeitszeit und bis ins Kleinste geordneter Verhältnisse satt. Ich kann’s nicht verstehen, aber die Jugend tendiert nun mal dazu, Wagnisse, ja Gefahren zu lieben. Sehen Sie ihre rustikale Gesinnung: Lieber braten sie am Lagerfeuer ein paar Kartoffeln, anstatt ins nächste Restaurant zu gehen und sich ein ausgefallenes Menü zu bestellen. Selbstverständlich kann niemand eine Position bekleiden, die nicht seiner Qualifikation entspricht, und zwar weder nach oben noch nach unten. Für den Forschungsleiterposten auf dem Titan wurden sämtliche G-acht-Leute herausgesiebt und - da immer noch rund hundert übrigblieben - die Entscheidung dem Los überlassen. Und das traf Bloom.«
Kilian blätterte flüchtig im Hefter. Bei den Bildern der Frauen verhielt er ein wenig länger. Es waren nur dreizehn Fotos. Das markante Gesicht eines älteren Mannes fiel ihm auf: harte, energiegeladene Züge, viereckiges Kinn, scharfe Linien auf Stirn und Wangen, herausfordernd blickende Augen, in den Winkeln Krähenfüße. Verdammt, das Bild hatte er schon einmal gesehen! Aber wo?
»Wer ist das?«
»Harold Metz«, antwortete Norton, »ein Sechs-g-Mann.«
Kilian ließ den Hefter sinken. »Was denn - den gibt es wirklich?«
Norton lächelte. »Dachten Sie, die Raumfahrtbehörde saugt sich ihre Mythen aus den Fingern?«
»Ich kenne ihn aus den Schulbüchern. Sein Name wurde mit derart vielen Superlativen verknüpft, dass ich ihn für eine Märchenfigur hielt. Schließlich braucht auch die Forschung ihre Helden. - Ist der nicht steinalt?«
»Siebenundfünfzig. Geht in drei Jahren in Pension.«
»Ich nahm an, wenn es ihn überhaupt gegeben hat, wäre er schon lange tot. Die Helden aus den Schulbüchern sind es jedenfalls alle!«
Norton betrachtete einen Punkt an der Decke. »Metz war sechs Jahre kommissarischer Leiter der Station, was auf solchen Außenposten Objekt- und Forschungsleitung kombiniert...«
»Ein G-sechs-Mann als Leiter einer zwölfköpfigen Forschungsgruppe?«
»Um präzis zu sein: Er wurde auf Grund seiner Verdienste von G fünf auf G sechs gestuft.«
»Dann wäre er erst recht nicht...«, wandte Kilian ein.
»Ich möchte mich nicht weiter darüber äußern«, sagte Norton. Seine Stirn furchte sich. »Nur so viel: Für die Leitung des ursprünglich aus acht Mitarbeitern bestehenden Teams hätte die Qualifikation von G sechs ausgereicht...«
»Aber nicht ein honoris causa verliehener Gehaltsrang«, warf Kilian ein.
»Angesichts seiner Verdienste«, fuhr Norton fort, »hat das Besetzungsbüro Harold Metz angeboten, einen zweijährigen Sonderlehrgang zu absolvieren, damit die für seine Position erforderliche G-Stufe wenigstens zum Schein gerechtfertigt ist. Nichts! Eigensinnig, wie Metz ist, lehnte er das Angebot ab - die an die Adresse des Rats gerichteten Kraftausdrücke trugen ihm ein Disziplinarverfahren ein. Dem Büro blieb keine andere Wahl, als das Team mit drei Mann aufzustocken und einen Leiter mit entsprechender Qualifikation an seine Stelle zu beordern. Doch man setzte ihn als dessen Stellvertreter ein - obwohl auch dieser Posten eigentlich einem regulär qualifizierten G-sechs-Mann zusteht, besser noch G sieben. Ein großes Entgegenkommen, finde ich. Zu Recht. Bedauerlich, dass das Büro keine Ausnahmen machen kann, machen darf, denn solche Männer sind selten geworden.« Norton saugte an der Oberlippe, warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Das bleibt unter uns, Kollege Kilian, denn immer wieder tauchen Leute auf, die ihre Stellung mit dem Verweis auf solche Präzedenzfalle zu behaupten versuchen.«
Das fehlte noch! Offenbar kannten sich die beiden, und Norton erwartete möglicherweise weitestgehende Rücksichtnahme gegenüber einem Mann, dessen Abenteuer die Schulbücher füllten. Gegen einen Helden zu ermitteln war die undankbarste Sache der Welt. Wie es auch ausging - der kleine Untersuchungsbeamte Kilian würde den Kürzeren ziehen, als der Mann dastehen, der an einem Denkmal gekratzt hatte. Verdammt, warum musste es gerade ihn treffen? Der einzige Weg, unbeschadet aus der Sache herauszukommen, blieb der, so korrekt wie möglich zu verfahren. »Ich sehe in den Unterlagen, dass es auf der Station keinen Biologen gibt«, sagte er.
»Für einen Biologen gibt es keine Aufgabenstellung«, erwiderte Norton. »Der Titan ist steril. Das ist seit Jahren bekannt.«
»Pardon.«
»Ich wollte Sie nicht tadeln«, sagte Norton mit dünnem Lächeln. »Die Station hat einige Rückschläge einstecken müssen. Vor fünf Jahren musste sie aufgegeben werden, weil das Gelände versumpfte, dann verunglückte einer der Mitarbeiter tödlich. Die aggressive Atmosphäre verursacht hohe Materialverluste, vor allen Dingen Leichtmetalle. Sie müssen laufend ersetzt werden. Metz jammert wegen des hohen Treibstoffbedarfs und so weiter. Es ist nicht leicht dort. Na, Sie werden sehen.« Er nahm den Hefter zurück und reichte eine Recorder-Kassette über den Tisch. »Hier sind sämtliche Informationen über das Forschungsteam, die Ergebnisse ihrer Tätigkeit, Konstruktionsunterlagen der apparativen Ausrüstung und so weiter. Start der Lem morgen früh...«
»Morgen früh?«, entfuhr es Kilian.
Norton hob die Schultern. »Bedaure. Sie waren der einzige, den ich kurzfristig erreichen konnte. - Was sagten Sie?«
»Ich sagte: Mist!«
»Sie haben Stil«, erwiderte Norton, und in seinen Augen glitzerte es. »Ich hoffe, Sie fühlen sich jetzt entspannt. - Noch etwas zum organisatorischen Ablauf: Dauer des Hinflugs sechs Monate. Vier Wochen nach Ihrer Ankunft trifft ein Versorgungsschiff ein, mit dem Sie die Rückreise antreten können. Ich sage: können. Sollten Sie bis dahin die Untersuchung nicht abgeschlossen haben, müssen Sie ein halbes Jahr bis zum nächsten Schiff ausharren. Es liegt bei Ihnen, ob die Reise dreizehn oder neunzehn Monate dauert. Guten Tag.« Er betätigte einen Druckknopf an der Seite des Schreibtisches. Die Bürotür rollte auf.
»Beinahe hätt’ ich es vergessen«, sagte Norton, als Kilian bereits auf dem Korridor stand. »Äußerster Vorposten ist Stufe fünf. Sie bekommen für außerirdischen Einsatz in dieser Region eine Zuschlagsprämie von zwanzig Prozent Ihres Einkommens. Guten Tag.«
Kilian gab im Zimmer 6 Kennkarte und Rangschild ab und nahm von einer neidisch blickenden i-d-Frau die neue Legitimation in Empfang. Mit einer Spur von Stolz heftete er sich das neue Rangschild an die Brusttasche. Unterwegs kehrte er in ein Restaurant der Qualitätsstufe i ein. Bestellte sich Reh-, Truthahn- und Wildschweinbraten, Eiscreme und andere Desserts und trank die teuersten Weine, die es auf der Karte zu finden gab. Auf solche Genüsse musste er in den nächsten dreizehn Monaten verzichten.
Wenig später stellten sich jedoch krampfartige Magenbeschwerden ein, dazu Benommenheit und schließlich Brechreiz. Es war genug. Er steckte am Ausgang des Restaurants seine Kennkarte mit Angabe der Platznummer in den Computer, der die Rechnung automatisch von seinem auf der Karte codierten Bankkonto abzog, und fuhr mit der U-Bahn in die Vorstadt.
Er lebte in einer kleinen Einraumwohnung, verbrauchte wenig und ließ sein Konto wachsen. Später sollte es einmal für ein kleines Haus reichen, mit Garten, einigen Obstbäumen, Beeten... An das Später musste er denken, denn es kam unweigerlich der Tag, an dem ihm der Computer des Besetzungsbüros das Datum seiner Pensionierung in den Postsammler spuckte und seinen Namen von der Kaderliste löschte. Dann würde es gut sein, Betätigung zu haben. Sinnvolle Betätigung! Finanzielle Sicherheit war nicht alles, was ein Mensch im Alter brauchte.
Sein Haus glich einer Stufenpyramide. Er fuhr mit dem Lift in die oberste Etage. Dort lagen die kleinsten Wohnungen. Als sich die Tür seines Appartements hinter ihm schloss, erlosch der Lärm des großen Hauses. Er presste die Faust gegen den Leib. Der Druck im Magen ließ nicht nach. Zu viel gegessen, zu viel getrunken. Vielleicht ein Schluck Soda mit Eis, das mochte sein aufgewühltes Innenleben gerade noch vertragen.
Mit dem Glas in der Hand betrat er das Wohnzimmer und drückte die Abruftaste des Postsammlers.
Auf dem Bildschirm des Fernsehapparates erschienen nur zwei Worte: Kein Eingang.
Also kein Anruf, keine Post. Von wem auch? Als würde er hier nicht wohnen, nicht einmal mehr leben. Es war sogar fraglich, ob jemand im Hause bemerkt hatte, dass er zwei Monate abwesend war. Im Rechnungseinzugsverfahren wurden Miete, Energie- und Dienstleistungskosten vom Konto abgebucht, und es erkundigte sich höchstens dann jemand, wenn das Konto erschöpft war. Kilian erinnerte sich an eine Notiz in der Bildschirmzeitung. War lange her. Ein freischaffender Schriftsteller, gerade vierzig, war im Bett gestorben. Seine Leiche lag vier Jahre lang in der vollklimatisierten Wohnung, während der Computer der Verwaltung jeden Monat die Unkosten vom Konto abzog. Und es wäre noch länger unentdeckt geblieben, hätte sich das Konto nicht erschöpft.
Seitdem die Einkaufszentren ans Datennetz angeschlossen waren, konnte das nicht mehr passieren. Bei Menschen, die in einem Arbeitsverhältnis standen, war das auch vorher nicht möglich, denn spätestens nach drei Tagen kam jemand, um sich zu erkundigen - sofern keine Krankmeldung vom Arzt vorlag. Aber nun war die letzte Lücke geschlossen. Nicht einmal menschenscheue Pensionäre, die sich in die Einsamkeit der Berge zurückgezogen hatten, konnten der Fürsorge der Gesellschaft entgehen. Denn sie brauchten Dinge des täglichen Lebens, und seien es Streichhölzer. Die aber mussten gekauft werden - und schon registrierte der Computer auf dem Konto eine Bewegung: also lebte der Mensch. Wenn vier Wochen lang kein Kauf registriert wurde, gab der Computer eine Alarmmeldung an die Sozialabteilung.
Kilian nippte am Glas. Draußen auf der dreißig Quadratmeter großen Terrasse lag die Abendsonne, übertünchte das frische Grün des gewucherten Rasens mit altgoldenem Glanz. Wird ihm bis zum Kinn reichen, wenn er zurückkam. Er schob die Fensterfront zur Seite. Gedämpfter Grundton erfüllte die Luft, ein Gemisch aus Straßenlärm und den Geräuschen eines vierzigstöckigen Bauwerks. Musik von den Terrassen der unteren Etagen, Kindergeschrei, die undeutlichen Stimmen einiger Männer.
Er trat an die Brüstung, blickte auf das untere Stockwerk. Lampions, Grill, zehn oder fünfzehn durcheinanderquirlende Kinder, eine Tafel. Kindergeburtstag. Abseits saßen mehrere Männer und Frauen in seinem Alter. Schwatzten, lachten, tranken.
Kilian trat zurück und warf sich auf den Rasen. Ja, auch das gehörte zu der Stimmung vor einer längeren Reise: das Gefühl, nirgendwo hinzugehören, von allen isoliert zu sein. Die Menschen der unteren Etage feierten Kindergeburtstag, und er saß hier und starrte in den Himmel. Niemand erkundigte sich danach, wie es ihm ging. Und nach niemandem konnte er sich erkundigen. Nach dem Studium war ihm keine Gelegenheit geblieben, einen Freundeskreis aufzubauen. Die Kommilitonen, mit denen er Kontakt hatte, waren in alle Winde verstreut. Nach dem Diplom wurde er wegen guter Leistungen in die Raumfahrtbehörde, Generalität Sicherheit, delegiert. Eine Abteilung, die nur aus 5-g-Leuten bestand, also aus Kollegen, die doppelt so alt waren, was von vornherein eine Distanz der Interessen schaffte, vom Unterschied des Gehaltsranges nicht zu reden. Eine Etage tiefer saßen 3-b- und 9-b-Leute beieinander. Um solche Beziehungen anzuknüpfen, bedurfte es Zeit und Bodenständigkeit. Freundschaften zu schaffen konnte kaum einem Mann gelingen, der fortwährend den Platz wechselte.
Von unten ertönte Kinderlachen.
Er erhob sich, schloss die Terrassenfront und kehrte ins Zimmer zurück. Die Einsamkeit des nach allen Seiten isolierten Raumes war drückend. Vielleicht tat ihm ein Schnaps gut. Schließlich ebenfalls etwas, worauf er in den nächsten dreizehn Monaten verzichten musste.
Mehr als ein Jahr! Und wenn er Pech hätte, würden es sogar neunzehn Monate.
Er goss den Rest Sodawasser ins Glas und warf die leere Flasche in die Öffnung des Müllschluckers in der Küche. Im Keller dieses Riesenhauses wirkte ein Computer, dessen Mechanik die Abfälle sortierte und den Erlös aus der Sekundärrohstofferfassung auf sein Konto überwies.
Kilian blieb in der Küche stehen. Entschied sich, aus dem Vorrat an Spirituosen eine Flasche Tequila zu nehmen. Im Zimmer warf er sich in einen Sessel, nahm den Programmator und tippte der Reihe nach die Fernsehprogramme durch.
Nichts.
Die Zeit, die ihm bis morgen früh auf der Erde blieb, war kurz. Sinnvoll ausnutzen! Leben ausnutzen - wie denn? Wenn er zurückkam, war er dem Pensionierungsalter um dreizehn Monate näher.
Plötzlich explodierte in ihm ein Gedanke.
Er sprang auf, drückte die Informationstaste der Fernbedienung. Über den Bildschirm tasteten sich lange Wort- und Zahlenkombinationen. Er merkte sich den Code-Schlüssel. Aber bevor er ihn eintippte, musste er erst eine Übersicht über seinen Vermögensstand haben. Er steckte seine Kennkarte in die Kontrollöffnung. Auf dem Bildschirm erschienen Datum und Kontostand. 14560 VE in neun Berufsjahren!
Das sollte ihm mal einer nachmachen!
Er rasierte und kämmte sich sorgfältig, bürstete die Kombination, setzte sich vor dem Fernsehgerät in Positur und lächelte probeweise die winzige Optik über dem Bildschirm an. Dann tippte er den Code-Schlüssel ein.
Der Bildschirm flammte auf. Das Gesicht einer etwa vierzigjährigen Frau erschien, das Lächeln zwischen höflich und freundlich schwebend, wohl dosiert - Stufe eins, Paragraph vier, Absatz drei. Donnerwetter, die hatte es raus! Wurde sicherlich nicht von ihrem Vorgesetzten wegen eines fehlerhaften Begrüßungszeremoniells gerügt.
»Amt für Ehevermittlung«, sagte die Frau. An ihrer Brust glänzte das Rangschild »Judith Moor - 3d«.
»Mein Name ist...«
»Bitte stecken Sie Ihre Kennkarte in die Kontrollöffnung.«
Kilian kam der Aufforderung nach.
Die Augen der Frau wanderten zur Seite. Offenbar las sie die Angaben auf dem Datensichtschirm. »Sie sind Herr George Kilian, zweiunddreißig Jahre, ledig, eins fünfundsiebzig groß und« - ein flüchtiges Lächeln der Anerkennung - »Sieben-b-Mann. Tätig als Einsatzleiter bei der Internationalen Raumfahrtbehörde, Generalität Sicherheit, Direktorat Arbeitsschutz, Hauptabteilung Ermittlung. Gen-Code verlese ich nicht. Stimmen die Angaben? - Gut. Was wünschen Sie von uns?«
»Weshalb, glauben Sie, habe ich Sie angerufen? Räten Sie’s nicht?«
Eine Braue der Frau schob sich in die Höhe. Aber das Lächeln blieb. »Ich habe Ihre konkreten Vorstellungen erwartet. Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass jede Ihrer Bewegungen und jedes Wort aufgezeichnet und potentiellen Partnerinnen vorgespielt werden.«
»Spezielle Wünsche habe ich keine.«
»Auch nicht in bezug auf Haar- oder Augenfarbe, Körpergröße, Statur und Gewicht Ihrer Partnerin?«
»Sie sollte nicht größer sein als ich, aber auch nicht so klein, dass ich sie unterm Arm tragen kann. Möglichst schlank, doch nicht dürr.«
Die Frau tippte. »Alter?«
»Passend, zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig.«
»Für einen Sieben-b-Mann wie Sie wären nur Partnerinnen von G sechs bis G acht mit den Unterstufen a bis b empfehlenswert...«
»Ist mir egal.«
»Heißt das etwa, sie würden auch G-eins oder G-elf-Frauen nehmen?«
»Es kommt auf den Menschen an, nicht auf die Art und Weise, wie er sein Brot verdient. Ich möchte eine Frau heiraten, nicht etwa eine bestimmte Schulausbildung.«
»Bedenken Sie, dass zwischen diesen Gruppen ein erhebliches Gefälle im Bildungsniveau besteht. G-eins-Frauen wären keine Gesprächspartner für Sie, und für G-elf-Frauen sind Sie keiner.«
»Das wird sich herausstellen. Ich bin kein Dogmatiker.«
Das Gesicht der Frau verfinsterte sich. »Sie halten unsere Hinweise für Dogmatismus? Nach unseren Erfahrungen lauert hinter den Bildungsunterschieden eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Partnerschaft.«
»Der werde ich gefasst ins Auge sehen.«
»Wie Sie meinen. Was haben Sie für Interessen, welche verlangen Sie von Ihrer Partnerin?«
»Meine sind Literatur, Malerei, Geschichte, Wandern, Musik - von meiner Frau erwarte ich keine bestimmten Interessen.«
»Diese Toleranz ist nicht gerade häufig«, erwiderte sie und überlas prüfend ihren eingetippten Text auf dem Bildschirm. »Gut, Herr Kilian. Unser Computer wird mehrere Kandidatinnen für Sie auswählen. Ich ziehe jetzt von Ihrem Konto den Vermittlungsbetrag von zweihundert VE ein. Einverstanden?«
»Einverstanden.«
»Einzugsgenehmigung erteilt«, sagte die Frau in sachlichem Ton und tippte auf das Tastenfeld vor ihr. Kilian wusste, dass sich sein Konto in diesem Augenblick um den Betrag verminderte. »Wir überspielen die Bildaufzeichnung der Kandidatinnen mit den dazugehörigen Daten in Ihren Postsammler. In spätestens zwei Tagen...«
»Es eilt nicht«, wehrte Kilian ab. »Ich gehe morgen früh auf eine etwa dreizehnmonatige Dienstreise. Ihr Angebot wäre mir daher erst im Juli nächsten Jahres recht.«
»Und da melden Sie sich jetzt schon?«
»Ich plane alles voraus«, erwiderte Kilian, beendete die Verbindung und schaltete das Fernsehgerät auf Programm um. Ein alter Film lief.
Er blieb im Sessel und betrachtete unschlüssig die Flasche Tequila. Es war ratsam, morgen früh beim Start einen klaren Kopf zu haben.
Er stellte die Flasche zurück und brühte sich einen Kaffee. Setzte sich auf die Terrasse und blinzelte in die Abendsonne.
Zwar war es unangenehm, so lange der Erde fernzubleiben, aber es zahlte sich aus. Nach seiner Rückkehr würde das Konto einen Betrag von 34720 VE ausweisen, die Zinsen nicht gerechnet. Häuschen und Garten rückten in greifbare Nähe. Und eine Frau würde ihm der Computer des Amtes für Ehevermittlung ins Haus liefern.
Er ließ sich rücklings in den Rasen fallen. Lächelte.
Alles war geregelt.
Zweites Kapitel
Gähnend und mit tauben Annen stützte er sich auf, registrierte das rhythmische Flackern der Signallampe und nahm das Rufzeichen der Bordsprechanlage wahr. Einen Augenblick benötigte er, um sich in der von der Lampe zerhackten Finsternis der Kabine zu orientieren.
Kilian ließ sich von der Bettkante zu Boden gleiten, lehnte sich gegen die Rufanlage, gähnte wiederholt.
»Junge«, meldete sich die raue Stimme des Chefpiloten, »wir fürchteten schon, wir müssten bei Ihnen Wiederbelebungsversuche anstellen. Sie haben die letzten vierundzwanzig Stunden non stop geschlafen. Damit sind Ihre drei Mahlzeiten überzählig.«
»Fresst sie selbst«, brummte Kilian.
»Ich streite mich nicht«, gab der Chefpilot zurück. »Bin kein Verpflegungsoffizier, der Ihnen Ihr Ernährungsdefizit vorrechnet. Zur Kenntnis: Wir befinden uns auf der stabilen Parkbahn. Die Container werden in einer Stunde abgesetzt, Sie und Lewin in zwei. Bereiten Sie sich vor. Ende.«
Kilian schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Die Kabine, in sechs Monaten heimisch geworden, wirkte im Licht der weißen Leuchtstäbe nüchtern wie eine Sanitärzelle, trotz der Täfelung aus imitiertem Holz. Seltsam, war ihm vorher nicht aufgefallen. Vielleicht unterstützte die bevorstehende Trennung die Entfremdung von den gewohnten Dingen. Wie in einem Hotelzimmer, das erst am Tage der Abreise ungemütlich wird.
Was erwartete ihn unten? Arbeit. Kleinarbeit! Die Einzelteile eines in die Methan-Ammoniak-Atmosphäre des Titan gesprengten Stationsgebäudes zusammensetzen und die Explosionsursache herausfinden. Im Übrigen wenig oder keine Abwechslung und das Warten auf den Rücktransport. Frühestens in vier Wochen, wenn die Lindos, kam. Neue Menschen kennenlernen? Kaum. Nortons Informationskassette hatte er in den sechs Monaten auswendig gelernt. Er kannte jeden einzelnen, seine Familie, seinen Bildungsweg, Hobbys und charakterliche Marotten. Da würde es keine Überraschungen geben. Es gab nur zwei Dinge, auf die er neugierig war: die leibhaftige Gestalt des legendären Helden Harold Metz - und die düstere Welt des Saturn-Mondes Titan. Sonst aber: Routinearbeit, Bericht schreiben und weg! Sechs Monate Rückreise. Gesamtdauer des Unternehmens - lange genug! Mit den Zuschlägen für außerirdischen Einsatz, Stufe 5, kamen insgesamt vier Monate Urlaub zusammen. Nicht schlecht! Um Himmels willen nicht die Untersuchung über vier Wochen hinausziehen, sonst blieben er und Lewin noch ein halbes Jahr in dieser Einöde hängen.
Mit wenigen Griffen kramte er die »Gegenstände des persönlichen Bedarfs« zusammen, verstaute sie in ein handliches Köfferchen, verließ nach einem prüfenden Blick die Kabine und ging in den medizinischen Sektor hinüber. Die Untersuchung war kurz und o. B. . Im Vorraum der Steuerzentrale stieß er auf Lewin. Der saß steif wie bei der Verlesung der Tagesordnung, den Handkoffer unter den Arm gepresst, und blickte durch die Trennscheibe in das Treiben der Zentrale. Redselig wie eine Stehleuchte. Eine Kugel im stabilen Gleichgewicht. Der Mann setzte seine Energie so punktförmig auf die Aufgabe, dass er anderen Dingen keine Aufmerksamkeit widmete. Diese Fähigkeit war beim Schachspiel zu beobachten. Das beherrschte er mit einer Perfektion, dass nach spätestens vierzehn Tagen jedem die Lust verging. Der würde - wie beim Spiel - zielgerichtet auf den Gegenstand seines Auftrages steuern, sobald sich die Gelegenheit bot. Die Gespräche, die sie in den letzten sechs Monaten geführt hatten, konnten zusammen gerade einen Tag füllen. Dass Hauptabteilungsleiter Norton ausgerechnet diesen Mann an seine Seite gestellt hatte, und das für ein gutes Jahr, kam einer Verbannung gleich.
»Container eins ausklinken«, kommandierte der Chefpilot. Er wandte sich in seinem Sessel um. »Count down läuft. In fünfzig Minuten startet die Landefähre. Unbedenklichkeitserklärung des Med.-Punktes liegt vor. - Was ist, wollen Sie hier überwintern?«
Der Start verlief reibungslos. Die Fähre tauchte in die nachtdunkle Atmosphäre des Titan ein und landete wenig später so sanft, dass sie es fast nicht spürten.
Der Landeplatz war vom Licht einiger Scheinwerfer überflutet. Am Rande standen die beiden Container mit dampfenden Triebwerkslafetten. Staub wirbelte in den Lichtkegeln, und außerhalb des Platzes fiel die Dunkelheit nieder wie ein schwarzer Vorhang.
Anfangs hatten sie Schwierigkeiten mit der Schwerkraft des Saturn-Mondes. Doch das gab sich schnell.
Bis zum ersten Stationsgebäude betrug die Entfernung zweihundert Meter. Hinter der Schleuse erwartete sie eine in die übliche hellblaue Kombination gekleidete jüngere Frau mit kühlen grauen Augen und kurzgeschnittenen braunen Haaren. Kilian erkannte sie auf Anhieb als die Ärztin. Die Informationskassette mit dem Bildmaterial hatte ihre guten Seiten. Mochten auch viele Leute gegen diese Methode opponieren - manche fühlten sich bespitzelt oder übervorteilt -, es erleichterte und beschleunigte die Arbeit, wenn der Personenkreis bis ins letzte Detail bekannt war. Kilian wusste, dass die Ärztin in Amsterdam geboren wurde, den Gehaltsrang 9e führte, also Hochschulabschluss und Promotion A, vier Jahre Praxis und 1450,- VE besaß, dreißig Jahre alt und unverheiratet war, Medizin unter Ausnahmebedingungen studiert hatte und sich für Mikrobiologie und Jazz interessierte, von ausgeglichenem Charakter war (im Sprachgebrauch des Informationsdienstes, der die Kassetten herstellte, wohl für »nüchtern« stehend) und sich nach Aussage der Psychologen hervorragend als Team-Mitglied eignete. Mutter war Objektleiterin eines Restaurants der Qualitätsstufe 2, Vater Spezialist für Gebisssanierung.
Er ließ den Blick an der schlanken, doch nicht zu schlanken Gestalt hinabgleiten. Irgendetwas fehlte. Ah - das Rangschild!
Noch keine Viertelstunde befand er sich auf festem Boden, und schon entdeckte er die erste Schlamperei.
»Ich muss sagen«, begann er, die Augen auf die leere Stelle über ihrer linken Brusttasche geheftet, »ich vermisse...«
»Ich weiß«, sagte die Ärztin kühl. »Wir sind zehn Personen auf der Station. Ich sehe keine Veranlassung, jedem von ihnen das lächerliche Schild mit meiner Gehaltsgruppe täglich unter die Nase zu halten.«
»Es ist Vorschrift«, sagte Lewin. In seinem Gesicht zuckte kein Muskel.
Kilian betrachtete ihn von der Seite. Bei Neil war schwer festzustellen, wann er sich über etwas lustig machte.
Der Blick der Ärztin veränderte sich nicht, »Ich kann mir zwar denken, dass Sie die angekündigte Untersuchungskommission sind, aber im Unterschied zu Ihnen steht uns keine Informationskassette zur Verfügung. Und Ihr Rangschild tragen Sie unter Ihrem Schutzanzug. Also, wer sind Sie?«
»George Kilian - sieben b. Einsatzleiter und Untersuchungsführer.«
»Neil Lewin - sieben d. Experte und Sachverständiger.«
Angedeutetes Lächeln. »Obwohl Sie sicherlich wissen, wer ich bin: Maud Cremburger - neun a.«
Verlegene Pause, in der sie sich gegenseitig anstarrten.
Vertieftes Lächeln. »Und nun möchte ich Sie bitten, mir zur Untersuchung in den medizinischen Trakt zu folgen.«
»Es ist wenig mehr als eine Stunde her, dass wir...«, wagte Lewin einzuwenden.
»Vorschrift«, erwiderte Maud Cremburger. »Sie achten doch auch darauf, nicht wahr?« Ihre Augen funkelten.
Doch nicht so humorlos, dachte Kilian.
Später kam der lang erwartete Augenblick. Hinter der Tür erwartete sie der Mann, der als erster den Fuß auf die Jupiter- und Saturn-Monde gesetzt hatte: Harold Metz.
Kilian und Lewin blickten sich unschlüssig an. Keiner wagte gegen die Tür zu klopfen. Die Achtung vor dem Namen, in der Schule mit jedem Funken Wissen über die Raumfahrt aufgesogen, saß tief.
Eine Weile feilschten sie mit Blicken, wer anklopfen sollte. Da klickte die mechanische Verriegelung, und die Tür wurde mit einem Ruck zurückgeschoben.
Langsam tasteten sich ihre in die Höhe gerichteten Blicke hinunter.
Vor ihnen stand - das gab’s doch nicht! Das Gesicht war bekannt: harte, gefurchte Züge, viereckiges Kinn, kurzgeschorene eisengraue Haare und Stirnglatze, eigentümlich klare Augen. Aber der Mann war etwa eins fünfundsechzig groß! Wesentlich weniger als die für Mitarbeiter des fliegenden Personals zulässige Norm von eins fünfundsiebzig bis eins achtzig.
Das war doch nicht möglich!
Selbstverständlich war auch diese Angabe auf der Informationskassette enthalten. Aber mit den Daten dieses Mannes hatte sich Kilian nicht befasst. Den kannte doch jeder.
»Na - erholt?«, fragte Metz, schob sie mit Bärenpranken hinter sich in den Raum, streckte den Kopf in den Korridor und brüllte mit Stentorstimme: »Calva! Zu mir!«
Das erste Erstaunen war vorüber. Metz war ein normaler Mensch. Ganz normal. Der um seinen Namen geflochtene Mythos schien nicht zu ihm zu gehören. - Aber vielleicht profitierte er von ihm... Am besten, man tat, als hätte man nie von ihm gehört. Forsch auftreten, nicht beeindrucken lassen, denn mit achtungsvollem Schweigen verlor man an Boden. »Haben Sie keine Wechselsprechanlage?«, erkundigte sich Kilian stirnrunzelnd.
»Es geht auch so«, gab Metz zurück, schloss die Tür und setzte ein belustigtes Lächeln auf. »Außerdem kräftigt es die Lungen. Sie sind also die seit einem halben Jahr angekündigte Untersuchungskommission?«
Die beiden Männer reckten sich,
»George Kilian - sieben b.«
»Neil Lewin - sieben d.«
»Weshalb grinsen Sie - ach so, Paragraph dings, Begrüßungszeremoniell. Wir legen hier wenig Wert auf Förmlichkeiten. Dafür ist uns die Zeit zu schade. Ich bin der Boss, Harold Metz.« Er bemerkte den abwartenden Blick der beiden. »Sechs g«, fügte er hinzu, »das wissen Sie sicher aus Ihren Unterlagen.« Er setzte sich auf die Kante eines mit Kassetten und Heftern überladenen Schreibtisches. Mit einer Handbewegung: »Setzen Sie sich. Wer von Ihnen ist der Chef der Kommission?«
»Das bin ich«, erwiderte Kilian. Er ließ den Blick an der lässig sitzenden Gestalt hinabgleiten. Der Reißverschluss seiner Kombination war bis zur Brustmitte geöffnet. Gekräuselte rotblonde und graue Haare quollen hervor. Metz stützte eine Faust auf den stämmigen Oberschenkel. Den breiten Handrücken bedeckte rötlicher Flaum.
Der Blick, aufwärts wandernd, erfasste über der linken Brusttasche ein leeres Feld. Nicht nur, dass das Rangschild fehlte, auch die Ordensspangen waren nicht vorhanden. Und Metz waren in früheren Jahren zahlreiche Orden aus dem damals unübersichtlichen Gewimmel verliehen worden. Die meisten von ihnen und die Gründe für ihre Verleihung waren heute vergessen, da ein vernünftiger Parlamentsbeschluss die Anzahl der Orden kurzerhand auf vier reduzierte, die den Gehaltsrängen nach Dienstjahren gestaffelt zustanden. Metz hatte mindestens dreißig Jahre Praxis. Damit besaß er die für die Gehaltsränge i bis 6 zustehenden Verdienstorden von Chrom bis Platin. Den Luna-Orden gab es erst ab G7 bis G9 - war für ihn ohnehin unerreichbar. Na gut, wenn er darauf verzichtete, seine archaischen Orden anzulegen, so hätte er wenigstens seine Verdienstspange in Platin anstecken können. Aber nicht mal die!
Kilian gab zu, dass er dazu neigte, Vorschriften, deren Sinn ihm nicht einleuchtete, gelegentlich zu ignorieren, aber ein wenig musste man die Form wahren. Woher sollte man wissen, mit wem man es zu tun bekam, wenn dieser weder Rangschild noch Ordensspange trug? In diesem Laden herrschte Schlamperei. Und wenn der Chef dazu tendierte, taten es die anderen Mitarbeiter ebenfalls.
Sein Blick streifte Lewin. Der saß natürlich teilnahmslos wie immer in den vergangenen Monaten: nach hinten gelehnt, mit ausdruckslosen Augen. Das waren Dinge, die ihn nicht berührten.
»Ich habe Ihnen Kabinen sechs und sieben bereitgestellt«, sagte Metz. »Den Gang rechts runter. Die Privaträume sind nummeriert. Meiner befindet sich geradeüber. Sie können sich daher jederzeit...«
Die Tür ging auf. Ein schwarzgelockter Mann trat ein. Er mochte etwa fünfzig sein, schlank, eins fünfundsiebzig groß. Hinter einer vorspringenden Nase befanden sich gelbbraune Greifvogelaugen.
Auch dieser Mann trug weder Rangschild noch Ordensspange. Die Informationskassette beschrieb ihn als Ambroise Calva - 6f, Chemiker, geschieden...
Calva trat näher, reichte Metz eine schmale Mappe und blieb abwartend stehen. Sein Blick ruhte zurückhaltend und neugierig zugleich auf den beiden Männern.
»Kilian und Lewin«, stellte Metz vor. »Meinen Kollegen kennen Sie, denn ich nehme an, Sie hatten im letzten halben Jahr nichts anderes zu tun, als sich mit meinem Team und mir zu beschäftigen.«
»Die Informationskassette beinhaltet eine Menge mehr als die persönlichen Daten Ihres Teams«, erwiderte Kilian verstimmt, »beispielsweise...«
Metz blickte uninteressiert hoch. »Ich habe keine Ahnung, welche Informationsmenge die Generalität Sicherheit ihren Mitarbeitern zugesteht. Interessiert mich auch wenig, offen gestanden. - Der Bericht ist zwischen euch abgestimmt«, wandte er sich an Calva, wobei sein Gesicht einen zufriedenen Ausdruck trug. »Es gibt keine Zweifel?«
Calvo hob die Schultern. »Das ist der gegenwärtige Stand der Erkenntnisse. Die Definition als Mikro... hm... scheint uns jedenfalls legitim. Was wir auch anfassen - alles scheint deine Hypothese zu bestätigen und...«
»Gut«, fiel ihm Metz ins Wort, »beschäftigt euch mit dem Komplex B - wie abgesprochen.«
Calva verließ den Raum. Metz drehte sich ihnen wieder zu. »Wir sind auf der Station acht Personen...«
»Es müssen zehn sein«, warf Kilian ein.
»Ich sagte: auf der Station«, beharrte Metz mit einem Anflug von Ungeduld. »Zwei befinden sich auf dem Weg zu einem achthundert Kilometer entfernten Außenposten in der Hauptgebirgskette...«
»Kommen wir zur Sache«, sagte Lewin. »Die Explosion fand vor sechs Monaten statt. Wo?«
Metz wies in Richtung des Fensters. »Dem Landeplatz gegenüber. Einen halben Kilometer von hier. Die Druckwelle war trotz der dünnen Atmosphäre so stark, dass sich einige Stationsgebäude auf dieser Seite verschoben haben. Sie wissen, dass die Gebäude vereinzelt stehen und unter ihnen keine starre Verbindung besteht. Wegen der häufigen Beben.«
Lewin nickte. »Gab es bei der Explosion eine Stichflamme? Wenn ja, welche Farbe hatte sie?«
»Keine Ahnung. Niemand hat den Vorgang beobachtet.«
»Warum nicht?« mischte sich Kilian ein. »Hat zufällig niemand hingesehen?«, fügte er mit spöttischem Lächeln hinzu.
»Das Sektionsgebäude flog kurz vor Einbruch der Morgendämmerung hoch«, erwiderte Metz. »Das Team schlief entweder noch oder schon.«
»Noch oder schon? Was soll das heißen? Halten Sie sich nicht an einen exakten Arbeitsrhythmus?«
»Nein.«
»Ist aber nach Arbeitszeit-AO sechzehn, Absatz zwei, Vorschrift«, rügte Kilian. Damit hatte er bereits eine zweite, ungleich schwerer wiegende Nachlässigkeit entdeckt, obwohl er erst knappe zwei Stunden auf diesem Saturn-Mond stand. Wie viele würden es wohl werden? »Nach gültiger AO sind das sieben Stunden Arbeitszeit mit Pausenunterbrechungen, neun Stunden Freizeit, acht Stunden Regenerationsphase.
Der Zyklus fußt auf Mitteleuropäischer Zeitrechnung, MEZ. Sieben Uhr Dienstbeginn...«
Metz lächelte herablassend. »Normen sind nützlich - dort, wo sie angebracht sind. Mir ist die Anordnung bekannt. Bekannt ist mir gleichermaßen, dass diese AO außerhalb der Erde nirgendwo exakt eingehalten wird, nicht eingehalten werden kann.«
»Die Norm der MEZ gilt für alle außerirdischen Basen«, widersprach Kilian. »Nach irgendeiner Zeit muss man sich richten. Das müsste jeder einsehen. Wie soll eine Zusammenarbeit aussehen, wenn zur gleichen Zeit die einen ihren Morgenkaffee trinken, andere Dienstschluss haben und wieder andere sich im Tiefschlaf befinden? Dann wäre es Zufall, wenn ich während der Dienstzeit über Lichtspruch jemanden auf der nächsten Basis erreiche, der auch gerade Dienstzeit hat.«
»Lässt sich innerbetrieblich regeln«, gab Metz mir knarrender Stimme zurück. »Die Funkstation ist rund um die Uhr besetzt.«
»Nun gut, dann haben Sie eben eine Möglichkeit gefunden, diese allgemeingültige AO zu umgehen. Aber Sie stimmen mir hoffentlich zu, wenn ich sage, dass die Raumfahrtbehörde sich mit dieser Regelung etwas gedacht hat.«
»Bloß was, das ist mir nicht klar.«
»Sie geben also zu, bewusst gegen die AO verstoßen zu haben?«
»Mit Wonne!«, dröhnte Metz. »Der Titan rotiert innerhalb von knapp sechzehn Tagen einmal um diesen verdammten Planeten. Es gibt Nächte, die heller als die Tage sind, und Tage, die Nächte sind. Sie glauben doch nicht, dass das Team mittags in die Kojen klettert, nur weil es nach MEZ zweiundzwanzig Uhr ist!«
»Ich diskutiere nicht über den Sinn der Anordnungen«, sagte Kilian. Er empfand, bisher eine gute Figur gemacht zu haben. Nicht einschüchtern lassen! Diesem Helden zeigen, dass er keinen kritiklosen Anbeter vor sich hatte! Er klappte seinen elektronischen Notizer auf, schrieb einige Zeilen und drückte auf einen Knopf am oberen Rand des handlichen Blocks. Die Zeilen verschwanden von der weißen Schreibfläche. Sie waren in den Speicher übergeführt und konnten jederzeit abgerufen werden. »Ich teile Ihnen mit, dass ich diesen Umstand in meinem Bericht erwähnen werde.«
»Tun Sie das! Ich möchte nicht, dass Sie unter Herzdrücken leiden.« Metz schlug sich aufs Knie. »Weiß Gott, ein Typ wie Sie - das gibt mir Kraft! Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten - oder verstößt das auch gegen irgendwelche Vorschriften?«
»Wir sollten bei alldem nicht albern werden«, sagte Kilian.
»Die Explosion fand also bei Sonnenaufgang statt«, meldete sich Lewins ruhige Stimme. Er schien die Diskussion nicht wahrgenommen zu haben.
»Unmittelbar vor der Morgendämmerung«, präzisierte Metz.
»Gibt es Augenzeugen?«
»Keine. Wir wurden überrascht. Im Allgemeinen lasse ich den Mitarbeitern meines Teams freie Hand, wann und wie sie ihr Arbeitspensum erfüllen. Hauptsache, sie erfüllen es. Zu dieser Zeit schlief jedenfalls alles.«
»Bis auf drei«, warf Kilian spitz ein.
»Besten Dank für den Hinweis.«
»Das waren Ihr Objekt- und Forschungsleiter André Bloom und die Geophysiker Brettschneider und Rosinski.«
»Sie sind beneidenswert gut informiert. Ach ja, die Kassette.«
»Bis Bloom kam, waren Sie der Objekt- und Forschungsleiter?«
»Richtig. Zurzeit bin ich es kommissarisch. Bin neugierig, wie lange.«
»Haben sich Bloom und die beiden anderen dem hier üblichen Zeitrhythmus untergeordnet?«
»Drei«, sagte Metz. »Außer Bloom waren es drei Leute, Brettschneider, Rosinski und Rita Spender, die ein halbes Jahr vor dem Unglück eintrafen.«
»Das ändert nichts am Inhalt meiner Frage. Haben sie sich untergeordnet?«
»Das ergibt sich von selbst.« Metz lächelte. »Sie werden das in den nächsten Wochen bei sich selbst entdecken. Wenn die Sonne aufgeht, mag niemand schlafen gehen. Auch Sie nicht.«
»Das gestatte ich zu bezweifeln«, gab Kilian förmlich zurück. »Steht auch nicht zur Debatte. Fakt: Obwohl Bloom und die Geophysiker nach dem hier üblichen Zyklus lebten, arbeiteten sie zum fraglichen Zeitpunkt bei Sonnenaufgang...«
»Bei Einbruch der Dämmerung«, sagte Metz.
»Bitte keine Wortklauberei!«
»Wenn Sie schon von anderen Genauigkeit verlangen, sollten Sie sich zuerst selbst dessen befleißigen.«
Kilian schluckte eine scharfe Antwort hinunter. »Kam es oft vor, dass sie...?«
»Meines Wissens nicht.«
»Also eine Ausnahme. Aha. Sie arbeiteten an diesem Tage im Sektionsgebäude Nummer...?«
»Vier.«
»Im Gebäude Nummer vier. Gut. Woran?«
»Keine Ahnung.«
»Das wissen Sie nicht?«, sagte Kilian erstaunt.
»Was fragen Sie mich?«, gab Metz höhnisch zurück. »Ich war Blooms Stellvertreter und damit von seinen Informationen abhängig.«
»Sie wollen mir doch wohl nicht erzählen...«
Metz unterbrach ihn schroff. »Erzählen will ich Ihnen gar nichts. Ich berichte Fakten. Bloom gab mir Anweisungen, welches Pensum ich zu bewältigen hatte. Aber für ihn bestand nicht der geringste Anlass, mich über sein Aufgabenspektrum zu unterrichten. Mir scheint, Sie sind weder über die hierarchische Ordnung noch über die Verteilung der Verantwortung innerhalb der Raumfahrtbehörde auf dem laufenden.«
Kilian schwieg einen Moment. Er wusste nicht weiter.
Doch diese Schwäche durfte er um keinen Preis zeigen, wenn er den soeben gewonnenen Boden nicht wieder verlieren wollte. »Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass ich zur Erteilung von C-Ordern befugt bin.«
Metz reckte das Kinn vor. »Ich nehme das zur Kenntnis.«
Wieder eine Pause.
»Kam es oft vor, dass Bloom zu ungewöhnlichen Zeiten arbeitete?«
»Das haben Sie mich schon einmal gefragt. Nein.«
»Keine Ahnung, womit sich die drei Männer beschäftigten, bevor die Explosion erfolgte?«
»Keinen Schimmer.«
»Demnach können Sie auch nicht aussagen, ob die Explosion möglicherweise eine unmittelbare Folge ihrer Arbeit war?«
»Die Frage entbehrt der Logik. Wenn ich das eine nicht weiß, kann ich das andere erst recht nicht wissen. Sie sind sehr eilig, die Untersuchung zu beginnen, junger Mann. Sie möchten Zeit gewinnen, um in vier Wochen den Rückflug anzutreten. Verstehe ich. Aber ich möchte Sie in meiner ungehobelten Art darauf hinweisen, dass auch ich einen Zeitplan habe.«
»Ich fasse mich kurz«, erwiderte Kilian. »Haben Sie den Unfallort gemäß Sicherheits-AO, Paragraph eins, unberührt gelassen?«
»Selbstverständlich. Ein Bergungsversuch war aussichtslos. Wir haben von den drei Männern keine Spur gefunden. Sie mussten bis zu den Molekülen zerstäubt worden sein.« Metz zögerte. »Das heißt, drei Kilometer von hier haben wir einen Schuh gefunden - mit einem Stück Fuß darin. Das war alles.«
»Im Augenblick genügt mir die Information.« Kilian trat ans Fenster und blickte hinaus.
Von ihnen unbemerkt, war die Dämmerung hereingebrochen. Die sandige, schwach hügelige Ebene, in der die Stationsgebäude standen, wurde von schwächlichem Dämmerlicht erhellt. Am Horizont zeichneten sich die dunklen, von wenigen Konturen aufgelockerten Umrisse endloser Bergketten ab. Ein düsteres Bild.
Er war mit sich zufrieden. »Wir werden die Kabinen beziehen und bei Tageslicht unsere Arbeit beginnen.«
Metz deutete mit dem Daumen zum Fenster. »Was sie sehen, ist das Tageslicht.«
Für eine Sekunde verschlug es Kilian die Sprache.
»Die Rotation des Titan ist mit der Erde nicht identisch«, sagte Metz, »deswegen stimmen die Tageszeiten auch nicht mit den Uhrzeiten überein. Der Sonnenaufgang ist mal morgens, abends oder nachts.«
Kilian starrte in die Landschaft hinaus. Er wandte den Kopf. »Trotzdem, wir werden - sagen wir in zwei- Stunden, Neil?«
Lewin nickte abwesend.
»...also in zwei Stunden die offizielle Untersuchung beginnen.« Er verabschiedete sich und trat, von Lewin gefolgt, zur Tür.
»Sie gestatten mir eine Bemerkung«, sagte Metz. In seinen Mundwinkel zuckte es. »Nach MEZ haben wir es jetzt dreiundzwanzig Uhr dreißig. Gemäß der AO zur Arbeitszeitregelung Nummer sechzehn, Absatz zwei, müssten Sie bereits seit anderthalb Stunden im Bett liegen.«
Drittes Kapitel
Er meldete sich beim Verpflegungsoffizier. »Neil Lewin - sieben d.«
»Amélie Gordon - eins b. Hallo.«
»Hallo. Sie tragen kein Rangschild?«
Die junge Frau fuhr mit der Hand durch ihre nachtschwarzen Locken. Bedachte ihn mit einem spöttischen Blick aus aufmerksamen blauen Augen. »Niemand trägt es. Wir kennen uns alle. Der Commander hält’s für Unsinn. Und er hat recht.«
»Hab’s nur erwähnt, weil ich daran gewöhnt bin«, entschuldigte sich Lewin. »Wen meinen Sie mit Commander?«
»Harold.«
»Metz?«
»Wen sonst?«
»Weil er früher mal Kommandant eines Raumschiffes war?«
»Alle nennen ihn so. - Sie gehören also zur Untersuchungskommission?«
»Experte.«
»Ist das eine Berufsbezeichnung? Heutzutage gibt es so viele Haupt-, Unter- und Nebengruppen, Spezialisierungen und Unterteilungen, dass kein Mensch mehr durchsieht...«
»Ist ’n Titel. Eigentlich bin ich Sachverständiger.«
Amélie Gordon lehnte sich zurück und nagte an einem Schreibstift. »Verzeihen Sie meine Neugierde, aber ich bin nur eine Eins-b-Frau. Was muss man tun, um diesen Titel zu erwerben?«
»Ich habe einen Hochschulabschluss.«
»Das sagt mir Ihr Rangschild. Aber Sie haben ein Zusatzstudium, sonst wären Sie als Sechs-d-Mann eingestuft.«
»Ich studierte jeweils ein Semester Biologie, Chemie, Elektronik, Datenverarbeitung, Steuerungstechnik, Technologie...«
»Also von allem etwas und nichts gründlich.«
»Nicht ausreichend, um jedes Fach als Beruf auszuüben, doch umfassend genug, um ein Urteil abgeben zu können. Nach Abschluss des Studiums nahm ich ein Zusatzstudium auf, nach dessen Beendigung mir der Titel Experte zuerkannt wurde. Das ist eine Art Promotion. Ohne Zusatz wäre ich nur Sachverständigen geblieben.«
»Das sind ja Welten«, erwiderte Amélie. Sie musterte ihn. »Sie sind Afrikaner?«
»Afro-Europäer.«
»Aha.«
Schweigen.
»Wir sind zwei Mann«, begann Lewin.
»Richtig«, sagte Amélie und nahm ihren Notizer zur Hand. »Der Bedarf von Commandern, Astrogeologen, Chemikern und so weiter ist mir bekannt. Aber nicht von Experten. Wie hoch ist Ihr Energiebedarf?«
»Elftausendsiebenhundertfünfzehn Kilojoule.«
»So schwer arbeiten Sie? Das tun bei uns nur die Geologen.«
»Wäre vergleichbar.«
»Ich habe es notiert. Trifft die gleiche Energiemenge auch auf Ihren Kollegen zu?«
»Ja.«
»Ich dachte, er wäre nur Leiter.«
»Seine Position entspricht der eines Juristen. Trotzdem arbeitet er praktisch mit. Schließlich sind wir nur zu zweit. Sonst wäre sein Energiebedarf geringer.«
Amélies Blick wurde neugierig. »Kennen Sie ihn länger?«
»Ich bin ihm erst beim Abflug begegnet. Warum fragen Sie?«
Amélie schob die Unterlippe vor. »Soll ein selten scharfer Hund sein. War kaum fünf Minuten beim Commander und begann ein strammes Verhör.«
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Rainer Fuhrmann/Apex-Verlag/Successor of Rainer Fuhrmann.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 07.06.2021
ISBN: 978-3-7487-8500-2
Alle Rechte vorbehalten